It’s Kili Time
Zugegeben: Einigermaßen stolz war ich. Eine Tour auf den Kilimandscharo war etwas anderes als eine Gipfelbesteigung in den Alpen. Wenn ich von meinem Plan erzählte, hörte ich Bewunderung aus den Reaktionen heraus. Der höchste Berg des afrikanischen Kontinents, das hörte sich nach etwas Besonderem, fast nach Abenteuer an. Auch wenn die gut einwöchige Tour organisiert, im Preis alles inklusive war, Flug, Übernachtung, Mahlzeiten, die Bergführer, die Träger.
Ungefähr ein halbes Jahr blieb mir, um zu trainieren, die Wuppertaler Hügel hinauf und hinab. Ich wusste, Kondition war nicht alles, ebenso wie Trittsicherheit, die ich mir über die Jahre hinweg bei Bergtouren angeeignet hatte. Aber beides war zumindest ein Startguthaben. »Die Höhenkrankheit«, sagte meine Hausärztin, »erwischt die einen, die anderen bleiben davon verschont. Intensives Training ist keine Garantie.«
Ich ließ verschiedene Impfungen über mich ergehen, schluckte Tabletten, um Malaria vorzubeugen, besorgte mir ein Visum und eine Zusatzversicherung, arbeitete die Checkliste ab, die vom Wiener Reiseleiter geschickt worden war. Dieser betonte in seinen Emails, wie wichtig es sei, sich gegen Kälte und Nässe zu schützen. Wir, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Besteigung, insgesamt acht Personen, sollten da etwas investieren, in Funktionsunterwäsche, Fleece-Jacken, Windstopper-Anoraks usw. Das Gepäck, das von Trägern den Berg hinauf geschafft werden würde, musste in Seesäcken verstaut werden, insgesamt nicht mehr als 15 Kilogramm. Der Reiseleiter war gewissenhaft, er fütterte seine Kundschaft mit Informationen über die Entdeckungs- und Kolonisierungsgeschichte des Kilimandscharo, er leitete Sagen und Legenden an uns weiter, notierte Wissenswertes über die Bewohner der Region. Im Bezirk Kilimandscharo, schrieb er, leben etwa 2,2 Millionen Menschen, knapp ein Drittel davon unmittelbar auf den Hängen der Berge, bis zu einer Höhe von 1800 Metern; hier beginnt der Kilimanjaro National Park, der wirtschaftlich nicht genutzt werden darf. Dieser Park, eine der größten Attraktionen des Kontinents, ebenso wie der Wasserreichtum und der gute Boden machen die Region zur wohlhabendsten in Tansania.
Anfang Februar stieg ich am Amsterdamer International Airport Shiphol ins Flugzeug zum Kilimandscharo International Airport. Ich hatte leider nur einen Gangplatz zugewiesen bekommen. Der Flug, hieß es, wird acht Stunden und fünf Minuten dauern. Mein Nachbar, ein Schwarzer, nahm die gesamte Lehne zwischen uns in Beschlag. Die Alpen, ein leeres aufgerissenes Land. Die Wolken hoben sich grau vom Schnee ab. Das Warten auf das Essen, dann das Warten darauf, dass das Geschirr abgeräumt wurde usw. Auf der Karte wurde Khartoum angezeigt, und mir fiel sofort Charlton Heston in Aufstand am Nil ein und dann, wie sehr dieser sich für den Waffenbesitz engagierte. Der Film Secondhand Lions spielte ebenfalls teilweise in Afrika.
Der Platzhirsch fing eine Unterhaltung an, wollte von mir wissen, ob ich bis Dar es Salaam fliege. Nein, zum Kilimandscharo. Ich sagte das auch in der Hoffnung, der Schwarze würde mit »Großartig« oder »Wunderbar« reagieren, aber der ignorierte den Kilimandscharo fast völlig, fing stattdessen an, von seiner Heimat zu schwärmen. Der Kibo, was sei der schon, ein Haufen Geröll mit etwas Schneegepuder, in der Region jedoch, aus der er stamme, würden sich die Berge zu jeder Jahreszeit verwandeln und in einem neuen Licht zeigen, eine Reise nach Tansania sei nur lohnenswert, wenn sie nach Usambara führe. Ich dachte, mich verhört zu haben, Usambara kannte ich nur als Name von spießigen Blumen, die auf großmütterlichen Fensterbänken vor sich hin gammelten. Aber ich fragte nicht nach, ließ den Platzhirsch weiter reden. Ladislaus, so hieß der Tansanier, kehrte von einem sechsmonatigen Aufenthalt an einer Chicagoer Universität zurück, wo er Forschungen im Bereich Chemie betrieben hatte. Für gewöhnlich arbeitete er am Institute for Traditional Medicine in Dar es Salaam, in dem, wenn ich ihn richtig verstand (Ladislaus’ Englisch war um einiges besser), traditionelles medizinisches Wissen archiviert wurde. Den merkwürdigen Vornamen erklärte der Tansanier damit, dass er katholisch sei und seine Eltern wie viele Katholiken hier Namen von Heiligen für ihre Kinder wählen würden. Viel Spaß im Urlaub, sagte er zum Abschied. Ich überlegte noch eine ganze Weile, ob diese Floskel abschätzig gemeint war.
In der Empfangshalle des Flughafens hing ein riesiges Plakat vom Kibo, wie ich ihn von zahlreichen Fotos oder von Henry Kings Verfilmung von Hemingways The Snows of Kilimandjaro her kannte. Geworben wurde für Kilimanjaro Premium Lager: It’s Kili Time. Time to kick back, relax and take it easy with your friends.
Mitarbeiter eines ortsansässigen Reisebüros namens Crown Birds geleiteten uns nach draußen, wo ich als erstes den eindringlichen Geruch von Akazien wahrnahm. Wir wurden in zwei Kleinbusse verfrachtet, die uns in die 100.000 Einwohner Stadt Moshi bringen sollten. Werbung, Beleuchtung und gleichmäßiger Straßenbelag hörten wenige Kilometer nach dem Flughafen auf. Ab und zu wurde die Dunkelheit von Neonröhren erhellt, die an kümmerlichen Hütten von Verandadecken hingen. Menschen tauchten immer wieder plötzlich im Licht der Scheinwerfer auf und wurden mit einem Hupen an den Straßenrand gescheucht. Mehrere Male durchquerten wir Ortschaften. Dann nahm die Zahl der Neonröhren zu, der Kleinbus bremste vor breiten Bodenschwellen mit aufgemalten Zebrastreifen, und der ansonsten schweigsame Beifahrer rief einen Namen nach hinten. Erst nach einer knappen Stunde überwand er die Einwort-Hürde: »We’re in Moshi now. Soon we’ll arrive at Keys Hotel.«
Helmut, mit dem ich ein Zimmer teilte, nannte unser Hotel luxuriös: Warmes Wasser ohne Ende, Ventilatoren, Swimmingpool, üppiges Frühstücksbuffet. Er war 70 Jahre alt, gebürtiger Vorarlberger, emeritierter Germanistikprofessor von der University of Nashville. In seiner Jugend sei er permanent auf Berge gestiegen; er hoffe nur, dass er noch genügend Mumm für diesen hier habe. Aber wenn nicht, dann nicht. Während wir vor dem Hotel auf unseren Transport zum Marangu Gate, dem Ausgangspunkt der Tour, warteten, hatten wir eine gute Sicht auf den wolkenverhangenen Kibo. Passanten, manche zu Fuß, manche mit einem Fahrrad unterwegs, grüßten freundlich auf Englisch. Auf der anderen Straßenseite befand sich eine mit Glasscherben gespickte Mauer, dahinter lagen Hütten mit Wellblechdächern, die Fensteröffnungen waren mit Holzlatten zugenagelt worden. Ich konnte nicht erkennen, ob jemand darin wohnte.
Herbert, unser Reiseleiter, diskutierte mit Franco, unserem Bergführer, wegen der Verspätung. Dessen Begleiter verstauten die Seesäcke im Bus. Links und rechts der Straße lagen immer mal wieder Sonnenblumenfelder. Auf der Fahrt, die zuletzt in Serpentinen steil bergauf ging, durchquerten wir einen Ort namens Himo. Der Schwarze neben mir, Ernesto, sagte in gebrochenem Englisch, dass er hier wohne, und dass er zwei Brüder habe. Er zeigte nach draußen auf ein paar Hütten. »Welcome to Tanzania«, sagte er außerdem.
In Marangu Gate regnete es in Strömen. Wir flüchteten ins Climbers Orientation Center, um vor einem maßstabgetreuen Relief des knapp 800 Quadratkilometer großen Nationalparks noch einmal aufgeklärt zu werden. Die höchste Erhebung des ehemaligen Vulkans heißt seit 1961, nachdem Tansania als einer der ersten afrikanischen Staaten die Unabhängigkeit erlangte, Uhuru Peak, auf deutsch Freiheitsspitze. Zuvor, 1889, war sie vom angeblichen Erstbesteiger Hans Meyer auf den Namen des im Vorjahr zum Kaiser gekrönten Wilhelm II. getauft worden. Wir hatten uns bereits im Vorfeld dazu entschlossen, wie die meisten der ungefähr 20.000 Touristen, die Jahr für Jahr aus Deutschland, aus anderen europäischen Staaten, aus den USA und Ländern Asiens anreisten, die im Volksmund Coca-Cola-Route lautende Tour zu gehen und damit die bequemste Variante. Mandara Camp, Horombo Camp, Kibo-Hütte lauteten die Stationen unseres Aufstiegs. In knapp fünf Tagen, sagte Franco, würden wir oben am Kraterrand stehen, vier Tage wandern und dabei jeweils um die 1000 Meter Höhe gewinnen und dazwischen, auf Horombo, einen Tag zum Akklimatisieren einlegen.
Während wir unter dem Vordach eines Kiosks die Auslagen studierten und auf ein Nachlassen des Regens hofften, wanderten an die 20 Schwarze an uns vorbei, Turnschuhe an den Füßen, ansonsten hatten sie lange, zum Teil auch kurze Hosen und T-Shirts an. Über ihren Köpfen ragten unsere Seesäcke oder große, weißrot gestreifte Plastiksäcke empor, die die Vorräte enthielten. In den Händen trugen sie Tüten mit Toastbrot, Paletten mit Eiern, große Wasserflaschen. Ernesto überreichte uns Lunchpakete, auf denen Safari pack stand: »rich and tasty«. Wir verstauten sie in den Tagesrucksäcken, dann überwanden wir uns: In orangenen, gelben, hellblauen Regencapes betraten alle den Kilimanjaro National Park, nachdem wir zuvor die zu Ehren von Hans Meyer aufgestellte Tafel gelesen hatten: »The first European explorer who conquered the summit of Mount Kilimanjaro in 1889.«
Der Regen ließ nach, aber nur kurzzeitig, wie es sich gehörte für einen Regenwald. An die hellbraunen bis grauen Baumstämmen, mit unglaublich tiefer Rinde, krallten sich Farne, Moose, Flechten. Auf dem rotbraunen, leicht bergan führenden Pfad lagen aufgeplatzte, mir unbekannte Früchte, von denen ein fauliger Geruch ausging. Helmut glaubte, Tiergeräusche zu hören, und alle horchten wir in dieses wunderbare verrückte Dickicht hinein. Auch ich war sicher, ein Kreischen gehört zu haben, von einem Vogel oder von einem Affen. Wir unterhielten uns, laut und fröhlich, an den wenigen Aussichtspunkten starrten wir in den wolkenverhangenen Himmel, die Regencapes hielten, was die Verkäufer versprochen hatten. Wir überholten andere Touristen und wurden überholt. Ich wechselte ein paar Sätze mit einem der Träger, auf dessen Stirn Schweißtropfen standen. Wie schwierig es sei, erzählte dieser, in Tansania Arbeit zu finden, und als ich sagte, ich sei das erste Mal in seinem Land, meinte der Träger wie zuvor Ernesto: »Welcome to Tansania.« Er fragte noch, ob es in Deutschland auch Wald gebe, darauf gab ich ihm zur Antwort: »Compared to this here only poor forest.«
Vier Stunden benötigten wir zum Mandara Camp, einer auf einer Lichtung des Regenwaldes gelegenen Ansammlung kleiner Hütten mit Wellblechdächern, die die Gruppe und schätzungsweise 50 weitere Wanderer beherbergen würde. Etwas abseits lagen Toilettenhäuschen und Waschbecken, sogar Duschen gab es. Gegen Abend klarte der Himmel auf. Von einem Aussichtspunkt etwas oberhalb des Camps bewunderten wir die raue Felsformation des Mawenzi. Herbert und Helmut versuchten, sich zu orientieren, aber sie konnten sich nicht auf die Richtung einigen, in der Marangu Gate und Moshi liegen. Dafür kam die Tierwelt zum Vorschein, sog. Colobusaffen und grüne Vögel, denen wir, ohne dass einem von uns ihr Name eingefallen wäre, lange hinterher sahen.
Das Essen, gebackene Kartoffeln mit Soße und Krautsalat, servierten einige der Träger in einer eigens dafür vorgesehenen Hütte. Nachdem sie das Geschirr abgeräumt hatten, tauchten sie nicht mehr auf, ihre Unterkünfte lagen getrennt von denen ihrer Arbeitgeber. Franco und Ernesto, sein nächster Mitarbeiter, sprachen einigermaßen gutes Englisch, die anderen – wenn überhaupt – nur wenige Sätze, und da keiner aus der Gruppe Swahili beherrschte, beschränkten sich die Unterhaltungen auf Begrüßungen und wenige Floskeln über Wetter und Essen. Von Ernesto erfuhr ich am nächsten Tag, während wir in Richtung Horombo Camp wanderten, dass er und seine Kollegen bei Crown Birds für die Dauer der Wanderung angestellt seien. Sie verdienten in dieser Zeit verhältnismäßig gut, doch das kurzfristige und saisonbedingte Arbeitsverhältnis beinhalte zugleich einen großen Unsicherheitsfaktor. In den Regenzeiten von Oktober bis Dezember und März bis Mai blieben die Touristen grundsätzlich aus, und während der Saison wüsste kein Träger hundertprozentig, ob er das nächste Mal wieder gefragt würde. Zudem bestünde für die schwerbepackten und schlecht ausgerüsteten Träger ein hohes Unfallrisiko. Sie, die neben dem Gepäck der ausländischen Wanderer auch die gesamten Nahrungsmittel und in den höheren Regionen das Wasser transportieren müssten, würden in der Regel ausrangierte Kleidungsstücke der Touristen, Berg- oder Turnschuhe mit abgelaufenem Profil, ausgefranste Anoraks, und, wenn überhaupt, löchrige Regencapes tragen. Ernesto wollte mit dem Lohn der letzten Monate in Arusha einen Englischkurs belegen. Wie viel er verdiente, verriet er nicht. Auch Herbert hatte keine Ahnung. Auf jeden Fall herrschte eine ziemlich starre Hierarchie unter den Führern und Trägern, von Franco, dem Chief guide, bis hin zu denjenigen, die nichts anderes taten als unser Gepäck zu schleppen, und von denen die Jüngsten 15 Jahre alt waren. Zugegeben: Wir hatten ein schlechtes Gewissen, aber es gelang uns auch, es zu beruhigen – soviel wie mit diesem Job verdienten unsere Arbeitnehmer sonst nirgends.
Da wir den Regenwald verlassen hatten und uns durch ein Hochmoor bewegten, sahen wir nicht nur ab und an den Kibo oder den Mawenzi, sondern vor allem, wie viele Menschen unterwegs waren. Und im Horombo Camp wurden es immer mehr, diejenigen, die aufstiegen, diejenigen, die vom Kibo herunterkamen und hier noch einmal übernachteten, und diejenigen, die sich auf knapp 4000 Metern Höhe einen Tag lang akklimatisierten. Gegessen wurde in knapp bemessenen Schichten, vor den Toilettenhäuschen bildeten sich lange Schlangen. Die Wartenden unterhielten sich darüber, wann sie das letzte Mal richtigen Stuhlgang hatten, und über ihren Wunsch, jetzt endlich mal wieder alles loszuwerden. In den zwei Nächten, die ich im Horombo Camp verbrachte, schlief ich schlecht, der Druck auf die Schläfen nahm zu, ich verspürte ein leichtes, permanentes Unwohlsein. Die Symptome verstärkten sich in den nächsten beiden Tagen, während wir uns akklimatisierten, während wir langsam, um regelmäßigen Atem bemüht, durch eine Steinwüste zur nächsten und letzten Herberge wanderten, bei strahlend blauem Himmel, mit Blick auf den durchweg wolkenfreien Vulkan. Gegen 18 Uhr lagen alle auf 4700 Metern in den doppelstöckigen Betten, aber keiner konnte schlafen. Später stand der Großteil der Bergsteiger vor der Kibo-Hütte in Grüppchen zusammen. Deutsche, englische, russische, italienische Stimmen waren zu hören. Einige versicherten sich gegenseitig, dem Himmel noch nie so weit entgegen gewandert zu sein. Wenn sich dann, in dieser trotz mangelndem Sauerstoff gelösten Stimmung, die Frage nach dem ›Warum‹ stellte, wurden allerdings weniger der Himmel als vielmehr die eigene Psyche bemüht. Bei diesem Gipfel gehe es darum, den inneren Schweinehund zu überwinden, an die eigenen, körperlichen und psychischen, Grenzen zu stoßen und über sie hinauszugehen. Wer hier bestehe, meistere auch die Schwierigkeiten des Alltags. Der Berg gebe Kraft.
Franco und Ernesto weckten uns kurz vor Mitternacht. Tee wurde serviert und ein paar Kekse, danach brachen wir auf. Alle, bis auf einen aus der Gruppe, der sich entschlossen hatte, auf der Hütte unsere Rückkehr zu erwarten. Unzählige Stirnlampen flackerten durch die Nacht. Meine beleuchtete einen Ausschnitt, der kaum mehr als ein paar Beine und etwas Geröll umfasste. Was gut war: Hätte ich das gesamte Geröllfeld überblickt, hätte es mir wahrscheinlich keine Kraft gegeben, sondern mich so sehr entmutigt, dass ich umgekehrt wäre. Die Kälte kroch durch meine dicken Handschuhe, die gut genähte Windstopper-Jacke und die Fleece-Mütze. »It’s Kili Time«, sagte ich halblaut, aber niemand reagierte. Bis zur Hans-Meyer-Höhle, die ungefähr auf halber Höhe zum Kraterrand lag, wanderten wir als Gruppe, ganz langsam einen Fuß vor den anderen setzend. Drüben, am Mawenzi, wusste Herbert, hießen auch die Gipfel noch nach ihren einstigen Erstbesteigern, nach Meyer und Ludwig Purtscheller. Und früher hätten Unterkünfte auf dem Weg nach Bismarck und Carl Peters geheißen. Kurz hinter der Höhle kehrte ein weiterer von uns um. Der Rest der Gruppe zerfiel. Ich ging hinter Helmut, vor uns Ernesto. In den Blick gerieten immer wieder dessen braune Turnschuhe, die nicht im besten Zustand waren. Der Weg war steil und rutschig. Der 70-Jährige und ich, der fast 40-Jährige, mussten alle paar Meter stehen bleiben, wir hingen über unseren Stöcken und erfuhren am eigenen Leib, was es hieß, nach Luft zu schnappen. Wenn ich dann nach oben blickte, sah ich Ernesto von Kopf bis Fuß. Geduldig wartete der Bergführer, suchte einen geeigneten Weg durch die nicht aufhören wollenden Steinplatten und brachte uns mit aufmunternden Worten zum Weitergehen. Was er wohl von den zwei Touristen denken mochte, die sich mit letzter Kraft Schritt für Schritt voran schleppten? Vielleicht fragte er sich, weshalb zwei Menschen sich so verausgabten, nur um einen Berg zu besteigen? Ich fragte mich das in jedem Fall, mehrfach, zumal es in meinen Schläfen heftig pochte und die Übelkeit bedenklich zugenommen hatte. Wenn hier jemand umkam, dann wegen der Höhenkrankheit, sagte ich mir immer wieder, jeden Monat im Schnitt ein Bergsteiger, laut einem Gerücht, das auch mir zugetragen worden war. It’s Kili Time. Trotzdem setzte ich weiter einen Fuß vor den anderen. Den Sonnenaufgang erlebten Helmut und ich vielleicht 100 Meter unterhalb des Kraterrands. Unten das Wolkenmeer, darüber der Mawenzi und ein Himmel, der sich immer stärker orange färbte. Wir staunten, zugleich aber waren wir zu erledigt, um das Naturspektakel angemessen zu würdigen.
Oben am Kraterrand hatte ich noch die Kraft, in eine Digitalkamera zu lächeln, gemeinsam mit Helmut und Ernesto, den wir zwei Erschöpften in die Mitte nahmen. Wir lehnten gegen eine Tafel, die uns informierte, dass wir jetzt am Gilman’s Point auf 5681 Meter seien. Wie drei Kumpels, sagte mir ein Freund hinterher, als ich ihm das Foto zeigte, die gemeinsam ihren Erfolg genießen. Das nenne ich mal eine Begegnung zwischen Kulturen. Zugegeben: Wir waren stolz. Und dankbar. »It’s Kili Time«, rief ich ein ums andere Mal, so laut ich konnte, beim dritten Mal stimmte Helmut mit ein. »Wenn wir unten sind«, raunte er mir in seinem Vorarlberger Dialekt zu, »schenke ich ihm meine Handschuhe. Ich wollte mir sowieso neue kaufen.« »Und ich«, fügte ich hinzu, »gebe ihm zum Abschied meinen alten Schlafsack. Den hat er sich verdient.« Helmut und ich würden am Marangu Gate eine Siegerurkunde überreicht bekommen. Auf die Ehrenurkunde verzichteten wir. Dazu hätten wir den Krater zur Hälfte umrunden und auf die 200 Meter höher gelegene Uhuru Peak hinaufsteigen müssen. Unten in der Ebene wäre der Weg ein Spaziergang gewesen, hier oben jedoch kam er uns vor wie ein Gang ans andere Ende der Welt. Wir sahen hinüber zu den recht spärlichen Gletscherformationen und hinab in die Wolken, bis die Kälte überhand nahm, dann baten wir Ernesto, uns zurück in tiefere Gefilde zu begleiten. Dieser wirkte erleichtert. Vielleicht hatte er befürchtet, uns, den einen links, den anderen rechts im Schlepptau, erst auf die Freiheitsspitze hinauf- und dann wieder hinabzerren zu müssen. »Never mind«, sagte er, besser sei die Aussicht drüben sowieso nicht. Das Geröll sei etwas höher aufgeschichtet, und oben stünde ein anderes Schild als hier. Etwas größer, aber kaum der Rede wert. Die Aufschrift, auf Englisch, würde lauten: »Liebe Touristen, bitte hinterlassen Sie den Ort so, wie Sie ihn vorgefunden haben.« Wir schauten ihn fragend an, doch Ernesto verzog keine Miene. Oder erst dann, als er uns den Rücken zukehrte und begann, vorsichtig durch das Geröll hinab zu steigen.