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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 8. Jahrgang, 2017, Heft 2: Wiebke Sievers (Hg.): Grenzüberschreitungen. Ein literatursoziologischer Blick auf die lange Geschichte von Literatur und Migration (Raluca Rădulescu)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 8. Jahrgang, 2017, Heft 2

Wiebke Sievers (Hg.): Grenzüberschreitungen. Ein literatursoziologischer Blick auf die lange Geschichte von Literatur und Migration (Raluca Rădulescu)

Wiebke Sievers (Hg.): Grenzüberschreitungen. Ein literatursoziologischer Blick auf die lange Geschichte von Literatur und Migration

Wien / Köln / Weimar: Böhlau 2016 – ISBN 978-3-205-20353-7 – 35,00 €

Was literarisches Grenzüberschreiten bedeutet, was es voraussetzt und in welchem Verhältnis es mit dem ›traditionellen‹ Kanon steht bzw. ob es darin Aufnahme findet oder nicht, sind einige der Hauptfragen dieses Bandes. Das Buch beruht auf den Forschungsergebnissen des Projektes Literature on the move1 und setzt sich aus zwei Hauptteilen zusammen, denen ein einführendes Kapitel vorangestellt wird. Die Herausgeberin Wiebke Sievers unterzeichnet die Einführung und die erste Fallstudie, während die anderen Fallstudien den zwei anderen Projektbeteiligten, Holger Englerth und Silke Schwaiger, zugehören.

Den Untersuchungsgegenstand bilden Werke der im 20. und 21. Jahrhundert nach Österreich zugewanderten Autorinnen und Autoren, an deren Beispiel näher gezeigt werden soll, was die Voraussetzungen und die Auswirkungen des Prozesses der nationalen Grenzüberschreitung im Literaturbetrieb sind. Den Studien liegt ein literatursoziologischer und historisch vergleichender Ansatz zugrunde, der sich von Pierre Bourdieus Arbeiten (wobei nur auf Les Regles de l’art von 1992 hingewiesen wird) ableitet. Seine bekannten Begriffe wie ›literarisches Feld‹, ›Habitus‹, ›symbolisches Kapital‹ usw. wenden die Autorinnen und Autoren auf die Entstehungszusammenhänge, die Anpassung und Aufnahme in den Betrieb des Aufnahmelandes an, wobei sie von Bourdieu ausgehend die nationale Ausgrenzung im Blick haben. Wie in der Einführung erklärt wird, bemüht sich der Band darum, das bisherige in der Fachliteratur etablierte Bild der ›Autorinnen und Autoren mit Migrationshintergrund‹ (an sich ein heikler Begriff, der wahrscheinlich wegen der immer wieder in der heutigen globalisierten Welt zum Normalfall gewordenen Migration verschwinden wird) als Grenzüberschreitende zu ergänzen und sie somit aus der Nische, in die sie gedrängt wurden, zu retten.

Aus diesem Grunde stellt das Buch zwei Gruppen von Autorinnen und Autoren gegenüber, zwischen denen vor allem literaturgeschichtliche Unterschiedlichkeiten bestehen, die aber als gemeinsamen Nenner die Zuwanderung nach Österreich und die Aushandlungsprozesse im Literaturbetrieb des Aufnahmelandes haben. Über das einführende Kapitel hinaus, wo die Forschungsziele, die Methode, der Ansatz und ein literaturgeschichtlicher Einblick in das Verhältnis zwischen den Zugewanderten und dem Literaturbetrieb vom 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart angeboten werden, besteht der Band aus Fallstudien zu den einzelnen Autorinnen und Autoren. Die zwei Hauptteile werden dementsprechend verschiedenen Haltungen des Literaturbetriebs zugeordnet: Einerseits steht der ersten Autorengruppe »[d]ie selbstverständliche Aufnahme von Zuwanderern im Literaturbetrieb bis in die 1950er Jahre« zu, während die andere mit »Grenzziehungen gegenüber zugewanderten AutorInnen in der Gegenwart« – so die Titel der zwei Hauptkapitel – zu kämpfen hat.

An den Beispielen von Elias Canetti, Milo Dor und György Sebestyén, die zwischen den 1930er und 1950er Jahren »völlig selbstverständlich« (11) in den binnenösterreichischen Literaturbetrieb aufgenommen wurden, weil er durch das multikulturelle Erbe des Habsburgerreiches an sich transnational gefärbt war, wird gezeigt, dass auch damals tatsächlich vorhandene Erscheinungen wie Migration und Mehrsprachigkeit in ihren Werken nicht thematisiert wurden bzw. die Aufnahme weder beeinflusst noch behindert haben. Da sich das literarische Feld in den 1970er und 80er Jahren nationalisierte, wurde der Zugang von Autorinnen und Autoren stark eingeschränkt, wobei erst seit den 1990er Jahren eine Lockerung spürbar wurde, die grundsätzlich im neuen Jahrtausend die Emergenz von ›Migrationsautoren‹ wie Vladimir Vertlib und Dimitré Dinev ermöglichte.

Obwohl die Herausgeberin in der Einführung sehr überzeugend die Geschichte von Aufnahme und Ausgrenzung der Migration und Mehrsprachigkeit schildert, spannt die Autorenwahl im zweiten Teil des Bandes (Seher Çakır, Ilir Ferra, Stanislav Struhar, Tanja Maljartschuk) bei den Textanalysen einen m.E. zu weiten Bogen (nicht nur in zeitlicher Hinsicht, sondern auch in Fragen der ungleichen Kanonisierungsverfahren) von der Zwischenkriegszeit bis zur Gegenwartsliteratur. Das Unterfangen wird von dem Versuch motiviert, über bisherige auch in der Fachliteratur etablierte Autorinnen und Autoren wie Vertlib, Dinev, Julya Rabinovich und Anna Kim hinausblicken zu wollen und diese Begrenzung zu überwinden (vgl. 12). Als willkommene Folge dieses Hiatus ist die gegenseitige Beleuchtung dieser zeitlich weit voneinander entfernten Autorengruppe zu begrüßen, die sie als Stationen in dieser »Geschichte von Literatur und Migration« auftreten lässt (der Titel des Bandes ist allerdings zu breit angelegt und erweckt falsche Erwartungen, empfehlenswert wäre vielleicht eine Einschränkung mit der Präzisierung gewesen, dass »nur« auf die Literatur in Österreich von den 1930ern bis in die Gegenwart Bezug genommen wird).

Obwohl beide Gruppen in einem transnationalen Umfeld angesiedelt sind, waren bei der Rezeption ihrer Werke andere geschichtlich-politische Auswirkungen sowie interne Regelungen des Literaturbetriebs ausschlaggebend. Während Canetti, Dor und Sebestyén »selbstverständlich«, jedoch nicht reibungslos und ohne die Einflussnahme des politischen Feldes aufgenommen wurden, stießen später Zugewanderte und stoßen noch heute Gegenwartsautorinnen und -autoren auf Grenzen, die ihre Aufnahme erschweren, wenn nicht unmöglich machen.

Der erste Teil beginnt mit einer Studie, die Elias Canettis Wiener Zeit gewidmet ist. Dass gerade in diesen, seinen Migrations- und Mehrsprachigkeitserfahrungen naheliegendsten Werken diese zwei Themen keinen Niederschlag finden, soll die These bedienen, dass das Erbe der »Habsburgermonarchie als eine transnationale deutschsprachige Kulturnation« (19) die Aufnahme von Autoren wie Canetti, Dor und Sebestyén ermöglichte, wobei Zuwanderung als Norm angesehen wurde und der Schlüsselcode die Einschreibung in die Einsprachigkeit war. Canetti habe zwar erkannt, dass gerade die Emigration in ihm das Bewusstsein des Weltbürgers erweckt hat (vgl. 59), doch erst später im Exil werden sich Migration und Mehrsprachigkeit zu einer utopischen Alternative gegen Krieg und Feindschaft entwickeln. Hätten vielleicht Beispiele aus den Werken dieser Zeit oder Hinweise darauf das Bild ergänzen können? Weiterhin werden zur Veranschaulichung von Canettis Theorie der akustischen Masken, die Mehrsprachigkeit in Einsprachigkeit einfließen lässt und den Verlust des Kommunikationsvermögens im gesellschaftlichen Zusammenbruch entlarvt, seine Werke Die Blendung, Hochzeit und Komödie der Eitelkeit herangezogen.

Milo Dor konnte ohne die Unterordnung unter die hegemoniale deutsche Sprache, die er in den 1930er Jahren aus Protest gegen den Nationalismus nicht benutzen wollte, keinen Zugang zum Literaturbetrieb finden. Deswegen versuchte er, sich im Anschluss an die französische Avantgarde als Hauptbezug zu positionieren. Aber trotz seines Engagements für eine kritische Literatur des Widerstandes in Österreich im Roman Tote auf Urlaub (1952) blieb ihm die volle Anerkennung versagt, und das obwohl sein Buch zu den meistbeachteten österreichischen Romanen seiner Zeit gehörte (vgl. 107). Ideologie und Metaphysik verstießen gegen die konservative Ausrichtung der restaurativen Nachkriegszeit. Seine spätere Wahrnehmung bedeutete zugleich eine Marginalisierung und ›Re-Serbisierung‹ (vgl. 116f.), da sein Roman Nichts als Erinnerung (1959) nicht wegen seiner literarischen Qualität, sondern aufgrund des balkanischen Lokalkolorits geschätzt wurde.

Wie teilweise im Fall Dors wurde auch György Sebestyén eher als Kulturvermittler wahrgenommen. Da er an ältere Schriftstellergenerationen anknüpfte, galt sein Schreibstil als unzeitgemäß. Sein Roman Die Türen schließen sich (1957) wird eher als zeitgeschichtliches Dokument denn als literarischer Text rezipiert (160), obwohl der Ungarnaufstand lediglich als Hintergrund dient.

Der erste Beitrag der zweiten Gruppe von Autorinnen und Autoren widmet sich Seher Çakır. Hierbei wird schon am Anfang ausgeführt, dass sie von dem »›klassischen‹ österreichischen Literaturbetrieb im engeren Sinne« nicht unbedingt zum »elitären, ›literarischen‹ Teil« zugehörig wahrgenommen werde (vgl. 171). Der vorliegende Band hat bereits eindrücklich dargelegt, dass der Literaturbetrieb wegen des monolingualen österreichischen Erziehungssystems dazu neige, von ausgewanderten Autorinnen und Autoren »authentische Einblicke in das Leben« zu erwarten und ihre Werke »nicht als Kunst, sondern als soziologische Dokumente« (181) zu lesen, was den verweigerten Zugang zum klassischen Kanon erklären sollte. Doch im Falle Çakırs wird behauptet, dass ihre Texte nicht über Qualitäten verfügen würden, die von den Kriterien einer ›klassischen‹ Literaturkritik erfasst werden können (vgl. 184), sondern über »spezielle Qualitäten«, wobei Erzählen hier »nicht Kunstform« sei, »sondern eine menschliche Reaktion im Allgemeinen« (185). Das lässt im Zusammenhang des ganzen Bandes Fragezeichen und Widersprüche entstehen. Vielleicht hätte man deutlicher zwischen dem ›Literaturbetrieb‹ und der ›traditionellen‹ Literaturkritik (die keinesfalls deckungsgleich sind) einerseits bzw. dem Feuilletonbetrieb und dem akademischen Feld andererseits unterscheiden müssen, um die Aufnahme in den ›Literaturbetrieb‹ im Allgemeinen (wo die Neigung besteht, das Feld der kulturellen Produktion in das Feld der Macht einzubetten) oder ggf. in die Höhenkammliteratur (wo spezifisch symbolisches literarisches Kapital vorherrscht) besser erklären zu können.

Der Fall Ilir Ferra zeigt hingegen, wie ein Autor nur beschränkt wahrgenommen wird, der sich mit dem Erzählen auseinandersetzt, jedoch keine »›realistischen‹ Abbilder« (201) wie erwartet liefert: Stattdessen werden sie vom Literaturbetrieb entweder missverstanden oder nicht wahrgenommen (vgl. ebd.) und seine Romane Rauchschatten (2010) und Minus (2014) als Autobiographie bzw. Reportage gelesen. Auch wenn er auf seiner künstlerischen Autonomie besteht (vgl. 204), wie Englerth gut mit Bourdieu erkennt und begründet, gelingt es dem Autor leider nicht, sich in die österreichische literarische Tradition einzuschreiben.

Auch die Romane Stanislav Struhars, Das Manuskript (aus dem Tschechischen übersetzt, 2002) und Eine Suche nach Glück (2005), die den erzwungenen Sprachwechsel und das Außenseitertum im Literaturbetrieb thematisieren, werden marginal wahrgenommen, obwohl es ihnen an literarischer Qualität nicht mangelt. Einen interessanten Fall bildet die ukrainische Autorin Tanja Maljartschuk, die, obwohl sie ihr Domizil nach Österreich verlegt hat, weiterhin in ihrer Muttersprache schreibt und trotz der Übersetzungen wenig Aufmerksamkeit bekommt, denn, so Schwaiger, »die klassische literaturwissenschaftliche Forschung zieht sprachliche Grenzen« (265). Dass nicht nur Sprache allein die Wahrnehmung steuert, wurde eingehend in allen Studien nachgewiesen. Wie auch bei den anderen untersuchten Werken trägt die literarische Qualität und der Ansatz eines »Dazwischen als Raum der Kritik« (283) zur Anerkennung nicht bei, sie setzt allenfalls die Tradition der autobiographischen Lesart fort.

Insgesamt rekonstruiert der Band mit seiner für die Fachforschung willkommenen Ausrichtung die Geschichte der Werke von österreichischen Autorinnen und Autoren mit Migrationshintergrund seit den 1930er Jahren im Hinblick auf die problematische Anerkennung vom Kanon der Höhenkammliteratur bzw. die beschränkte oder missverstandene Wahrnehmung seitens der Feuilletonrezeption. Diese Literatur der Grenzüberschreitung(en) wurde aber leider nicht selten entweder der monolingualen Schreib- und Kulturtradition eingeschrieben oder politisch instrumentalisiert.

Raluca Rădulescu

Anmerkungen

1 Vgl. online unter: http://www.litmove.oeaw.ac.at/ [Stand: 1.10.2017].

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