Was heißt Interkulturalität?
Im November 2001, gut zwei Monate nach den Terroranschlägen in den USA, sprach Richard Rorty im »Schauraum« der Berliner Schaubühne über kulturelle Globalisierung. Zur Verblüffung, ja zum Schrecken des überwiegend US-kritischen Publikums führte er aus, was der Beobachter der Berliner Zeitung zusammenfasst:
Den Dialog zwischen den Kulturen hält er für unfruchtbar, er glaubt auch nicht daran, dass der Westen im Gespräch mit islamischen Theokratien oder der indischen Kastengesellschaft irgendetwas lernen könne. Die westliche Kultur habe spätestens seit der Aufklärung ihre Aufgabe darin gesehen, Grenzen einzureißen und Ausgrenzungen zurückzunehmen. Gerade dank dieser Impulse, der die Französische Revolution die politische Ausdrucksform des Egalitarismus gegeben habe, mehre Kultur das Glück der Individuen. Es sei ein schätzenswertes Kennzeichen des »säkularen Humanismus«, die Individuen aus dem Treuegebot gegenüber ihren kulturellen Herkünften zu entlassen.
Der damit prämierte Kosmopolitismus müsse nicht nur gegen seine Gegner im Westen verteidigt werden, etwa gegen eine radikale Linke, die sich »die kulturelle Vielfalt« auf ihre Fahne geschrieben habe. Vielmehr handle es sich um ein Erfolgsmodell, das auch gen Osten zu exportieren, ja zu einer global homogenisierten Kultur der Inklusion auszubauen sei. Wenn der Preis solcher Homogenisierung die weltweite Verbreitung von Coca-Cola und McDonald’s sei, könne man das angesichts der unbestreitbaren Freiheitsgewinne für die Individuen hinnehmen. Denn deren Autonomie sei ein universaler Maßstab moralischen Fortschritts. (Martin Bauer in: Berliner Zeitung v. 20.11.2001)
Kulturelle Diversität anerkennen und in gewissem Maße respektieren, aber den Individuen kein Treuegebot zu ›Herkunftskulturen‹ aufzuerlegen – das könnte auch ein sozialwissenschaftliches Programm im Geiste des Pragmatismus sein, das die Fallstricke des »Gruppismus« (Rogers Brubaker 2007) vermeidet und Exzesse des Multikulturalismus vermeiden hilft. In den Kulturwissenschaften haben sich im Bann der identitätspolitischen Debatten der 1980er und 90er Jahre substantialistische Unterscheidungen zwischen Gruppen und Kulturen, Eigenem und Fremden verfestigt, die Rogers Brubaker Groupism genannt hat. Als »empirischer sozialer Kulturwissenschaftler« (Max Weber) favorisiert man dagegen interaktionistische Ansätze, die den Vorteil haben, den Gruppismus nicht zu reproduzieren, sondern als historisches Phänomen gleich mitzuerklären. Identität und Alterität sind danach wesentlich Resultate menschlicher Selbstherstellungsprozesse, anders gesagt: Wer ich bin und wer wir sind, ist nicht durch die Natur vorgegeben, sondern kulturell hergestellt. Diesen in der »natürlichen Künstlichkeit« (Plessner) des Menschen verankerten Zwang zur Selbstherstellung haben Berger und Luckmann soziologisch so ausgedeutet, dass er wesentlich im gesellschaftlichen Austausch bewältigt wird: Der Mensch schafft sich seine Wirklichkeit in gesellschaftlichen Konstruktionsprozessen, die von der Habitualisierung, Ablagerung und Übertragung von Wissen bis hin zu dessen Legitimierung reichen und die in eine »expansive institutionale Ordnung« (Berger/Luckmann) münden. So wird uns die »intersubjektive Kulturwelt« (Endreß) zur zweiten Natur, aber eben nicht zur ersten. Sie ist gemacht und in ihrer Gemachtheit reflexiv zugänglich, sie ist veränderbar und bedarf der ständigen Aktualisierung. Und für die Frage von Identität und Alterität gilt dann eben: Sie sind im gesellschaftlichen Wissensvorrat gespeicherte und situativ zu aktualisierende soziale Konstruktionen.
Rorty hat die im Getümmel des Meinungskampfs improvisierte These in verschiedenen Studien zu verschiedenen Etappen seines Lebenswerks elaboriert. Es ist hier weder der Raum noch die Notwendigkeit, dieses faszinierende und im besten Sinne schillernde Œuvre zu resümieren. Wir nehmen uns vielmehr die Freiheit, einen Rorty herauszustellen, der die Frage kultureller Differenz in der Auseinandersetzung mit nicht westlichen Philosophen und in verschiedenen, zuletzt unter dem Titel Philosophie als Kulturpolitik versammelten Aufsätzen für Soziologen attraktiv und fruchtbar behandelt hat.
Rortys anti-metaphysischer Ausgangspunkt war bekanntlich, dass es für menschliches Erkennen kein außersprachliches Fundament (etwa im ›Ding an sich‹) gibt und dass sich die nachmetaphysische Philosophie besser praktischen Fragen von Demokratie, Solidarität, Gerechtigkeit und dem guten Leben widmen solle. Damit war der Wahrheitsbegriff freilich nicht relativistisch aufgelöst, sondern überführt in eine approximative Vorstellung der »gerechtfertigten Behauptbarkeit«, die sehr wohl nach Gründen (für etwas) fragt. Rorty, der selbst ein frappierender Gesprächspartner war, setzte darauf, dass sich die Menschen im Gespräch neue Sichtweisen nahebringen würden, die sie – das war der Vorrang vor der Philosophie – zum Beispiel toleranter machen und von Grausamkeiten im Namen einer absoluten Wahrheit abhalten könnte.
Anders als die Postmoderne insistierte Rorty darauf, dass wir beim Reden auch eine reale Welt schaffen und dabei natürlich Verantwortung tragen für unsere Mitmenschen. Nur gibt es eben keine inter- oder transkulturell gültigen Aussagen, die sich aus der Rationalität ableiten ließen. Der Clou besteht also darin, die Kontexte von Vernunft nicht zu übersehen (etwa als westlicher Intellektueller, der sich nicht westlichen Ansichten überlegen fühlt), ohne in ihnen aber unterzugehen, wie anti-westliche Intellektuelle, die die Verkommenheit mancher Worte und Taten ›des Westens‹ zu einer rückhaltlosen Affirmation jeder Art von Alterität (Andersheit) verführt hat. Im Eingangsbeispiel der Berliner Debatte ist Rorty nur ihnen gegenüber apodiktisch, nicht den Sprechern anderer Kulturen gegenüber, denen er westliche Denkweisen und Überzeugungen im Sinne ihrer »gerechtfertigten Behauptbarkeit« im Gespräch nahezubringen bemüht ist. Bekenntnisse zum Universalismus sind wohlfeil oder leer, man muss andere verführen, ›uns‹ ähnlicher zu werden. Wir sollten, meinte Rorty, Fremden nicht als Überbringer überlegener Wahrheiten begegnen, sondern »als Erzähler, der von einer lehrreichen Geschichte zu berichten weiß«. Nur in dieser diskursiven Überredung könnten sich Andere westliche ›Errungenschaften‹ aneignen: »Die Sklaverei abschaffen, religiöse Toleranz praktizieren, Frauen ausbilden.«
Was Rorty hier demonstriert, ist Ironie, nicht Relativismus, und wir möchten in diesem Sinne ein pragmatistisches Konzept von Interkulturalität vorlegen, das an Rorty anschließt, aber auch über ihn hinausgeht.
1. Ein pragmatistisches Verständnis von Interkulturalität
Die Soziologie bietet zum Thema »Interkulturalität« eine weite Perspektive, indem sie grundsätzlich davon ausgeht, dass Menschen als Handelnde in ihrem Alltag die Wirklichkeit stets als interkulturell erfahren. Sie machen nämlich die Erfahrung, dass die (ihre) Welt nicht ›von vorne herein‹ kulturell eindeutig ist, in ihrer Erfahrung überlagern und kreuzen sich vielmehr unterschiedliche Sinnsysteme und sie sind mit der Gleichzeitigkeit verwirrend widersprüchlicher Wissensbestände konfrontiert. Die strukturellen ›Randbedingungen‹ dieser per se interkulturellen Erfahrung sind heute globale Migration und Transnationalisierung. D.h. wenn es im Zeitalter des Nationalstaats noch gelingen mochte, Räume kultureller Eindeutigkeit zu postulieren und zu institutionalisieren – i.s. Staaten mit ihren die Nationalkultur verbürgenden Institutionen (Sprache, Schule, Literatur, Armee) – und dadurch die (faktisch schon gegebene) Weltgesellschaft aus der Alltagserfahrung zu bannen und zum Grenzphänomen zu machen, gelingt dies heute nicht mehr. Das gilt umso mehr (und personalisiert) durch grenzüberschreitende Wanderung, die massenhaft ›Fremde‹ in die Nationalstaaten versetzt.
Alfred Schütz ging davon aus, dass im menschlichen Leben vier Grundannahmen in aller Regel Gültigkeit besitzen: dass alles bleibt, wie es ist; dass wir uns auf das überlieferte Wissen verlassen können; dass Wissen über den allgemeinen Typus von Ereignissen ausreichend ist; schließlich, dass ein von allen geteiltes Allgemeinwissen existiert, das die zuvor genannten Grundannahmen einschließt (Schütz 1972, 58f.). Die Lage des Fremden sahen Schütz und Hannah Arendt dadurch definiert, dass diese vier Grundannahmen für ihn als ›Außenseiter‹ keine Gültigkeit besitzen – dies war die durchaus existenzielle Paria-Erfahrung der Exilanten und Asylsuchenden im 20. Jahrhundert und bereits zuvor der Juden in Europa. Moderne ›interkulturelle‹ Gesellschaften scheinen das schützsche Konzept zu sprengen und geradezu durch eine »Generalisierung der Fremdheit« (Hahn 1994, 162) gekennzeichnet zu sein.
Im Blick auf die vier Grundannahmen bedeutet das: Der Bestand an gemeinsamem Wissen, mit dessen Hilfe Interaktion routinemäßig bewältigt werden könnte, wird für alle Gesellschaftsmitglieder zunehmend prekär; es treten ›Wissensasymmetrien‹ auf, deren Überwindung sich zusehends schwierig gestaltet (Günthner/Luckmann 2002); es kommt zu einer Ausdehnung der Zonen, über die man nichts weiß, bei gleichzeitig gegebenen (zumindest potentiellen) vielfältigen Abhängigkeiten und Verflechtungen; und man sucht immer öfter vergebens im gesellschaftlichen Wissensvorrat nach Lösungen für Probleme und findet dabei widersprüchliche Lösungen. Anders gesagt: Einem Individuum wird zunehmend unklar, was ›seine Gesellschaft‹ eigentlich ist, das ›Normale‹ erweist sich zusehends als krisenhaft.
Da dies eine ›lebensweltliche‹ Normalerfahrung ist, gibt es dafür keine theoretischen Lösungen. Stattdessen sind Kulturwissenschaftler aufgefordert, nach den ›Lösungen‹ zu fahnden, an denen sich ›Jedermann‹ und ›Jedefrau‹ unter der ›Intercultural condition‹ orientieren – der Conditio humana unserer Tage. Die Frage ist also, welche Gestalten die kulturelle Wirklichkeit im post-nationalen Zeitalter annimmt, also welche neuen Formen der Normalität sich etablieren, mit denen die Krisenerfahrung im Alltag bewältigt wird. Wir argumentieren nun, dass sich die Gültigkeit kultureller Werte nicht abstrakt bemessen lässt, sondern nur in dieser interkulturellen Gemengelage rekonstruiert werden kann. Wenn man sich die soziologische Mühe macht dies zu tun, so wird man feststellen, dass jenseits des Kulturstereotyps vom ›Westen‹ Interkulturalität nach Formprinzipien organisiert ist, die der westlichen Moderne entspringen (vgl. Zifonun 2008a).
Analytisch lassen sich diese Formen des Managements kultureller Ambivalenz drei unterschiedlichen Ebenen zuordnen: der Interaktionsebene, der Ebene sozialer Welten und Milieus und der Ebene öffentlicher Diskurse. Bevor wir diese Dreiebenen-Unterscheidung näher begründen (3.) und ihre jeweiligen interkulturellen Bewältigungsstrategien identifizieren (4.), möchten wir – ganz im Sinne des rortyschen Primat der Demokratie vor der Philosophie (hier: Soziologie) auf einige der zentralen Kulturdebatten der letzten Jahre eingehen.
2. Fassetten der aktuellen Kulturdebatte
2.1 Leitkultur-These
Die im politisch-publizistischen Bereich zirkulierende Leitkultur-These besagt, dass auch moderne, pluralistische und kulturell differenzierte Gesellschaften über einen Kernbestand geteilter Normen und Werte verfügen müssen, zu dem sich alle Gesellschaftsmitglieder bekennen sollen und an dem sie sich zu orientieren haben. Obwohl zunächst teils heftig widersprochen, zeigte sich im Laufe der Debatte eigentümlicherweise, dass auch die Kritiker letztlich zustimmten – und zwar unter Verweis darauf, dass ja das Grundgesetz oder andere westlich-liberale Verfassungen nichts anderes repräsentieren als eben eine ›Leitkultur‹. Es gelang auch konservativen Verfechtern des Begriffs nicht überzeugend, eine ›deutsche‹ oder ›christliche Leitkultur‹ aufrechtzuerhalten.
Das Problematische an der Leitkultur-These bleibt, dass ihre Vertreter die Besonderheit der ›Grundverfassung‹ moderner Gesellschaften verkennen: Diese verfügen eben nicht über klare sozio-moralische Leitlinien, an denen sich der und die Einzelne im Alltag ganz einfach orientieren könnte. Anders als etwa die Zehn Gebote oder die Moralvorschriften traditioneller Gemeinschaften ist der Menschenrechtskatalog (bewusst!) abstrakt formuliert und stets auslegungsbedürftig. Differenzierte Gesellschaften stellen gerade keine alltagspraktischen Leitlinien zur Verfügung, sondern einen symbolischen Deutungshorizont, vor dem erstens das der gesellschaftlichen Selbstregulierung entspringende Handeln der Bürgerinnen und Bürger, das sich an ›subsystemischen‹ und teilzeitweltlichen Relevanzen orientiert, immer wieder neu zu bewerten ist und der zweitens selbst beständig erneuert, in Frage gestellt und modifiziert wird.
Problematisch ist am Begriff ›Leitkultur‹ im Übrigen die Verwendung des Wortes »Kultur«. Kultur wird hier eine intersystemische Ordnungsfunktion zugeteilt, die eher Recht oder Politik in Anspruch nehmen könnten; Alltags- wie Hoch- oder Subkulturen zeichnen sich aber eher durch Chaos, Tumult und Sprengung von scheinbar festen Deutungsmustern und Sinnkonstruktionen als durch einen (auch im Strukturfunktionalismus behaupteten) ›Ordnungssinn‹ aus. Aus der Sphäre der Kultur ist nicht Disziplinierung, sondern Freisetzung von ›Sinn‹ zu erwarten, auch um den Preis riskanter ›Sinnkrisen‹.
Kultur ist also kein fixierter Katalog von Werten. Wir sind uns heute gerade vor dem Hintergrund der Entstehung der globalen Kultur der Moderne bewusst, dass Kulturen in Kämpfen entstehen, ohne klare Grenzen sind und in Inklusions- und Exklusionsprozessen konstituiert werden (vgl. Appadurai 1996, Wimmer 2008). So verweist die Frage nach der Konstitution von Kultur auf die Dynamiken von Kultur, die notwendig interkulturell sind. Die nicht aufzulösende Paradoxie des Kulturbegriffs besteht darin, dass im Zentrum von Kultur (Substanz) Interkultur (Prozess) lokalisiert ist.
2.2 Multikulturalismus-These
Die Multikulturalismus-These lässt sich insofern als vorweggenommenes Gegenargument zur Leitkultur-These lesen, als ihre Vertreter die Existenz vielfältiger, unterschiedlicher kultureller Gruppen innerhalb moderner Gesellschaften betonen. Diese Vielfalt wird als Normalität erachtet und – insbesondere in der bundesdeutschen Diskussion – als gesellschaftliches Potential gedeutet oder – vor allem in der angelsächsischen Diskussion – die Forderung formuliert, die kulturellen Rechte von Minderheiten zu wahren. Diese Erkenntnis bedeutet angesichts einer eher ›monokulturellen‹ und statischen Selbstwahrnehmung vieler Einwanderungsgesellschaften den Fortschritt einer Selbstanerkennung kulturellen Pluralismus. Kritikwürdig wird die Multikulturalismus-These dort, wo Multikultur als ein Nebeneinander separierter kultureller Gruppen interpretiert wird. Das Bild von den homogenen, geschlossenen Kulturgruppen trifft für moderne Gesellschaften gerade nicht zu. Zum einen bilden diese Gruppen für ihre Mitglieder keine Selbstverständlichkeiten. Diese sind sich ihres ›gemachten‹ Charakters durchaus bewusst, zumal ihre Gruppenzugehörigkeit in aller Regel eine zeitlich begrenzte und nur teilweise ist. Zum anderen ist weniger die Trennung als vielmehr das ständige Aufeinandertreffen dieser ›Gruppen‹ der Normalfall und zwar nicht nur in Form von Konflikten im Sinne eines Clash of Civilizations, sondern in Form vielfältiger Aushandlungs- und Austauschprozesse.
2.3 Interkulturelle Kommunikation
In der breiten Diskussion um interkulturelle Kommunikation, wird von ähnlichen Grundannahmen ausgegangen, wie im Falle der Multikulturalismus-These. Im Aufeinandertreffen zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen (am Arbeitsplatz, in der Freizeit, im Urlaub etc.) komme es fortlaufend zu Missverständnissen, da unterschiedliche kulturelle Rahmen aktiviert würden. Das kann man kaum bestreiten, ist aber höchst trivial. Doch hat man sich in der interkulturellen Pädagogik wie im interkulturellen Management bisher mit der Reproduktion bekannte Kultur-Stereotype zufrieden gegeben (westliche Direktheit vs. östliche Zurückhaltung; Individualismus vs. Kollektivismus etc.) und so ist es wenig verwunderlich, dass nach 30 Jahren ›interkulturellem Coaching‹ noch immer dieselben ›Missverständnisse‹ ausgeräumt werden müssen. Übersehen wurde offenbar, dass erstens unter den Bedingungen von Interkulturalität zunächst geklärt werden müsste, auf welche Weise unterschiedliche Kulturen überhaupt erfolgreich separiert werden (anstatt davon auszugehen, dass diese getrennt sind), dass zweitens die vermeintlichen Missverständnisse durchaus produktiv sein können und von den Interagierenden zur Distanzwahrung oder Machtsicherung eingesetzt werden. Drittens ist festzustellen, dass Kulturunterschiede nicht automatisch und nicht immer auf dieselbe Weise relevant werden, sondern in der Interaktion erst realisiert werden müssen.
3. Arena – soziale Welt – Interaktionsordnung
Diese Kulturdebatten leiden an ihrer Normativität und an einer gewissen gesellschaftstheoretischen Naivität. Um diese zu überwinden, schlagen wir vor, zwischen der Interaktionsebene, der Ebene sozialer Welten und Milieus und der Ebene öffentlicher Diskurse zu unterscheiden.
3.1 Soziale Welten
Die ›Lebenswelt‹, verstanden als »das Insgesamt von Sinnwelten« (Honer 1999, 64), wird vom Einzelnen nie in ihrer Totalität erfasst. Jede(r) lebt vielmehr in unterschiedlichen ›sozialen Welten‹ (Anselm Strauss) oder ›kleinen sozialen Lebens-Welten‹ (›Small Life-Worlds‹, Luckmann 1978), in Figurationen aus Alltagswelt und symbolischen Sinnwelten, und das Ensemble dieser Figurationen wird als Wirklichkeit erfahren. Bei ›sozialen Welten‹ (Strauss 1978, Strauss 1993, 215ff.) handelt es sich um »relativ dauerhafte, durch relativ stabile Routinen ›arbeitsteilig‹ abgesicherte, d.h. ›institutionalisierte‹ Wahrnehmungs- und Handlungsräume« (Soeffner 1991, 6), die sich als verhältnismäßig eigenständige Sonderwissensbereiche darstellen. Soziale Welten sind keineswegs notwendigerweise territorial organisiert, sondern können ein hohes Maß an ›geografischer Streuung‹ aufweisen. Entscheidend für ihre Konstitution ist die Teilhabe ihrer Mitglieder an einem gemeinsamen Interaktionszusammenhang, nicht die Festsetzung territorialer Grenzen.
Soziale Welten definiert Strauss in sehr konkretem Sinne handlungstheoretisch: In ihrem Zentrum steht »at least one primary activity (along with related clusters of activity)« (Strauss 1978, 122). Sozialweltliche Interaktion nimmt also ihren Ausgang von der Ausrichtung der Akteure auf die Durchführung einer oder mehrerer gemeinsam verrichteter Handlungen. Der Strauss’sche Begriff sozialer Welten überschneidet sich mit dem Milieu-Begriff, wie er in der Phänomenologie Anwendung findet (vgl. Gurwitsch 1977, Grathoff 1989).1 Was aus phänomenologischer Sicht ein soziales Milieu ausmacht bzw. erhält, ist im Wesentlichen ein gemeinsamer Fundus an geteilten Wissensbeständen, Routinen und Interaktionsmustern oder mit anderen Worten ein Einverständnis darüber, was als ›normal‹ gilt. Eine wechselseitige Normalitätsunterstellung der sozialen Akteure liegt dem Handeln ›im Milieu‹ zugrunde. Dass diese Unterstellung funktioniert, verdankt sich der Verfestigung milieutypischer Handlungsmuster durch reziproke Verhaltenserwartungen, welche das Handeln sowohl von Ego als auch von Alter leiten. Die Integration in ein Milieu, d.h. die Herstellung einer gemeinsam verbindlichen Regel- und Weltdeutung, ist eine Aufgabe, die sich den Angehörigen des Gesamtmilieus praktisch fortlaufend stellt. Die Grenzen des Milieus sind entsprechend dort zu suchen, wo eine Unterstellung gemeinsamer Deutungs- und Handlungsrepertoires nicht mehr erreicht wird, wo typisierte Verhaltenserwartungen nicht wechselseitig erfüllt werden. Am Umschlag von Fremdheit und Vertrautheit lassen sich dementsprechend Milieugrenzen empirisch lokalisieren.
3.2 Arena
Soziale Welten sind also zunächst Medien der Separierung kultureller Wissensbestände. Tatsächlich ist es jedoch so, dass in und zwischen sozialen Welten Austauschprozesse stattfinden, die hochgradig konflikthaft sein können:
Während die für die traditionelle Moderne typischen direkten Verteilungskämpfe an Bedeutung verlieren […], werden allenthalben mannigfaltige indirektere, unreguliertere Verteilungskämpfe aller Art um materielle Güter, um Weltdeutungen, um Kollektiv-Identitäten, um Lebensgewohnheiten und -qualitäten, um soziale Räume, Zeiten und Ressourcen, um Gestaltungschancen, um Grundsatz- und Detailfragen ausgetragen […]. D.h. die gesellschaftliche Normalität besteht […] aus einer Vielzahl kleiner, im alltäglichen Umgang aber sozusagen permanenter Querelen, Schikanen und Kompromisse, die sich zwangsläufig im Aufeinandertreffen und Aneinanderreiben kulturell vielfältiger Orientierungsmöglichkeiten und individueller Relevanzsysteme ergeben (Hitzler 1999, 479f.).
Was – oberflächlich gesehen – als Tendenz zur Anomie, als scheinbar unumkehrbarer Verlust gesellschaftlicher Ordnung erscheint, erweist sich – bei genauerer Beobachtung – allerdings als Beginn der Ausprägung neuer Ordnungen, selbst auf der Ebene der Entstehung und Austragung von Konflikten. Diese entstehen nicht zufällig und wahllos, sondern in Zonen spezifischer Interessenkollisionen, für die nach einer Lösung gesucht wird.
Wenn an den Schnittstellen sozialer (Teil-)Welten Handlungs- und Deutungsprobleme auftreten, entsteht was Anselm Strauss »Arenen« genannt hat (Strauss 1993, 225ff.), in denen Konfliktbearbeitung möglich ist. Derartige Konflikte entzünden sich oftmals in klassischen sozialen Welten wie Schule, Arbeit oder Wohnquartier. Sie werden zu jenen Kontaktzonen, in denen soziale Welten aufeinanderstoßen und Grenzziehungskämpfe ausgefochten werden. In solchen Kämpfen müssen die Fragen ›Wer bin ich?‹ und ›Wer sind wir?‹ beständig neu beantwortet werden. Zugleich sind Konflikte Anzeichen für Formen neuer Integrationsprozesse. In ihnen drückt sich die wechselseitige Relevanz der Akteure füreinander aus. Mehr noch: Norbert Elias hat darauf hingewiesen, dass es die Veränderung des Machtgefälles zwischen Gruppen – zugunsten der Außenseiter – ist, die zu ständigen Konflikten, aber auch neuen Ordnungsmustern führt (Elias/Scotson 1990, 27f.).
3.3 Interaktionsordnung
Den Begriff der Interaktionsordnung ist Erving Goffman (1994) zu verdanken. Er hat ihn eingeführt, um auf zwei Sachverhalte hinzuweisen, die für moderne Gesellschaften charakteristisch sind:2
Erstens, dass die Welt des unmittelbaren sozialen Kontakts ihren eigenen Regeln folgt und die Ordnung der Interaktion keineswegs nur reproduziert, was in der Sozialstruktur ›festgelegt‹ ist – also auch nicht nur ›widerspiegelt‹, was in den Ordnungen sozialer Welten und Arenen vorgegeben ist. Mithin ist also nach den »Transformationsregeln« zu fragen, nach denen »verschiedene extern relevante soziale Unterscheidungen in der Interaktion bewältigt werden« (Goffman 1994, 85). Wie also übersetzen sich sozialstrukturelle Klassen und Personenkategorien in interaktiv relevante Rollenkategorien? Goffman lenkt damit unseren Blick auf Fragen der Klassifikation sowie der Selbst- und Fremdtypisierung.
Zweitens ist die Interaktionsordnung moderner Gesellschaften auf Identitätswahrung ausgerichtet: Gerade in den abstrakten und anonymen Interaktionsräumen der Moderne erscheint das Individuum als ›geheiligtes Wesen‹, das in der Face-to-Face-Interaktion durch Ehrerbietungsrituale, korrektiven Austausch etc. geschützt werden muss (Goffman 1974, 1986).
4. Formen der Bewältigung kultureller Ambivalenz3
4.1 Symbolische Integration in der öffentlichen Sphäre
Welche interkulturellen Bewältigungsstrategien lassen sich nun, unterschieden nach den drei Analyseebenen, identifizieren? In der Öffentlichkeit, also in den einzelne soziale Welten übergreifenden »Arenen« der Auseinandersetzung um die Gültigkeit konkurrierender Problemdefinitionen und Gestaltungsoptionen für die Bearbeitung geteilter Problemlagen, treten die charakteristischen Züge moderner Einwanderungsgesellschaften besonders deutlich zu Tage. (Mediale) Auseinandersetzungen um die Verteilung knapper Ressourcen, um den Zugang zu Positionen im öffentlichen Raum, um Teilhaberechte und -chancen gleichen selten dem Ideal vernunftorientierter Konsensfindung. Sie nehmen vielmehr die Form von (unlösbaren) Konflikten um Symbole (›Kopftuchstreit‹), Territorien (›Moscheestreit‹), emotionalisierten ›Ausländerdebatten‹ (›Mehmet‹) oder (akademischen) ›Identitätsdiskursen‹ (einschließlich des unvermeidlichen Rassismusvorwurfes) an, die sie als Bestandteil einer oft oberflächlich-geschwätzigen Inszenierungskultur ausweisen, mittels derer moderne Gesellschaften die Fragwürdigkeit, Offenheit und offen gelegte Ambivalenz ihrer Ordnungsmuster und Vergesellschaftungsformen bewältigen. Es sind Konflikte, die bisweilen – in den Cultural Studies zu Formen subversiven ›Widerstands‹, von Makro-Soziologen zur ›reflexiven Moderne‹ – verklärt werden. Wenig beachtet wurde dabei bisher, dass diese Auseinandersetzungen hochgradig durchstrukturiert sind und in weitgehend vorgegebenen Bahnen verlaufen, dass also die kollektive ›Dauerreflexion‹ durchaus eine Institutionalisierung erfahren hat (vgl. Schelsky 1965), die der Gesellschaft, auf neue Weise, Sicherheit und Ordnung verleiht. Grundlegende Fragen der (Neu-)Verteilung bzw. Sicherung von Machtanteilen werden allerdings in dieser Form öffentlicher Auseinandersetzung in den Bereich des ›Kulturellen‹ verschoben und damit unsichtbar gemacht.
Diese neuartigen (medialen) Ritualisierungen und Strukturierungen des öffentlichen Austauschs können überdies nicht über die grundlegenden Schwierigkeiten symbolischer Integration in hochmodernen Gesellschaften hinwegtäuschen: »Die Vielfalt der Perspektiven erschwert es […], die gesamte Gesellschaft unter ein Dach, das heißt unter ein integriertes Symbolsystem zu bringen.« (Berger/Luckmann 1980, 91) Dennoch existieren solche Versuche einer gesellschaftsübergreifenden symbolischen Integration, von denen vier genannt werden müssen.
Die ›geglaubte Gemeinsamkeit bzw. Gemeinschaft‹ (Weber) der Nation war ein Produkt der kapitalistisch-bürgerlichen Revolution in Europa. Der Nationalstaat war von Anbeginn durch das Paradox gekennzeichnet, einerseits die Besonderheit der eigenen Nation zu behaupten, andererseits aber – als Ordnungsmuster – zum geteilten Wissensbestand Europas und später der Welt zu gehören. In ihrer formalen Offenheit lag die Voraussetzung für den Erfolg der Idee der Nation. Musste die nationalstaatliche Ordnung zu Beginn gegen vielfältige Widerstände (insbesondere lokaler und religiöser Mächte und der ›transnationalen‹ Aristokratie) durchgesetzt werden, so ist die Bindekraft nationaler Integration heute erneut in Frage gestellt. Selbst wenn wir von den Folgen transnationaler Migration absehen, ist dies offensichtlich: Die Gesellschaft ist gegliedert in Lebensstilmilieus, die sich über eine ›kollektive Identität‹ als gemeinsamem Besitz nicht mehr zu verständigen in der Lage sind. Besonders deutlich wird dies bei dem Bemühen um die Konstruktion von ›Nationalitätsbewusstsein‹ durch den Rückbezug auf die Geschichte, der weltweit Konjunktur hat (vgl. Levy/Sznaider 2001). Gegenwärtige Erinnerungspolitiken unterscheiden sich deutlich von früheren (Leggewie 2008 u. 2009). An die Stelle triumphaler Heldenerzählungen tritt verbreitet das Eingeständnis der historischen Schuld der Nation. Diese Schuld-Diskurse können identitätsbildende Effekte erzeugen, da die Nation durch die Zurschaustellung ihres Schuldbewusstseins auf der internationalen Bühne das Image moralischer Integrität und Reife erwerben kann. Nationale Selbststigmatisierung – oftmals gepaart mit Diskursen, in denen die Nation selbst als Opfer inszeniert wird – kann entsprechend, erstens, als Versuch neo-nationaler Schließung durch Erinnerungspolitik interpretiert werden (Soeffner 2005, 103ff.; Zifonun 2004a). Dieses reaktive Muster scheint zumindest tendenziell dazu in der Lage zu sein, integrative Wirkung zu entfalten.
- In ähnlicher Weise lassen sich, zweitens, religiöse Radikalismen interpretieren, die ja gerade nicht Ausdruck des Fortbestandes traditioneller Formen der Frömmigkeit sind. Vielmehr verbindet religiöser Fundamentalismus religiöse Totalitätsansprüche mit politischen Herrschaftsbestrebungen und spezifisch modernen Sozialformen, insbesondere was die Nutzung von Medien, Staatsorganisation und Gesellschaftsstruktur betrifft (vgl. Kurzman 2002).
- Neben nationalen Erinnerungsdiskursen und religiösen Heilsverkündigungen sind, drittens, die bereits erwähnten ›Ausländerdebatten‹ zu nennen, die als symbolische Abwehrdiskurse Einheit und Identität dort zu schaffen versuchen, wo beides nicht (mehr) existiert. Das Bild vom imaginären ›Ausländer‹ dient so zur Konstruktion eines imaginären Bildes vom ›Deutschen‹, auf das sich die Gesellschaft sonst, d.h. ohne ›Ausländer‹, nicht zu verständigen in der Lage wäre. Die mediale Verdinglichung (etwa des Islam) produziert einen symbolischen Überschuss in Form von Stereotypen, der im Alltag kaum eingeholt, korrigiert und aufgefangen werden kann. Wir verlassen uns dementsprechend weitgehend auf das symbolische Wissen über ›fremde‹ Gruppen, das von den Massenmedien zur Verfügung gestellt wird.
- Viertens ergeben sich komplementäre Probleme aus der Verkündigung humanistischer Ideale mit dem Ziel der Versöhnung der Menschheit. Konzepte wie die einer ›humanen Gesellschaft‹, die Aufforderung zu ›Toleranz und Akzeptanz‹, zu ›menschenwürdiger Behandlung‹ und zu ›Solidarität zwischen allen Menschen‹ (vgl. z.B. Küng/Kuschel 1993) leiden an ihrem ungeheueren Grad an Abstraktion und dem Fehlen von Instanzen, bei denen man Menschenrechtsansprüche einfordern und womöglich einklagen kann. Eine Übersetzung dieser ebenso wolkigen wie abgehobenen Ideale der ›Fernstenliebe‹ in die gesellschaftliche Alltagspraxis ist kaum möglich. Größerer Erfolg scheint da der ›unsichtbaren Hand‹ des Marktes beschieden zu sein: Die transnationalen Symbole der Massen- und Konsumkultur lassen Teilhabe allein als Fragen des Geschmacks und vor allem des Geldes erscheinen.4
4.2 Integration in sozialen Welten: Legitimierung, Kreuzung und Segmentierung sozialer Welten
Die Konfliktstruktur und der zweifelhafte Erfolg symbolischer Überformung von Arenen verweisen auf deren grundsätzlich offenen Charakter. Demgegenüber erweisen sich soziale Welten zunächst als Räume gelungener sozialer Schließung. Diese Schließung sozialer Welten um ihre Kernaktivität(en) weist diese zum einen als sozialstrukturelle Grundeinheiten von Gegenwartsgesellschaften aus. Zum anderen verdankt sie sich wiederum drei abstrakt-formal beschreibbaren Ordnungsbildungsprozessen (Strauss 1978, 1982 u. 1984), die ihrerseits nicht zum Abschluss kommen: Dies betrifft zum einen die Kreuzung der sozialen Welt mit benachbarten Welten, die für die erfolgreiche Handlungsdurchführung relevant sind; Zum Zweiten die Segmentierung der sozialen Welten in Teilwelten, insbesondere in solche, die spezifischen Teilaktivitäten gewidmet sind oder die Kernaktivitäten in gruppenspezifischer Art und Weise verrichten. Auch hier wird die Frage der Kreuzung, nun der von Teilwelten, relevant; schließlich die Legitimierung, d.h. die Rechtfertigung der Durchführung der sozialweltlichen Handlungen bzw. der Art und Weise, wie diese vollzogen werden und insbesondere die Begründung des Ressourcenzuflusses in die soziale Welt.
Die Mitglieder weithin vergangener ›einfacher‹ Gesellschaften bewohnten – idealtypisch gesprochen – eine einzige ›soziale Welt‹, mit einem gemeinsamen Relevanzsystem und geteiltem Wissen. Moderne Gesellschaften dagegen gliedern sich in eine Vielzahl von verselbstständigten sozialen Welten, in deren Zentrum zumeist eine Tätigkeit oder soziale Rolle steht.
Instead of being a full-time member of one ›total and whole‹ society, modern man is a part-time citizen in a variety of part-time societies. Instead of living within one meaningful world system to which he owes complete loyalty he now lives in many differently structured ›worlds‹ to each of which he owes only partly allegiance (Luckmann 1978, 282).
Meist wählen Menschen eine soziale Welt aus als »nucleus around which his other life-worlds can be arranged« (Luckmann 1978, 285).
Es ist sinnvoll, zwischen zwei Typen sozialer Welten zu unterscheiden. Erstens soll ganz allgemein von sozialen Welten und Teilwelten die Rede sein, wenn generell und wie oben ausgeführt aktivitätszentrierte ›Wahrnehmungs- und Handlungsräume‹ gemeint sind. Es lassen sich, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, einige typische Formen sozialer Welten ausmachen: Szenen (Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001), Professionen (Pfadenhauer 2005), Vereine (Zimmer 1996) und Verbände (Truman 1965), Gemeinden und Ortsgesellschaften (Häußermann/Siebel 2004), Nationen und andere politische Gemeinschaften (Anderson 1991), Netzwerke (Powell 1996), Soziale Bewegungen (Roth/Rucht 2008), Peer-Groups (Schmidt 2004), Haushalte und Familien (Allert 1998). Auch die vielstufig gegliederten Funktionssysteme der ›Weltgesellschaft‹ (WTO bis Finanzamt Essen; FIFA bis VfB Kurpfalz Cosmos Neckarau) lassen sich als soziale Welten konzeptualisieren: Auch sie sind nichts weiter als
Handlungsstrukturen, die als spezialisierte Rollensysteme institutionalisiert sind […]. Die Handlungsnormen der verschiedenen Bereiche sind wesentlich von den jeweiligen institutionenspezifischen Grundfunktionen bestimmt. Sie sind »zweckrational« auf diese Funktionen bezogen (Luckmann 2007, 223).
Mehr als nur Interaktions- und Kommunikationszusammenhänge sind, zweitens, soziale Milieus. In ihnen verdichtet sich aufgrund der Intensität und Dauerhaftigkeit der unmittelbaren wie mittelbaren personalen Kommunikation das sozialweltliche Wissen zu einem »common ground« (Gumperz 2002). Konstitutiv für diese oftmals, jedoch nicht zwingend lokalen posttraditionalen Gemeinschaften (Hitzler 1998) ist, ähnlich wie für Max Webers »Sippe«, ein »reales Gemeinschaftshandeln«, was sie von abstrakten politischen Gemeinschaften wie der Nation oder von der ›ethnischen‹ Gruppe unterscheidet, die »nur (geglaubte) ›Gemeinsamkeit‹, nicht aber ›Gemeinschaft‹ ist« (Weber 1972, 237). Es handelt sich bei ihnen um »Gruppen Gleichgesinnter« (Hradil 2006, 4), bei denen sich die Bindung ans Milieu von einem themenzentrierten Handlungsinteresse zum emotional grundierten Selbstzweck transzendiert.
4.3 Situierte Identitäten und Lebensstile
Hans Joas (1991) hat den Rollen-Begriff in der Tradition von Mead und Parsons rekonstruiert und deutlich gemacht, dass ihm dort eine grundlagentheoretische Bedeutung zukommt. ›Rollenübernahme‹ ist eine anthropologische Angelegenheit, über die Sozialität überhaupt erst möglich wird, indem das eigene Verhalten an »potentiellen Reaktionen von Partnern« (Joas 1991, 138) ausgerichtet wird. Der »generalized other« erlegt dem sozialisierten Erwachsenen Verhaltenserwartungen auf, die im Begriff der Rolle konzeptionell gebündelt werden. Joas kritisiert die Verdünnung des Rollen-Begriffs, vorangetrieben über die Begriffsverwendung bei Dahrendorf, verweist zugleich aber auch auf die Verhärtungen bei Parsons, die sich aus dessen Abstraktion von der Interaktion (Vergesellschaft) zu Gesellschaft ergeben: »Gesellschaft bedeutet dann die Unterwerfung aller unter ein nicht weiter rational ableitbares, rational nicht begründbares und daher auch nicht kritisierbares Wertsystem.« (Joas 1991, 140f.) Während bei Parsons der normative Konsens Integration sichert, betont Merton (1957; Merton/Barber 1976) demgegenüber die Wirklichkeit des Rollenkonflikts. Joas kritisiert jedoch Merton, da dieser »nur eine Liberalisierung von Parsons’ Theorie« (Joas 1991, 141) erreiche und das Rollenkonzept aus seiner gesellschaftstheoretischen Fundierung löse. Damit wird jedoch die eigentliche Leistung Mertons verkannt: Wenn man den Rollen-Begriff nicht mit Blick auf die anthropologische Fundierung der Gesellschaftstheorie in der Rollen-Übernahme verengt, sondern ihm im Rahmen einer – mit diesen gesellschaftstheoretischen Grundannahmen im Übrigen in Einklang befindlichen – soziologischen Theorie des ›Ambivalenzmanagements‹ (Zifonun 2008b) Platz einräumt, wird erkennbar, dass Mertons Diskussion der Mechanismen der Konfliktbewältigung für eine Integrationstheorie moderner Gesellschaften äußerst wertvoll ist, handelt es sich bei ihnen doch um institutionalisierte Mechanismen zur Lösung einer für den modernen Gesellschaftstypus charakteristischen Problemlage: der Vielfalt an Rollen, die der Einzelne einnimmt, der vielfältigen divergierenden Erwartungen, die an einen Rolleninhaber gerichtet werden und die Widersprüchlichkeit von Anforderungen, die in einer Rolle institutionalisiert sind (Leggewie 2009b). Nicht Rollenübernahme – als anthropologische Konstante –, sondern Rollendifferenzierung – als historisches Phänomen – steht hier zur Frage.
Rollendifferenzierung hat Anselm Strauss mit Blick auf die Frage der biografischen Integration sozial differenzierter Rollen ebenfalls in Spiegel und Masken diskutiert und in diesem Zusammenhang das Rollenkonzept kritisch diskutiert. Der Rollen-Begriff suggeriert für Strauss ein zu deterministisches Bild von den Spielzwängen des Einzelnen: Man spielt eben nicht nur eine Rolle in einem vorgegeben Stück, sondern vielfältige wechselnde Rollen, mit denen man selbst fortwährend konfrontiert wird. Und dies in einem Stück, dessen Verlauf und Ausgang offen ist und bei dem auch die Frage der Mitspieler (wer – wie – wann?) sich im Laufe des Stücks immer wieder aufs Neue stellt (Strauss 1968, 57ff.).
Die Konstruktion persönlicher Identität vollzieht sich mithin in modernen Gesellschaften unter den Bedingungen der Rollendifferenzierung und der kulturellen Pluralisierung (Luckmann 2007, 224 u. 250). Diese modernen Bedingungen hat aber eben Strauss ins Zentrum seiner Definition sozialer Welten gestellt: die mehrfache und wechselnde Zugehörigkeit zu Teilzeitwelten. Strauss weist sich damit als Differenzierungstheoretiker aus, der die Überlagerung funktionaler, stratifikatorischer und segmentärer Differenzierung in Gegenwartsgesellschaften in Rechnung stellt. Als Folgen dieser sozialstrukturell induzierten Differenzierungsphänomene lassen sich Identitätskonfusion und die Ausbildung einer anpassungsfähigen, außengeleiteten Persönlichkeit benennen (Luckmann 2007, 252), andererseits aber auch schöpferische Prozesse des Sinnbastelns und der Konstruktion einer Bastelexistenz (Hitzler 1994; Hitzler/Honer 1994). Hierin offenbart sich als allgemeines Phänomen Individualisierung, die Simmel als Folge der Teilhabe an zahllosen sozialen Kreisen charakterisiert hat, die sich in einer Person kreuzen (Simmel 1908/1992). Es ist gerade diese Vervielfältigung internalisierter sozialer Welten, die die Einheit persönlicher Identität in Frage stellt und als Reaktion auf diese ›Krise‹ Individualisierungsprozesse auslöst (Luckmann 1979). Es ist diese nur scheinbar paradoxe Beziehung zwischen Identitätskrise und Individualisierung, die am subjektiven Pol als »Ambivalenz der Moderne« (Schimank 2007, 32) gefasst werden kann.
Mechanismen der Integration persönlicher Identität sind mithin Individualisierung und deren Stilisierung: die Konstruktion und Performanz von Einzigartigkeit und Selbstbestimmtheit des Individuums (Schimank 2007, 42f.). Bewerkstelligt wird dies zum einen durch das ›Basteln‹ einer Biografie: Moderne Individuen integrieren die vielfältigen, teils widersprüchlichen Aspekte ihres Lebens, indem sie eine Biografie konstruieren, die, trotz scheinbar gesplitteter, partizipativer Identität, eine imaginierte personale Einheit hervortreten lässt (vgl. Berger 1963, 54ff.). Zum anderen erlangt man Individualität durch die Pflege eines Lebensstils. Moderne Lebensstile sind expressive Darstellungsformen mittels derer Individuen ihre Lebenshaltung und ihre soziale Position zum Ausdruck bringen. In ihnen wird gerade nicht primär Mitgliedschaft in einer ›Gemeinschaft‹ angezeigt. Vielmehr sind sie individuelle Zuordnungs- und Abgrenzungsformen, mittels derer Individuen eine gewisse soziale Zugehörigkeit zu bzw. Abgrenzung von anderen Stilen erkennbar machen und zugleich ihre individuelle Stellung innerhalb bzw. ihre individuelle Haltung gegenüber ihrer eigenen ›Gruppe‹ anzeigen (Soeffner 2005, 20). So sind Lebensstile Mechanismen der individuellen Zuordnung und Abgrenzung, die angenommen, abgelegt und ausgetauscht werden und nicht Ausdruck von Kollektivität. »Die Individualität der Person«, so fasst Schimank (2007, 48f.) zusammen, »ist zugleich zwangsläufiges Resultat zunehmender Rollendifferenzierung und funktionales Erfordernis zur Bewältigung der aus dieser hervorgegangenen gesellschaftlichen Integrationsprobleme.«
Die von Sinus Sociovision vorgelegten Untersuchungen, die »Lebensstile als Milieus« (Müller 1989, 62) interpretieren, unterscheiden anschaulich unterschiedliche Lebensstiltypen – für die Bundesrepublik zuletzt die Folgenden: Etablierte, Postmaterielle, Moderne Performer, Konservative, Traditionsverwurzelte, DDR-Nostalgische, Bürgerliche Mitte, Konsum-Materialisten, Experimentalisten, Hedonisten (Sinus Sociovision 2006). Tatsächlich handelt es sich bei den ›Sinus-Milieus‹ nicht um Milieus, sondern vielmehr um typische Sets von Individualmerkmalen, also um Personenkategorien mit zugehörigen typischen individuellen Lebensstilpräferenzen, mit denen der Einzelne seine persönliche Identität ausgestaltet.
5. Zusammenfassung: ›Ambivalenzmanagement‹
Die prozessualen und institutionellen Mechanismen des Ambivalenzmanagements unter den Bedingungen von Interkulturalität lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
- Die Segmentierung der Lebenswelt in soziale Welten und Subwelten. Die Bedeutung der Segmentierung liegt gerade darin, in einer Situation strukturell bedingter Kreuzung die Trennung von Wissensbereichen zu gewährleisten. Soziale Welten sind als Formen ›reflexiver‹ kulturelle Schließung zu verstehen, die kulturelle Vereindeutigung unter der Bedingung struktureller Vieldeutigkeit vermöglichen.
- Die Sequenzialisierung von Tätigkeiten und Rollen. Die Rhythmisierung widersprüchlicher Orientierungen und Einstellungen leistet in zeitlicher Dimension, was durch Segmentierung in räumlicher und institutioneller Hinsicht vollzogen wird.
- Die Intensivierung von Aushandlungsprozessen zwischen den verschiedenen separierten (›segmentierten‹) und doch aufeinander verwiesenen (›gekreuzten‹) sozialen Sphären in Arenen. Spannung, Konflikt und Uneindeutigkeit werden also nicht durch ›Ambivalenzvernichtung‹ bewältigt, sondern durch institutionalisierte Dauerreflexion bzw. institutionalisierten Dauerkonflikt. Dauerreflexion meint, dass die Uneindeutigkeit und Instabilität von Interessen und Identitäten, die sich aus wechselnden, mehrfachen Teilzeitmitgliedschaften ergeben, nicht durch ein prozessuales symbolisches Abschließen sozialer Welten bearbeitet wird, sondern durch die beständige Explikation und reflexive Aushandlung dieser Interessen und Identitäten. Der Dauerkonflikt zielt dagegen gerade auf die Verfestigung symbolischer Grenzen zwischen den in Berührung befindlichen sozialen Welten. Der Konflikt wird hier zum Medium der Binnenintegration in Abgrenzung zum ›Nachbarn‹, die sich durch Ausgrenzung vollzieht. Konflikt wird so zur Normalität, hat nichts Revolutionäres oder Problematisches, das die Ordnung auseinander treiben würde. Neben intermediären Organisationen und Verbänden stellen heute Staat und politisches System institutionalisierte Großarenen dar: Durch die moderne Auffächerung und Verselbstständigung institutioneller Sphären verliert die Politik als Ganzes ihren Status als übergreifende symbolische Sinnwelt. Statt die Integration der zersplitterten Wirklichkeit zu leisten, steht sie in Konkurrenz zu anderen sozialen Welten (Zifonun 2004b). Auch wenn sie ihre Stellung als gesellschaftliches Steuerungszentrum eingebüßt hat, ist sie aber dennoch nicht nur soziale Welt neben anderen. Staat und politisches System sind die Arena für die Moderation gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Dabei findet jedoch gesellschaftliche Selbststeuerung im »Schatten der Hierarchie« statt (Scharpf 1996, 510ff.) und beharrt der Staat nachdrücklich auf seinem »Monopol legitimer Gewaltsamkeit« (Weber 1920, 547).
- ›Organische Solidarität‹ durch marktförmige Beziehungen. Durch die arbeitsteilige Organisation der Durchführung ihrer Aktivitäten binden soziale (Teil-)Welten ihre Angehörigen aneinander. Aus Separierung erwächst Koordination. Mit Durkheim kann argumentiert werden, »dass dauernde Leistungsabhängigkeiten zwischen den spezialisierten Akteuren in der modernen Gesellschaft deren Zusammenhalt sichern« kann (Schimank 2007, 33). Soziale Welten binden ihre Mitglieder aber nicht nur aneinander, sondern auch an die soziale Welt selbst und sichern so ihren Bestand. Die Integration ihrer Mitglieder vollziehen sie, indem sie Handlungs- und Deutungsangebote offerieren, die für diese attraktiv sind. Diese Form interessenorientierter, marktförmiger sozialer Integration erweist sich als typische Reaktion auf die Bedingungen individualisierter, pluralistischer Gesellschaften. Soziale Welten offerieren Produkte auf der sozio-kulturellen Angebotspalette, von denen sich die Angehörigen der »Multioptionsgesellschaft« (Gross 1994) bedienen können. Mit seinen Angeboten beteiligten sich soziale Welten an der marktförmigen Konkurrenz um Mitglieder auf dem Markt sozialer Welten und Weltanschauungen (vgl. Berger 1980).
- Die posttraditionale Vergemeinschaftung in sozialen Milieus. Die charakteristischen Merkmale posttraditionaler Vergemeinschaftung hat Ronald Hitzler (1998) beschrieben: Sie bildet sich als Reaktion auf die Erfahrung der »strukturellen Freisetzung« (Hitzler 1998, 81) aus tradierten Sozialbeziehungen und basiert nicht auf »naturwüchsiger Solidarität« (ebd., 83) unter Blutsverwandten. Vielmehr schaffen sich ihre Angehörigen, angetrieben und getragen von ›Gemeinschafts-Unternehmern‹, ihre eigenen Mythen, Selbstauslegungen und Handlungspraktiken. Sie können Mitgliedschaft nicht als selbstverständlich gegeben betrachten, sondern müssen »zur Mitgliedschaft verführ[t]« werden (Hitzler 1998, 85). Wesentlich für den Zusammenhalt der Mitglieder ist die »›Komplizenschaft gegenüber dem bzw. den ›Dritten‹« (ebd.). Milieus sind damit moderne Sphären ›mechanischer Solidarität‹. Dennoch wird ein soziales Milieu lediglich zur ausschnittsweisen Gemeinschaft, relevant nur für die Zeit der Zugehörigkeit. Ein Milieu, in dessen Zentrum ein Verein steht, das die Mitgliedschaft also formalisiert, schafft Voraussetzungen für eine langfristige Institutionalisierung, im Gegensatz zu fluideren Szenen, die allein auf die Anziehungskraft ihrer Eventangebote setzen.
- Die Legitimierung sozialer Welten durch symbolische Überhöhung. Sie bildet das symbolische, der Reflexion sich gerade entziehende Gegengewicht zum Modus der konfliktregulierenden Dauerreflexion. Durch Legitimierung werden die widerstrebenden Teile einer sozialen (Teil-)Welt in einen übergreifenden Sinnhorizont integriert (Zifonun 2004b). Mythen, Rituale und Symbole sind nicht an sich handlungsleitend. Entscheidender für die Gestaltung des Alltags sind Deutungs- und Handlungsmuster der Akteure, die einer Vielzahl unterschiedlicher Wissensbestände innerhalb sozialer Welten entstammen. Nicht in der Formgebung des Alltagshandelns liegt ihre Bedeutung, sondern in dessen nachträglicher Transzendenz: im ›Management‹ des Alltags durch die Bewältigung von Krisen und die Überbrückung von Grenzen zwischen den Teilwelten. Insbesondere für soziale Milieus ist die Art der symbolischen Überhöhung von Bedeutung. Inklusionsmilieus verfügen über ›universalistische‹ symbolische Überhöhungen und einen ›flachen‹ Mythos, der für jeden Einzelnen akzeptabel sein und dadurch möglichst viele integrieren soll. Dagegen setzen Segregationsmilieus auf inhaltsreichere Ideologien, die die Konversion des Einzelnen und die Aufgabe seiner eigenen Ideen nötig machen. Dadurch wird einerseits die Milieubindung intensiver, der Kreis (potentieller) Mitglieder aber kleiner: Segregationsmilieus sind Avantgardeveranstaltungen und wollen es in der Regel auch sein. Aber selbst Segregationsmilieus sind nicht traditional, sondern den selben modernen Strukturzwängen ausgeliefert: Sie sind nicht alternativlos, sondern sehen sich der Konkurrenz ausgesetzt; sie müssen um Anhänger und Mitglieder werben und ihnen ein attraktives ideologisches Angebot machen; da sie institutionell nicht autark sind, sind ihre Mitglieder dem Zwang zum Außenkontakt ausgeliefert; diese Außenkontakte ihrer Mitglieder können sie nicht komplett kontrollieren. Der Einsatz von »Fundamental-Mythen« (Hitzler 1998, 88) in Segregationsmilieus im Gegensatz zu ›flachen‹, individualistischen Überhöhungen führt zu einem anderen Typus der Vergemeinschaftung, der nichtsdestoweniger posttraditional ist.
- Die Konstruktion und Darstellung von Individualität. Die Pflege eines Lebensstils dient der expressiven Darstellung individueller Transzendenz der Widersprüche in der eigenen Person, die sich aus der modernen Rollendifferenzierung und mehrfachen Mitgliedschaften ergeben. Sie dient genauso der Integration der Persönlichkeit wie sie eine ästhetische Form der Grenzziehung darstellt, die individuelle Positionierung im Rahmen kollektiver Zugehörigkeit ermöglicht. Stilisierung ist Medium der Selbstcharismatisierung, d.h. der performativen Inszenierung persönlicher Identität vor und mit einem Publikum, durch die der Einzelne als einzigartiges Individuum anerkannt zu werden strebt. Die gezielte Herstellung der Kontinuität im Lebensverlauf durch die Konstruktion einer Biografie verweist schließlich darauf, dass moderne Individuen den Anspruch, ihr Leben, trotz vielfältiger, widerstrebender sozialer Ansprüche, selbstbestimmt zu gestalten, auch auf die Gestaltung ihrer Persönlichkeit wenden.
Zygmunt Bauman (1991) hat die Moderne als Zeitalter charakterisiert, das sich durch das Ausschalten von Ambivalenz, durch Dichotomisierung und Vernichtung des Unentscheidbaren auszeichnet. Damit ist allerdings nur die halbe Wahrheit gesagt. Das stimmt, wenn man sich die Selbstbeschreibungen der Moderne und ihre ideologischen Programme anschaut. Zwischen diesen und der lebensweltlichen Wirklichkeit besteht aber nicht notwendigerweise Übereinstimmung. Ein pragmatistisches Verständnis von Interkulturalität offenbart, dass moderne Gesellschaften widersprüchliche Einheiten bilden, die mit ihren Widersprüchen und durch ihre Widersprüche leben und deren Angehörige diese Widersprüche selbst bewältigen. Das Miteinander von Differenzierung und Integration verweigert sich einer Vereindeutigung. Die Ambivalenzbewältigungsstrategien konstituieren ein Sowohl-als-auch, das Differenz nicht auflöst, sondern die zueinander in Spannung stehenden Bereiche aufeinander bezieht, statt sie voneinander zu trennen. Aus dieser Perspektive kann damit auch die soziologische Frage nach der Integration in Frage gestellt werden, die sich nicht als Alternative zwischen Assimilation und ›Parallelgesellschaft‹, zwischen Teilhabe und Segregation stellt, sondern als unentscheidbar erweist, als Gleichzeitigkeit und Doppeltheit.
Die vorgeschlagene pragmatistische Perspektive auf Interkulturalität reagiert konzeptionell auf die Fragmentierung und Konnektivität moderner Individuen wie moderner Gesellschaften. Sie attestiert, dass Integration fraglich und erklärungsbedürftig ist und gibt Antworten darauf, wie die Entstehung von Einheit und von Zonen der Konkordanz dennoch möglich ist. Soziale Welten basieren darauf, dass Menschen Dinge gemeinsam tun. Dies setzt ein gewisses Maß an geteiltem Wissen voraus, so wie in diesem Tun wiederum Wissen produziert wird. Bei aller Heterogenität der Interessen und Orientierungen ihrer Angehörigen sind soziale Welten nur dann einigermaßen dauerhaft und funktional (hinsichtlich der Ermöglichung und Durchführung ihrer Kernaktivitäten), wenn sie diesen Grundbestand an Wissen garantieren. Dieses in der Interaktion immer wieder aufgefrischte Wissen dient als gemeinsamer symbolischer Referenzrahmen. Es umfasst einen Bestand an geteilten Routinen, Erfahrungen und Erinnerungen, die den sozialen Raum als einen gemeinsamen erscheinen lassen, selbst dann, wenn man nur routiniert improvisiert, Erfahrungen divergent interpretiert und unterschiedlich erinnert.
Anmerkungen
1 Zu unserer Verwendung des Milieu-Begriffs vgl. Abschnitt 4.2.
2 Die pragmatistische Grundorientierung von Goffman und Strauss haben jüngst Jürgen Raab (2008) bzw. Jörg Strübing (2007) herausgearbeitet.
3 Für empirische Analysen vgl. Soeffner/Zifonun 2008.
4 Es dürfte deutlich geworden sein, dass die genannten Modi symbolischer Integration selbst erst performativ die gesellschaftlichen Einheiten erzeugen, die sie dann zu integrieren versprechen – sei es die Nation, die religiöse Gemeinschaft der Gläubigen oder die universelle Weltgesellschaft.
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