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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - Heft 1/2010: »Lost in Translation« - Zur Übersetzung als Bewältigung des Unverständlichen (Hinrich C. Seeba)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - Heft 1/2010

»Lost in Translation« - Zur Übersetzung als Bewältigung des Unverständlichen (Hinrich C. Seeba)

»Lost in Translation«*

Zur Übersetzung als Bewältigung des Unverständlichen

Hinrich C. Seeba

Wer von Übersetzung reden will, kommt nicht umhin, die wohl folgenreichste Übersetzung zu bedenken, die Übersetzung des Neuen Testaments, die Martin Luther als Junker Jörg in seiner Gefangenschaft auf der Wartburg 1521/22 angefertigt hat – vor allem dann nicht, wenn man wie ich erst letzte Woche für einige Tage auf der Wartburg war und dort die Sonderausstellung Dies Buch in aller Zunge, hand und herzen. 475 Jahre Lutherbibel gesehen hat. Weil ich in dem Glauben aufgewachsen bin, dass Luthers zum ersten Mal 1534 vollständig vorgelegte Bibelübersetzung die neuhochdeutsche Sprache überhaupt erst begründet hat, dass es sich also um die erste Übersetzung ins Deutsche gehandelt haben muss, fand ich es umso bemerkenswerter, dass diesem vermeintlichen Erstling 18 frühere Übersetzungen vorausgegangen sind, vier davon ins Niederdeutsche und 13 davon ins Oberdeutsche übertragene Bibeln, von der 1466 in Straßburg gedruckten Mentelin-Bibel bis zur 1522 gedruckten Halberstädter Bibel von Lorenz Stuchs. Der auffallendste Unterschied zwischen diesen Vorgängern und Luthers Bibel ist typografischer Art und, wie ich finde, von großer symbolischer Bedeutung: Während die älteren Bibeln immer zweispaltig gedruckt sind, hat Luther seine Übersetzung einspaltig drucken lassen, um möglichen Randkommentaren der Leser mehr Platz einzuräumen. Ganz in Übereinstimmung mit seiner theologischen Auffassung vom aktiven Gläubigen, der über das ihm direkt zugängliche Wort einen unvermittelten Umgang mit Gott pflegen kann, hat Luther offenbar auch den Prozesscharakter der Übersetzung als fortlaufenden Kommentar verstanden, in den sich auch der Laie einschalten kann. Das kann aber, nach Luthers Auffassung, nur gelingen, wenn die Sprache der Bibel den Leser anspricht, wenn dieser sich darin auch sprachlich wiederfindet und sich dadurch ermächtigt fühlt, das Wort Gottes fortzuschreiben, es auch sprechend weiterzudenken. So entspricht der theologischen Aufwertung des Individuums, wie Luther in seinem Sendschreiben vom Dolmetschen (1530), einer grundsätzlichen Erörterung von Übersetzungsproblemen, klarmacht, eine Absenkung des hohen Bibeltons in die volkstümliche Bildsprache:

den man mus nicht die buchstaben inn der lateinischen sprache fragen, wie man sol Deutsch reden, wie diese esel thun, man mus die mutter jhm hause, die kinder auff der gassen, den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen, und den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetzschen, so verstehen sie es den und mercken das man Deutsch mit jn redet. (Ausst.-Kat. 2009, 39f.)

Unter der knapperen Formel »dem Volk aufs Maul schauen« ist uns Luthers Regel der Anpassung an die volkstümliche Alltagssprache ja sehr geläufig. Es geht aber um mehr, um die Verständlichkeit eines Textes, der nicht mehr buchstabentreu, sondern sinngemäß übersetzt ist, damit alle Leser auch ihren an den Text herangetragenen Sinn darin wiederfinden können. In letzter Konsequenz ist also, wie sich aus den theologischen Kontroversen um die zunehmend heterogene, Exegese genannte Schriftauslegung leicht ableiten ließe, selbst die Übersetzung des Wortes Gottes eine interessengeleitete und der aktuellen Sinn-erwartung angepasste Interpretation. So kann es nicht verwundern, dass Luther seine Bibelübersetzung mit Neologismen gefüllt hat, für die es im Griechischen keine Entsprechung gibt: Sündenbock, Gewissensbisse, Lückenbüßer, Feuereifer, Denkzettel, Rüstzeug, Richtschnur, Buch mit sieben Siegeln, ein Dorn im Auge, dienstbare Geister, auf Händen tragen, im Dunkeln tappen, ein Herz und eine Seele, sein Herz ausschütten, Perlen vor die Säue werfen.

Aber nicht nur bei Luther kann das Resultat einer Übertragung vom Ausgangstext bis zur Unkenntlichkeit verschieden sein. Wir kennen alle das Kinderspiel Stille Post, in dem ein Kind dem anderen etwas ins Ohr flüstert, was jenes einem dritten Kind weiterflüstern muss, bis am Ende des Kreises meistens etwas völlig anderes herauskommt, als am Anfang eingegeben wurde. Der unvermeidliche Lacherfolg des lehrreichen Spiels kann pädagogisch genutzt werden, wenn es darum geht, den Grad subjektiver Verfälschung bei der verantwortungsvollen Weitergabe einer Nachricht geringzuhalten, also auch umgekehrt, vom Ende her gesehen, nicht einem wild wuchernden Gerücht aufzusitzen, in dem sich jede weitere Ausschmückung von ursprünglich harmlosen Details schließlich zum Skandaleffekt steigert. In beiden Fällen entspricht der Vermehrung des Akzidentiellen eine Verringerung des Substantiellen, entspricht der Detailausschmückung ein Sinnverlust. Der Reibungsverlust in der Sinnvermittlung wird gerne mit dem entschuldigenden Wort vom ›Übertragungsfehler‹ gerechtfertigt, als schlichen sich in der Übertragung von A nach B Fehler ein, für die niemand verantwortlich ist. Gerade um diese Verantwortung für Unverschuldetes geht es aber, wenn noch der gewissenhaftesten Übersetzung Sinnentstellungen unterlaufen, schlecht zu kontrollierende Missverständnisse entstehen und wesentliche Aussagen des Originals unvermittelt und damit unverstanden bleiben.

Wie folgenreich eine gekürzte und schließlich falsche Wiedergabe eines wichtigen Textes sein kann, zeigt sich an der sog. Emser Depesche, dem Protokoll einer Unterredung, die Kaiser Wilhelm I. am 13. Juli 1870 auf der Kurpromenade von Bad Ems mit dem ihm nachgereisten französischen Botschafter Vincent Benedetti hatte. Das nach Berlin geschickte Protokoll dieser Unterredung hat Bismarck ohne alle diplomatischen ›Weichmacher‹ und in so zugespitzter Form an die Presse weitergegeben, dass Frankreich als Reaktion auf die in der französischen Übersetzung noch einmal verschärfte Depesche nichts anderes übrig blieb, als Preußen den Krieg zu erklären. Ohne diese gezielten Übertragungsfehler, die zum erwünschten, aber den Franzosen angelasteten Krieg und schließlich zum Sieg der vereinten deutschen Staaten führten, wäre es kaum zur Ausrufung des Deutschen Reichs ausgerechnet im Spiegelsaal von Versailles und damit zum weiteren Schlagabtausch gegenseitiger Demütigungen nach dem Ersten und im Zweiten Weltkrieg gekommen. Gewollt oder ungewollt, die Folgen einer falschen Übertragung können verheerend sein. War es in der Verfälschung der Emser Depesche der sprichwörtliche Ton, der die Musik macht, also der provozierende Verzicht auf diplomatische Rhetorik, so geht es in den meisten Fällen folgenreicher Verfälschung um die Verkürzung und den Verlust der Substanz selbst.

Wie wir sehen werden, gehen Sinnverschiebung und Bedeutungsverlust weit über das philologische Kriterium der Angemessenheit hinaus, an dem sich die ganz ›freie‹ Übertragung genauso orientieren muss wie die sklavisch ›wörtliche‹ Übersetzung. Richtig im Sinne sinngemäßer Wiedergabe des Gemeinten und des Bedeuteten können beide sein, aber hier steht viel mehr als die Richtigkeit der Übersetzung auf dem Spiel. Es geht um den Bedeutungsüberschuss, der sich unserem Textverständnis vielleicht widersetzt, weil die Schnittfläche in der Mitte von keinem der konzentrischen Kreise, die sich als Übersetzung um das Original legen, tangiert wird. Wir werden sehen, dass die Eingrenzung dieses Bedeutungsüberschusses nicht nur eine philologische, sondern auch eine mythologische, philosophische, ja sogar theologische und schließlich kulturkritische Dimension hat, weil das Unverstandene vielleicht auch das Unverständliche ist und als nicht kommunizierbar sich unserem Verstand grundsätzlich entzieht.

Jeder Versuch der Übersetzung verweist auf den Mythos ihrer kulturellen Notwendigkeit, auf die babylonische Sprachverwirrung als Voraussetzung sprachlicher Differenz, die es zu überbrücken gilt. Aber weder Esperanto noch Englisch als neue Lingua franca noch die Professionalisierung des Übersetzungsgeschäfts hat die totale Entwirrung der Sprachenvielfalt und der im unvollendeten Turm von Babel symbolisierten Verständigungsprobleme erreichen können. In der erfolgreichen Berliner Ausstellung im Sommer 2008, Babylon – Wahrheit und Mythos im Pergamonmuseum, hat der 1940 geborene Aktionskünstler Timm Ulrichs die babylonische Sprachverwirrung dadurch illustriert, dass er in einem Projekt Übersetzung – Translation – Traduction. Ein polyglotter Zyklus (1968-1974) den Brockhaus-Artikel über »Übersetzung« nach dem Prinzip »Stille Post« auf eine Weltreise durch Übersetzungsbüros in 52 Länder geschickt hat. Er hat dabei herausgefunden, dass am Ende, nach der letzten, vom Berlitz Übersetzungsdienst GmbH in Hannover beglaubigten Übersetzung aus Hindi ins Deutsche, etwas völlig anderes herauskam, als was ursprünglich auf die Reise geschickt wurde (Ausst.-Kat. 2008, 138). An der Aktion waren lauter professionelle Übersetzer beteiligt, denen niemand Inkompetenz nachsagen würde, und doch entsprach das Ergebnis nicht dem wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch, den ausgebildete Übersetzer erheben dürfen, sondern es bestätigte das populäre Diktum »that something always gets lost in translation«1 und dass, wenn man die Kette nur genügend verlängert, am Ende die Unverständlichkeit wieder hergestellt ist, zu deren Behebung der ganze Aufwand eigentlich betrieben wurde. Zu diesem zunächst vielleicht unterhaltsamen, schließlich aber doch beunruhigenden Ergebnis kann auch jeder im Selbstversuch kommen, der im Internet den Link http://tashian.com/multibabel anklickt und, unter dem Titel Lost in Translation, einen beliebigen Satz zur ›Babelisierung‹ eingibt, um zu sehen, wie dessen jeweilige computergestützte Übersetzung vom Englischen ins Französische, ins Deutsche, zurück ins Englische, ins Italienische, zurück ins Englische, ins Portugiesische, zurück ins Englische, ins Spanische, zurück ins Englische sich vom Original entfernt und schließlich völlig unverständlich ist. Ich habe den Spruch »In the beginning was the word« eingegeben und das Ergebnis erhalten: »It was at the outset the word«, oder »Tomorrow I will go to the movies« wird »I will happen tomorrow« usw. Im Endeffekt entsteht das sinnlose und nicht mehr kommunizierbare Gebrabbel, das schon die alten Griechen nur den nicht Griechisch sprechenden Fremden, den Barbaroi, vorbehalten hatten. Dient die im Internet-Jargon Babelization genannte Übersetzung der Übersetzung, ihre zunehmende Entfernung vom zu übersetzenden Original, also der Re-Barbarisierung der Sprache und ihrer Sprecher? Lässt sich der Verlust des Wesentlichen je wieder einholen?

Das allgemeine Einverständnis, dass immer etwas verloren geht, mag dem professionellen Stolz der Berufsübersetzer zuwiderlaufen; herauszufinden, was da im Anspruch restloser Gleichsetzung von zwei ganz verschiedenen Sprachen an Bedeutung verloren geht, geht über die Aufgabe der Übersetzer weit hinaus. Es ist vielmehr eine philosophische Frage nach dem unübersetzbaren Bedeutungsrest, die sich an die mythologischen Reminiszenzen jedes kulturellen Transfers anschließt. Für das Unverständliche, das Unbegriffene und vielleicht das Unbegreifliche ist natürlich wenig Raum, wo es ganz pragmatisch um die Berufsehre von Dolmetschern und um Tarifverhandlungen für eine unterbezahlte Berufssparte geht.

Um besser zu verstehen, was jede Übersetzung zu leisten hat, tun wir gut, uns daran zu erinnern, dass allgemein unterschieden wird zwischen der denotativen und der konnotativen Funktion der Sprache, zwischen inhaltlicher Eindeutigkeit, wie wir sie in einer Gebrauchsanweisung erwarten, und bildlicher Mehrdeutigkeit, wie sie uns die Metaphernsprache der Dichtung bietet. Wie die Interpretation eines musikalischen Werks muss die Übersetzung technische Form und künstlerischen Gehalt verbinden, sie muss zugleich werkgetreu und verständlich sein. Sie muss sich dem Wortlaut wie einer Partitur unterordnen und zugleich eine eigene Virtuosität entwickeln. Und Übersetzer müssen immer mit dem eigenen Gefühl des Ungenügens leben, weil es keine restlose Rekonstruktion des Urtextes geben kann, weil keine zwei Sprachen ähnlich, gleich oder gar identisch funktionieren. Und sie müssen immer mit dem Vorurteil ihrer Leser leben, dass sie bloß sekundäre Diener eines primären Originals sind, die dem hohen Anspruch nie gerecht werden können, weil in der Übersetzung immer etwas verloren geht.

Wie sehr das Vorurteil gegen die Leistung der Übersetzer an die Ideologie des Originals gebunden ist, das sie angeblich oder wirklich nie erreichen können, geht aus dem antisemitischen Missbrauch eines Ursprungsdenkens hervor, das seit dem Geniekult des 18. Jahrhunderts zentral für die deutsche Geistesgeschichte gewesen ist. So sind für Hitler, dessen ästhetische Vorstellungen entscheidend durch die Idee nationaler Ursprünglichkeit geprägt waren, Juden der Inbegriff des Nachahmers und des Übersetzers. Weil für ihn feststand, dass die Künste »dem Judentum nichts Ursprüngliches zu verdanken haben«, sah er alle Sekundärleistungen als jüdisch an:

Wie sehr der Jude nur nachempfindend, besser aber verderbend, fremde Kultur übernimmt, geht daraus hervor, dass er am meisten in der Kunst zu finden ist, die auch am wenigsten auf eigene Erfindung eingestellt erscheint, der Schauspielkunst. Allein selbst hier ist er wirklich nur der »Gaukler«, besser der Nachäffer; denn selbst hier fehlt ihm der allerletzte Wurf zur wirklichen Größe; selbst hier ist er nicht der geniale Gestalter, sondern äußerlicher Nachahmer, wobei alle dabei angewendeten Mätzchen und Tricks eben doch nicht über die innere Leblosigkeit seiner Gestaltungsgabe hinwegzutäuschen vermögen. (Hitler 31930, 332)

Auch wo sie schöpferisch und originell sein wollen, können Juden – so lautet das antisemitische Verdikt – nur Übersetzer, keine Originalschöpfer, sondern nur Sekundärartisten sein. Weil Juden jedes ›ursprüngliche‹ Verhältnis zur deutschen Sprache abgesprochen wurde, mussten im Dritten Reich von Juden auf Deutsch geschriebene und veröffentlichte Bücher den Zusatz tragen »Übersetzung aus dem Hebräischen«.2 Dass sogar die Opfer des Ursprungsdenkens das Vorurteil ihrer Verfolger teilen, dass die Anverwandlung einer fremden Sprache, wie sie Übersetzer täglich leisten müssen, für nicht echt, wahr, original gehalten wird, zeigt eine überraschende Aussage von Paul Celan, die allen bilingualen Versuchen unserer Zeit ins Gesicht schlägt: »Nur in der Muttersprache kann man die eigene Wahrheit aussagen, in der Fremdsprache lügt der Dichter.«3 Das ist – aus berufenem, im lebenslangen Exil geprüftem Munde – ein überraschend unerbittliches Plädoyer gegen die Übersetzung.

Dass die Dichter überhaupt ›lügen‹, selbst und gerade wenn sie Originäres schaffen, ist natürlich ein Vorurteil, das schon auf Platon zurückgeht. Platon hatte bekanntlich die Dichter aus dem idealen Staat, den er als moralisches Institut einrichten wollte, ausschließen wollen, weil sie nicht die Wahrheit sagen. Sogar Homer, der schon zu Platons Zeiten kanonisierte Epiker, ist für Platon, weil er »im dritten Grade von der Wahrheit entfernt« steht, nur »ein Schattenbildfabrikant, wie wir den Nachahmer definiert haben« (Platon 374=599D) und nicht akzeptabel:

Wir dürfen also als ausgemacht annehmen, daß alle Künstler in der Nachahmungspoesie, von Homer an gerechnet, in bezug auf geistige Tüchtigkeit und die anderen Gegenstände ihrer Darstellung nur nachahmende Schattenbildkünstler sind und die eigentliche Wahrheit nicht erfassen. (Ebd., 375=601A)

Erfasst hat Platon hier das Darstellungsproblem, die Differenz, die semiotisch durch den Unterschied von Zeichen und Bezeichnetem definiert wird. Während die darzustellende Wirklichkeit das Bezeichnete (engl. the signified) ist, ist ihre Darstellung das davon grundverschiedene Zeichen (engl. the signifier). Weil die als Fiktion wiederholte zweite Wirklichkeit, der ästhetische Schein der Kunst also, nie deckungsgleich ist mit der ersten Wirklichkeit, auf die sie sich bezieht und auf die sie interpretierend verweist, könnte man die Darstellung selber als Übertragung, als Übersetzung, als poetische Neuschöpfung der Welt verstehen, weshalb denn auch der Dichter gerne als Alter Deus bezeichnet wird, als der andere, der zweite Gott, der als schöpferisches Genie die Schöpfung wiederholt oder auch nachahmt und nachmacht. So ist der Dichter – der vom griechischen Verb poiein = machen abgeleitete Poet – wirklich ein ›Macher‹, der Schöpfer der nachgemachten, der künstlich und der, wenn es gelingt, künstlerisch ›gemachten‹ Welt, wie das von ihm Gemachte – griechisch poema = das Gedicht – die Dichtung ist.

So wie keine Darstellung, auch die realistischste nicht, identisch mit ihrer realen Vorlage ist, so kann auch innerhalb der Dichtung keine Übersetzung identisch mit ihrer literarischen Vorlage sein. Ist die Differenz im ersten Fall ein ontologisches Problem, der Unterschied zwischen Sein und Schein, so ist die Differenz im zweiten Fall ein philologisches Problem, der Unterschied zwischen Originaltext und Übersetzung. Schopenhauer hat 1851 das offensichtliche Dilemma auf den Begriff gebracht:

Fast nie kann man irgend eine charakteristische, prägnante, bedeutsame Periode aus einer Sprache in die andre übertragen, daß sie genau und vollkommen die selbe Wirkung thäte. – Gedichte kann man nicht überset-/zen, sondern bloß umdichten, welches allezeit mißlich ist. Sogar in bloßer Prosa wird die allerbeste Uebersetzung sich zum Original höchstens so verhalten, wie zu einem gegebenen Musikstück dessen Transposition in eine andere Tonart. (Schopenhauer 1977, 617f.)

Übersetzungen sind also im weitesten Sinn Umdichtungen und im engsten Sinn Transpositionen, immer aber mit einem kräftigen Schuss unreflektierter Vorurteile, Interessen, Ziele durchsetzt, die auch den gewissenhaftesten Übersetzer bei seiner Arbeit so sehr lenken, dass sich manchmal eine gewisse Willkür einschleicht. Das kann man negativ als Verfälschung sehen oder, wie im Fall Luthers, positiv als sprachschöpferische Aktualisierung.

Berühmtestes Beispiel solcher willkürlichen Umdeutung ist der in Luthers Wittenberg spielende Übersetzungsversuch in Goethes Faust. Erster Teil (1808). Es geht dabei um nicht weniger als um die Schöpfungsgeschichte nach dem Johannes-Evangelium, sozusagen um die philologische Urszene, in der Gott allein durch das Wort die Welt geschaffen hat:

Wir sehnen uns nach Offenbarung,

Die nirgends würdger und schöner brennt

Als in dem Neuen Testament.

Mich drängts, den Grundtext aufzuschlagen,

Mit redlichem Gefühl einmal

Das heilige Original

In mein geliebtes Deutsch zu übertragen.

Er schlägt ein Volum auf und schickt sich an.

Geschrieben steht: »Im Anfang war das Wort!«

Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?

Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,

Ich muß es anders übersetzen,

Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.

Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.

Bedenke wohl die erste Zeile,

Daß deine Feder sich nicht übereile!

Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?

Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!

Doch auch indem ich dieses niederschreibe,

Schon warnt mich was, daß ich nicht dabei bleibe.

Mir hilft der Geist! auf einmal seh ich Rat

Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!

(Goethe 71964a, 244, V. 1217-1237)

Faust will, gewissermaßen in der Nachfolge Martin Luthers, der damit das moderne Hochdeutsch geprägt hat, das »heilige Original«, das ja selbst schon eine griechische Übersetzung ist, in sein »geliebtes Deutsch übertragen«, also die Ehrfurcht vor dem ihm vertrauten Originaltext mit der Liebe zur Zielsprache, seiner Muttersprache, verbinden. Was folgt, ist ein abtastendes Durchprobieren verschiedener Möglichkeiten, wie die griechische Formel εν αρχη ην ο λογος, mit der das Johannes-Evangelium beginnt, am besten übersetzt werden kann. Dabei stellt sich schnell heraus, dass ausgerechnet das Wort, das vor allem, aber eben nicht nur ›Wort‹ bedeutet (λογος), eine größere semantische Bandbreite besitzt und dass Faust gar nicht so sehr »mit redlichem Gefühl«, also mit philologischer Akribie, sondern vielmehr mit zunehmender Lizenz den »Grundtext« seinem eigenen Bedürfnis anpasst, bis aus dem ›Wort‹ erst der ›Sinn‹, dann die ›Kraft‹ und schließlich die ›Tat‹ geworden ist, die nach einem gängigen antinomen Denkschema gerade das Gegenteil von ›Wort‹, auf jeden Fall nicht durch das griechische Wort λογος abgedeckt ist. So vorsichtig der Übersetzer Faust vorzugehen scheint – er ›stockt‹, ›bedenkt sich‹, will sich nicht ›übereilen‹ und folgt einer zweimal »Geist« genannten inneren Stimme, die ihn warnt, sich nicht vorschnell festzulegen –, so entschieden ist er doch, es ›anders‹ als Luther zu machen: »Ich muß es anders übersetzen.« In dieser Andersartigkeit der gesuchten besseren Übersetzung verrät sich der Versuch wohl jeder Übersetzung, sich mit einer vorliegenden Übersetzung, hier der Übersetzung Martin Luthers, zu messen, es dadurch anders und besser zu machen, dass man selber so ›originell‹ wie das ›Original‹ zu sein versucht. Dieses Streben zur Originalität im vermeintlich selbstvergessenen Dienst am Original kann den zu übersetzenden Text zur Projektionsfläche des Übersetzers instrumentalisieren. Goethe lässt Faust den Luthertext so verändern, dass er darin sein eigenes Engagement für ›Kraft‹ und ›Tat‹, diese beiden Grundelemente des ›Sturm und Drang‹, gerechtfertigt sehen kann. Weil es sich ja um den Sinn der Urszene der Weltschöpfung handelt, kommt dieser Umdeutung des Urprinzips, aus dem unser Universum entstanden ist, eine ungeheure Bedeutung zu. Dass Gott, dem laut Luther das schöpferische Wort vorbehalten war, aus dieser Umdeutung verschwunden ist, weil sich der prometheische Tatmensch an seine Stelle gesetzt hat, ist nicht so verwunderlich, wenn man bedenkt, dass Goethes Urfaust, in dem die Übersetzungsszene allerdings noch nicht enthalten war, zur selben Zeit entstanden ist, wie das wichtigste Gedicht des ›Sturm und Drang‹, Goethes Prometheus (1774), das mit der ungeheuerlichen Selbstermächtigung des säkular vereinzelten »Ich« als Alter Deus gegen den »Zeus« genannten Schöpfergott endet:

Hier sitz ich, forme Menschen

Nach meinem Bilde,

Ein Geschlecht, das mir gleich sei,

Zu leiden, zu weinen,

Zu genießen und zu freuen sich,

Und dein nicht zu achten

Wie ich! (Goethe 71964b, 46)

Dieser Nichtachtung des Schöpfergotts entspricht die Aufwertung der, wie es nicht zufällig heißt, ›schöpferisch‹ freien Nachdichtung, mit der die Übersetzung an die Stelle des Originals getreten ist – wie der Übersetzer als Alter Deus an die Stelle Gottes. Nicht mehr Gott, sondern der Mensch ist das Urbild aller Schöpfung. Man könnte mit der radikal-anthroplogischen Wendung Ludwig Feuerbachs sagen, dass nicht mehr Gott den Menschen nach seinem, also göttlichen Bilde, sondern umgekehrt der Mensch Gott nach seinem, also menschlichen Bilde geschaffen hat. Fausts Bibelübersetzung vertritt also die Anthropologisierung der Religion aus dem Geist der Renaissance.

Mit Goethes Hilfe haben wir sowohl eine quasi-religiöse Dimension der Übersetzung und zugleich in ihrer Aufwertung einen Akt der Säkularisierung gefunden. Aber Prometheus’ Hybris erinnert auch daran, dass in der Übersetzung etwas ausgespart bleibt, dass sogar etwas verloren geht, das nicht restlos verstanden und bewältigt werden kann. Sogar Goethes Prometheus räumt selbst noch im Irrealis die Möglichkeit unerlöster Bedrängnis und die Hoffnung auf ein Erbarmen ein:

Da ich ein Kind war,

Nicht wußte, wo aus, wo ein,

Kehrte ich mein verirrtes Aug’

Zur Sonne, als wenn drüber wär’

Ein Ohr, zu hören meine Klage,

Ein Herz wie meins,

Sich des Bedrängten zu erbarmen. (Ebd., 45)

Mag der Himmel auch leer sein, die Sehnsucht bleibt nach dem Gegenüber über der Sonne, das die Klage – wie aber auch dieses provozierende Gebet zum entmachteten und letzten Endes geleugneten Gott – anhört und sich herablässt, »sich des Bedrängten zu erbarmen«.

Die Sehnsucht nach dem unerreichten Original bleibt, sie ist vielleicht der melancholische Grundton aller Übersetzung, so selbstherrlich sie sich auch geben mag, so sehr sie den Anspruch des Originals auch bewältigt zu haben vorgibt. Was wird also gewonnen, was geht verloren in einer Übersetzung, selbst in der besten Übersetzung eines literarischen Textes, dessen Bedeutung vor allem auf die konnotative Fantasie der Sprache angewiesen ist, oder eines philosophischen Textes, dessen Wahrheitsanspruch vor allem von der denotativen Prägnanz der Sprache abhängt? Was geschieht, wenn es in der Zielsprache nicht dieselbe Qualität der Bilder bzw. der Begriffe gibt, die den Text in der Ursprungssprache auszeichnet? Sind das farblosere und umgekehrt das lebendigere Bild und der schwächere und umgekehrt der genauere Ausdruck, auch wenn sie zur Klärung des Gemeinten beitragen, ein Verrat am Original, ein Verstoß gegen die Autorenintention? Wer viel mit Übersetzungen zu tun hat, scheint vom Verlust an intendierter Bedeutung einerseits und an notwendiger Prägnanz andererseits so betroffen zu sein, dass er diesen Verlust womöglich gar als persönliches Verlorensein erfährt. »Lost in Translation« ist deshalb die häufig gebrauchte Formel für ein nicht nur philologisches, sondern womöglich existentielles Missverständnis zwischen den Sprachen, und zwar nicht erst seit 2003, als ein von Sofia Coppola, die für das Drehbuch den Oscar erhielt, gedrehter Film unter dem Titel Lost in Translation die unvollständige Verständigung zwischen zwei Amerikanern, Bob (Bill Murray) und Charlotte (Scarlett Johansson), im sozialen Vakuum einer japanischen Hotelhalle zum Thema hatte.

In der globalisierten Welt unserer Tage gehen wir davon aus, dass sogenannte Simultanübersetzer auf internationalen Konferenzen nicht nur gleichzeitig, eben simultan, sondern auch so präzise übersetzen, dass nicht der geringste Zweifel an der Richtigkeit des Gemeinten und des Gesagten entsteht. Wir rechnen auch damit, dass internationale Verträge, ob politischer, militärischer oder ökonomischer Art, in den verschiedenen Sprachen der Signatoren unterschiedslos dasselbe aussagen. Denn nur kleinste Abweichungen könnten sogar den internationalen Frieden gefährden, wie sich an dem bereits genannten Beispiel aus der deutschen Geschichte, der Emser Depesche, zeigen lässt. Ein anderes, womöglich gezieltes Missverständnis hat sich aus der Übersetzung der deutschen Nationalhymne, dem sog. Deutschlandlied von August Heinrich von Fallersleben, ergeben. Ob ich »Deutschland, Deutschland über alles« richtig mit »Germany above all« als patriotische Hochschätzung oder, wie es häufiger geschehen ist, falsch mit »Germany over all« im Sinn imperialistischer Expansion übersetze (Seeba 1999), macht den Unterschied zwischen uns heute suspektem, aber gerade noch akzeptablem Nationalstolz und unerträglichem Chauvinismus aus, der schließlich zum Krieg treibt.

Fehlübersetzung wird, als willentliche Fehldeutung verstanden, zum Verrat am Original. Entsprechend ist »tradutor, traidor« ein brasilianisches wie »traduttore/traditore« ein italienisches Sprichwort, das den Übersetzer zum Verräter am Original erklärt, weil dieses nur unvollständig nachgezeichnet und nie erschöpfend erfasst werden kann. »O tradutor e o primo pobre da literatura«. Eine der bis heute klassischen Übersetzungen von Goethes Faust ins Portugiesische stammt übrigens von dem (zudem blinden) Schriftsteller Visconde Antonio Feliciano de Castilho (1800-1875), der, wie man sagt, kein Wort Deutsch verstand; er konnte sich allerdings auf einen deutschen Freund in Portugal stützen, dessen unbeholfene Versuche, Entsprechungen für Goethes Worte im Portugiesischen zu finden, er in literarisches Portugiesisch übertrug. Als hervorragender Kenner des Lateinischen hatte er schon Anakreon, Ovid und Vergil übersetzt und sich ähnlich wie an Goethes Faust, ohne ein Wort Englisch zu kennen, an die Übersetzung von Shakespeares Midsummer Night’s Dream gewagt.

Reicht es also aus, in einer Art Nachdichtung nur den »Geist« eines Textes zu erfassen und in eigenen Worten nachzubilden, oder muss man in strenger Anlehnung an das Original seinen exakten »Buchstaben« finden? Wir erinnern uns daran, dass Luther für die Bibelübersetzung die klassische Alternative zugunsten des Geistes und gegen die sklavische Werktreue gegenüber dem Buchstaben entschieden hat und damit den Glauben an die Verbalinspiration womöglich ungebührlich dehnen musste. Denn ganz offensichtlich sind Luthers popularisierende Übersetzungen und noch mehr seine oft deftigen Neologismen nicht durch das als Gottes Wort legitimierte Original abgedeckt.

Weil es sich beim Übersetzen also um eine ›geistige‹, um eine schöpferische, ja sogar um eine mit dem Schöpfergott konkurrierende Tätigkeit handelt, die den Übersetzer dem Schriftsteller gleichstellt, konnte diesem so aufgewerteten Berufsstand auch die materielle Entschädigung nicht länger vorenthalten werden. Als im Juli 2008 der Verband deutscher Schriftsteller und deutsche Verlage ihren lange schwelenden Konflikt um eine angemessene Bezahlung der rund 2000 in Deutschland tätigen Übersetzer beilegten, wurde die »Schande«, dass bislang »der Stundenlohn eines literarischen Übersetzers in Deutschland nicht höher als der eines Anstreichers« (Werner 2008, 27) liegt, überhaupt erst ins öffentliche Bewusstsein gebracht. Weil es dabei um »die Wertschätzung einer kulturellen Transferleistung« geht, schlich sich sogar in die ganz materiell ausgerichtete Klage über »die notorische Unterbezahlung dieser Fährleute« ein mythologischer Anklang an den Fährmann an, der die Gestorbenen in die Unterwelt begleitet und sie über den Acheron übersetzt. Hermes Psychopompos heißt dieser Seelengeleiter, der das scheinbare Homonym des Transfers, dass das ÜberSETZEN zugleich ein ÜBERsetzen ist, auch als literarische Figur verkörpert (Kerenyi 1944). Der moderne Locus classicus dieses Hermes Psychopompos findet sich in der berühmten Schlussszene von Thomas Manns Erzählung Tod in Venedig (1911), wo sich der begehrte Jüngling Tadzio, zum Bade ins Meer schreitend, umdreht, um den in einem Strandstuhl sterbenden Gustav Aschenbach weniger zu sich als in den Tod zu locken. Der schöne Jüngling, dem der alternde Aschenbach schamhaft verliebt nachgestellt hat, erweist sich als der endgültige Fährmann, der ihn vom Leben in den Tod geleiten wird. Die ›Transferleistung‹ dieses Hermes ist also, trotz ihres scheußlich logistischen Namens, ganz metaphysischer Natur und ästhetisch mit allen Reizen ausgestattet, die den Tod so begehrenswert erscheinen lassen, wie ihn sich die Antike vorgestellt hat. Lessing hat in seiner Schrift Wie die Alten den Tod gebildet (1769) betont, dass die verlockende Figur des schönen Jünglings, der in der Antike mit der umgedrehten Fackel als Symbol des verloschenen Lebens erscheint, erst durch die christliche Schreckensfigur des Totengerippes mit Sense und Sanduhr verdrängt worden ist.4 Die ursprünglichere Verbindung von Tod, Schönheit und Transfer im Sinne von ÜBERsetzen/ÜberSETZEN gilt es also zu erinnern, wenn man die Bedeutung der Konstruktion von Bedeutung im nicht nur technisch verstandenen Übersetzungsverfahren besser verstehen will.

Für dieses im eigentlichen Wortsinn hermeneutische Projekt bieten sich drei Wege an, auf die wir bereits gestoßen sind: der mythologische, der religiöse und der philosophische Weg. In allen drei Fällen ist der Weg selbst, die Überleitung von Punkt A zu Punkt B, das Interpretandum, denn der Weg bezeichnet den Zugang zur Erkenntnis, die Übersetzung von etwas Unverständlichem, das in einer uns nicht zugänglichen Sprache geschrieben oder gesagt ist, in etwas Verständliches, in dem sich uns die Wahrheit des zu verstehenden Sachverhalts erschließt. Im Griechischen »methodos« genannt, ist dieser Zugang zur Wahrheit die erlernbare Fähigkeit, methodologisch abgesichert aus einem Wort- oder Bild-Zeichen die bezeichnete Bedeutung abzulesen. Lesen ist wie das Interpretieren und das Übersetzen der Versuch, eine zunächst vielleicht unverständlich erscheinende Sprache in ein verständlicheres Idiom zu übertragen und so den Verstehensprozess zu erleichtern. Weil dabei beträchtliche Widerstände zu überwinden sind, geht es zunächst einmal um den Begriff der Unverständlichkeit.

Sehen wir einmal davon ab, dass Friedrich Schlegels einschlägige Schrift Über die Unverständlichkeit (1800) vor allem der polemischen Zurückweisung der Kritiker gewidmet ist, die seine wohl bekanntesten Fragmente, das Athenäums-Fragment über die drei großen Tendenzen der Zeit und das Lyceums-Fragment über die sokratische Ironie, für unverständlich erklärt haben, dann sticht immer noch das ironische Plädoyer für den unverständlichen Rest ins Auge, der auch in unserem kritischen Zeitalter bestehen bleiben wird: »Wahrlich, es würde euch bange werden, wenn die ganze Welt, wie ihr es fordert, einmal im Ernst durchaus verständlich würde. Und ist sie selbst, diese unendliche Welt, nicht durch den Verstand aus der Unverständlichkeit oder dem Chaos gebildet?« (Schlegel 21964, 539) Der Respekt vor dem unverständlichen Rest, der sich der Übertragung entzieht, ist also, so könnte man Schlegels ironisches Zugeständnis interpretieren, ein wesentlicher Teil der Konstruktion von Bedeutung, denn der Schrecken eines totalen Verständnisses, so darf man Schlegel verstehen, wäre noch größer als die ehrfurchtsvolle Scheu vor dem Arcanum, diesem mystifizierten Bereich des Numinosen, der ein notwendiger Bereich der als unendlich gedachten, also metaphysischen Welt ist.

Schlegels Zeitgenosse Heinrich von Kleist hat das Unbegreifliche, das ihn ein Leben lang umgetrieben und, man darf sagen, schließlich in den Tod getrieben hat, mit aphoristischer Prägnanz personalisiert: »Es kann kein böser Geist sein, der an der Spitze der Welt steht: es ist ein bloß unbegriffener!« Wo der Gläubige sagt, dass Gottes Ratschlüsse unergründlich sind, erscheint die Unergründlichkeit der Welt bei Kleist als angestrengter Schutzbrief (weil nicht sein kann, was nicht sein darf) gegen den personalisierten Verdacht eines bösartigen Weltregiments. Dieser an der Theodizee orientierte Satz war Kleist so wichtig, dass er ihn gleich zweimal, in zwei ganz verschiedenen, über drei Wochen auseinanderliegenden Briefen wie ein zentrales Versatzstück seines Denkens verwendet hat (Kleist 71984a u. 71984b). Wenn er dann in seinem Drama Amphitryon Alkmene den (unerkannten) Gott Jupiter, der sich als ihr Mann Amphitryon ausgibt, mit »du Unbegreiflicher!« (Kleist 1991, V. 885) anreden lässt, gerät die verwirrende Personalisierung des Unbegreiflichen ganz ins Wanken. Der Gott, der als Deus absconditus dem Zugriff der Menschen entzogen ist und in der Gestalt eines Menschen unerkannt in Erscheinung tritt, wird um die Liebe betrogen, die er mit diesem Identitätswechsel zu erzwingen hoffte. Mit der Identitätskrise des Gottes gerät auch die Personalisierung des Unbegreiflichen in die Krise. Die Epiphanie Jupiters, der zur Versöhnung der von ihm angestifteten Verwirrung schließlich den von Alkmene zu gebärenden Menschensohn Herakles hinterlässt, unterscheidet sich von der vergleichbaren christlichen Menschwerdung Gottes dadurch, dass sie scheitert an der Unversöhnlichkeit der dualen Welt. Kleists ungeliebter, aber auf die Liebe angewiesener Gott, der sich selbst unbegreiflich wird, muss in die Einsamkeit des Olymps zurückkehren und den Versuch der Vermittlung zwischen Götterwelt und Menschenwelt anderen überlassen.

Diesem Unbegreiflichen, dem nicht übersetzbaren Kern des göttlich-menschlichen Transfers auf die Spur zu kommen, hilft der sprachbewusste Rückgriff auf den Mythos vom Götterboten, der als Zwischenträger sonst unbegriffener Bedeutung fungiert.

Dass der hermeneutische Akt des Verstehens und des Interpretierens, des Dolmetschens und des Übersetzens, aber auch der unübersetzbare Rest, der sich der Aufklärung entzieht, eine metaphysische Komponente hat, ergibt sich aus seiner mythischen Personifikation in der Gestalt des Namensgebers Hermes, der als Bote zwischen der Götterwelt des Olymp und der Menschenwelt, in christlicher Vorstellung zwischen dem Jenseits und dem Diesseits, vermittelt, indem er die göttlichen Botschaften auf die Erde bringt. Als Gott der Wege, auch der Diebe und Wanderer, geht der Name dieses Gottes auf das griechische »Hermaion« zurück, einen Steinhaufen, der ähnlich wie die Steinmandln in den Alpen den Weg markiert.5 Weil vorbeikommende Wanderer jeweils einen Stein hinzufügen, vergrößern sich die Steinhaufen, die oft auch auf Grabmäler zurückgingen, zu schließlich nicht mehr übersehbaren Wegmarken, an deren Stelle schließlich auch die »Hermen« genannten Steinpfeiler errichtet wurden, schmale, nach unten sich verjüngende Säulen, die mit einer Büste versehen waren.6 Immer schon als besonders schlau dargestellt, gilt Hermes, der schon als Kleinkind seinem Bruder Apollon eine ganze Rinderherde stiehlt, als Gott der glücklichen Zufallsentdeckung, der die »Syrinx« (Hirtenflöte) und – aus der Schale einer Schildkröte – die später an Apollon verschenkte Leier erfunden hat. Schließlich war er als Gott der Hermeneia genannten Erklärung und Auslegung auch der Schutzpatron der Redekunst. Die heute bekannteste Wortverbindung mit seinem Namen, die Hermeneutik als philosophische Kunstlehre der Auslegung, geht auf das Verb »hermeneuein« zurück, das sowohl ›dolmetschen‹ als auch ›interpretieren‹ bedeutet, weil jede Übersetzung auch eine Interpretation ist. Damit scheint die Rede von hermetischer Abgeschlossenheit, im Sinne interpretatorischer Unzugänglichkeit, im Widerspruch zu stehen. Tatsächlich aber bezeichnet der scheinbare Widerspruch die Dialektik des im Begriff der ›Methode‹ (griech. μεθοδος) erfassten, nachvollziehbaren ›Zugangs‹ zum Verständnis eines Phänomens und der immer zugleich erfahrenen Unzugänglichkeit der zu verstehenden Bedeutung, weil sie uns in einer fremden Sprache entgegentritt. Der moderne Redegebrauch hermetisch geht auf eine spätantike Sammlung astrologischer, philosophischer und okkultistischer Schriften zurück, das Corpus Hermeticum des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, das von der Kosmogonie bis zur Metaphysik reicht und damit jenen Bereich berührt, der in der Übersetzung nicht restlos aufgeklärt werden kann, weil die Äquivalenzen der verschiedenen Sprachen, die miteinander in Bezug gesetzt werden, immer auch Unbestimmtes, Unaufgeklärtes und Unwägbarkeiten enthalten. Als mögliche Erklärung für die hermeneutisch-hermetische Doppelnatur des Verstehens könnte die Vermutung gelten, dass nach einer Aussage des britischen Mythenforschers H.J. Rose, der als Quelle nur sehr vage alte Sagen aus Argos anführt, »die Menschen aufhörten, alle dieselbe Sprache zu sprechen, und von Hermes ihre verschiedenen Sprachen erhielten« (Rose 21961, 175), dass also Hermes selbst, der Gott der Übersetzung, der Urheber ausgerechnet jener babylonischen Sprachverwirrung war, die sein Wirken überhaupt erst nötig machte.

Friedrich Schleiermacher, der die Hermeneutik für die Theologie – wie ein Jahrhundert später Hans Georg Gadamer die Hermeneutik für die Philosophie – entwickelt hat, ist dem Kern des mythologischen, theologischen und philosophischen Verstehensproblems sehr nahegekommen, als er mit einem Aperçu sagte: »Nur beim Unbedeutenden begnügen wir uns mit dem auf einmal Verstandenen.« (Schleiermacher 1977, 95) Was wirklich bedeutend ist, was die Bedeutung und den Sinn unserer Existenz ausmacht, kann nicht »auf einmal« verstanden werden, sondern nur allmählich, vereinzelt in seltenen Augenblicken, wo uns schlagartig das sprichwörtliche Licht aufgeht, vielleicht aber auch nie. Sich daran zu erinnern, dass Existenzfragen nicht ›auf einmal‹, nicht im Sinne von Instant Food und Instant Gratification sofort gelöst werden können, dass nicht jedes Versprechen sofort eingelöst werden kann, scheint besonders wichtig angesichts der Globalisierung, mit deren nivellierender Erfahrung oft der Glaube an die totale Verständigung, ungeachtet aller kulturellen Differenz, einhergeht. Es ist deshalb kein Zufall, dass in unserer postkolonialen Zeit, im Zeichen des in jede Weltecke reichenden Internet, dieser sofortigen, allgegenwärtigen Verfügbarkeit von Sinn mit dem neuen kulturkritischen Fanal der »untranslatability« getrotzt wird. Dieser Begriff ist in den letzten Jahren, seitdem das Buch The Translation Zone: A New Comparative Literature von der Romanistin Emily Apter erschienen ist, ins Zentrum kulturtheoretischer Debatten gerückt.7 Die Unübersetzbarkeit ist als Erinnerung an den unbegreiflichen, unverständlich bleibenden Rest, vor dem wir uns achtungsvoll verneigen, eine Tugend, die der Unterscheidbarkeit des Unteilbaren, also wörtlich der Individualität, sowohl der Einzelperson als auch ihrer Kultur, den nötigen Respekt bewahrt.

Und so schließe ich mit einem Appell an die Bereitschaft, den nicht schnell übersetzbaren Rest, den semiotischen Bedeutungsüberhang in der Gleichsetzung von Zeichen und Bezeichnetem, nicht zuzuschütten, indem wir ihn entweder im Zeitalter totaler Kommunikation unterdrücken oder ihn, im religiösen Protest gegen die Totalisierung aller Verständigung, dem Wunderglauben überlassen und tabuisieren. Vielmehr sollten wir, was unverständlich scheint, weil es sich dem schnellen Zugriff entzieht, als Herausforderung ernst nehmen und im Bewusstsein der Problematik von Übersetzung auch die Bedeutung des nicht übersetzbaren Rests immer besser zu verstehen versuchen.

Damit diese Überlegungen nicht ganz so gewichtig enden, möchte ich noch ein kleines Satyrspiel zur Übersetzung anhängen, das mir heute beim Durchstöbern von Büchern in der Detmolder Buchhandlung »Kafka« begegnet ist: Dort bin ich auf die kommentierte Studienausgabe eines durchaus zugänglichen, auch für amerikanische Studenten leicht verständlichen Textes von 1979 gestoßen, Christa Wolfs Erzählung Kein Ort. Nirgends, die den breiten Rand nicht mehr wie erstmals Luthers Übersetzung des Neuen Testaments für Kommentare des Lesers freiließ, sondern ihm gewissermaßen ›idiotensicher‹ zu Hilfe kommt, indem er schlichte Wörter und Begriffe, die 1979 nicht nur in der DDR noch völlig geläufig waren, in das Idiom unserer Tage übersetzt: so »fatal« in »verhängnisvoll«, »Miniatur« in »kleines Bild«, »exaltiert« in »übertrieben«, »verhehlen« in »verleugnen«, »prüd’« in »spröde«, »zimperlich«, »Intentionen« in »Absicht«, »Vorhaben« und umgekehrt und deshalb besonders charakteristisch »Schwermut« in »Depression« (Wolf 2006, 23, 29, 33, 44, 54, 56 u. 32). Wenn schon nach nur 30 Jahren Muttersprachler, in diesem Fall sogar Schüler und Studenten, eine Übersetzungshilfe brauchen, um die vermeintlich gealterte Sprache eines Textes zu verstehen, kann ich nur hoffen, dass ich nicht schon heute eine Simultanübersetzung vom Deutschen ins Deutsche gebraucht hätte, um mich – wenn auch nicht ›restlos‹ – verständlich zu machen.

Anmerkungen

* Es handelt sich hier um den Wortlaut eines am 24. August 2009 im Naturwissenschaftlich-Historischen Verein im Staatsarchiv Detmold gehaltenen Vortrags.

1 Die Aussage geht zurück auf ein berühmtes Zitat des in San Francisco geborenen amerikanischen Dichters Robert Frost (1874-1963): »Poetry is what gets lost in translation.«

2 Klemperer 151996, 35, u. Klemperer 1997, Eintrag v. 25. April 1933, 18.

3 Diese im Gespräch mit Israel Chalfen von Ruth Lackner, der Celan-Freundin, mitgeteilte häufige Aussage hat Paul Celan mehrfach gemacht, wenn man ihm vorwarf, dass er in der Sprache der Mörder seiner Eltern schreibe (zit. Chalfen 1983, 148).

4 Lessing 1974, 462: »Von dieser Seite wäre es also zwar vermutlich unsere Religion, welche das alte heitere Bild des Todes aus den Grenzen der Kunst verdrungen hätte! Da jedoch eben dieselbe Religion uns nicht jene schreckliche Wahrheit zu unserer Verzweiflung offenbaren wollen; da auch sie uns versichert, daß der Tod der Frommen nicht anders als sanft und erquickend sein könne: so sehe ich nicht, was unsere Künstler abhalten sollte, das scheußliche Gerippe wiederum aufzugeben, und sich wiederum in den Besitz jenes bessern Bildes zu setzen.«

5 Vgl. zum »Hermes«-Mythos sehr übersichtlich Hunger 1985, 176-180.

6 Eine solche wegweisende Herme, die den Hermengott Hermes selbst darstellt, findet sich als römische Kopie eines griechischen Originals aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. in der Ermitage von St. Petersburg. Im Archäologischen Museum von Istanbul steht eine Hermes-Herme, deren ansonsten marmorglatter unterer Stelenteil mit einem plastischen Phallus dekoriert ist.

7 Apter 2005. Ihr Argument zielt darauf, dass »the drive toward a transnationally translatable monoculture« (S. 99) den linguistischen Supermächten, vor allem Englisch, so viel Einfluss verschafft, dass viele Autoren schon gar nicht mehr in ihrer Muttersprache, sondern von vornherein auf Englisch schreiben oder, ebenfalls in Hinblick auf den internationalisierten Literaturmarkt, die »translatability« in ihren Originaltext hineinarbeiten, um ihn besser vermarkten zu können. Dieser schon von den Autoren intendierten Vermarktung widersteht, im positiven Sinn der Erhaltung von unverwechselbarer Eigentümlichkeit, die am algerischen Beispiel aufgezeigte »untranslatability« (S. 103).

Literatur

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Ausst.-Kat. (2008): Babylon Mythos. Hg. v. Moritz Wullen u. Günther Schauerte in Zusammenarbeit mit Hanna Strzoda. München

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Schleiermacher, Friedrich (1977): Hermeneutik und Kritik. Hg. v. Manfred Frank. Frankfurt a.M.

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Wolf, Christa (2006): Kein Ort. Nirgends. Mit einem Komm. v. Sonja Hilzinger. Frankfurt a.M.

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