Barbara Kleiner / Michele Vangi / Ada Vigliani (Hg.): Klassiker neu übersetzen. Zum Phänomen der Neuübersetzungen deutscher und italienischer Klassiker / Ritradurre i classici. Sul fenomeno delle ritraduzioni di classici italiani e tedeschi

Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2014 – ISBN 978–3–515–10358–9 – 29,00 €

Im Jahr 1927 ließ der Schriftsteller und Übersetzer Hans Rothe ein satirisches Pamphlet mit dem Titel Gründe, die gegen eine Neuübersetzung Shakespeares sprechen als Privatdruck erscheinen. Rothe, der für seine unkonventionellen Neuübersetzungen einiger Stücke William Shakespeares auf die Kritik prominenter Anglisten stieß, wollte mit seiner Schrift die konservativen Philologen als traditionsbesessen karikieren und sich insbesondere gegen die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft wehren, die seine Arbeit heftig angegriffen hatte. Die Resistenz der Literaturwissenschaftler gegenüber einem zu dieser Zeit als zu modern geltenden Übersetzungsversuch hing mit der Verehrung der Shakespeare-Ausgaben von Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck zusammen, vor denen jede Neuübersetzung gerechtfertigt werden musste.

Heutzutage haben es Übersetzer in der Regel leichter. Unter dem Motto, dass eine Übersetzung schneller altert als ein Originalwerk und dass es nur ein Original gibt, aber mehrere Übersetzungen (und potentiell unendliche Lesarten) desselben möglich sind, stellt die Neuübersetzung eine nicht nur akzeptierte, sondern sogar sehr willkommene Praxis im literarischen Betrieb dar. Etablierte Übersetzungen klassischer Autoren werden in allen Sprachen regelmäßig nach ihrer Gültigkeit, Verständlichkeit und Korrektheit überprüft und – wenn nötig – durch frischere, präzisere, interpretatorisch neuere ersetzt. Neben dem Bedürfnis, einen Text neu auszuwerten oder eine Autorin/einen Autor wiederzuentdecken, sind oft auch Jubiläen oder ähnliche externe Konstellationen für das Erscheinen einer Neuübersetzung entscheidend.

Im Kontext des seit den 1980er-Jahren populär gewordenen cultural turn innerhalb der Translationswissenschaft, welcher grundsätzlich zu einer Lektüre der Übersetzungen als hermeneutische Operationen (und daher als historisch-kulturell bedingte Produkte) beigetragen hat, ist das Phänomen der Neuübersetzung in jüngster Zeit immer dezidierter ins Zentrum übersetzungswissenschaftlicher Studien gerückt. Erwähnenswert sind auf diesem Gebiet die Forschungen von Agnès Welu (Neuübersetzungen ins Französische. Eine kulturhistorische Übersetzungskritik [2011]) und Dorota Karolina Bereza (Die Neuübersetzung. Eine Hinführung zur Dynamik literarischer Translationskultur [2013]), beide bei Frank & Timme erschienen, sowie die Akten eines 2011 in Schweden gehaltenen Symposions, die unter Herausgabe von Olof Eriksson bei der Linnaeus University Press veröffentlicht wurden (Aspekter av litterär nyöversättning/Aspects der la retraduction littéraire [2012]).

Der von Barbara Kleiner, Michele Vangi und Ada Vigliani herausgegebene Band reiht sich in diese Begeisterungsphase der Translationswissenschaft für die Neuübersetzung als kulturelles Phänomen ein. Ohne besondere theoretische Sprünge zu wagen, bietet er spezifische Beiträge zu ausgewählten Neuübersetzungen deutscher und italienischer Klassiker – und gerade in diesem empirischen Herangehen, in der Konzentration auf einzelne exemplarische Fälle, in der Erklärung und diachronischen Kontrastierung verschiedener traduktiver Entscheidungen liegt sein Wert. Vorgelegt werden einige der Vorträge, die im März 2010 im Rahmen einer Tagung des Deutsch-Italienischen Zentrums Villa Vigoni am Comer See gehalten wurden. Die Aufsätze werden in drei Teile gegliedert: Nach einem einleitenden Abschnitt mit drei luftigeren Beiträgen folgen jeweils eine Sektion zur Neuübersetzung lyrischer Texte und zur Prosaübersetzung.

In dem knapp gehaltenen Vorwort erklären die Herausgeber, dass eine wissenschaftliche Reflexion über das Phänomen der Neuübersetzung italienischer Literatur ins Deutsche (und, vice versa, deutscher Klassiker ins Italienische) aufgrund der zahlreichen, in den letzten Jahren erschienenen Neuübertragungen in beiden kulturellen Systemen notwendig geworden sei. Sicherlich liegt das Erkenntnisinteresse einer solchen Reflexion auf mehreren Aspekten: Zunächst bietet eine Analyse der Übersetzungsgeschichte der italienischen Literatur in Deutschland und der deutschen Literatur in Italien einen Überblick über die Rezeptionsgeschichte der herangezogenen Texte und Autoren. Außerdem zeigt die kontrastive Untersuchung der verschiedenen Übersetzungen eines Textes, welche historischen, mentalitätsgeschichtlichen und oft auch kulturpolitischen Hintergründe die Neuübersetzung ermöglicht haben und in welche Beziehung sich die einzelnen Übersetzer zu den früheren Versionen der Texte setzen. Bei der Kopräsenz verschiedener Übersetzungen in der Zielkultur stellt sich schließlich die Frage nach dem Umgang der Literaturwissenschaftler (und der Leser im Allgemeinen) mit den importierten Werken.

Die einleitende Sektion wird von Anna Maria Carpi eröffnet. In ihrem Beitrag, der eine unveröffentlichte Übersetzung der kleistschen Anekdote Von einem Kinde, das kindlicher Weise ein anderes Kind umbringt (1810) enthält, betont die Germanistin, dass Klassikerneuübersetzungen gerade zu einer Zeit wie der jetzigen, in der die Sprache zunehmend verarmt und die Literatur immer fahriger konsumiert wird, notwendig sind, denn sie leisten eine »Verjüngung« (26) der Texte und ermöglichen somit eine bessere Nutzung und ein tieferes Verständnis der Klassiker. Michael Rössner akzentuiert die Bedeutung der Klassiker als Vehikel des kulturellen Gedächtnisses und schlägt provokatorisch vor, sich nicht weiter mit kanonischen Texten auseinanderzusetzen, sondern noch unübersetzte Werke auszuheben und verfügbar zu machen, um den Kanon zu bereichern und fließender zu gestalten. Die Übersetzung eines Werkes erscheint somit als eine entscheidende Station auf dem Weg zu seiner Kanonisierung. Zuletzt fragt sich Cesare De Marchi ebenso provokatorisch, ob es überhaupt möglich ist, Klassiker zu übersetzen, und kommt dabei zu einem optimistischen Befund: Obwohl die »perfekte Übersetzung« nicht existiert (41), kann man doch mit einer gewissen (Sprach-)Sensibilität die spezifische Zusammenstellung von Wortschatz, Satzbau und Stil reproduzieren, jene »Bewegung aus Worten« (40), die den Ausgangstext charakterisiert.

Konkretere Beiträge folgen in der Lyrik-Sektion. Substantielles zur Neuübersetzung von Gedichten liefert Karlheinz Stierle, der von seiner Erfahrung als Übersetzer der Rerum volgarium fragmenta (1366?–1374) von Francesco Petrarca ausgeht, um sein eigenes Konzept von »Treue« zu entfalten: Ein Übersetzer – zumal im Bereich der Lyrik – soll nach Stierle nicht das Original Wort für Wort übertragen, sondern den Grundgestus, die Intensität und Komplexität des Gedichts verstehen und wiedergeben (63). Da die Formidee in der Poesie unerlässlich ist (51: »Ein Sonett in Prosa ist kein Sonett, es ist die Inhaltsangabe eines Sonetts«), plädiert Stierle für die Beibehaltung des Reims in der Übersetzung und für ein bewusstes Spiel mit der Form in der Zielsprache. Michael von Killisch-Horn, der in seiner Gesamtausgabe der Gedichte Giuseppe Ungarettis eine traditionellere Arbeitsweise bevorzugte, rekonstruiert in seinem Beitrag die reiche Rezeptionsgeschichte des hermetischen Dichters in Deutschland, die ihre Höhepunkte in den 1960er-Jahren mit den Übersetzungen von Ingeborg Bachmann und Paul Celan erreichte. Darüber hinaus beschreibt Killisch-Horn seine eigenen Schwierigkeiten bei der Übersetzung, die er manchmal als ein »verzweiflungsvolles Unterfangen« empfand, bei dem das Gedicht nur annährungsweise »gemimt« werden konnte (74). Zwei italienische Beiträge runden die Sektion zur Lyrikübersetzung ab. Im ersten beschreibt Camilla Miglio die lebhafte und diskontinuierliche Rezeption des Werkes Gottfried Benns, das ohne Rücksicht auf die deutsche Kultur der Nachkriegszeit und ihre Probleme gelesen, sondern durch die Jahrzehnte nach den in Italien jeweils herrschenden philosophischen und ästhetischen Debatten unterschiedlich übersetzt und interpretiert wurde. Im letzten Beitrag der Sektion richtet Michele Vangi seine Aufmerksamkeit auf das Problem der Intertextualität und der Polyphonie in der Übersetzung und untersucht ein Segment des Gedichtzyklus Das geistliche Jahr (1851) von Annette von Droste-Hülshoff, dessen italienische Komplettübersetzung noch ein Desideratum darstellt.

Auch der Abschnitt zur Neuübersetzung von Prosawerken ist reich an konkreten Beispielen und Erfahrungsberichten. Burkhart Kroeber erklärt die Besonderheit seiner 2000 erschienenen Neuversion der Promessi Sposi (1840–1842) von Alessandro Manzoni dadurch, dass er im Unterschied zu den 15 früheren Übersetzungen um die »Wiedergabe der sprachlichen Architektur« (104) des Romans bemüht war und daher den komplexen Satzbau und die häufigen Tempuswechsel des Originals für das deutsche Publikum nicht zu domestizieren versuchte. Barbara Kleiner berichtet über die abenteuerliche Rezeption von Ippolito Nievos Confessioni di un italiano (1867) in Deutschland und betont, dass ihre Übersetzung – selbst wenn in mancher Hinsicht (etwa bei der Wiedergabe dialektaler Ausdrücke) noch unvollkommen – einen wichtigen Fortschritt in der Erschließung des Texts darstelle. Ada Vigliani beschreibt ihre Übersetzung von Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930–1942) vor dem Hintergrund ihres wissenschaftlichen Interesses für den »Essayismus« des Autors, den sie auch in der italienischen Edition hervorzuheben versuchte. Schließlich reflektiert Maja Pflug über ihre Neuübersetzung verschiedener Romane von Cesare Pavese und zeigt, wie sie im Vergleich zu den in der Nachkriegszeit durchgeführten Übersetzungen, welche sentimentalisch oder allzu pompös klangen, einen nüchternen »Ton« und eine kristallklare, ungeschminkte Sprache benutze (136), die der Poetik und den ästhetischen Überzeugungen des Autors gerechter werde.

Insgesamt bietet der Band einen fundierten und differenzierten – wenn auch notwendigerweise partiellen – Überblick über das Phänomen der Neuübersetzung deutscher und italienischer Klassiker. Aus der Perspektive einiger der renommiertesten deutschen und italienischen Übersetzer und Übersetzungsspezialisten erfährt man Wesentliches zur Praxis, zur Notwendigkeit und zur kulturellen Bedeutung der Neuübersetzung und man freut sich erleichtert darüber, dass die Zeiten des Falls Rothe vorbei sind.

Daniele Vecchiato