Hannover: Wehrhahn Verlag 2014 – ISBN 978–3–86525–378–1 – 16,80 €
Natalie Bloch hat mit Internationales Theater und Inter-Kulturen. Theatermacher sprechen über ihre Arbeit einen facettenreichen, informativen und dichten Interviewband vorgelegt, der anhand von zehn Interviews sowohl künstlerische als auch ökonomische und institutionelle Perspektiven auf interkulturelle Theaterarbeit öffnet. Stärke des Bands, der auf Basis von Interviews mit Theatermachern, die ihren Arbeits- und Lebensschwerpunkten in Deutschland, Luxemburg und Belgien haben, entstand, ist die Vielfalt der künstlerischen Perspektiven: Intendanten-, Regie-, Kuratoren- und Autorenpositionen stehen als lebendige »Berichte aus den Werkstätten« (17) nebeneinander und lenken den Blick auf die ›unsichtbare‹ Theaterarbeit hinter der konkreten Aufführungsarbeit.
Bloch, anders als beispielsweise Ilg und Bitterlich in ihren Interviews mit Theaterhistorikern (Ilg/Bitterlich 2006), verzichtet auf einen streng festgelegten Fragenkatalog, was jedoch keine Nachteile für die Qualität der Interviews birgt. Bloch gelingt es, sowohl die Spezifizität der jeweiligen künstlerischen Positionen herauszuarbeiten als auch an entscheidenden Stellen im Gespräch entschlossen auf die ökonomischen und institutionellen Bedingungen (interkultureller) Theaterarbeit hinzuweisen. So betont Bloch beispielsweise in mehreren Gesprächen, dass das Paradox kultureller Hybridität gerade darin besteht, dass sie einerseits im Zuge der starken (kulturellen, nicht ökonomischen) Re-Nationalisierung Europas unterdrückt wird, andererseits jedoch gerade in den Sphären der Kunst, der Musik und der (Hoch-)Kultur als perfekt vermarktbar erscheint.
Den Interviews ist ein Vorwort von Franziska Schößler vorangestellt, wodurch der Band eine differenzierte theoretische und historisch-politische Rahmung erfährt. Schößler versteht Theater als Heterotopie und als ein (wenn nicht sogar das) »interkulturelle« künstlerische »Medium par excellence« (11). Schon die europäische Theatergeschichte zeige, dass die Idee eines einheitlichen Nationaltheaters letztlich Fiktion bleiben müsse und dass eine Theaterpraxis ohne den Modus permanenter (kultureller) Übersetzungen nicht zu denken sei. Gleichwohl stilisiert Schößler das Theater nicht zu einem machtfreien Raum, sondern macht deutlich, dass gerade das institutionalisierte europäische Theater in »historischer Komplizenschaft [mit] Kolonialismus, Imperialismus und Nationalismus« (11) stehe, an der auch noch die gegenwärtig viel diskutierte »Biopolitik der weißen Haut im Stadttheaterbetrieb« (19) teilhabe. Auch problematisiert Schößler den gegenwärtigen Europadiskurs: Europa sei in erster Linie ein ökonomisches Projekt, dem eine kulturelle oder soziale Entsprechung fehle. Während also wirtschaftliche Grenzen stetig aufgelöst würden, entstünden im Kulturellen unzählige neue »Demarkationslinien« (Schlögel 1995: 12). Mit der Wende von 1989 habe sich der »ökonomische […] Leitdiskurs« zudem auch radikal auf die Legitimation von »kulturellen Institutionen« (13) ausgeweitet. Effekt hiervon sei neben der »Prekarisierung von Theaterarbeit« (ebd.) die Zuspitzung des machtasymmetrischen Ost-West-Diskurses mitsamt seinen Stereotypen; diese kulturellen Imagines, so Schößler, müssten von der zeitgenössischen (interkulturellen) Theaterpraxis aufgerufen und bearbeitet werden.
Wohl nicht ganz ohne Kalkül hat Bloch das Gespräch mit Roberto Ciulli an den Beginn ihres Buches gesetzt. Ciulli, in Italien geborener Regisseur, ist Gründer und Direktor des Mülheimer Theaters an der Ruhr, das in der deutschen Theaterlandschaft einen organisatorischen und künstlerischen Ausnahmefall darstellt und von der Theaterwissenschaft allzu oft übersehen wird. Bereits zu Beginn der 1980er-Jahre hat sich das Theater an der Ruhr dem Prinzip des Reisens (jedes Bühnenbild passt in genau einen LKW) verschrieben und interkulturellen Austausch insbesondere mit nicht-westlichen Theaterkulturen zum Programm gemacht. 30 Jahre bevor das »Postmigrantische« den Theaterdikurs enterte (vgl. exemplarisch Donath 2011), bildete sich in Mülheim zudem ein interkulturelles Ensemble, das die Akzente seiner Mitglieder zum ästhetischen, an der klassischen Moderne geschulten Prinzip erhob.
Auch die weiteren im Band zu Wort kommenden Intendanten und Theaterleiter (Johan Simons, Frank Feitler, Frank Hoffmann und Charles Muller) können auf grenzüberschreitende Theaterkarrieren zurückblicken. Die Interviewten eint so in auffälliger Weise der Blick für die strukturellen Differenzen europäischer Theaterkulturen, das Potenzial diese kreativ ineinander zu übersetzen sowie die Fähigkeit routiniert mit der zunehmenden Projektförmigkeit und Internationalisierung von Theaterarbeit umzugehen. Ein Umstand, auf den die Mehrheit der maßgeblichen Akteure innerhalb der deutschen Stadttheaterlandschaft derzeit verunsichert bis widerständig reagiert. So schildert Johan Simons, derzeit noch Intendant an den Münchner Kammerspielen und designierter Intendant der RuhrTriennale, dass es ihn viel Mühe gekostet habe, nicht-muttersprachliche Schauspieler auf der Bühne in München zu etablieren. Zwar betont Simons, dass er die weltweit einmalige Subventionierung des deutschen Stadttheaters als große Errungenschaft begreife, die künstlerische Qualität sichert. Doch hält er vor dem Hintergrund seiner internationalen Erfahrungen die Organisationsstruktur der deutschen Theater für überholt und plädiert für flache Hierarchien und eine partielle Öffnung hin zum Ensuite-Betrieb, in dem internationale Gastspiele verwirklicht werden können, ohne die »unglaubliche Energie« (47) eines künstlerischen Ensembles, das vor Ort ist, zu untergraben.
Auch Frank Feitler, Intendant des Grand Théâtre de la Ville de Luxembourg, betont die Bedeutung von Gastspielen und grenzüberschreitenden Koproduktionen für die internationale »Durchlüftung« (115) eines Hauses und des Publikums (das sich in seinem Fall zu einem Großteil aus EU-Beamten und Theaterinteressierten aus der Großregion zusammensetzt). Ganz anders hingegen gestalten sich die Aufgaben für Charles Muller, Leiter des Theaters in Esch-sur-Alzette, der zweitgrößten Stadt Luxemburgs, die ähnlich dem Ruhrgebiet stark von der Schwerindustrie, insbesondere vom Eisenerzabbau, und der Arbeiterkultur geprägt ist. Während Feitler seinen Spielplan am (hoch-)kulturellen Geschmack der gut situierten ›Eurokraten‹ und einer ›global financial class‹ ausrichten kann, betont Muller die Schwierigkeiten sich auf das kulturell (38 % der Einwohner sind portugiesischer Herkunft) und ökonomisch diversifizierte Publikum in Esch einzustellen, so schildert er:
Wählt man Autoren wie bspw. Sarah Kane, würde das als elitär empfunden, da würde man sagen, brauchen wir das hier? (151)
Im Gespräch mit Frank Hoffmann, der zugleich Intendant der Ruhrfestspiele Recklinghausen und des Théâtre National du Luxembourg ist, gelingt es Bloch die Erfahrungen eines Regisseurs einzufangen, der eine »Zeitlang systematisch in beiden Sprachen [Deutsch und Französisch] inszeniert [hat] und das auch zum Teil mit den gleichen Leuten« (133). Hoffmann sieht eine enge Verknüpfung zwischen Sprachen und Theaterkulturen und betont die Unterschiede (zum Beispiel in den Schauspielstilen), die er bei der Arbeit in seinen beiden Theatersprachen (Deutsch und Französisch) erlebt hat.
Gerade die Interviews mit den luxemburgischen Künstlern eröffnen einen Blick auf die Theaterkultur des Landes, den man so (zumindest in der deutschsprachigen Literatur) bisher nicht finden kann. Alle drei Interviews betonen sowohl die Sonderrolle der Luxemburger in den benachbarten Theaterkulturen, fremd, aber auch »irgendwie überall ein bisschen Zuhause« (134) zu sein, und lassen deutlich werden, dass in diesem relativ kleinen, mehrsprachigen Land kulturelle Hybridität tief verankert ist. Eine Theaterkarriere ohne künstlerische Erfahrungen in einem anderen Land und in anderen Systemen ist hier kaum vorstellbar.
Auch der Belgier Jan Lauwers, Gründer der Needcompany, stellt seine biografischen Erfahrungen mit der Mehrsprachigkeit – er ist in Brüssel aufgewachsen – als wichtige Quelle seines künstlerischen Schaffens heraus. Anders jedoch als Hoffmann, der die Differenzen zwischen den Theaterkulturen betont und gleichzeitig schätzt, verschreibt sich Lauwers eher der Universalität künstlerischer Kommunikation. So hält er fest: »Intercultural Communication through art is very easy« (171), ohne jedoch den Blick für die kulturelle Hegemonie des Westens auf dem Kunstmarkt zu verlieren. Er gibt zu bedenken, dass nicht-westliche Künstler eher erfolgreich werden, wenn sie sich dem Geschmack des Westens anpassen.
Eine der zwei im Band interviewten Frauen ist Monika Gintersdorfer, die sich ähnlich wie Lauwers klar für die Arbeit in der freien Szene entschieden hat und sich zusammen mit Knut Klaßen in den vergangenen Jahren durch unzählige Kooperationen mit afrikanischen, insbesondere ivorischen Künstlern in der Szene etabliert hat. Gerade durch diese enge Zusammenarbeit mit nicht-europäischen Künstlern legt ihr Arbeitsalltag eine besonders sensible Schicht der interkulturellen Theaterarbeit frei, nämlich die der Bürokratie und der Illegalität. So ist sie sich nicht sicher, ob sie »einem ganz normalen Theaterpublikum« überhaupt vermitteln könne und solle, »wie wir uns Papiere verschaffen, uns durchschlängeln« (58) – auch im Hinblick auf den Schutz ihrer Künstler. Gintersdorfer weist zudem auf das Problem einer »dritten Kunst« (71) hin, die durch die europäische Kulturförderung (des Institut Français und des Goethe Instituts) in den afrikanischen Ländern entstanden ist; eine Kunst, bei der der Adressat unklar bleibt, die weder in den Herkunftsländern der Künstler noch im europäischen Kontext wirklich Aufmerksamkeit erregt.
Auch im Gespräch mit Frie Leysen knüpft Bloch an diese kritische Perspektive auf die internationale Festivalszene an und fragt, ob der globale Kulturaustausch das Theater der Welt nicht immer gleicher mache. Hier widerspricht ihr Leysen entschieden mit Verweis auf kulturübergreifende Merkmale künstlerischer Qualität, die sie mit dem Bild künstlerischer »Dringlichkeit« (160) umschreibt. So eint Leysen, Lauwers und auch Gintersdorfer ein Verständnis von künstlerischer Emphase als einem universellen Wert. Gleichwohl moniert Leysen, dass die großen Festivals immer noch viel zu westlich ausgerichtet seien und es häufig einen (falschen) Kurzschluss zwischen Europa, Nordamerika und dem Label der Internationalität gäbe.
In den Gesprächen mit den beiden in der Türkei geborenen Regisseuren Nuran David Calis (seine Eltern sind zudem armenisch-jüdischer Herkunft) und Nurkan Erpulat sticht die besondere Sensibilität der beiden für den Zusammenhang von kulturellen Abgrenzungs- und Abwertungsmechanismen und Klassen- und Schichtzugehörigkeit ins Auge. Erpulat (inzwischen Hausregisseur am diesjährigen ›Theater des Jahres‹, dem Maxim Gorki-Theater in Berlin) parallelisiert zudem die Marginalisierung der Geschichte der Gastarbeiter mit der Eindimensionalität, in der die deutsche Wiedervereinigung Eingang ins kulturelle Gedächtnis gefunden hat. Demgegenüber spricht Calis offen über seine Erfahrungen mit der Vermarktbarkeit (seiner eigenen) hybriden Identität.
Beide Regisseure positionieren sich klar für ein offenes, »osmotisches« (93) Theater, das das Soziale nicht gegen einen hochkulturellen Kunstanspruch ausspielen, sondern vielfältige Formen und Erfahrungen integrieren soll. Entsprechend eindeutig beantwortet Erpulat die im Buch mehrfach gestellte (und auch unterschiedlich beantwortete) Frage nach einer Quote für Menschen mit Migrationshintergrund auf deutschen Bühnen:
Private Theater kann man nicht zwingen, aber […] die öffentlichen, die ja auch Steuern von den Migranten bekommen (81).
Der Wert von Natalie Blochs klug komponiertem Interviewband ist ein dreifacher: Das Buch liefert spannendes Material für die kulturwissenschaftliche Analyse von interkulturellen Theaterformen, macht die Produktionsbedingungen des Gegenwartstheaters transparenter und ist aufgrund der Interviewform eine Leseempfehlung für jeden Theaterinteressierten.
Donath, Katharina (2011): Die Herkunft spielt keine Rolle. »Postmigrantisches« Theater im Ballhaus Naunynstraße. Interview mit Shermin Langhoff; online unter: www.bpb.de/gesellschaft/kultur/kulturelle-bildung/60135/interview-mit-shermin-langhoff?p=all [Stand: 31.10.2014].
Ilg, Jens/Bitterlich, Thomas (Hg.; 2006): Theatergeschichtsschreibung. Interviews mit Theaterhistorikern. Marburg.
Schlögel, Karl (1995): Go East oder Die zweite Entdeckung des Ostens. Berlin.