Verknüpfung, Kontextkonfiguration, Aspiration

Skizze einer Kulturtheorie des Übersetzens

Andreas Langenohl

Abstract

Assuming a praxeological point of view, this essay will conceptualize translation as a category indicating a certain practice of association. In this practice not contexts, cultures or languages as such are linked, but rather speech acts, texts or utterances in general. This implies an inverse conceptualization of the relationship between translation and context with respect to ways it is mostly perceived: from a cultural-theoretical perspective, instead of presupposing pre-existing contexts between which translation would assume a mediating position, those contexts are created through the practice of translation itself, i.e. they are invoked, referred to, and perspectivized in translation.

Title:

Association, Figuration of Context, Aspiration: Towards a Cultural Theory of Translation

Keywords:

translation; practice; association; context; culture

Einführung. Übersetzen als Praxis

Die Kulturtheorie der letzten zwei Jahrzehnte hat sich intensiv mit der Kategorie der Übersetzung befasst. Darin ist sie insbesondere bemüht gewesen, Übersetzung nicht als einen Grenzfall von Kommunikation zwischen und an den Rändern von Kulturen auszustellen, sondern die Übersetztheit von Kultur als solcher zu betonen. Zugleich hat Doris Bachmann-Medick darauf hingewiesen, dass die Kategorie der Übersetzung nur dann einen neuen Ertrag für die Kulturtheorie zu erbringen in der Lage ist, wenn sie nicht in rein metaphorischem Sinne gebraucht wird (vgl. Bachmann-Medick 2010: 245–254). Nimmt man diese beiden Einschätzungen zusammen, ergibt sich die Herausforderung, Kultur aus der Perspektive von Übersetzung im wörtlichen Sinne zu entwerfen. Dieser Herausforderung möchte ich mich hier stellen.

Ein wichtiger Bezugspunkt hierbei sind die Arbeiten des Japanologen Naoki Sakai, insbesondere das von ihm unterbreitete Adressierungsparadigma der Übersetzung (vgl. Sakai 1997, 2009, 2010; Sakai/Solomon 2006; Kim 2010). Der Begriff der ›Adressierung‹ fungiert dabei als eine Alternative zu dem der ›Kommunikation‹. Während das Kommunikationsparadigma von Übersetzung postuliert, dass es bei Übersetzung um die Übermittlung eines kulturell stabilisierten semiotischen Inhaltes in eine andere Sprache bzw. Kultur geht, richtet sich das Interesse des Adressierungsparadigmas auf die performativen Effekte von Übersetzung. Übersetzung bezieht sich auf einen Moment der Ansprache, der nicht schon durch die Annahme zweier abgeschlossener Sprach- oder Kultursysteme determiniert ist. Als Beispiele führt Sakai konkrete Situationen des Übersetzens auf, die – wie jede/r Reisende weiß – weniger durch eine Konfrontation zweier Sprachsysteme als vielmehr durch eine Vielzahl an Versuchen, sich verständlich zu machen, geprägt sind: durch Gesten, durch Mimik, durch Onomatopoesie, durch Benutzung von Relaissprachen, durch Verweis auf Gegenstände, durch Berührungen. Die Sprache wird in ihrer Nicht-Identität und Verwiesenheit auf außersprachliche Prozesse sichtbar. Übersetzung als Adressierung bezeichnet so einen empirischen Modus der Übersetzungspraxis, der zwar durch den Diskurs des Übersetzens zwischen Sprachsystemen oftmals übertönt wird, der aber die irreduziblen Prozesse des Sich-Verständigens jenseits sprachlicher oder kultureller Container auf den Plan ruft und damit diese in Frage stellt. Es geht also weniger um ein soziales Substrat, die soziale Voraussetzung oder einen sozialen Effekt von Übersetzung, sondern eher um die »Sozialität« (Sakai 2009) von Übersetzung an sich.

Sakai bewirbt, wenn man so will, eine Soziologisierung des Übersetzungsbegriffs: Die Szene der Übersetzung enthüllt gewissermaßen die performativen Komponenten, auf denen soziale Interaktionsprozesse beruhen. Dieser Vorschlag erscheint geeignet, das oben aufgeworfene theoretische Rätsel anzugehen, wie Kultur in paradigmatischer Weise als Übersetzung im wörtlichen Sinne zu denken wäre. Ich möchte Sakais Impuls einer Praxeologie der Übersetzung aufgreifen und weiterführen. Dies geschieht in folgenden Schritten.

Zunächst werden paradigmatische Szenen des Übersetzens aufgesucht und praxeologisch rekonstruiert. Anschließend wird das konzeptuelle Proprium von Übersetzung rekonstruiert, welches darin besteht, dass Übersetzung die Frage nach der Beziehung zwischen translatum und translandum unausweichlich macht, ohne dass dies bereits die viel weitergehende normative Frage rechtfertigen würde, welche Gelingenskriterien an diese Beziehung anzulegen wären. Denn, so wird die Argumentation weitergeführt, die Praktik des Übersetzens impliziert nicht eine Orientierung an präexistenten Kontexten von Ausgangs- und Zieltext, sondern bringt beide erst hervor, ist ihnen konstitutionslogisch vorgelagert. Diese Überlegung führt zum letzten Schritt, der darin besteht, die kulturtheoretische Signifikanz von Übersetzung nicht in der Frage zu sehen, ob eine Übersetzung angemessen ist oder nicht, sondern darin, was sie bewirkt – und ob sie überhaupt etwas bewirkt.

Übersetzen als Praxis. Drei Szenen

Die erste Praxisszene von Übersetzung ist in einem Büro angesiedelt, in dem wissenschaftliche Texte von einer Sprache in eine andere übersetzt werden. Das Büro könnte meines sein, denn ich habe in den letzten Jahren eine Handvoll sozialwissenschaftlicher Texte aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt, um sie in Sammelbänden zu publizieren. Zur Übersetzung eines wissenschaftlichen Textes stehen verschiedene Hilfsmittel zur Verfügung. Da sind natürlich die Wörterbücher; aber auch Referenzübersetzungen können (und sollten) konsultiert werden, damit eine terminologische Kohärenz gewahrt bleibt. So muss man etwa, wenn eine Autorin im Englischen Foucault zitiert, in der deutschen Foucault-Übersetzung nachschlagen, um sicherzustellen, dass es eine Kontinuität zwischen dem ursprünglichen französischen Original sowohl mit seiner englischen als auch mit der deutschen Übersetzung gibt. Über diese eher technischen Dinge hinaus ist es aber erforderlich, den Forschungskontext des englischen Textes nachzuvollziehen, um erfassen zu können, wie Letzterer sich in jenen Kontext einfügt. Vonnöten ist daher eine gleichsam verdoppelte Kontextrekonstruktion: einmal ein Nachvollzug der Rekonstruktion des Forschungskontextes, die der englische Text vornimmt, und zum Zweiten ein Nachvollzug der Selbstkontextualisierung dieses Texts im Forschungskontext. Bei wissenschaftlichen Texten mag dies noch relativ leicht fallen, weil sie zumeist um Kontextexplizität bemüht sind, während literarische Texte oftmals davon leben, dass sie auf Kontexte nur anspielen oder sie quasi latent mitlaufen lassen und sich selbst zu ihnen uneindeutig positionieren, wie es etwa bei Ironie der Fall ist. – In analoger Weise musste ich vorgehen, um die Übersetzung in Richtung eines in deutscher wissenschaftlicher Prosa ›funktionierenden‹ Textes zu formen. Auch hier kommt es darauf an, den Text in Bezug auf einen Kontext zu positionieren, diesmal einen Zielkontext. Dies betrifft natürlich zum einen die Ebene der Rhetorik und Idiomatik, aber ebenso die Ebene des wissenschaftlichen Ertrags, den der Text im Deutschen und im Zusammenhang mit den anderen im selben Sammelband publizierten Texten erbringen soll. Dies ist ein hochgradig spekulatives Manövrieren, weil ich ja nicht wissen kann, wie der Text seitens der Leserinnen und Leser tatsächlich gelesen werden wird. Ich kann nur versuchen, es mir vorzustellen. Wie auch immer durch Erfahrung und Kenntnis des Forschungsstandes diese Vorstellung angeleitet sein mag, sie bleibt Spekulation – allerdings eine Spekulation, die mit einer immensen Verdichtung von Bedeutung einhergeht, denn ich lese und übersetze den Text gleichzeitig in mehreren Registern, in denen eine Vielzahl von Lektüreoptionen mitläuft.

Die zweite Szene ruft die klassische Figur des Übersetzens auf, nämlich den Dolmetscher, der zwischen zwei Akteuren, die nicht dieselbe Sprache sprechen, übersetzt. Auf die Mehrdeutigkeit dieser Figur ist in der Kulturgeschichte mehrfach hingewiesen worden. Der Dolmetscher ist derjenige, dem vertraut werden muss, soll Kommunikation zwischen beiden Seiten stattfinden, der/die aber zugleich von keiner der beiden Seiten kontrolliert werden kann – daher auch die Forderung nach der ›Loyalität‹ von Übersetzung (vgl. Schreiber 2006). Naoki Sakai (1997) zufolge erscheint insbesondere die Figur des Übersetzers in ihrer ganzen Bedeutsamkeit erst auf der Bühne der modernen, nationalen Episteme: In ihrer Funktion, Gräben zwischen Sprachen und Kulturen zu überbrücken, lässt sie diese in ihrer Unterschiedenheit und Selbstidentität erst plausibel erscheinen. Jedoch sagen diese Erörterungen der Figur des Übersetzer noch nicht unbedingt etwas über die praxeologische Dimension des Übersetzens aus. Zu übersetzen gleicht der Bewegung einer Fähre, die zwischen zwei Ufern pendelt, wobei diese Bewegung, im Falle des Dolmetschens, durchaus als körperliche zu denken ist, nämlich als abwechselnd zu realisierende Zuwendung zu beiden Gesprächspartnern. Diese Fährbewegung transportiert dabei nicht nur Bedeutung, sondern einen Adressierungsimpuls, der von den Sprechern ausgeht: Der Dolmetscher bürgt somit nicht nur für den Transfer von Bedeutung, sondern für die Kontinuierung der Gesprächssituation, indem er die wechselseitige Adressierung der Gesprächspartner, zwischen denen er steht, mit vermittelt. Die entscheidende Bedeutung dieser Funktion erweist sich etwa bei mehrsprachig abgehaltenen Gerichtsverfahren, die – im Unterschied zu vielen mehrsprachigen politischen Begegnungen – tatsächlich nur einen, und nicht zwei, Dolmetscher involviert. Die Bedeutung des Dolmetschens besteht hier nämlich tatsächlich nicht nur in der Übertragung sprachlicher Information, sondern in der Übermittlung performativer Bedeutung. Es kommt bei Gericht nicht nur darauf an, was gesagt wird, sondern auch, wie es gesagt wird – ob geworben, gedrängt, eingeschüchtert, souverän gekontert, sich gewunden oder sachlich geantwortet wird.

Die dritte Szene des Übersetzens betrifft den Versuch, unter fremdsprachigen Bedingungen mit Anderen in Kontakt zu treten. Im Jahre 2001 unternahm ich mit einem Freund und als Teil einer Reisegruppe eine Urlaubsreise nach Peking. Wie auf solchen Reisen üblich, war ein Teil der Zeit der ›freien Verfügung‹ anheimgestellt. Mein Freund, ich und zwei weitere Reisende wollten den Pekinger Zoo besuchen. Zu diesem Zweck wurde an der Hotelrezeption ein Taxi bestellt, das wir alsbald bestiegen. Mit der Topografie der Stadt nur wenig vertraut, wurden wir doch plötzlich gewahr, dass der Fahrer am Zoo vorbeifuhr, ohne Anstalten zu machen anzuhalten. Meine Mitreisenden und ich versuchten spontan, auf den Fahrer einzuwirken, indem wir zunächst »Stopp! Stopp!« riefen – und dann »Panda! Panda!« Der Pekinger Zoo ist bekanntlich für diese Bärenart berühmt. Es half nichts – der Fahrer reagierte nicht, die Fahrt wurde fortgesetzt, bis wir ungefähr einen Kilometer vom Zoo entfernt an einem Stadion hielten, in dem die damals stattfindende Universiade abgehalten wurde. Offenbar war der Fahrer, mit dem wir keine Verständigung erzielen konnten, davon ausgegangen, dass wir dorthin wollten. Wir stiegen aus, zahlten, lachten und wanderten zurück. Später erzählte ich von diesem Ereignis als einer unheimlichen Erfahrung der Befremdung, in der selbst solche scheinbar universalen Begriffe wie »Stopp« nicht griffen (von »Panda« einmal ganz abgesehen). Was aber – aus praxeologischer Perspektive – tatsächlich geschehen war, war weniger ein Scheitern von Übersetzung in dem Sinne, dass ein Missverständnis entstanden wäre, sondern ein Scheitern der Effektivität einer Ansprache in einem sehr fundamentalen Sinne – nämlich, eine wie auch immer geartete Respondenz zu erhalten. Wir fuhren einfach weiter, als wäre nichts geschehen. Dies erhellt eine Variable von Übersetzung, auf die ich weiter unten wieder zu sprechen kommen werde, nämlich ihre Effektivität. Vor jedem ›Verstehen‹ beruht Übersetzung darauf, etwas zu bewirken. Dies scheiterte in der Vorbeifahrt am Pekinger Zoo spektakulär.

Translatum und translandum

Der Begriff der Übersetzung inauguriert eine Verknüpfung zwischen zwei Entitäten. Die Übersetzungswissenschaft hat sich solche Verknüpfungen zumeist als Sprachbrücke vorgestellt: Übersetzung bedeute demnach die Übertragung – eigentlich: das Herübertragen – der Bedeutung eines spezifischen Textes aus einem sprachlichen Code in einen anderen sprachlichen Code. Die Diskussionen, die darüber entbrannt sind, welche Gelingenskriterien an zwischensprachliche Übersetzung heranzutragen wären – ›Treue‹, ›Loyalität‹, ›Äquivalenz‹, ›Adäquanz‹ etc. (vgl. Renn 2002, Böckler 2003, Koch-Weser Ammassari 2003, Schreiber 2006, Van Vaerenbergh 2006) – haben diese Auffassung von Übersetzung als Brücke zwischen Sprachen gleichsam naturalisiert.

Auch die drei Szenen des Übersetzens, die im letzten Abschnitt skizziert wurden, deuten darauf hin, dass Übersetzung sich offensichtlich auf ein Moment der Verknüpfung bezieht, und spezifizieren dieses Moment zugleich, allerdings in zur Übersetzungswissenschaft alternativer Weise. Das Beispiel der Übersetzung eines wissenschaftlichen Textes zeigte, dass in der übersetzenden Verknüpfung sehr komplexe und ausgedehnte semiotische Figurationen – ›Kontexte‹ – auf den Plan treten und gleichsam um einen Punkt, den zu übersetzenden Text, zusammengezogen werden. Semiose wird in Übersetzungsprozessen dichter und reflexiver. Die Figur des Übersetzers stellte den flexiblen und wechselseitigen Charakter der Verknüpfung aus, der ein simmelsches modernes Individuum involviert, partizipierend an verschiedenen ›sozialen Kreisen‹, welches freilich das alte Verdikt trifft: »[I]n diesem Sinne sagt ein altes englisches Sprichwort: Wer zwei Sprachen spricht, ist ein Schurke« (Simmel 1992: 467f.). Elastizität ist selbst noch in den Körper des Dolmetschers eingelagert, der sich zwischen zwei Gesprächspartnern hin und her wendet (und manchmal windet). Zentral ist hier außerdem der Aspekt der Übermittlung performativer Bedeutung, die für die Realisierung und Ausgestaltung der Verknüpfung von entscheidender Wichtigkeit ist. Die Fahrt am Pekinger Zoo vorbei schließlich lässt erkennen, dass eine solche Verknüpfung sehr voraussetzungsvoll ist – denn wer kann garantieren, dass auf eine Ansprache, in welcher Sprache auch immer, überhaupt reagiert wird? Die Verknüpfung, die Übersetzung auszeichnet, kann somit derart fragil sein, dass Fragen nach einer ›gelungenen‹ Übersetzung sich gar nicht erst stellen, weil es noch nicht einmal zu einem Missverständnis kommt, sondern zu überhaupt nichts. Dies deutet darauf hin, dass die Verknüpfung zwischen translandum und translatum für die Kategorie der Übersetzung eine sehr viel fundamentalere, konstitutionslogische Lagerung hat als die Frage, was die Kriterien einer sprachlich gelungenen Übersetzung seien. Anders gesagt: die Beziehung zwischen translatum und translandum ist für Übersetzung als Praxis von Bedeutung, jedoch vor jeder Frage nach den sprachlichen Qualitäten von Übersetzungen.

Es ist diese praxeologische, vorsprachliche Spezifikation des Moments der Verknüpfung, durch die sich Übersetzung von anderen kulturtheoretischen Kategorien unterscheidet. Konzepte wie Pastiche, Hybridität, Kreolisierung oder Transkulturalität setzen in der Regel auf einer inhaltlichen Ebene an: Gegen den Kulturessenzialismus bringen sie zur Geltung, dass Kulturen immer schon vermischt, unrein und nur vage bestimmt seien. Jedoch präzisieren sie nur selten die konkreten Praktiken, die diesen Prozessen zugrunde liegen, weil sie vom Resultat dieser Praktiken her denken. Dies ist bei Übersetzung anders (oder zumindest anders möglich), weil und insofern der Einstiegsort in die Konzeptualisierung der Szene des Übersetzens durch ihre formalen Konstituenten gebildet wird, deren grundlegende hier als ›Verknüpfung‹ bezeichnet wurde und (vorläufig und auf der Basis einer Szenariotechnik) in drei Merkmalen beschrieben wurde: als Semiose verdichtend; als mehrdirektional, flexibel und performativ; und schließlich als basierend auf einer Ansprache, die Effekte hat. Hier geht es somit um die konzeptuelle Zentralität der Beziehung von Übersetztem und zu Übersetzendem, die streng von der normativen Frage nach einer angemessenen Übersetzung zu unterscheiden ist. Von Übersetzung ist daher dann zu reden, wenn eine semiotische Verknüpfung performativ realisiert wird, unabhängig und vor jeder Frage danach, ob es sich um eine ›gute‹ Übersetzung handelt oder nicht.

Die Erzeugung von Kontext

Halten wir fest: Bei Übersetzung handelt es sich im Kern um eine Verknüpfung im nichtmetaphorischen Sinne. Verknüpft werden zwei Texte, von denen der eine bereits existiert und der andere das Ziel der Übersetzung ist; oder Sprechakte unterschiedlicher Sprecher, die durch Übersetzung aufeinander beziehbar und ineinander flechtbar werden; oder – und auf der grundlegendsten Ebene – Aufmerksamkeiten oder ganz einfach Hinwendung. Denn ohne eine wie auch immer geartete Respondenz – und dies kann sich wiederum auf Texte ebenso wie auf wechselseitige Sprechakte und gerade auch auf die sehr basale Szene der Adressierung beziehen – kommt keine Verknüpfung zustande, und ergo ist auch nicht von Übersetzung zu reden.

Dieses Argument bewegt sich, wie man unschwer erkennt, innerhalb derzeit recht gängiger assoziationstheoretischer Strömungen in der Soziologie, wie sie etwa von Bruno Latour und dem durch ihn wiederentdeckten Gabriel Tarde vertreten worden sind (vgl. Latour 2009: 48–49, Latour 2005: 14–16). Diese Ansätze werden zumeist als Ontologien des Sozialen gelesen. Demnach geht es ihnen darum, der bisherigen, modern-soziologischen Rede von abstrakten gesellschaftlichen Strukturen, die als solche unbeobachtbar bleiben (weswegen hier auch von ›soziologischer Metaphysik‹ die Rede ist), einen neuen Materialismus entgegenzusetzen, der sich einzig für beobachtbare Phänomene der Verknüpfung und Interaktion von Menschen, Tieren, Dingen und Zeichen interessiert und dies als einzig durchhaltbare Ontologie nicht nur des Sozialen, sondern von Welt an sich gelten lässt. ›Übersetzung‹ wird dementsprechend bei Latour (1986) und Michel Callon (1986) eine radikal assoziationstheoretische Wendung verliehen: Sie ist demnach ein Modus der Assoziation von Entitäten, die durch ihre wechselseitige Verknüpfung (›Artikulation‹) erst zu ihrer Effektivität und somit Realität gelangen. Für Latour sind somit ontologische und epistemologische Aussagen zwei Seiten derselben Medaille: Wenn man die Realität und das Wesen einer Entität vor allem in der Stärke und Zahl ihrer Verknüpfungen zu anderen Entitäten verortet, ist damit auch schon eine Aussage darüber getan, wie eine solche Entität zu untersuchen wäre (vgl. auch Latour 1999).

Im vorliegenden Artikel möchte ich das Augenmerk etwas stärker auf die epistemologische Seite der Verbindung zwischen Ontologie und Epistemologie legen. Dies geschieht mit dem Ziel, eine Frage anzugehen, die angesichts der bisherigen assoziationstheoretischen Entfaltung der Kategorie der Übersetzung im Raum steht und die lautet: Was ist eigentlich mit dem Kontext von Übersetzungspraktiken? Die Übersetzungswissenschaft hat sich, vermittelt über die Frage nach den Gütekriterien einer gelungenen Übersetzung, mit Struktur und Wesen der Kontexte befasst, zwischen denen Übersetzung stattfindet. Wichtige Übersetzungshemmnisse sind so etwa in unterschiedlichen ›Kulturen‹ erblickt worden, die wiederum unterschiedlich aufgebaute Sprachsysteme hervorgebracht hätten, sodass im Zielkontext auf der Ebene des Sprachsystems oftmals keine Entsprechung für eine Aussage aus der Herkunftssprache vorhanden sei (vgl. Cappai 2003: 117–119). Nun ist man aus assoziationstheoretischer Sicht versucht, schon allein der Pointe wegen, auf diese Frage zu antworten: Es gibt keinen ›Kontext‹, ebenso wenig wie es ›Sprache‹, ›Gesellschaft‹, ›Kultur‹ und all die anderen rationalen Fiktionen der modernen Wissenschaften vom Menschen gibt! Es gibt nur Texte, Sprechakte und Adressierungen! Ende der Durchsage.

Diese Antwort würde jedoch die Assoziationstheorie zu stark auf eine Ontologie festlegen. Tatsächlich, wir erinnern uns an Latour, handelt es sich aber auch um eine Epistemologie, d.h. ein System von Aussagen darüber, welche Aussagen mit Blick auf ein bestimmtes Erkenntnisinteresse relevant sind und welche nicht. Die Aussage »Es gibt keinen Kontext« ist für das hiesige Erkenntnisinteresse ebenso wenig relevant wie die in ihr unterstellte Frage »Vernachlässigen assoziationstheoretische Zugänge zur Übersetzung nicht die Existenz von (sprachlichen, kulturellen etc.) Kontexten?«. Denn hier geht es nicht um Existenz, nicht um eine Ontologie, sondern um die kulturtheoretische Bedeutung von Kontext. Mein diesbezügliches Argument lautet nun, dass Übersetzung Kontexte erzeugt. Der Begriff Kon-text – das, was mit dem Text ist – deutet bereits darauf hin, dass der Kontext dem Text konstitutionslogisch nachgeordnet ist. Aber diese Konstitutionslogik betrifft ein kulturtheoretisches Argument, nicht eine ontologische Behauptung. Es geht nicht darum zu bezweifeln, dass Texte, Sprechakte und Adressierungen niemals im luftleeren Raum stattfinden und stets auf die eine oder andere Weise ›kontextualisiert‹ sind – sondern es geht um das Argument, dass eine Anschließung und Aufschließung von Kontexten stets anhand konkreter Texte, Sprechakte und Adressierungen stattfindet, niemals aber in abstractu. Die Behauptung, Kontext sei bei jedem Text, Sprechakt und Adressierung immer schon gegeben, ist eine ontologische Behauptung, die hier nicht zu beurteilen ist; das Einzige, was kulturtheoretisch relevant ist, ist die Sinnaufschließung und der Sinnanschluss des Kontextes, die ohne konkreten Text, Sprechakt oder Adressierung nicht denkbar sind.

Halten wir wiederum fest: Durch die empirische Verknüpfung von translatum und translandum wird der Kontext sinnhaft konfiguriert und in diesem Sinne im Akt des Übersetzens hervorgebracht. Dies nun geschieht in doppelter Weise bzw. in zwei Richtungen. Zum einen findet eine Rekonstruktion von Kontexten statt, die für den vorhandenen Text, den getätigten Sprechakt bzw. die erfolgte Ansprache relevant sein könnten. Der Übersetzer eines literarischen oder wissenschaftlichen Textes etwa führt sich die Einbettung des zu übersetzenden Textes in die Zeit, die Sprache und die Kultur seiner Entstehung vor Augen, etwa durch Blicke in Geschichtsbücher, kulturwissenschaftliche Abhandlungen und Stilhandbücher. Wichtig ist indes, dass diese emische Perspektive auf Übersetzung nicht eins zu eins auf eine kulturtheoretische Konzeptualisierung von Übersetzung umgelegt werden darf. Kulturtheoretisch entscheidend ist nicht die hermeneutische Auslegung eines Textes als Exemplar ›seiner‹ Sprache, ›seiner‹ Zeit und ›seiner‹ Kultur, die der Übersetzer vornimmt, sondern die deutende Konfiguration von ›Sprache‹, ›Zeit‹ und ›Kultur‹ – mit anderen Worten, von Kontext – anhand eines partikularen Textes. Schließlich hätten all die Konsultationen von ›Sprache‹, ›Zeit‹ und ›Kultur‹ in ihrer Gezieltheit ohne den Text, der zu übersetzen ist, nie stattgefunden; und anhand eines anderen Textes hätten sie in anderer Weise stattgefunden. Dies ist mit dem Argument gemeint, dass Übersetzung Kontexte erzeugt; und es gilt ebenso für die mündliche Übersetzung von Sprechakten wie für den schieren Akt von Ansprache: von konstitutionslogischer Priorität bei der Konfiguration des Herkunftskontextes sind Text, Sprechakt, Adressierung selbst.

Zum anderen, und ähnlich, bewirkt Übersetzung eine Konfiguration des Zielkontextes, und zwar im Sinne seiner Perspektivierung, Antizipation oder Visionierung. Text, Sprechakt und Adressierung bündeln gleichsam Hoffnungen, was aus ihnen im Zielkontext werden könnte, und verleihen erst dadurch Letzterem eine sinnhafte Gestalt. Gerade hier wird deutlich, welche Bedeutung eine strikte Unterscheidung von ontologischen und epistemologisch-konstitutionslogischen Argumenten hat. Denn der Zielkontext wird anhand eines Textes auch dann sinnhaft konfiguriert, wenn er noch gar nicht existiert – etwa dann, wenn Texte, Sprechakte und Adressierungen sich an die Zukunft richten. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Artefakte, die der Voyager II-Raumsonde mitgegeben wurden und die sich an ein unbekanntes außerirdisches Publikum richten, das die Sonde erst, wenn überhaupt, in einer fernen Zukunft erreichen kann. Es handelt sich dabei um Tonaufzeichnungen und um Piktogramme, die von der irdischen Zivilisation Zeugnis ablegen sollen. Der Zielkontext dieser Mitteilungen existiert einzig in der Imagination, die sich anhand eines zu übersetzenden Textes bzw. im hiesigen Fall einer Tonaufnahme und einer Bilderfolge kristallisiert – denn den Kontext, auf den die Mitteilungen ja noch nicht gestoßen sind (die Sonde hat gerade einmal das Sonnensystem verlassen)‚ ›gibt es‹ noch gar nicht. Selbst im luftleeren Raum findet Übersetzung somit nicht im luftleeren Raum statt (s.o.) – aber nicht deswegen, weil es den Zielkontext gibt bzw. auch nur entscheidbar wäre, ob es ihn gibt, sondern weil ein möglicher Kontext im Übersetzungsversuch selbst konfiguriert wird. Aus kulturtheoretischer Perspektive ist somit nicht der ontologische Status des Kontextes das Ausschlaggebende, sondern seine sinnhafte Aufschließung unabhängig von seiner Existenz. Diese Konzeption des Verhältnisses von Übersetzung und Kontext bewegt sich zur Übersetzungswissenschaft und ihren Gelingenskriterien auf einer Meta-Ebene. Denn die Frage, wie angesichts dieser oder jener Kontexte Übersetzung gelingen könne und wie dies bestimmbar sei, ist selbst eine Praxis der Kontextkonfiguration – in einem akademischen Register.

Aspirationen des Übersetzens. Das Aufgeben von Kontexten

Das Beispiel der Voyager-Mitteilungen zeigt überdeutlich, dass Übersetzungen mit Aspirationen verbunden sind. Übersetzungen sollen etwas bewirken, und diese Wirkung erstreckt sich auch auf die Bedeutung des ›Originals‹: Indem seine Übersetzung etwas bewirkt, verändert sich sein Status. Gerade in dieser Qualität sind Übersetzungen als Akte der Ansprache (vgl. Sakai/Solomon 1996) zu konzipieren, d.h. als eine Praxis, die von der Respondenz her, die sie bewirken mögen und die sie in ihrer Bedeutung verändern mag, entworfen sind.

Dieses Bewirken-Sollen involviert dabei zwei Komponenten: Effektivität und Normativität. Die effektive Komponente richtet sich darauf, überhaupt eine Art von Respondenz zu erhalten. Übersetzungen, die nichts bewirken, etwa weil sie in Schubladen verstauben, weil sie ungehört verhallen oder weil sie zerstört werden, sind die einzig denkbaren tatsächlich ›scheiternden‹ Übersetzungen, denn es misslingt ihnen, den Effektivitätsimpuls des Originals aufzugreifen und – wie auch immer umgeleitet und transformiert – weiterzugeben.

Die normative Komponente wiederum richtet sich nicht auf die Übersetzung und ihre ›Qualität‹ an sich, sondern auf eine spezifische Wirkung, die von der Übersetzung ausgehen soll – im Sinne einer Transformation der Kontexte, die sie einerseits rekonstruktiv bündeln und andererseits imaginativ entwerfen. Übersetzungen sollen somit Kontexte in je spezifisch imaginierter Weise verändern. Es ist klar, dass diese Imaginationen sich meist nicht ›bewahrheiten‹, aber dies macht sie als Motor von Übersetzung nicht weniger wichtig.

Indem Übersetzungen als Verknüpfungen konzipiert werden, die Herkunfts- und Zielkontext empirisch konstituieren, konfigurieren und transformieren, lassen sie Kontexte zugleich konzeptuell hinter sich. Denn es sind nicht Kontexte, die übersetzt werden, sondern Texte, Sprechakte und Adressierungen. Übersetzung besteht somit darin, Texte, Sprechakte und Adressierungen aus ›ihren‹ Kontexten herauszulösen, denn nur dadurch werden sie ja übersetzbar; und zugleich gehen Übersetzungen niemals in einem Zielkontext auf, sondern verhalten sich different und transformierend in Bezug auf ihn, indem sie Aspirationen enthalten, wie die übersetzten Texte, Sprechakte und Adressierungen den Zielkontext konfigurieren, reformulieren und modifizieren sollen. Aufgabe einer kulturtheoretisch angeleiteten, rekonstruktiven Übersetzungswissenschaft wäre es somit, die Aspirationen des Übersetzens, gerade insofern es empirisch Kontexte erzeugt und das Konzept ›Kontext‹ zugleich hinter sich lässt, zu bergen.

Literatur

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