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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 8. Jahrgang, 2017, Heft 2: Swati Acharya (Hg.): Sa’adat Hasan Manto. Chronist des ungeteilten Irrsinns der Teilung Indiens (Thomas Keller)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 8. Jahrgang, 2017, Heft 2

Swati Acharya (Hg.): Sa’adat Hasan Manto. Chronist des ungeteilten Irrsinns der Teilung Indiens (Thomas Keller)

Swati Acharya (Hg.): Sa’adat Hasan Manto. Chronist des ungeteilten Irrsinns der Teilung Indiens

Heidelberg: Draupadi Verlag 2015 – ISBN 978-3-937603-98-8 – 16,00 €

Die zweisprachige Publikation, drei Beiträge sind auf Deutsch, vier auf Englisch verfasst, versammelt Beiträge von Kollegen indischer und europäischer Universitäten anlässlich des 100. Geburtstags Mantos im Jahr 2012.

Der Band formuliert bereits im Titel die vielen Facetten von Gewalt und Wahn, die Mantos Texte beschreiben und beklagen. Die Teilung (partition) der britischen Kronkolonie in die Staaten Indien und Pakistan (1947) zerreißt Jahrhunderte, ja Jahrtausende alte Bindungen und Zusammenhänge zwischen Kulturen und Religionen, sie trifft alle Bewohner des indischen Subkontinents, sie ist auch in diesem Sinne ungeteilt, verschont niemanden. Mantos Schriften stellen nicht die Sicht eines Teils, des pakistanischen oder indischen, islamischen oder hinduistischen Teils dar, sondern den ganzen Wahnsinn der Teilung sowie seiner traumatisierenden Folgen.

Insofern zögert der Rezensent, Manto (1912-1955) einen urdusprachigen und indopakistanischen Autor zu nennen. Bezeichnenderweise sind Mantos Werke in verschiedenen Schriftformen, in Dehli auf Devanagiri, in Lahore auf Urdu publiziert. Sie sind vor allem ins Englische übersetzt, seit einigen Jahren, insbesondere durch die Übersetzungen von Christine Oesterheld, auch ins Deutsche, sie sind im Lotos Verlag und bei Suhrkamp erschienen. Hierüber gibt die Bibliographie am Ende des Bandes Auskunft.

Die gut einführende Einleitung macht deutlich, wie Manto durch alle Raster fällt und seine Werke bis heute eine offene schmerzende Wunde darbieten. Manto, der in Amritsar aufgewachsen ist, in Lahore und Bombay, nach der Teilung wieder in Lahore (jetzt Pakistan) gelebt hat, entzieht sich allen eindeutigen identitären Zuschreibungen. Er ist säkular, ohne jeglichen religiösen Eifer, er verweigert sich ethnizistischen und nationalen Selbstbildern. Seine transkulturelle Verfasstheit manifestiert sich in binnenindischem code switching wie in Brückenschlägen zwischen Indien und Europa. So hat er Oscar Wilde und Victor Hugo ins Urdu übersetzt.

Dem Sammelband gelingt nun überzeugend die Aufgabe, Kriterien für Mantos Schreibweise zur Verfügung zu stellen, einen rettenden Hohlspiegel gewissermaßen gegen die fatalen Identitäten zu entwerfen. Die ausschließenden Alternativen »Differenz statt Ähnlichkeit«, »Homogenität statt Hybridität«, »Verachtung statt Achtung« (12) bezeichnen die gewalterzeugende grenzziehende Logik.

Die Herausgeberin Swati Acharya hat Beiträge zusammengetragen mit dem Ziel, sowohl politisch-kulturelle wie soziale Aspekte von Grenzziehungen zu entwickeln. Mantos Texte bringen die (religions-)politische Teilung und soziale Spannungen in einen Zusammenhang. In der Einleitung bestimmt die Herausgeberin die transdisziplinäre Anlage des Bandes mit der dialektischen Beziehung zwischen Historiographie und Literatur. Diese Beziehung erlaubt es, die Gründungsmythen von Staaten wie auch Texte aufzuschließen, die die »Abfälle der Geschichte« (11) einbeziehen. Indes bringt der Band viel mehr. Es ergeben sich in vielfacher Hinsicht neue kulturwissenschaftliche Perspektiven. Der Band verbindet mit der Thematik Grenzziehungen und den dabei angelegten Kriterien wie Heterogenität/Homogenität zweierlei Bereiche: den besonderen krisenhaften Augenblick der Teilung und Staatengründung; transkulturelle Konfigurationen ambivalenter Sozialfiguren, vom Lumpenhändler zum Zuhälter. Dadurch überschreitet die Reflexion tendenziell auch die Beschränkung auf den postkolonialistischen Ansatz.

Anil Bhatti zeigt die Absurdität und Gewaltsamkeit der partition anhand Mantos Erzählung Toba Tek Singh – die Insassen der Irrenanstalten werden nach jeweiliger Religion nach Indien oder Pakistan umgesiedelt. Mantos Text lässt den Vorgang umschlagen: Verrückt sind die umsiedelnden Behörden. Der Bezug zu Kafkas Parabeln bietet sich an. Mit Manto plädiert Bhatti dafür, die Rede von Identität und nationalen und religiösen Verschiedenheiten durch solche einer graduellen Skala von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit zwischen Differenzen abzulösen. Letztere ist nicht nur den zahllosen Nachbarschaften und Synkretismen Indiens gemäßer, sie eignet sich auch als neues kulturtheoretisches Paradigma.1

Tarun K. Saint hebt die zeitliche Fortdauer der Traumatisierung hervor, die von der Teilung ausgeht. Manto erzählt Trenngeschichten. Er bringt Grenzziehungen mit phantastischen, an lateinamerikanische Literatur erinnernden Stilmitteln zum Ausdruck. Gewaltsam ist nicht nur die Zerschlagung der Vielfalt selbst, katastrophal ist auch die langfristige psychische Verstümmelung der Menschen. Saint nimmt ganz besonders die Gewalt gegen Frauen wahr, wie Manto sie in Khol Do darstellt. Manto überträgt in seinen Trenngeschichten die physische, psychische und sprachliche Seite der Gewalt, die sich bis heute, etwa in religiösem Wahn gegen andere Religionen, fortsetzt.

In sprachwissenschaftlicher Perspektive wirft Mantos Schreiben die Frage auf, wie Mehrsprachigkeit behauptet werden kann. Rosy Singh arbeitet Mantos Mehrsprachigkeit und sein code switching heraus. Anhand einer Textanalyse von The dog of Twetal, in der ein im Grenzraum laufender Hund von beiden Seiten verhöhnt und erschossen wird, ermittelt Singh sprachliche Verfahren, um politisch getrennte Welten wieder zu verbinden. Manto erreicht dies durch Nonsens, wie man es aus europäischer Literatur, etwa Dada, kennt, und anderen sprachlichen Verknüpfungen von Anderheiten. Manto passt nicht in die Schemata der linksgerichteten Schriftstellervereinigung Pakistans, die ihm den nachlässigen Umgang mit Urdu und das mangelnde soziale Engagement vorwirft, Singh zieht die Gruppe 47 zum Vergleich heran, die ebenfalls verständnislos für gewisse Abweichler war.

Diese Zurückhaltung des Beobachters ist das Thema von Hilal Ahmed. Er bezeichnet mit ›intellektueller Politik‹ jenen Doppelaspekt in Mantos Schreibweise, der ihn zu einem immer politischen und zugleich distanzierten Autor macht. Die leidenschaftslose Neutralität gilt freilich nur für die Kurzprosa.

Christina Oesterheld stellt die journalistischen Texte Mantos, das sind Die Briefe an Onkel Sam, einem fiktiven, in die USA ausgewanderten Verwandten, vor, die den Freiheitsanspruch der USA auf die Schippe nehmen. Oesterheld hat die Briefe selbst übersetzt. Die scharfe, sarkastische Kritik an den USA, an der Zweiteilung der Welt, der Atombombe, der militärischen Aufrüstung Pakistans durch die USA ordnet die von der britischen Kolonialmacht künstlich geschaffenen Teile in den nicht weniger konflikterzeugenden internationalen Wettkampf der Systeme ein.

Die beiden letzten Beiträge stiften Beziehungen zwischen Manto und europäischen Autoren. Margit Köves verbindet Mantos Kurzgeschichte Siyah Hasye und die One Minute Stories des ungarischen Schriftstellers István Örkény unter dem Gesichtspunkt der jeweiligen Katastrophen – partition und Shoah. Beiden Schriftstellern ist die ironische Distanz eigen, mit der sie das Engagement für eine bestimmte Partei unterlaufen. Die Bezugsetzung Indiens mit den Folgestaaten des vielkulturellen Habsburgerreiches hat eine gewisse Plausibilität, weitere Verbindungslinien zieht Köves zu der Realismusdebatte nach Lukács.

Swati Acharya schlägt Mantos Weigerung, homogene Welten zu erzwingen, in denen Identität herrscht, die sich gegen Differentes abhebt, auf die gesellschaftliche Wirklichkeit um. Der Nonkonformist Manto wendet sich den »Abwässerkanälen« (13), dem Abschaum und Auswurf der Gesellschaft, Randfiguren wie Zuhältern, Puffmüttern, Kleinkriminellen, Zeitungsjungen zu. Solche Verdammten und Anrüchigen dieser Erde hat Manto, haben aber auch Charles Baudelaire und Walter Benjamin beschrieben. So kann Acharya Manto als Chiffonnier, als Lumpensammler bezeichnen. Der Dichter gehört selbst diesen Randbezirken an. Wenngleich Manto selbst ein relativ bürgerliches Leben geführt hat, sind doch seine Sympathie für die Ausgeschlossenen, sein Nonkonformismus und nicht zuletzt seine Alkoholabhängigkeit und sein früher Tod bezeichnend. Analog zur Analyse des Großstadtdiskurses im Passagenwerk Benjamins wird Manto als Autor der Modernität greifbar. Er stellt zwiespältige Zuhälter vor, sie überbrücken soziale Differenzen. Auch die Prostitution ist in Mantos Texten komplex und widersprüchlich. Swati Acharya, die an einem größeren Werk über Prostitution in der deutschsprachigen Literatur und dem Film arbeitet, rückt damit schwer einzuordnende Sozialfiguren in den Fokus der Literatur- und Kulturwissenschaftler. Zu solchen Figuren gehören etwa auch Dandys und Hochstapler.

Es sei dem Rezensenten gestattet, noch einige Fragen zu stellen. Dem deutschsprachigen Leser kommt angesichts der schmerzhaften partition die mehr oder wenig glücklich überwundene deutsche Teilung in den Sinn. Selbstverständlich sind beide Teilungen unvergleichbar. Gerade die Unvergleichbarkeit lenkt den Blick auf den jeweiligen Systemwechsel und die jeweilige Staatengründung. Die britische Kolonialmacht konnte eine Bresche in die indische Heterogenität schlagen. Die essenzialistische Differenz zwischen Religionen, in Indien zwischen Hindus und Moslems, von Anil Bhatti als »Postulat« (25) bezeichnet, ereignet sich in anderen Konfigurationen ständig und an sehr verschiedenen Orten. Sogar in Europa und in Deutschland zeigt sie seit neuestem ihr hässliches Gesicht. Der europäische Staatenbund, d.i. die Europäische Union, scheint dagegen machtlos. Ist eine polykulturelle Staatengründung überhaupt denkbar?

Die Deutschen habe in ihrer Geschichte etliche Übergänge zwischen mehr und weniger einheitlicher Staatlichkeit, zwischen Teilungen und Zusammenfügungen erlebt. Sie sind dabei Objekt von Siegermächten wie auch eigene Akteure gewesen. Bei aller Verschiedenheit – wer könnte der Manto der deutschen partition sein? Die Unterschiede sind indes so augenfällig, dass es nicht verwunderlich ist, dass das Habsburgerreich nicht nur als ausgeschiedener Bezugspunkt bei der britischen Kolonialmacht, sondern wiederholt auch in den Beiträgen des Bandes als polykulturelle Folie herumgeistert.

So ergibt sich eine gewisse Affinität zu Bewusstseinslagen Deutschsprachiger durch das Thema der Teilung. Indes ist der Brückenschlag im Band auch ein indisch-französischer. In diesem Zusammenhang stellt sich der Rezensent eine weitere Frage im Hinblick auf den Begriff ›säkular‹. Es dürfte immer weniger Menschen geben, die von der Modernisierung und Globalisierung ein langfristiges Erlöschen der Religionen erwarten. Die Nationsbildung auch in Indien demonstriert, dass Moderne sich mit national-religiösen Zuspitzungen verbindet.2 Nicht nur für Europa und Nordamerika ist die Vorstellung von Säkularisierung in der Form von Religionslosigkeit immer weniger plausibel. Die modernen Staaten haben nun das Konzept einer Trennung von Religion und Staat aufgeboten. Es ist in Frankreich besonders strikt durchgeführt, der Friede zwischen den Religionen und zwischen Staat und Religionen hingegen wurde hier lange nicht erreicht. Auch in Nehrus Konzept der Staatsgründung ist der säkulare Charakter des Staats Voraussetzung für den inneren Frieden. Die zivilstaatliche Einhegung der Religionen ist nun in Frankreich eine sehr andere als in Deutschland. Für Deutschland ist der im 17. Jahrhundert erreichte Religionsfriede mindestens so wichtig wie die – unvollständige – Trennung von Kirche und Staat. Insofern erhält der Begriff ›säkulär‹ eine unklare schillernde Bedeutung. Scheint sich ein Konsens darüber erreichen zu lassen, dass der moderne Staat nicht religiös gebunden sein sollte, so kann man sich fragen, welche Bedeutung in Indien Konzepte wie Religionsfrieden und staatlich ermutigter Synkretismus, wie in Brasilien, haben könnten.

Eine letzte Anmerkung sei zu der Formel Hybridität statt Homogenität angebracht. Hier stellt sich die Frage, ob Heterogenität und Hybridität vereinbar sind. Die Vorstellung von Hybridität, von gescheckten Wesen und Bewusstseinsinhalten, kann selbst essentialistisch sein. Sie gerät dann in Gegensatz zu Ähnlichkeit. Statt Kreuzungen zu propagieren, könnten Kulturwissenschaftler indes auch Beschreibungen von Rekontextualisierungen bevorzugen.3

Diese Überlegungen bestätigen nur, dass Mantos Schriften einen dramatischen und schmerzhaften Stoff und überaus hilfreiche Anhaltspunkte für die politischen und kulturtheoretischen Debatten unserer Zeit bieten – und dies nicht nur bezogen auf Indien. Mit seiner Vorstellung in durchweg ausgezeichneten Beiträgen kann sein Anliegen jetzt auch an die Leser der deutschsprachigen Länder gelangen.

Thomas Keller

Anmerkungen

1 Anil Bhatti hat inzwischen mit Dorothee Kimmich einen Band herausgegeben, der das Kriterium der Ähnlichkeit gegen differentielle kulturtheoretische Konzepte wie Multikulturalität in Anschlag bringt (vgl. Bhatti/Kimmich 2015).

2 Vgl. Essbach 2014.

3 Vgl. Ette/Wirth 2014.

Literatur

Bhatti, Anil/Kimmich, Dorothee (Hg.; 2015): Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma. Konstanz.

Essbach, Wolfgang (2014): Religionssoziologie. Glaubenskrieg und Revolution als Wiege neuer Religionen. Bd. 1. München.

Ette, Ottmar/Wirth, Uwe (Hg.; 2014): Nach der Hybridität. Zukünfte der Kulturtheorie. Berlin.

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