Über »Grenzen«

Joseph Roth

Die Grenze

Doktor Valentin Langensack, mein Geographieprofessor, pflegte immer zu sagen, es gäbe zwei Arten von Grenzen: natürliche und politische. Und dann folgte mit unfehlbarer Sicherheit die Frage: »Welche sind die natürlichen, welche die politischen?«

Berge, Flüsse, Seen, Hügelketten sind die natürlichen. Die politischen sind doppel- oder dreifarbige Holzrampen, Schilderhäuschen, Finanzwächter in natura. Auf der Karte dargestellt als Punkte, Striche, Linien usw.

Als Doktor Valentin Langensack – Gott habe ihn selig! – noch lebte, gab es nur zwei Arten von Grenzen.

Nun, da er tot ist, gibt es zwar immer noch politische Grenzen, aber längst keine natürlichen mehr, sondern unnatürliche.

Auch sind die politischen Grenzen nicht mehr Punkte, Striche, Linien usw., sondern Schikanen, Leidenswege, Passionen, Golgathas, Kreuzigungen: mit einem Wort: Visitationen 

Man kann auf verschiedene Weise nach Deutsch-Westungarn gelangen: über Ebenfurt oder durch den Wald, auf Schmugglerpfaden oder über Wiener-Neustadt.

Ich wählte Wiener-Neustadt.

Am Ringplatz ist die Polizeidirektion, und hier beginnt die unnatürliche Grenze. Denn seltsamerweise genügt ein vorschriftsmäßiger deutschösterreichischer, mit allen Visa versehener und mit allen unleserlichen Unterschriften sämtlicher Polizeiräte und -kommissäre der Welt vollgeschmierter Paß nicht, um die Grenze zu überschreiten. Man muß sich außerdem noch eine Grenzüberschreitungsbewilligung in Wiener-Neustadt holen. Und das ist der Anfang der Grenze.

Diese selbst liegt eine halbe Stunde hinter Wiener-Neustadt.

Es ist Abend, und da ich leider kein Schleichhändler bin, habe ich die Absicht, am Morgen die Grenze zu überschreiten.

Um aber in Wiener-Neustadt übernachten zu können, muß man in Mattersdorf geboren sein. Ausgerechnet in Mattersdorf. Das erfuhr ich im Hotel Central, wo ich demütig fragte, ob ich ein Zimmer haben könne. Darauf erhielt ich keine Antwort. Nichtsdestoweniger wartete ich. An der Grenze gilt das Sprichwort: Keine Antwort ist nächstens eine Antwort.

Vor mir stand ein Herr und füllte einen Meldezettel aus. Dann verschwand der Herr, und ich nahm seinen Platz ein. Vor mir lag sein Meldezettel.

Ein Stubenmädchen kam, las den Meldezettel und sah mich an. Dann sagte sie mit spontaner Herzlichkeit und Rührung in der Stimme: »Ich gebe Ihnen Nr. 52. Aber nur, weil Sie aus Mattersdorf sind.« Worauf ich schwieg und mit dem Stubenmädchen auf Nummer 52 ging.

Als ich meine Sachen abgelegt und den Türschlüssel eingesteckt hatte, zog ich meinen Revolver und sagte sehr liebenswürdig: »Fräulein, ich bin gar nicht aus Mattersdorf. Der Meldezettel ist von einem anderen Herrn.«

»So«, sagte sie, »dann hätte ich Ihnen das Zimmer nicht gegeben.«

»Sie werden es nicht bereuen«, erwiderte ich, steckte den Revolver ein und gab ihr eine Zehnkronennote.

Also kam ich zu einem Zimmer in Wiener-Neustadt, ohne in Mattersdorf geboren zu sein. Glück muß man haben! …

Am Morgen ging ich eine halbe Stunde lang, ehe ich die eigentliche Grenze erreichte. Es führt zwar ein Geleise direkt von Wiener-Neustadt nach Sauerbrunn, aber der Zug verkehrt nicht. Erstens, weil es eine unnatürliche Grenze ist, zweitens, damit die Reisenden ihre Koffer schleppen können.

An der Grenze stehen sechs Gendarmen und ein Polizeispitzel. Einer der Gendarmen besieht sich den Paß, ein zweiter tastete mich ab und fragte: »Haben Sie keine Ware?«

Wie naiv! Ich bin doch neugierig, ob ihm ein Schmuggler schon je gestanden hat, daß er Ware mithabe.

Nichtsdestoweniger sage ich vorschriftsmäßig: »Nein!«, worauf ich passiere.

Zwanzig Schritt weiter versucht ein analphabetischer Rotgardist einen Paß zu buchstabieren. Das dauert lange. Ausgerechnet an meinem Paß will der Gute Deutsch lesen lernen. Ich muß ihm zwei Zigaretten geben, worauf er jeden Versuch zu studieren auf- und mir den Paß zurückgibt.

Drüben beginnt Neudörfl.

Neudörfl ist die Introduktion vom Heanzenland. Dieses Diminutiv »Dörfl« verstehe ich nicht recht. Es sollte Neudorf heißen. Das Dorf besteht aus einer einzigen Straße, die unglaublich lang und zu beiden Seiten von weißen Häuschen bestanden ist. Es ist Sonnabend und großes Reinemachen. Blonde Kinder spielen im Straßendreck. In einem fernen Gehöft grunzt behaglich ein Schwein. Ein Hahn spaziert in der Straßenmitte. Zwei Enten patschen in einem Tümpel.

Da Neudörfl gar nicht die leiseste Absicht hat aufzuhören, beschließe ich, es eigenmächtig zu unterbrechen, und betrete ein Gasthaus. Der Wirt ist ein Ungar, die Frau eine Deutsche. Ein Knecht ist ein Deutscher, eine Magd Ungarin. Der Wirt ist sehr gut zur Magd, die Wirtin zum Knecht. Wahl- und Stammesverwandtschaft, Liebesromane und Eheskandale an der Grenze.

Nach einem Viertel Rotwein beginnt wieder Neudörfl. Ein Bäuerlein kommt aus der Kirche. Ich frage nach dem Herrn Pfarrer. »Den hat der Schlag troff’n, gestern«, sagt er. »Lebt er noch?« »Jo, oba lang nimma. Auf den Kun Bela wor der so zurnig gwest, und jetzt’n hat ihn der Schlag troff’n!« klagt der Bauer. »Freun Sie sich, daß der Kun weg ist?« »Oba freili. Dös war nimma zum Aushalten gwest.« »Wissen Sie, daß sie jetzt zu Deutschösterreich gehören?« »Noch net! Oba’s kummt scho! Kummen Sö von Wean?« »Ja.« »Ah, ah, von Wean«, sagt er schmunzelnd, und seine Äuglein leuchten.

Hinter der Kirche hat endlich Neudörfl aufgehört. Links ist Waldheim am Lichtenwerd. Ein Gasthaus. Drin sitzt ein deutschösterreichischer Gendarm in voller Ausrüstung. Was macht der hier? Doch nicht schon Okkupation? Um Gottes willen! Nein! Waldheim am Lichtenwerd ist nämlich – wieder Deutschösterreich! Nun sage mir einer, das wäre keine unnatürliche Grenze. Ein deutschösterreichischer Hemdzipfel liegt zwischen Ungarn und Ungarn. Und auf dem Hemdzipfel ein Gasthaus, und im Gasthaus ein Gendarm! Welch eine seltsame Grenze!

Gleich hinter dem Gasthaus beginnt der Wald. Im Walddunkel steht ein Mann mit einem Revolver und ruft: »Hände hoch!« Auf diesen Anruf hin bleiben vier ungarische Rotgardisten stehen, die gerade nach Waldheim wollten. Der Polizeiagent tastet sie ab, kommandiert: »Vorwärts! Marsch!« und führt sie in das Innere des Waldes. Es ist doch ein bißchen unheimlich an einem Ort, an dem ein Land noch nicht aufhört und ein zweites noch nicht beginnt.

Wer die Gelegenheit sucht, sich zu ärgern, kann den Rest des Weges neben dem Eisenbahngeleise bis Sauerbrunn zurücklegen. Welch schönes Geleise! Wie leicht könnte da ein Zug verkehren! Und man müßte nicht »Hände hoch!« rufen und brauchte keinen Gendarmen zu sehen, und es wäre überhaupt viel behaglicher!

Aber nein! Grenzen sind nun einmal unbehaglich. Ja! als mein Geographieprofessor noch lebte und sie nur in politische und natürliche einteilte, war die Sache freilich anders!

Nun aber, da er tot ist, gibt es nur noch unnatürliche …

Der Neue Tag, 7.8.1919

Die Grenze

Hier, so sagt man mir, wäre die Grenze, und ein Gitter aus grauem Zinkdraht, wie ein Netz geflochten, bestehend aus den Maschen des Gesetzes, durch die man schlüpfen kann, beweist es.

Ja, ein Gitter trennt Land von Land, Heimat von Fremde, Deutsches von Polnischem. Ein grüner Zollbeamter, wunderbar dem unfruchtbaren Pflastergestein des Perrons entsprossen, besitzt den Schlüssel zu der Tür, die aus Deutschland nach Polen führt; er kann sie öffnen, er kann sie schließen, er hat einen Zauberschlüssel und weiß es nicht. Er ist groß, breit, blond und einfach, auf seinen Schultern ruhen die silbernen Epauletten der Verantwortung, in der starken Faust, auf deren Rücken blonde Härchen sprießen, hält er den Schlüssel zur Heimat, den Schlüssel zur Fremde und gebraucht ihn nicht.

Ihm gegenüber, neben dem Zug, den er bedient, steht der polnische Schaffner, die kleine, runde Mütze schief auf dem Kopfe, die letzten drei Knöpfe des Uniformrockes hat er geöffnet, eine graue Zivilweste mit Perlmutterknöpfen ist zu sehen. An seiner Hose ist eine Bügelfalte leicht angedeutet, und Gummibänder, Privileg der Offizierskaste, verbinden die Hose mit den Schuhsohlen.

Durch den Korridor des Zuges geht der Mann, der die Pässe beriecht, mit einem Gummistempel schnuppert er. Er ist bieder und zugleich verschmitzt, er hat listige Augen und einen braven Bauch, er ist Bürger und Spitzel, romantisch und nüchtern, er ist zwei Männer. Wenn er vom Dienst heimkommt, legt er seinen Kautschukkragen ab, das vordere Hemdknöpfchen aus gelbem Messing läßt er stecken, das wie ein Abendstern leuchtet. Dann spielt er mit dem jüngsten Kind und hält ihm seine große Roßkopfuhr an das kleine Ohr und sagt: »Tick-Tack, Tick-Tack.« Dann schläft er ein bißchen, steht auf, lädt seine Pistole, geht auf die Visa-Jagd und erlegt Reisepässe.

Ein kleiner polnischer Jude ist aus Amerika heimgekehrt. Hier an der Grenze erwartet ihn seine Familie. Der Jude trägt amerikanische Gewänder, einen Würfel aus grauem Stoff – das ist der Rock, und zwei längliche Rechtecke – das sind die Hosen. Er reist in Pantoffeln und geht so mit seiner Frau spazieren, in geblümten Pantoffeln, als wäre hier der Garten vor seinem Haus. Den Kindern, es sind drei Mädchen, hat er neue Kleider mitgebracht, und er fragt, was zu verzollen ist. Er zeigt, daß er, Gott sei Dank, nicht zu schmuggeln braucht. Ein Mädchen heißt Perele, kleine Perle; in einem Kleidchen aus dünnem orangenem Tüll ist es dem Vater entgegengefahren. Jetzt nimmt er es jedesmal auf den Arm und wird schwach und muß es absetzen. Er reist mit vier Koffern von Chicago bis Jaworow. Für ganz Jaworow hat er Geschenke gekauft.

Alle Grenzbeamten betrachten die jüdische Familie. Die polnischen lächeln wie über einen alten Bekannten, der immer ein bißchen lächerlich war. Von den Deutschen möchte keiner eine private Meinung im Dienst haben. Es ist nicht verboten, in geblümten Pantoffeln auf dem Bahnsteig zu spazieren. Es ist nicht verboten, auffallend zu sein. Was ist da noch zu denken?

Plötzlich ist eine Tür ins Schloß gefallen, es war wie ein Schlag des Schicksals:

Der grüne Zollbeamte hat mit seinem Schlüssel die Gittertür geöffnet und geschlossen und ist heimgekehrt.

Der Jude aus Chicago fängt an, seine Kinder zu verstauen wie Kolli. Zum Schluß steigt die Frau ein. Sie hat einen weißen Reiher auf einem schwarzen Crêpehut, und es leuchtet der weiße Spitzensaum ihres Unterrocks auf dem Trittbrett. Der kleine Mann in den Pantoffeln starrt auf diesen Spitzensaum, steigt ein, und der Zug fährt.

In diesem Augenblick erblicke ich eine kleine Maus, die durch das Gitter huscht, hinüber auf die andere Seite – in die Heimat, in die Fremde? Alle Beamten blickten auf den Zug. War es eine Maus mit Paß oder eine Konterbandemaus? …

Frankfurter Zeitung, 16.8.1924

Wie es an der Grenze gewesen wäre

Ich hasse die »Grenze« zwischen zwei Ländern. Sie ist ein viel zu weiter Begriff für die Realitäten, die sie bezeichnet. Was ist eine »Grenze«? Ein Pfahl, ein Drahtgitter, ein Zollwächter, ein Visum, ein Stempel, ein Aufenthalt. Es sollten Symbole sein, und es sind Niederträchtigkeiten. Woher kommt es aber, daß man an einem Wechsel der Zeichen den Wechsel der Atmosphäre zu fühlen vermeint und daß man hört, wie eine Tür zugeschlagen wird, sobald eine neue Livree erscheint? Woher kommt es, daß mit der Ungültigkeit eines Visums, dem lächerlichen Strich eines gemeinen Kopierstiftes im Paß die Welt ein anderes Gesicht bekommt, die Wehmut eines Abschieds in das Herz sich schleicht und ihre Konkurrenz, die Wehmut der Erwartung? …

Unergründliche Torheit der menschlichen Seele, deren Tiefen jeder lästige Vorgang aufzurühren vermag! Ich wehre mich, aber ich erliege ihm, wenn ich im D-Zug die Grenze »überschreite«. Da fällt wie ein schwerer Zollschranken das erste Wort der neuen Landesprache vor die letzte Bahnstation der ersten. Vier Hände bohren in meinem Koffer. Jetzt liegt er geschlossen wieder oben im Gepäcknetz – fertig. »Fertig!« ruft der Schaffner. Der Waggon hat einen andern Rhythmus, die Lokomotive zieht nach andern Melodien. Es gibt Nationalhymnen der Eisenbahnen. Der Rahmen des Fensters verändert seinen landschaftlichen Inhalt. Eben enthielt er noch lächelnde Erde, Land mit Grübchen in den Wangen. Schon pressen sich Schlote, Nebel und Wälder in das gläserne Rechteck. Eben saß noch schräg mir gegenüber ein dunkler Herr, mit hängenden Schultern, mit schmalem Gesicht. Er las keine Zeitung, er blickte nicht aus dem Fenster, er sprach nicht mit mir, er sprach auch mit keinem anderen. Das Ziel seiner Blicke lag außerhalb des Kupees, außerhalb der Landschaft, durch die wir fuhren, außerhalb der Stationen, an denen wir rasteten. Dennoch hielt sein Auge ein konkretes Ziel gefangen, kein Zweifel. Jetzt – wer sitzt jetzt mir gegenüber? – Ein Herr im hellen Mantel, mit breiten Schultern, mit einem weichen, gutmütigen Gesicht. Aber es versucht, strenge zu werden, sooft es sich mir zuwendet. An der Nasenwurzel faltet sich der Überschuß der Haut, die Augen rücken nahe zueinander. Lägen Brauen über ihnen, sie wären vielleicht wie Blitze. Da sie aber nackt sind, kommen sie wie unschädliches Wetterleuchten aus einem wolkenlosen Himmel.

Übrigens sind sie unruhig. Sie ergreifen eine verwirrende Tabelle des Fahrplans, rutschen aus, springen auf eine Zeitungsspalte, hüpfen von einem halben Leitartikel hinunter, klettern auf die glatte Fensterscheibe, scheinen nur sie zu sehen, nicht die Landschaft dahinter, als wäre Glas undurchsichtig, werfen sich ins Gepäcknetz, rollen über die Wände, wagen sich noch einmal verzweifelt auf die schlüpfrige Tabelle. Gleichzeitig stößt der Herr verschiedene Laute aus, er kann das Schweigen im Kupee nicht vertragen. Bemerkungen (wahrscheinlich patriotischer Beschaffenheit), Grundsätze, Meinungen stauen sich in seiner Kehle, ringen in seiner Mundhöhle nach akustischem Leben, endlich legt sich ein Satz auf die Zunge und rollt hinaus in das feindliche Schweigen:

»Zwanzig Minuten Verspätung hamm wer!« –

Fremdes Geld, nicht wertlos, aber ungültig, knattert in meiner Hosentasche. Geld des Landes, das ich eben verlassen habe. Es erinnert an die Briefe der verlorenen Geliebten: nicht wertlos, aber ungültig. Ich werde es in einen Umschlag legen, einen Bindfaden darüber, in die Schublade damit. Was hab’ ich sonst in meinen Taschen? – Eine Zeitung in der fremden Sprache! Wie lang ist es her, daß ich selbst solche Worte sprach? Zehn Jahre oder länger. Schon ruft man heimische Zeitungen an den Stationen aus. Neue Tage haben angefangen, neue Berichte. Gestern liegt das verlassene Land. Schon rollen wir nach Heute und Morgen. Schon sind die Bahnhöfe Hallen, und auf irgendeiner Seite darf man nicht absteigen. Mir entgegen saust ein Zug. Dahin, woher ich komme. Man könnte tauschen! – Nein! Man könnte nicht! Ich sitze in meinem Zug wie in meinem Schicksal. Nicht abspringen während der Fahrt! Hinauslehnen verboten, weil lebensgefährlich! Ich vergesse, daß ich hier freiwillig sitze – und ich sitze hier vielleicht gar nicht freiwillig. Unerbittlich ist die Richtung des Zuges, und seine Schnelligkeit macht ihn noch unerbittlicher.

Blick nach Metz

Nein! – Diesmal nicht! – Zwischen Frankreich und Deutschland liegt Lothringen auf dem Weg. Noch nicht Frankreich, nicht mehr Deutschland! Grenzland, Zankapfel, Kriegsursache, erobert oder verloren. Steige ich in Metz aus dem D-Zug, ist es, als ließe ich mir Deutschland langsam entgegengleiten. Ich steige in Metz aus dem D-Zug.

Ich habe mir hier ein Rendezvous gegeben mit W., dem deutschen Schriftsteller, der in Metz geboren ist. Ein Grenzfall, dieser W.! Man streitet sich nicht um ihn, welche Mächte hätten sich schon je um einen lebenden Schriftsteller gestritten, vorbei ist das klassische Altertum, und auch damals mußte ein Schriftsteller tot sein, damit man ihn umstritte, tot, mehr als tot, nämlich legendarisch.

W. ist keineswegs tot. »Lebend« ist ein zu schwaches Wort für den Zustand, in dem er sich befindet. Lebendig ist W.! Da steht er an der Bahn, breiter als ich, größer als ich, stärker als ich. Außerdem ist es noch, als repräsentierte er die Stadt Metz und als addierte sich ihre Gewichtigkeit zu seinen persönlichen Werten. Es ist ein feierlicher Glanz um ihn, wie er so dasteht, in der Helligkeit des Eingangs, den Tag als Hintergrund, während ich aus dem Dunkel komme, aus einem Schlauch des Bahnhofs. Er hat ja kein öffentliches Amt, ich auch nicht! Er ist nur in dieser Stadt geboren, in ihren Straßen war er jung, also ist er in ihnen heimisch; mögen auch ihre Schilder französisch sein und seine Bücher deutsch. Wir sind keine Politiker, wir beide. Weit davon entfernt, von irgendwelchen Majoritäten beauftragt zu sein, haben wir doch irgendeinen Auftrag! Keine Zeitung wird davon Notiz nehmen, daß wir uns hier trafen, kein Photograph ist anwesend, unsern brüderlichen Händedruck in die Illustrierte zu bringen. Nichts ändert er für den Augenblick an dem Verhältnis zwischen den Ländern und Nationen. Dennoch fühlen wir beide den Bruchteil einer Sekunde die heitere Feierlichkeit, die das Zusammentreffen des Wirtes mit dem Gast überglänzt. Ich fühle das Glück des Mannes, der hier zu Hause ist und der einen Gast an der Schwelle des Hauses begrüßt. Zwar werden wir in demselben Hotel wohnen, Zimmer an Zimmer. Aber mir ist’s, als wohnte er im Rathaus, im Theater, im Festungsgraben und in den Kirchen, auf der Promenade und im Nachtlokal.

»Nehmen wir einen Wagen, kein Auto«, sagt W., »damit wir dann gleich spazierenfahren, ganz langsam. Alles wollen wir sehen!« (Er meint: zeigen, aber zeigen ist ein dreifaches Sehen.)

In der Nähe des Bahnhofes ist die Welt neu und viel zu großartig! Das hat man zu Wilhelms Zeiten gebaut, Läden, ein Café, ein Hotel, öffentliche Gebäude. Die Läden haben große, breite Schaufenster, der Glanz der Spiegelscheiben teilte sich ihren Waren mit. Diese Schaufenster zeigen nicht ihre Waren, sie prahlen mit ihnen. In diese Schaufenster legt man keine Ware, man »dekoriert« sie. Ein Apfel hinter ihrem Glas ist etwas anderes als ein Apfel in der Hand. Zwischen dem Gegenstand und meinem Aug’ steht das Fenster, eine kalte, durchsichtige Mauer. Sie ist aus Eis, nicht aus Glas. Die Schilder sind eine Art schwarzer Spiegel, wie man sie in der Unterwelt gebrauchen kann. Ihren Buchstaben glaube ich das Gold nicht. Die Häuser haben nicht Fassaden, sondern Etiketten, keine Wände, sonder prima Verpackung. Mißtrauisch gehe ich an sie heran, wie an die schlimmen Zigaretten in den teuren Aluminiumschachteln. Vielleicht sind sie besser als die Zigaretten, ich tue den Häusern unrecht. Sie haben Küchen aus Kacheln und Badezimmer und fließendes Wasser und englisches Klosett. (In den alten Häusern muß der Mensch im Schlafrock durch einen zugigen Korridor.) Aber weshalb genügte ihnen nicht Hygiene, wozu brauchen sie noch Pracht? Paradeuniform tragen sie jeden Tag, wo sind ihre Kleider? Das macht sie häßlich, die Kurfürstendämme aller deutschen Städte. Festlich wollen sie sein, und sie stehen da wie verregnete Sonntage.

Wir fuhren durch eine Straße, in der links die Häuser standen, die nach 1870 gebaut worden waren, und rechts die alten, heimischen Häuser. Die schmalen Fenster mit den hölzernen Rouleaus, graue, zarte Gitter, ich liebe sie! Sie bestehen aus schmalen Brettchen, wie kleine Dächlein schräg geneigt, viele, viele übereinander. Zwischen ihnen sind schmale Streifen Luft, überdacht von den Brettern, die an Schindeln erinnern. Also blickt das Fenster aus vielen Spalten und ist dennoch geschlossen. In die Zimmer dringt ein zarter, gestreifter Tag und ein brauner, gestreifter Dämmer. Niedrig, aber klar und rein sind die Stirnen der Häuser. In gleichen Abständen hält es seine Fenster, schöne, maßvolle Disziplin. Unten in der Mitte wölbt sich das Tor dunkelbraun, zweiflügelig. In einen der breiten Flügel ist eine viereckige Tür geschnitten, eine Tür für Wochentage. Dunkel ist der Flur, grün schimmert er am Ende, im Hof mag eine Linde stehen.

Aber da ist zur linken Seite diese Pracht, dieser Marmor aus Pflastersteinen, diese Atlasse, die keuchend einen Balkon tragen, weil er aus Stein ist und sie aus Gips zu sein scheinen, daneben ist roter Ziegel und falsche märk’sche Kraft und justament gewollte Vorsprünge, die innen Nischen bilden, Lauschigkeit aus Zehlendorf-Mitte und Jemiet aus Neukölln! … Kehren wir um, kehren wir um Herrr [sic !] W.! –

»Hier ist die Hauptstraße«, sagt W. »Immer, wenn ich fern von Metz bin, habe ich sie als eine große, breite, unendlich breite Straße in der Erinnerung. Sie zu durchwandern muß viel Zeit kosten. Immer, wenn ich wieder da bin, ist die Straße kurz und klein und eng. Ich habe sie heute abgemessen. Siebenundeinhalb Schritte breit – – –« Und er sinnt nach.

Manches erinnert hier an Südfrankreich. Wenn die Sonne scheint, könnte es die Provence sein, Vienne und Arles. »Sehen Sie das Theater!« sagt er. Ich sehe das Theater. Es ist niedrig und klein. Aber weil es niedrig ist, scheint es weit zu sein. Auch der Platz, auf dem es steht, ist klein. Aber merkwürdigerweise verschwenderisch. Sieht man das Theater an, tritt eine Stille ein. Es gehört zu den Häusern, die man atmen hört.

Wir kamen durch schmale Gassen, die an das Seineviertel erinnern. Die gleiche düstere Heiterkeit und dieselbe Jugend im Altern. Dieser Geruch, der aus Lagerräumen, Kanälen, Rattenlöchern, Wohnungen kommt und dennoch kein Gestank ist. Denn er ist durchsetzt vom Duft des Wassers. Wären diese alten Häuser breit und solide, sie wären tragisch in ihrer Dunkelheit, in ihrer Armut, in ihrem Alter. Aber sie sind dünn und luftig. Sie sind schmal und leichtsinnig. Sie sind die Bohemiens unter den Häusern.

Wir kamen an den Fluß. Veranden, Nester aus Holz und Glas hingen ins Wasser. Wäscherinnen wuschen unten, arme, alte Frauen, aber heitere. Wäscherinnen können nicht traurig aussehen. Ihr Handwerk ist weiß und bunt. Ihr Element ist das Wasser, und Wasser ist fröhlich. Wir kamen an ein altes Stück Festungsgraben. Daneben muß eine Kaserne gestanden haben, ein Posten war da, ich erinnere mich nicht, weshalb. W. ließ den Wagen halten. »Sehen Sie!« sagte er – und wir beugten uns hinab, »das ist mein Graben.« Der Posten sah uns an. W. hatte Lust hinunterzuklettern. Zwanzig Bücher hat er geschrieben. Groß, stark und breit ist er. Die Welt nimmt ihn ernst. In den Graben wollte er. Klettern wollte er.

»Drüben«, sagt W., »ist ein geschlossener Park, eine Insel. Die deutsche Behörde sperrte ihn eines Tages ab und erlaubte den Zutritt nur den Angehörigen der Offiziere und der höheren Beamten. Dann kamen die Franzosen, die doch sonst gar nicht so sind! Aber sie behielten das Verbot. Ein Posten steht vor dem Park.« Wenn man, denke ich, das Unglück hat zu siegen, ist man eben »so«.

»Hier ist mein altes Stammcafé«, sagt W. Wir traten ein. Der Wirt begrüßte W. »Wieder im Land?« sagte der französische Lothringer zum deutschen. »Im Land«, sagte er, und das hieß hundertmal mehr als »Vaterland«. »Land«, Land allein, pays, nicht patrie, Land ohne jede »Verpflichtung«. Dieses Wort kann es ertragen, allein zu stehen. Es enthält Wälder, Wind, Häuser, menschliche Beziehungen und nicht: einen Paß, einen Mahnzettel der Steuerbehörde, einen Einberufungsschein für Reservisten.

Hierauf bat ich W., mir Menschen zu zeigen.

Zwei Feinde

»Da ist der Abbé R.«, sagte mein Freund, »ein französischer Chauvinist, ein Reaktionär und, wie Sie sehen, ein Klerikaler!«

»Ich bin kein Chauvinist«, erwiderte der Abbé.

Der Abbé trug diesen Protest nicht mit Pathos, nicht mit Entrüstung, nicht gereizt, nicht erbittert vor. An dem selbstverständlichen Klang der Worte glaubte ich zu erkennen, daß er nicht zum erstenmal gegen diesen Vorwurf protestierte. Vielmehr dürften sowohl der Vorwurf meines Freundes als auch die Antwort des Geistlichen bereits in den eisernen Bestand der Zwistigkeiten übergegangen sein, mit denen beide ihre Bekanntschaft bestritten, die immer wieder an das respektable Alter ihres Verhältnisses erinnerten und die es wahrscheinlich sogar festigten. Sowohl der Vorwurf als auch die Replik waren ernst gemeint. Da aber ihre Melodie schon alt war, sahen beide Männer so aus, als ob sie sich neckten. Ein Streit, der ein gewisses Alter erreicht, hat unter Männern dieselben Folgen wie eine Verständigung. Er glänzt beinahe wie ein Frieden.

Der Abbé war noch größer, stärker, breiter als mein Freund. Er schien in der Hauptsache aus zwei Elementen zu bestehen: aus Blut und Fröhlichkeit. Zwei Tätigkeiten hatten seinen Mund gebildet: Lachen und Reden. Über dem eng geschlossenen Kragen seiner Soutane war sein Gesicht noch breiter, runder, voller und röter. Er hatte die Stirn eines Mannes, der viel und zielbewußt gelernt hat, und die kräftige, runde Nase eines Bauern. Sein Kinn lag eingefaßt im Rahmen des Doppelkinns. Seine Haare waren schwarz, seine Stirn weiß, seine Wangen rot, seine Augen groß, hell und grau. In ihnen wohnte eine fangende Klugheit, die ebensogut das Erbteil des Bauern wie die Gewohnheit des Geistlichen sein konnte. Erhob sich der Abbé aus seinem Sessel, so war außer ihm noch wenig im Zimmer übriggeblieben. Ging er mit mir durch die Straße, so kam ich mir vor wie ein Komma neben einem Baum. Tranken wir beide, so sah es aus, als ob ich nippte, und sprachen wir miteinander, so war es, als ob ich flüsterte. Hunderte Menschen grüßten ihn. Jeden Augenblick schwang er seinen französischen Geistlichenhut, der so aussieht, als wenn ein weicher Schlapphut erstarrt wäre. Der Rand ist breit und hat einen kühnen Schwung, und in der Mitte wölbt sich sehr sanft eine breite Kuppe. Der Abbé grüßte leutselig. Immer wieder wollte er mich verhindern mitzugrüßen, wenn wir gegrüßt wurden. »Herr Abbé«, sagte ich, »meine größte Sünde ist die Höflichkeit.«

Sein Haus ist einfach, seine Zimmer sind fast kahl. Er füllte sie mit lateinischen Zitaten. Mit Versen von Horaz. Mit Witzen. Mit Anekdoten aus seiner Militärzeit. Mit Mirabell, dem heimischen Schnaps. Bei ihm habe ich den besten getrunken. So vortrefflich war er, daß ich nach drei Gläschen glaubte sagen zu müssen: »Sie erinnern mich an Balzac.« Damit ich nicht mehr sage, ließ er mich noch drei nehmen. Meine Meinung änderte sich, aber ich äußerte sie nicht, daß er nämlich an Rabelais erinnere. Den liebt und liest er oft. Er zeigte mir das Haus, in dem Rabelais gewohnt hat. Jetzt wohnt in diesem Haus ein Küfer. Er hat seine Werkstatt in dem verfallenen Raum, es war einmal eine Kapelle. Es gab da eine finstere, morsche Treppe mit hohen Stufen. »Ich möchte wissen«, sagte der Abbé, »wie oft der Rabelais herunterfiel, wenn er betrunken nach Hause kam.« Alle Häuser öffneten sich meinem Führer. Er machte immer wieder fremde Türen auf, Klöster, Waisenhäuser, Museen. Immer rief jemand erfreut: »Oh, Herr Abbé!« … Und der Abbé ging weiter, seine Soutane wallte angestrengt, als hätte sie Mühe, Falten zu werfen und den breiten Schritten nachzukommen, und ich war daneben wie ein Komma neben einem Baum.

Ich habe auch Herrn K. kennengelernt. Bei Ausbruch des Krieges war er verhaftet worden, eingesperrt, verhört, in ein Lager gesteckt, enthaftet, überwacht, noch einmal verhaftet, noch einmal überwacht. Obligater französischer Schnurrbart. Obligater schwarzer Anzug. Obligate steife Hemdbrust. Obligates Bändchen der Ehrenlegion, das übrigens nur wenige Lothringer haben. Ein einfacher alter Herr, der Frankreich liebt und Deutschland wahrscheinlich nicht. Aber während er mir seine Geschichte erzählte, rückte der politische Anlaß seiner Leiden in jene offizielle und abstrakte Gegend, in der »Geschichte« entsteht. Übrig blieb ein schwarz bekleideter Mensch, ein grauer Schnurrbart, ein altes Gesicht, der warme Klang einer Stimme, die Leiden berichtet und die an stilles Wasser erinnert. Ich saß in seinem Büro. Auf seinem alten, überlasteten Schreibtisch lagen die gelben Papiere, die Politik enthielten, und Staub, Staub, das wichtigste Element des Papiers. In drei Jahren wird diese Politik Staub sein. Man wird neue Papiere beschreiben müssen. Einmal wird dieser Mann tot sein, und ein anderer wird an seiner Stelle sitzen und Papiere beschreiben und Leid erdulden und Haß fühlen und vielleicht Kampf erzeugen. Aber befreit einmal den Namen seines Feindes von den Assoziationen, die seinen Klang begleiten – und was bleibt übrig? Ein alternder Mann – auch du und ich werden einmal alte Männer sein, würdige, dunkle Kleider tragen und graue Schnurrbärte. Begebt euch nur in die Höhle des Löwen! In den Höhlen sind sie keine Löwen. –

Frankfurter Zeitung, 16.11.1927