Dirk Göttsche: Remembering Africa. The Rediscovery of Colonialism in Contemporary German Literature

Rochester (NY): Camden House 2013 – ISBN 978-1-57113-546-9 – 60.00 £

Göttsches Studien zur Afrika-Rezeption in der deutschsprachigen Literatur sind jedem bekannt, der sich mit dem neuen Afrikaroman, mit der Persistenz exotistischer Phantasien in der Gegenwartsliteratur oder mit einzelnen Autoren, die Afrikathemen aufgreifen, beschäftigt. Mit Remembering Africa legt der an der University of Nottingham lehrende Germanist nun die Summa seiner Arbeiten vor. Vieles, was aus anderen seiner bereits sehr umfangreichen Veröffentlichungen bekannt ist, wird hier mit einem Koordinatennetz versehen, das den Einzeluntersuchungen noch einmal eine andere Gewichtung zu geben erlaubt, indem es sie in eine umfassendere Bestandsaufnahme dessen einordnet, was postkoloniale Studien in Bezug auf Afrika und Deutschland leisten können. Tatsächlich liegt mit der Arbeit »the first comprehensive study of contemporary German literature’s intense engagement with German colonialism« (14) vor.

In seiner Einführung formuliert Göttsche als eine seiner Ausgangshypothesen, dass die kollektive Erinnerung an den Kolonialismus in Afrika in Deutschland lange Zeit ebenso löchrig wie die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Kolonialgeschichte vernachlässigt war. Der ›postkoloniale Blick‹, von dem Lützeler sprach, bedarf aber des Wissens und der Wiederbelebung kolonialer Erinnerungsinseln. Die Literatur der letzten beiden Jahrzehnte, der sich Göttsche widmet, hat daran ebenso Anteil wie in inverser Richtung die TV-Serien und -Dokudramen, welche als Fortschreibung von »Kolonialphantasien« (Susanne Zantop) das Bild von Afrika als einem ›dark continent‹ – oder wahlweise einem ›Katastrophen-Kontinent‹ – prägen. Beides trägt aber auf seine Weise dazu bei, die Themen Afrika und deutscher Kolonialismus auf die Agenda zu setzen, ja, die Kolonialgeschichte zu einem der »lieux de mémoire« (Pierre Nora) zu machen – im übertragenen Sinne –, wie ihn etwa das auf dem Cover abgebildete, 1931 in Bremen errichtete ›Reichskolonialehrenmal‹ symbolisiert. 1990, im Jahr der namibischen Unabhängigkeit, ist dieses Denkmal durch seine Neu-Kontextualisierung zu einem Mahnmal gegen die Apartheid umgestaltet worden. Umschreibungen ähnlicher Art in etwa fünfzig Werken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, dem rewriting und rereading, gilt das zentrale Interesse der Studie Göttsches, der sich über die bekannteren Autoren wie Timm, Trojanow, Buch, Hamann, Capus, Wackwitz, Gercke und Zweig hinaus ebenso intensiv auch unbekannteren Autoren widmet, welche selbst in der Interkulturellen Literaturwissenschaft noch keineswegs zum neu sich etablierenden Kanon gehören (wie El Loko, May Ayim u.a.). Klar zeigt Göttsches umfassendes Kompendium auf, dass die postkolonialen Studien gut beraten wären, eine zu enge Kanonisierung durch die schlichte Konzentration auf einige wenige Autoren zu vermeiden:

Although there is a growing body of research about a small number of prominent novels, such as Timm’s Morenga, Trojanow’s Der Weltensammler, or Wackwitz’s Ein unsichtbares Land, many others have not yet been considered at all [...]. (14)

In einem ersten methodologischen Kapitel plädiert Göttsche für eine Zusammenarbeit, wenn nicht Fusion von postkolonialen Studien und Interkultureller Literaturwissenschaft, trotz ihrer je unterschiedlichen Traditionen. Hier dürften allerdings offene Türen eingerannt werden, denn jüngere Vertreter der Interkulturellen Germanistik halten dies wohl für eine Selbstverständlichkeit. (Es ist insofern auch kaum nachzuvollziehen, dass die Interkulturelle Germanistik noch immer mit dem Namen Alois Wierlachers assoziiert werden soll [vgl. 30].) Sinnvoll ist jedoch die Herausstellung der Verbindungen zwischen postkolonialer Analyse und Arbeiten zum kulturellen (und kollektiven) Gedächtnis, welche im theoretischen Kapitel und in den Analysen der literarischen Texte ausgiebig berücksichtigt werden.

Vom Methodologischen ausgehend führen dann die Einzelinterpretationen zu jenem Ereignis, welches auch die postkoloniale Erinnerungskultur nachhaltig beeinflusst hat: zum Gedenken an »Germany’s genocidal colonial war« (410). Es ist längst nicht gängige Sprachpraxis, mit Blick auf den Krieg gegen die Herero und Nama von einem Genozid zu sprechen, weder in den politischen Debatten noch in der historischen Forschung. Einmal mehr wird hier die wegweisende Rolle von Timms Roman Morenga (1978) gewürdigt, der substantiell zur ›Wiederentdeckung‹ und postkolonialen Kritik des deutschen Kolonialismus beigetragen habe. Die Frage nach den Ursachen für die bemerkenswerte Lücke von etwa zwei Dekaden zwischen dem Erscheinen von Morenga und den neueren historischen Romanen zu Afrika sei, so Göttsche, eine entscheidende Ausgangsfragestellung des Bandes gewesen. Eine differenzierte Antwort darauf müsse als maßgebliche Faktoren einschneidende Veränderungen der deutschen Gesellschaft – wie multikulturelle Diversifizierung, den Generationenwechsel, das Entstehen eines Memorialdiskurses im Gefolge der deutschen Wiedervereinigung – gerade in den letzten beiden Jahrzehnten berücksichtigen. Dass das Anwachsen eines postkolonialen Bewusstseins und die Fortexistenz exotistischer Phantasien und Projektionen oftmals nicht säuberlich voneinander zu trennen sind, dass vielmehr eine schmale Linie zwischen beidem bestehe, räumt Göttsche ein. In vielen seiner textnahen Analysen konstatiert er die Permeabilität zwischen diesen Phänomenen.

Die durch Timm vorgegebene poetologische Ablehnung einer »Einfühlungsästhetik« wird von den meisten Autoren und Autorinnen als Standard übernommen. Doch sind es gerade Ausnahmen wie der Roman Die schweigenden Feuer des namibisch-deutschen Autors Giselher W. Hoffmann, der aus der fiktionalen Perspektive der Herero geschrieben ist, welche Fragen nach Leistungen und Grenzen einer postkolonialen Ästhetik aufwerfen. »Voicing the other« (227) als gelungene Repräsentation der afrikanischen Anderen, ohne diese erneut zu ›kolonisieren‹, bescheinigt Göttsche denn auch neben Hoffmanns Chronik des Kolonialismus aus Hererosicht den Romanen von Alex Capus (Eine Frage der Zeit), Hermann Schulz (Auf dem Strom) und Ilija Trojanow (Der Weltensammler). Anderen wird hingegen eher angelastet, dass sie das Klassenziel der gelungenen Repräsentation nicht oder nur mit Abstrichen erreichen. Nicht immer wird in der Analyse selbst deutlich, wofür die Noten vergeben werden. Im Fall eines Romans wie Patricia Mennens Der Ruf der Kalahari, einer Familien-Saga, wird das Verdikt »ethno-kitsch« (103) ob der wenig reflektierten, ›exotistischen‹ Darstellung ausgesprochen – die San bzw., in der Diktion Mennens, ›Buschmänner‹ seien so viel naturnäher als die Weißen, heißt es dort etwa –; bei Gerhard Seyfried sind es die Infantilisierung der Afrikaner und ihre Charakterisierung als ›Wilde‹, welche ihn zu einem problematischen Fall machen. Auch Hans Christoph Buchs Sansibar Blues wird attestiert, dass der Text letztlich, durch den allzu freien Umgang mit dem Quellenmaterial, Emily Ruetes Memoiren, die Differenzen zwischen ›uns‹ und ›den Anderen‹ eher einziehe, als ihre »dialectical interaction« (228) genauer herauszustellen. Warum dies qua analogiam aber nicht ebenso sehr für Trojanows Weltensammler gilt, der den ehemaligen Sklaven Sidi Mubarak Bombay sprechen lässt und dem es so gelinge, die ›Stimme des Anderen‹ wiederzugeben, »without appropriating it« (233), bleibt unklar. Dass es sich hier um besonders ›innovative Formen‹ handeln soll (vgl. 414), kann überdies wohl bestritten werden.

Göttsche selbst versucht in seinem umfassenden Werk die ›Stimmen der Anderen‹ zu Wort kommen zu lassen, afrikanische und schwarze deutsche Autorinnen und Autoren also, welche die vorherrschende europäische Perspektive zu ergänzen oder konterkarieren vermögen, ganz im Sinne Timms, der sich den Roman eines Nama-Autors als Gegenperspektive gewünscht habe (vgl. 229). Im dritten Kapitel widmet sich Göttsche dieser anderen Perspektive, Werken von Autoren wie Kum’a Ndumbe III., El Loko, Daniel Mepin und anderen, räumt aber ein, dass es – verglichen mit dem anglo- oder frankophonen Raum – nicht nur signifikant weniger Beispiele für ein writing back im Sinne einer Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte gebe, sondern auch das Interesse des Lesepublikums daran geringer sei. Es ist ein großes Verdienst der Studie, die andernorts von Göttsche schon angesprochenen Werke und Themen der African diaspora, der transcultural journeys, des ›Mohren‹ in den deutschsprachigen Ländern hier noch einmal in intensiven Interpretationen zusammengeführt zu haben, um an diese »forgotten history« (421) zu erinnern. Deutschland als Puzzleteil der ›Black Atlantic‹-Landkarte einzusetzen, sei seit dem »Black German life-writing« (421) der 1990er-Jahre immerhin möglich geworden.

Im vierten Kapitel – Remapping the History of European Colonialism – weitet Göttsche den Fokus auf die Geschichte des europäischen Kolonialismus aus, wie sie sich in Werken deutschsprachiger Autoren widerspiegelt. Die europäische Erforschung Afrikas, Handel und Niederlassungen von Europäern sowie Dekolonisation und Neokolonialismus als transnationale historische Koordinaten spielen eine wichtige Rolle in der Literatur von Autoren wie Jens Johannes Kramer, Hermann Schulz, Marc Buhl oder Alex Capus.

Das fünfte Kapitel widmet sich dann dem Format der Familien- oder Generationenromane, in denen es zu interessanten geschichtlichen Parallelisierungen komme, »often cross-mapping the memory of colonialism with the memory of National Socialism and post-Wende memory of the German Democratic Republic« (18). Im Falle von Christof Hamanns Usambara untersucht Göttsche überdies, wie sich transgenerationelles Erinnern (oder post-memory in der Terminologie von Marianne Hirsch, die den Begriff ja auf die Teleskopage-Effekte der Holocaust-Erinnerung in Familien bezieht) mit literarischer Meta-Kritik postkolonialer Erinnerungsmodi verbindet. Hamanns Roman, wie auch Urs Widmers Im Kongo, Thomas Stangls Der einzige Ort und Thomas von Steinaeckers Schutzgebiet sind zugleich Beispiele einer anti-realistischen bis experimentellen Annäherung an die koloniale Expansion und ihre Auswirkungen.

In einem zusammenfassenden Schlusskapitel zeigt Göttsche in typologisierender Form noch einmal die verschiedenen Modi der Auseinandersetzung mit der deutschen kolonialen Geschichte auf und verweist auf die Notwendigkeit eines komparatistischen Vergleichs europäischer kolonialer Vergangenheit und ihrer Erinnerung in deren jeweiligen Manifestationen und aus der entsprechenden Gegenperspektive. Eine umfassende Bibliografie und ein Register schließen den Band ab.

Als Überblick und Kompendium zur nicht nur literarischen Beschäftigung mit Afrika wird Göttsches Studie künftig unverzichtbar sein. Seine methodologischen Vorschläge, die Ausführungen zur postkolonialen Repräsentation und die Vielzahl von Koordinaten, mit denen die Werke erfasst werden, sind immer eingängig begründet. Man hätte sich indes gelegentlich die doch etwas weitschweifigen Analysen pointierter und die literarischen Techniken einer ›postkolonialen Ästhetik‹, deren »Eigen-Sinn« (Herbert Uerlings), im Gegenzug etwas deutlicher hervorgehoben gewünscht. Angesichts des immensen Korpus untersuchter Werke und der vielen Aspekte, die Göttsche berührt, fallen diese kritischen Einwände jedoch nicht allzu schwer ins Gewicht. Zu erweitern wäre über den angemahnten komparatistischen Vergleich hinaus in Folgestudien der generische Rahmen – neben dem Roman wären die hier nur gestreifte Lyrik und vor allem die audiovisuellen Medien stärker einzubeziehen, welche nur am Rande erwähnt werden. Formate wie Spielfilme und TV-Serien dürften Göttsches Vermutung einer geradezu anthropologisch fundierten Sehnsucht nach dem Exotischen bestätigen – auch wenn diese wohl endgültig ihre Unschuld verloren hat.

Michaela Holdenried