This article presents the heated debate within and between Czech and German communities in Bohemia at the end of the 19th century over the authenticity of two medieval Czech manuscripts – the Manuscript of the Queen’s Court, and the Manuscript of Green Mountain –, allegedly discovered in 1817. While the fight originated at the time of the manuscripts’ »discovery« in 1817, the struggle resumed in 1886 with far-reaching consequences for an emergent, politically and culturally effective Czech nationalism. In response, German writers such as Fritz Mauthner and Hans Watzlik ridiculed Czech nationalist efforts without themselves being free of exacerbated nationalism and prejudice. It will be shown how this fight for cultural hegemony and the political and textual ambiguities that attended it was closely linked to problems of translation and literary authenticity.
Title:Who Is the Better Forger? The Forged Czech Manuscripts within Nationality Struggle for Cultural Hegemony
Keywords:national identity; medieval Czech literature; cultural struggle; Mauthner, Fritz (1849–1923); Hanka, Václav (1791–1861)
Die Auseinandersetzung um die Echtheit der Handschriften von Königinhof und von Grünberg ist – zumindest in der tschechischen Literaturgeschichte, in die der Streit als der berühmt-berüchtigte »Handschriftenkampf« eingegangen ist – hinlänglich bekannt.1 Denn im Aufstieg wie im Fall der Manuskripte spiegelt sich der Kampf um die kulturelle Hegemonie in Böhmen, der sich in der Zeit vom Ende der 50er- bis in die 80er-Jahre des 19. Jahrhunderts hinein stark politisierte.
Die Handschriften sind zwei Pergamentkodexe, die ihren Ursprung im 13. Jahrhundert, so im Falle der Königinhofer Handschrift, bzw. im 9.–10. Jahrhundert, so im Falle der Grünberger Handschrift, vortäuschen sollen. Die Königinhofer Handschrift ist eine Sammlung von 14 Gedichten und Gedichtfragmenten in epischer und lyrischer Form. Sie enthält folgende Fragmente von Heldenepik: Záboj a Slavoj (Záboj und Slavoj), Čestmír a Vlaslav (Čestmír und Vlaslav), Oldřich a Boleslav (Oldřich und Boleslav), Beneš Heřman, Ludiše a Lubor (Ludiše und Lubor), Zbyhoň, Jaroslav.
Diese Handschrift wurde 1817 angeblich in Dvůr Králové nad Labem (Königinhof an der Elbe) von dem jungen Philologen Václav Hanka aufgefunden. Die Grünberger Handschrift fand man im gleichen Jahr auf Schloss Zelená Hora (Grünberg). Ein Jahr später wurde sie anonym dem Grafen František Kolowrat, einem liberalen tschechischen Adeligen, für das neu gegründete Museum des Königreichs Böhmen (das heutige Nationalmuseum) übergeben, dessen Archivar Hanka inzwischen war. Sie enthält Fragmente von in alttschechischer Sprache abgefassten Gedichten: Sněmy (Der Landtag) und Libušin soud (Das Gericht der Libussa). Die in diesen Handschriften enthaltenen Texte galten damit als die bis dahin ältesten bekannten Dokumente tschechischer Literatur.
Gleich nach Bekanntwerden der Grünberger Handschrift erklärte der führende böhmische Philologe Josef Dobrovský sie für eine Fälschung und bezeichnete seinen Studenten Václav Hanka als Autor des Fragments. Sowohl der Historiker František Palacký als auch der Dichter und Sprachwissenschaftler Pavel Josef Šafařík – der neben Dobrovský als der Begründer der wissenschaftlichen Slawistik gilt – nahmen die Grünberger Handschrift dagegen in Schutz. Die Königinhofer Handschrift galt allerdings jahrzehntelang als authentisch, zumal sie selbst von Dobrovský vorbehaltlos aufgenommen worden war. Auch ihre Echtheit war jedoch spätestens mit der Schrift Über die Königinhofer Handschrift (1860) von dem deutschen bzw. böhmischen Germanisten und Slawisten Julius Feifalik grundsätzlich in Frage gestellt worden. Allerdings ist die Frage der Autorschaft bis heute nicht geklärt. Es wird angenommen, dass es sich um eine ganze Gruppe von Fälschern und fachkundigen Philologen handelte.2 Ziel war es, der tschechischen Literatur ein überzeugendes Dokument von Heldenepik zu verschaffen, da – bis zu diesem Zeitpunkt – keine Heldengedichte überliefert worden waren. Die Aufdeckung der Manuskripte als Falsa war insofern nicht nur skandalös, sondern auch folgenschwer.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts änderte sich die Stoßrichtung der Bemühungen um die Herausbildung eines tschechischen nationalen Selbstbewusstseins. An die Stelle eines Strebens nach geistiger Gleichwertigkeit mit den Deutschen trat die Überzeugung, das tschechische Volk bedürfe keiner Beschönigung seiner Vergangenheit (mehr), es habe im Gegenteil den entsprechenden Wissensstand und die moralische Reife erreicht, den Trug der Handschriftenfälschung zu durchschauen und wissenschaftlich zu widerlegen. Dem Bohemisten Vladimír Macura zufolge bildete sich in diesem geschichtlichen Moment die Vorstellung, die tschechische Nation wachse aus der »Wahrheit« heraus (vgl. Macura 1993: 14f.).3 Eine nicht geringe Rolle spielte dabei der Philosophie- und Soziologieprofessor und spätere tschechoslowakische Präsident Tomáš Garrigue Masaryk.4 Einen Eindruck davon, was dabei alles auf dem Spiel stand, vermittelt ein Brief Masaryks an den tschechischen Slawisten Jan Gebauer, in dem er den angesehenen Gelehrten um eine gründliche philologische Analyse bittet. Der Brief markiert den Anfang der ersten großen fachübergreifenden Handschriftenkontroverse, die schließlich zu dem Urteil »unecht« führte:
Ich sage Ihnen, dass die gegenwärtige Kontroverse uns keine Ehre macht und der Wahrheit nicht gerecht wird, und dass sie unser Bild zu Hause und im Ausland beeinträchtigt. […] Ich kann Ihnen Männer nennen, an deren Vaterlandsliebe überhaupt kein Zweifel bestehen kann, die jedoch die Königinhofer Handschrift entweder ganz und gar verwerfen oder an ihrer Echtheit Zweifel hegen – und diese Männer, die Augen zum Sehen und Verstand zum Denken haben, sollen Verräter am Volk sein? In welcher Welt leben wir denn, dass Leute, die die eigene Roheit und Unwissenheit mit der Fahne der Nation tarnen, öffentlich jeden ausschimpfen können, dem es vor allen Dingen und in Allem um die Wahrheit geht, und das ganz offensichtlich aus der besten vaterländischen Gesinnung heraus?5
Die Geschichte des »Handschriftenkampfes« ist, wie schon diese erste Annäherung zeigt, kompliziert, mehrschichtig und unübersichtlich und wird wahrscheinlich nie restlos enträtselt werden.6 Dass Hanka seine Autorschaft bis zu seinem Tode nicht eingestand, ließ vielfältigen mehr oder minder seriösen Spekulationen freien Raum.7
Die Bedeutung der Handschriften für das tschechische Gesellschafts- und Kulturleben aber war enorm. So erinnert der wohl einflussreichste Dichter der 1860er- und 70er-Jahre, Svatopluk Čech, in seinen Memoiren an die außerordentliche Position, die die Königinhofer Handschrift einnahm. Zu seiner Studienzeit war die Handschrift »ein wahres Palladium, unser größter Stolz und die schlagkräftigste Waffe gegen die deutschen Genossen, wenn sie anfingen, mit der geistigen Überlegenheit ihres Volkes über das unsrige zu prahlen.«8 Čech räumt ein, dass die tschechischen Studenten in manchem, »zumindest im Geiste, schmerzlich die Berechtigung ihrer [der Deutschen] Gründe anerkennen [mussten]; aber es gab eine Waffe, die uns immer aus der Not half; die kostbare Handschrift.«9 Er beschreibt, wie die Tschechen den Deutschen bei diesen erbitterten Streitigkeiten nicht nur numerisch deutlich überlegen gewesen seien, sondern auch über weit profundere Sachkenntnis der Manuskripte verfügt und gegen die Fälschungsvorwürfe immer eine Menge Gegenargumente parat gehabt hätten, so dass sich am Ende kaum ein Deutscher »traute uns an dieser empfindlichsten Stelle zu reizen«10. Somit erfasst er ziemlich genau die zeitgenössischen demografischen, soziologischen und kulturellen Umstände.
Keine zwei Jahrzehnte später beschreibt der deutschböhmische Sprachphilosoph und Schriftsteller Fritz Mauthner die Einstellung gegenüber den Handschriften aus dem Gegenlager und bestätigt damit Čechs Schilderungen (Mauthner 1918: 131ff.).11 Beiden Autoren zufolge hatten die Deutschen keinen Zweifel daran, dass es sich um Fälschungen handelt. Mauthners noch nach Jahren spürbare Empörung über »solche Fälscherleidenschaft« (ebd.: 134) hätte sich jedoch noch an vielen anderen Fällen entzünden können. So hatte Hanka wohl schon früher mit dem Volkslied Mähren, Mähren und dem sog. Hussitenlied eine Mystifikation betrieben und damit den Komponisten Franz Liszt irregeführt. Ein solches »Mystifikationsverhalten« (Macura 2001: 411) war für diese Phase der nationalen Bewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts recht typisch, und zwar gerade bei den bedeutendsten Wissenschaftlern und Literaten. So publizierten Šafařík und Palacký ihr Manifest der neuen tschechischen Poetik Počátkové českého básnictví – obzvláště prozódie (1818; Anfänge der tschechischen Dichtung – vor allem der Prosodie) ohne dessen Wissen unter dem Namen ihres gemeinsamen Freundes Jan Benedikti und versahen das Buch im Vorwort mit einer fiktiven Entstehungsgeschichte. Jan Kollár gliederte Kunstgedichte in seine Anthologie slowakischer Lieder ein, das Gleiche tat František Ladislav Čelakovský in seinen slawischen Liedern (vgl. ebd.: 411). Macura verfolgt das Mystifikationsverhalten bis ins Persönliche hinein:
Übrigens waren im Briefwechsel Čelakovskýs und Kamarýts Mystifikationen überhaupt an der Tagesordnung. Čelakovský sandte seinem Freund eigene Gedichte unter dem Namen anderer Autoren, sei es Kollár, seien es völlig erfundene Dichter – beispielsweise gibt er sein Gedicht Russen an der Donau als Übersetzung eines von einem nicht näher benannten Russen erworbenen Liedes aus, die eigene Übersetzung eines Teiles von Scotts Das Fräulein vom See empfiehlt er als Schöpfung eines unbekannten Übersetzers zur Lektüre usw.12
Auf Čelakovský geht auch die Erfindung von Žofie Jandová zurück, deren Gedichte bei den Vertretern der tschechischen Bewegung einen sensationellen Erfolg feierten; in seiner Korrespondenz spann er diese Fiktion von einer »tschechischen Sappho« (Hlavačka 2001b: 132) ziemlich lange weiter (vgl. Macura 2001: 110f.). Den Anlass hierzu bot die Zusammenstellung einer Anthologie tschechischer Dichtung durch den polyglotten Engländer John Bowring, bei der Čelakovský als Editor mitwirkte. Bowrings Cheskian Anthology erschien 1832, wobei der Autor von Jandovás Versen natürlich Čelakovský selbst war.
Vladimír Macura kontextualisiert diesen Aspekt der tschechischen Kultur, indem er auf die Beliebtheit von literarischen Mystifikationen im Europa der Romantik verweist. Er hebt aber hervor, dass »die gewaltige Welle von gefälschten Denkmälern doch einer auf die Besonderheit der tschechischen Verhältnisse eingehenden Erklärung bedarf«.13 Die spezifisch »tschechische« Verfälschung der Literaturgeschichte erklärt sich für ihn dadurch, dass sie in der damaligen kulturhistorischen Situation gewissermaßen eine Notwendigkeit darstellte, insofern damit die Kultur, und das heißt auch ihre historische Perspektive, überhaupt erst erschaffen werden konnte. Deshalb ging es nicht vorrangig darum, eine ideale Vergangenheit zu erdichten, sondern eher darum, sie in der Gegenwart herbeizudichten. Es ging um eine ideale Gegenwart:
Die Herausbildung der tschechischen Kultur als »Ideal« sowie als »Spiel« eines kulturell vollentwickelten sozialen Organismus […] rückt auch die Frage der Mystifikation in ein etwas anderes Licht. Diese allgemeine, besonders im Europa der Romantik sehr häufige kulturelle Erscheinung nahm unter den Bedingungen der Kulturen, die vor der Aufgabe standen, in der Gegenwart auch die eigene Vergangenheit zu erschaffen (oder sie zumindest in wesentlichen Zügen zu Ende zu schaffen), eine völlig neue Funktion an. Mystifikation wurde zu einem vollgültigen Bestandteil des die nationale Kultur als Ganzes schaffenden Aktes. […] Die Mystifikation der nationalen Wiedergeburt ist kein Betrug im sittlichen Sinne, sie stellt vielmehr einen festen Bestandteil im Aufbau des Ideals der tschechischen Kultur dar, das […] als solches den Patrioten »trügerisch«, ohne festen Boden unter den Füßen (zugleich aber der toten Wirklichkeit überlegen) erscheint. Empfindet die patriotische Gesellschaft, dass sie mit ihrem Projekt der tschechischen Kultur, etwas bildlich gesagt, »jenseits der Wirklichkeit« steht, […] empfindet sie auch, dass sie jenseits des Diktats der Faktenwahrhaftigkeit steht.14
Der Verlust des »festen Bodens unter den Füßen« führt dann notwendigerweise zu einer Verunsicherung des Originalstatus anderer Texte. In diesem Sinne ist der Handschriftenkampf paradigmatisch. Nicht nur sind die Fälschungsgeschichte wie auch ihre Aufdeckung aufs Engste mit den Anfängen und der Etablierung der wissenschaftlichen Slawistik verbunden, sondern sie wurden auch zum Probierstein der Überlebensfähigkeit der tschechischen Kultur. Masaryks Beharren auf Wissenschaftlichkeit, begründet in den ethischen Bedürfnissen der politisch neuen Nation, die für ihn in den 1890er-Jahren in eine grundlegende Debatte um den Sinn der tschechischen Geschichte mündete, war dabei ein Weg, ein politisch motivierter.15 Macuras Analyse zeigt andere Wege, nämlich eine programmatische Infragestellung von Autorschaft, der Einzigartigkeit des Textes, sprachlicher Originalität. In diesem Sinne ließe sich die folgende Anekdote lesen, die Josef Ladislav Píč16 in seinem Bericht über die Echtheit der Handschriften erzählt:
Mitten im Getöse um die Handschriften begegnete ich in der Žitná-Straße meinem Freunde Zeyer, und während des Gesprächs frage ich ihn: »Hören Sie, mein Freund, wenn Sie, Vrchlický und Čech, sich zusammentäten, vermöchten Sie dann einen Čestmír, Záboj oder Jaroslav zu verfassen?« – »Heute, da sie uns bekannt sind«, antwortete er, »könnten wir natürlich etwas Ähnliches erdichten, aber einen ganz neuen Záboj oder etwas ihm Gleichwertiges, dazu, glaube ich, wären wir alle drei nicht imstande« – und wie hätte das dann Hanka schaffen können, sogar in »zwei Abtönungen des Alttschechischen« […], und auch glaube ich, wenn wir Zeyer oder Vrchlický der Gebauerschen Methode unterziehn wollten, müssten die beiden schon längst (im Vergleich mit unserem üblichen Tschechisch) für urfalsch erklärt worden sein, und ich weiß nicht, ob überhaupt ein Poet ungefälscht bliebe.17
Píč versucht hier durch den Vergleich mit den besten zeitgenössischen tschechischen Dichtern, die »Gebauersche Methode« der sorgfältigen philologischen Analyse – von Verfechtern der Echtheit meistens als »Wortklauberei« abgewertet – für irrelevant zu erklären und so indirekt die Authentizität der mittelalterlichen Texte (und literarischer Texte überhaupt) zu bezeugen. Eine andere mögliche Lektüre jedoch liefe auf eine Nichtselbstverständlichkeit der tschechischen Dichtung hinaus: Kein Poet kann vorbehaltlos für echt erklärt werden.
Was aber Macura nicht in Betracht zieht, ist die Wechselbeziehung der tschechischen Kultur mit der deutschen. Die Opposition authentisch/gefälscht bzw. wahr/falsch liegt nämlich dem Grundparadigma der Übersetzung (treu/untreu bzw. frei) sehr nahe und ließe sich wohl auch als ein Prinzip der Kulturübersetzung auffassen. Nach Lawrence Venuti kann Übersetzung die Ausbildung der nationalen Identitäten nicht nur durch die Textauswahl, sondern auch durch die gewählten diskursiven Strategien fördern; ein fremder Text kann zum Beispiel gewählt werden, weil seine Form und sein Thema einen spezifischen Diskurs in der übersetzenden Kultur (»the translating culture«) zu initiieren vermögen (Venuti 2005: 180). Seine Erkenntnis wäre problemlos auf die Kontroverse um die vermeintlich mittelalterlichen böhmischen Handschriften anwendbar, denn insbesondere an diesem Fall zeigt sich, dass es sich nicht bloß um die Authentizität der Texte selbst handelte, sondern eher um die Authentizität der Diskurse, die diese Fälschungen haben entstehen lassen. Venuti fasst zusammen, dass die übersetzten Texte einerseits den Nationalismus (»national desire«) steigern, andererseits aber diese Sehnsucht nach einer Vereinheitlichung der Nation nicht zu befriedigen vermögen, gerade wegen der jeder Übersetzung innewohnenden linguistischen und kulturellen Differenzen (ebd.).
Diese Übersetzungsstrategien formen laut Venuti nationale Identitäten durch eine gegenseitige Widerspiegelung (ebd.); bei den Tschechen und Deutschen war die Widerspiegelung durch die kulturhistorische Nähe umso intensiver – und sie wurde auch stark politisiert.
Ladislav Nezdařil, der sich Übersetzungen tschechischer Dichtung ins Deutsche widmete, ist sicher zuzustimmen, wenn er feststellt: Fast alles, was das 19. Jahrhundert an künstlerisch wertvollen Übersetzungen tschechischer Dichtung hervorbrachte, ist mit den Handschriften verbunden. Die Handschriften sind in deutschen Übersetzungen tschechischer Dichtung überrepräsentiert, zeitgenössische Autoren wurden viel seltener übersetzt (vgl. Nezdařil 1985: 22f.). Bezeichnenderweise erschien die Königinhofer Handschrift parallel mit einer Übersetzung ins Deutsche. 1819 übertrug Václav Hanka den Text ins Neutschechische, und das tschechische Original wurde von einer deutschen Übersetzung Václav Alois Svobodas18 begleitet. Svobodas Übersetzung ist die erste deutsche Übersetzung tschechischer Poesie im 19. Jahrhundert überhaupt.19
Bis in die 90er-Jahre des 19. Jahrhunderts hinein wurden Werke der tschechischen Literatur nur sehr spärlich ins Deutsche übertragen. Es handelte sich nur um isolierte Einzelfälle. Deutsche Autoren dieser Zeit hatten meistens nur geringe Tschechischkenntnisse und ihr Bild vom tschechischen literarischen Schaffen konnte daher nur auf Übersetzungen beruhen. Zu alledem herrschte Anfang der 1880er- bis in die zweite Hälfte der 90er-Jahre, also zur Zeit des Handschriftenkampfes, in der deutschsprachigen Publizistik und in der deutschnationalen Dichtung infolge der politischen Radikalisierung ein negatives Tschechenbild (vgl. Jähnichen 1972: 103f.). Die Bedingungen für eine kulturelle Vermittlung zwischen Tschechen und Deutschen konnten also kaum ungünstiger sein.
Trotzdem erschienen gerade in den 1880er-Jahren Werke, die ein positives Bild der Tschechen und ihrer Kultur darzustellen versuchten. Das eine ist die zwölfbändige Reihe Die Völker Österreich-Ungarns. Ethnographische und culturhistorische Schilderungen, das andere ein offizielles Sammelwerk, die 24-bändige landeskundliche Enzyklopädie Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild (1886–1902), das sog. Kronprinzenwerk (angeregt vom Kronprinzen Rudolf). In Die Völker Österreich-Ungarns werden »culturhistorische Schilderungen« von jeweils zwei verschiedenen Standpunkten aus vorgetragen, nämlich einem deutschböhmischen und einem liberalen tschechischen. Im tschechischen Teil schließen sich drei »Culturstudien« des österreichischen Publizisten Freiherr von Helfert an; die Letzte ist eine umfangreiche Darstellung des Fundes der Königinhofer und der Grünberger Handschrift und der Auseinandersetzung um ihre Echtheit seit Dobrovský. Helfert verteidigt darin die Handschriften als authentisch.
Eine weitere Studie stellt die Geschichte der slavischen Literaturen (2 Bde.) von Aleksandr N. Pypin dar. Damit war dem deutschen Leser erstmalig eine Gesamt-geschichte aller slawischen Literaturen zugänglich. Pypin bespricht ausführlich das Werk der beiden schon erwähnten zeitgenössischen tschechischen Dichter, Jaroslav Vrchlický und Svatopluk Čech, die im allgemeinen Verständnis zu Repräsentanten der tschechischen Nationalkultur wurden. Pypins Auffassung zufolge ist Čech vorwiegend der Barde, der die nationale Bewegung besingt, während Vrchlický mehr der Sänger von Ideen ist, die sich auf das Menschliche im Allgemeinen beziehen.20 Die deutschsprachige Literatur Böhmens spiegelt diese Zuordnung recht getreu. So schildert die Schriftstellerin Auguste Hauschner (1850–1924) in ihrem autobiografisch gefärbten Roman Die Familie Lowositz (1908), der im Prag der 70er- und 80er-Jahre des 19. Jahrhunderts spielt, in einem der Schlüsselkapitel ein fröhliches Beisammensein der Tschechen: Die »einfachen« Tschechen singen und deklamieren die aufrüttelnde Rede an das Volk aus dem sechsten Gesang des historischen Epos Václav z Michalovic (Waclaw von Michalowitz) von Svatopluk Čech.
Was Hauschner hier jedoch wiedergibt, ist weniger eine typische Szene als ein Literatur- bzw. Übersetzungsereignis. 1895 erschienen in Wien zwei Bände der Neuesten Poesie aus Böhmen, von Eduard Albert ausgewählt. Im zweiten Band mit dem Untertitel Die nationalen Richtungen finden wir die Übersetzung der Rede an das Volk, die in Hauschners Text wörtlich übernommen wurde. Die Übersetzung stammt von Zdenko Fux-Jelenský und gilt als nicht sehr gelungen (vgl. Nezdařil 1985: 153). Fux-Jelenský hatte für seine Übertragung des Epos ins Deutsche keinen Verleger gefunden; vielleicht auch aus diesem Grund ist seine Arbeit in Alberts Anthologie nur in Auszügen vertreten. Diesen Umstand, d.h. die Unvollständigkeit des Epos in der deutschen Fassung, umschreibt Hauschner in ihrem Roman mit den Worten: »das Gedicht war lang« (Hauschner 1908: 90) und zitiert nur zwei Strophen.
Für Fritz Mauthner, der über einige Tschechischkenntnisse verfügte, waren vor allem die Handschriftenfälschungen, wie auch in seinen bereits zitierten Erinnerungen belegt, ein großes Thema. In seinem 1897 erschienenen Roman Die böhmische Handschrift parodiert er den tschechischen Handschriftenkampf. Die Zentralfigur ist der tschechische Lehrer Mikulasch Laska, ein Nationalist und Hochstapler, der plant, ein Manuskript aus dem 13. Jahrhundert zu fälschen, es als ein authentisches Heldenepos zu veröffentlichen und so die kulturelle Überlegenheit der Tschechen zu bezeugen. Mikulasch wird öffentlich blamiert, da die Fälschung vom deutschen Slawisten Dr. Vollenius als solche ausführlich analysiert und für dilettantisch erklärt wird. Mauthners Abrechnung mit den Fälschungen in dem Roman zeigt allerdings, dass der Autor mit der Diskussion über die Handschriften bis ins kleinste Detail vertraut gewesen sein muss.21 In einem Gespräch mit Libussa Weißmann, einer schönen Deutsch-Tschechin, um die er wirbt, sagt Mikulasch:
Heute wollen wir von dem Dichter Goethe sprechen. Da interessiert er uns Böhmen vor allem als Übersetzer. Wie er in seinen Volksliedern schon in früher Jugend seine Genialität darin offenbarte, daß er mit den lyrischen Gedichten unserer alten Königinhofer Handschrift viel Ähnlichkeiten aufweist, so ließ es sich Goethe in seinen alten Tagen nicht nehmen, dem böhmischen Volke zu huldigen, indem er eine der Perlen unserer Königinhofer Handschrift mit seiner deutschen Sprachkunst neu faßte. Sie kennen das Gedicht, welches unter dem Namen ›Das Sträußchen‹ berühmt geworden ist, wenn auch die wenigsten Deutschen wissen, wie viel schöner noch unser Original klingt. (Mauthner 1897: 16)22
Nicht nur Mauthner, auch Hans Watzlik bearbeitete das Handschriftenthema. In seinem Roman O Böhmen! (1917) führt er eine Szene vor Augen, in der die Königinhofer Handschrift in einer Gesellschaft deutscher Studenten in Prag vorgetragen wird:
Doch sie [Kascha, ein tschechisches Mädchen] begann zu lesen. Ihre Stimme scholl wie eine tiefe Geige und scheuchte jäh jedweden Scherz.
»Aus dem schwarzen Walde ragt ein Felsen,
Auf den Felsen steigt der starke Zaboj,
Starrt ins Land hinab nach jeder Seite.
Schmerz erfüllt ihn bei der Heimat Anblick,
Und er seufzet, als ob Tauben weinten.
Lange weilt er hier in Gram versunken,
Rafft sich auf dann gleich dem schlanken Hirsche
Wieder durch den Wald, den weithin öden.«
[…]
Opalisch funkelte ihr Auge, und zum Fieber ward ihres Mundes Rot, da sie den Kampf schilderte, wo Feind wider Feind berserkerte, als stritte, ihren Wurzeln sich entreißend, Eiche gegen Eiche. Eine grause Gier hatte sich in ihrer Stimme erhoben und sie redete wie mit fremdem Atem.
»Sie entflammen sich zu steten Hieben,
Sie zerhaun sich alles auf dem Leibe,
Sie bespritzen alles rings mit Blute,
Und mit Blut bespritzen sich die Krieger.
Zaboj schleudert seinen Schild von sich,
In der einen Faust das Stahlschwert,
In der andern seine Streitaxt
Bricht er Bahn sich durch die Dränger.
Und sie brüllen und sie müssen weichen.
Zitternd laufen sie vom Schlachtfeld,
Lauten Schrei erpreßt der Schrecken ihnen.«
[…]
Mit Zabojs Siegesgesang endete sie, und ihre Stimme wölbte sich und widerklang seltsam in dem Garten und ward herrisch und stark, als riefe ein Mann.
[…]
Jörg Markwart hatte mit seinem Stock ein Hakenkreuz tief in die Erde gerissen. In seinen Augen braute es. Nun stieß er seine Antwort herfür, rauh und zornig, und die Kehle tat ihm weh von dem starren, ehernen Spruch:
»Stahlhart stoße den Beinhart,
Nage knirschend den Knochen,
Ziehe Blut mit zischender Zunge,
Funkelnder Zahn zehre das Fleisch!
Rinn um die Schärfe, roter Tau!
Kehre lichthell vom Leichenmahl,
Gierige Geier hinter dir,
Vor dir der Sonnenadler Sieg!« (Watzlik 1917: 16f.)23
Dieser Auftritt erinnert an das Phänomen, das Gérard Genette in seiner Terminologie als narrative Metalepse bezeichnet (vgl. Genette 1988: 88): Beide Rezitatoren, insbesondere die Tschechin Kascha, nehmen Züge der in den vorgetragenen Texten dargestellten Figuren an. Kascha wird als eine sagenhafte Gestalt, ein schicksalhaftes und sinnliches Weib geschildert. Sie ist, heißt es an einer anderen Stelle, wie die wilde Šárka aus dem Mägdekrieg, »die den Schlaf des Feindes nicht ehrt«;24 es überrascht nicht, dass sich zwischen ihr und der Hauptfigur des Romans, dem deutschen Studenten Walther, ein Liebesverhältnis entwickelt. Noch bevor sie sich der deutschen Gesellschaft anschließt, warnt Kascha diese, sie werde es nicht zulassen, dass ein fremdes Urteil über sie gefällt wird – sie selbst sei Richterin. Und nicht zuletzt durch Redeeinleitungen wie »Ihre Stimme scholl«, »Glut glomm in der Klage« (Watzlik 1917: 16) wird auf die Heldensagen angespielt. Nach ihrem Vortrag sitzen die Deutschen »wie von wilder Klaue gepackt. Einem fernen, düsteren Nachtbrand gleich verglomm die Dichtung.« (Ebd.: 17) Der schöne Mainachmittag, der friedliche Fluss, alles ist verwandelt: »Ein Wolkenrumpf mit dem abenteuerlichen Armwerk eines Kraken dräute über dem Mai, Schatten fluteten.« (Ebd.)
Die Extra- und Intradiegese werden so nicht nur durch die Darstellungsweise der Figuren vermischt, sondern auch durch das »Eindringen« des fremden (tschechischen) Textes in den bis dahin vertrauten »deutschen« Raum. Die Vermischung von narrativen Ebenen wird noch dadurch verstärkt, dass Kascha das alttschechische Epos auf Deutsch zitiert. Dass dies realiter nur möglich wäre, wenn sie die erste, also die polyglotte Fassung bei sich hätte, ist insofern irrelevant, als es sich hier eben um eine Metalepse handelt. Der Gegensatz zwischen Original und Übersetzung wird dabei aufgehoben, die Machtverhältnisse, die eine Übersetzung aus dem Tschechischen ins Deutsche bedeuten, verschoben. Nach Genette liegt die größte Verstörung bei einer solchen rhetorischen Figur »in this unacceptable and insistent hypothesis that the extradiegetic is perhaps always diegetic and that the narrator and his narratees – you and I – perhaps belong to some narrative.« (Genette 1980: 236)25 Die narrative Metalepse versinnbildlicht also die von Venuti angesprochenen bei einem kulturellen Transfer verlaufenden Widerspiegelungsprozesse und die in der gegenwärtigen Theorie der Übersetzung diskutierte Frage der Originalität. In der zitierten Szene werden daher die slawische und die germanische Dichtung gegeneinander abgewogen und zum Schluss wird die Echtheit der Handschrift angesprochen:
Sie hob herausfordernd das Haupt. »Was ich hier vorgetragen habe, gehört zu den ältesten Zeugnissen slawischer Dichtung und ist um viele Jahrhunderte älter als eurer Lied von den Nibelungen.«
Zwentibold erwiderte leise: »Die Empfindung, womit du, Kascha, vortrugest, war echt, echter als das Gedicht, das von tschechischen Gelehrten selber als plumpe Fälschung entlarvt wurde.« (Watzlik 1917: 18)
An dieser Stelle, so ließe sich zusammenfassend sagen, sind die Fälschungen tatsächlich ein Problem der Übersetzung geworden. Wenn der Text, den Kascha vorträgt, eine Übersetzung aus dem Alttschechischen sein soll, das es in dieser Form nie gab, wäre er also eine Übersetzung ohne Original. Birgt aber diese skandalträchtige Tatsache – denn es gibt da nur eine »simulierte Originalität« (Apter 2005: 161) – nicht auch das Potential, die Kultur, im Sinne von Macuras Verständnis einer Wiedergeburtskultur, als ein Ideal bzw. als Spiel mit Gegenwart und Vergangenheit herauszubilden? Da der altgermanische Spruch im Unterschied zu den tschechischen Handschriften keine Fälschung ist, können die Deutschen in Watzliks Roman ihre Kultur für authentisch – weil unübersetzbar und deshalb unveräußerlich – halten. Die tschechische Kultur erscheint dann folgerichtig als unoriginell, abgeleitet, gefälscht. Dieses Paradigma erweist sich aber als unhaltbar. Denn die Deutschen werden die Nichtselbstverständlichkeit ihrer eigenen kulturellen Lage im mehrsprachigen Böhmen wahrnehmen. Paradoxerweise kommt diese gerade durch die Konfrontation mit einem gefälschten tschechischen Text deutlich zum Vorschein.
1 | Zu einer guten Überblicksdarstellung siehe Raßloff 1999 und Schamschula 1996: 254–263.
2 | Die zentrale Figur des ganzen Unterfangens war höchstwahrscheinlich Václav Hanka (1791–1861), der vermutlich die lyrischen Texte entweder ins Alttschechische »übersetzte«, wenn er nicht zugleich auch der Autor war. Die epischen Gedichte soll Josef Linda (1789/1792–1834) verfasst haben. Man nimmt an, dass František Horčička (1776–1856), Maler, Restaurator und hochbegabter Fälscher mittelalterlicher Gemälde, die Texte niedergeschrieben hat (vgl. Neumann 2001: 124f.). Ganz abseits der Mystifikation stand auch Josef Jungmann (1773–1847) nicht, Sprachwissenschaftler, Autor des Tschechisch-Deutschen Wörterbuches, das zum Grundstein der normativen tschechischen Sprache wurde. Jungmann war eine der führenden Persönlichkeiten der tschechischen nationalen Bewegung. Der hohe literarische Wert der Gedichte lässt seine Teilnahme an dem Betrug – die in seinem Fall besonders eklatant wäre – nicht ausschließen.
3 | Macura versteht sowohl die Kanonisierung als auch die Dämonisierung des wahrscheinlichen Fälschers Václav Hanka als semiotische Vorgänge, die im Endeffekt auch auf eine Mystifikation hinauslaufen, genauso wie die ursprüngliche Fälschung die tschechische Geschichte mystifizierend zu mythologisieren versuchte. Macura sieht die Folgen bis in die Gegenwart wirken: »Také příběh prostého celonárodního odsudku Hankovy mystifikační činnosti k takové mystifikaci míří a je ve svém du°sledku – alesponˇ dnes, když podvod Hanku°v už nehraje žádnou kulturní nebo sociální roli - mystifikací ještě velkolepější.« (Macura 1993: 15: »Auch die Geschichte der allgemeinen Verurteilung von Hankas Mystifikationstätigkeit zielt auf eine solche Mystifikation ab und wird – mindestens heute, da Hankas Betrug keine kulturelle oder soziale Rolle mehr spielt – zu einer Mystifikation, die noch großartiger ist.«; [Übers. stammen, soweit nicht anders vermerkt, von Verf.])
4 | Masaryk kam 1882 nach Prag. Die Prager Karls-Universität war in diesem Jahr in eine tschechische und eine deutsche geteilt und in Karl-Ferdinands-Universität umbenannt worden. Es handelte sich um einen patriotischen Akt, der neue Arbeitsstellen schaffen und innovative wissenschaftliche, im europäischen Kontext verankerte Methoden einführen sollte, denn die neu benannten jungen Professoren hatten meistens im Ausland studiert. Masaryk hatte eine außerordentliche Professur an dem tschechischen Zweig der Karls-Universität in Prag inne (vgl. Dobiáš 2010: 252f.; Blüml 2004: 20f.).
5 | »I pravím tedy, že nynější stav kontroverze nesrovnává se se ctí naší ani s pravdou, a že doma i v cizině velmi si škodíme. […] Mohu Vám jmenovat muže, o jejichž vlastenectví nemu°že být pochybnosti, kteří však RK buď zavrhují přímo, neb asponˇ o pravosti jeho pochybují, – a mužové ti, kteří mají oči k vidění a rozum k myšlení, jsou proto zrádci národa? Kde to žijeme, že nám lidé, kteří surovost a nevědomost svou skrývají za praporem národnosti, veřejně mohou vynadat každému, kdo především a ve všem o pravdu stojí z nejlepšího zajisté vlastenectví?« (Masaryk 1886: 164) Der Brief erschien in Athenaeum, einer von Masaryk 1883 gegründeten Kulturrevue. Zu erwähnen wäre sicher auch, dass der Brief eigentlich erst nach der Aufnahme von Gebauers Aufsatz Potřeba dalších zkoušek Rukopisu královédvorského a zelenohorského (Weitere notwendige Prüfungen der Königinhofer und der Grünberger Handschrift) in dieser Revue verfasst und antedatiert wurde. Masaryk inszenierte und steuerte die Debatte von Anfang an ganz pragmatisch; seine Beweggründe waren nicht nur philosophisch, sondern vor allem politisch (vgl. Masaryk 2004: 17, Fn. 1; Blüml 2004: 31f.).
6 | Siehe vor allem Ivanov 1994 u. 2000. Ivanov initiierte in den 1960er-Jahren eine erneute Untersuchung der Manuskripte unter Anwendung neuester chemischer Methoden. Dabei wurde entdeckt, dass die Texte der Fälschungen auf alten, mittelalterlichen Pergamenten geschrieben wurden; in beiden Fällen handelt es sich also um Palimpseste. Die Untersuchung erfolgte durch das Kriminalistische Institut, doch Ivanovs Team wurden von Opponenten aus der Akademie der Wissenschaften sowohl methodische als auch interpretatorische Ungenauigkeiten vorgeworfen. Die Ergebnisse der Untersuchungen, die sog. Protokolle, wurden daher der Öffentlichkeit vorenthalten und erst nach der Wende, im Jahre 1992, publiziert. Eine fundierte Übersicht über den Wissensstand zu der Handschriftenforschung gibt Dalibor Dobiáš in seiner begleitenden Studie zu einer neuen Veröffentlichung der Manuskripte (vgl. Dobiáš 2010: 213f.).
7 | Vgl. beispielsweise Kopecký 1981. Verfechter der Echtheit der Handschriften sind in der Tschechischen Handschriftengesellschaft (Česká společnost rukopisná) und um das Prager Verlagshaus Neklan vereint; die von ihnen gesammelten Materialien sind auf alle Fälle lesenswert. Vgl. online unter: www.rukopisy-rkz.cz/rkz/csr [Stand: 31.10.2014]. Als Mythos werden die Handschriften in postmodernen Werken wieder ins Leben gerufen. In Miloš Urbans Debütroman Poslední tečka za rukopisy (Der letzte Punkt hinter den Handschriften) – der Roman erschien unter dem Pseudonym Josef Urban, die zweite Auflage aber schon unter dem wirklichen Namen des Autors – werden die Fälscher als Hanka (Hana) und Linda (so der Nachname des anderen vermutlichen Fälschers) entlarvt, also Frauen, die in einer frühfeministischen Geste im Geiste einer radikalierten Božena Němcová die von Männern betriebene Philologie verhöhnen. Die Handschriften fanden ihren Weg auch auf die Bühne: Eva Tálská inszenierte sie 2008 mit großem Erfolg im Brünner Theater »Husa na provázku«; eine für das Frühjahr 2013 geplante Aufführung von Jan Antonín Pitínský im Prager Nationaltheater musste leider wegen Geldmangels eingestellt werden.
8 | »[…] skutečným paladiem, naší největší chloubou a nejpádnější zbraní proti německým soudruhu°m, kdykoliv se začali vychloubati duševní povýšeností svého národa nad naším.« (Čech 1899: 158)
9 | »[…] jsme museli, asponˇ v duchu, s bolestí uznati správnost jejich du°vodu°; ale byla jedna zbranˇ, která nám vždy pomáhala z tísně; drahocenný rukopis.« (Ebd.)
10 | »málokterý troufal si podrážditi nás na tomto místě nejcitlivějším.« (Ebd.)
11 | Mauthner schildert an dieser Stelle die 50er-Jahre des 19. Jahrhunderts. Er erwähnt den Prozess Hankas gegen David Kuh wegen Verleumdung. Kuh war Herausgeber der Zeitschrift Der Tagesbote aus Böhmen, in welcher 1858 ein anonymer Autor auf eine, wie sich später herausstellte, gegen die Tschechen gerichtete Anregung der Polizei hin (vgl. Stölzl 1974: 139) die Handschrift als Betrug und Hanka als Fälscher bezeichnet hatte: »[…] wir hatten eben aus einer Gerichtsverhandlung die gelehrten Beweise für die Fälschung erfahren und waren sittlich empört.« (Mauthner 1918: 134) Mauthner war mit David Kuh verschwägert (vgl. ebd.: 187).
12 | »Ostatně ve vzájemné korespondenci Čelakovského a Kamarýta byla mystifikace vu°bec na denním pořádku. Čelakovský posílal příteli vlastní básně jako výtvory jiných autoru°, ať již Kollára, nebo autoru° smyšlených – např. svou básenˇ Rusové na Dunaji vydává za překlad písně získané od blíže neurčeného Rusa, vlastní překlad části Scottovy Panny jezerní nabízí k přečtení jako dílo neznámého překladatele apod.« (Macura 2001: 411)
13 | »[…] ale ta mohutná vlna podvržených památek si přece jen žádá, aby byla vysvětlena ze zvláštních českých poměru°.« (Ebd.: 410)
14 | »Utváření české kultury jako ›ideálu‹ i jako ›hry‹ na plně rozvinutou kulturu plně rozvinutého sociálního organismu […] staví do poněkud jiného světla také otázku mystifikace. Tento obecný kulturní jev, zvláště v romantické Evropě velice častý, nabýval v podmínkách kultur, před kterými stál úkol v přítomnosti vytvářet (či alesponˇ v podstatných rysech dotvářet) také vlastní minulost, zcela nové funkce. Mystifikace se stávala plnoprávnou součástí aktu vytváření národní kultury jako celku. […] Obrozenecká mystifikace není prostým klamem v mravním smyslu, je mnohem spíše nedílnou složkou budování ideálu české kultury, který […] se sám o sobě zdá být vlastencu°m ›klamavý‹, nemající pevnou pu°du pod nohama (ale současně i povýšený nad mrtvou skutečnost). Pociťuje-li vlastenecká společnost, že stojí se svým projektem české kultury tak trochu obrazně řečeno ›mimo skutečnost‹ […] pociťuje také, že stojí mimo diktát pravdivosti faktu.« (Macura 1995: 109f.)
15 | Vielleicht auch aus diesem Grund werden Masaryks eigene soziologische Analysen der Handschriften für wenig überzeugend gehalten.
16 | Josef Ladislav Píč (1847–1911) gilt im Handschriftenkampf als eine tragische Gestalt. Der angesehene Archäologe, ein überzeugter Verfechter der Echtheit der Königinhofer Handschrift, besuchte 1911 führende europäische Paläografen mit der Königinhhofer Handschrift und holte sich von ihnen Gutachten ein. Den Bericht darüber veröffentlichte er in dem unten zitierten Aufsatz. Nachdem er eine ironisierende, anonyme Reaktion bekommen hatte (in Čas am 18.Dezember 1911) und vom Museum der Verletzung der Ausleihregeln bezichtigt geworden war, nahm er sich am 19.12. das Leben.
17 | »V době vřavy rukopisné potkal jsem v Žitní ulici přítele Zeyera a mezi hovorem ptám se: ›Poslechněte příteli, kdybyste se sešli Vy, Vrchlický a Čech, zdali pak byste dovedli napsati takového Čestmíra, Záboje nebo Jaroslava?‹ – ›Dnes, kdy je známe‹, odpověděl, ›bychom přirozeně dovedli něco podobného pabásnit, ale nějakého z brusu nového Záboje nebo něco, co by se mu rovnalo, myslím, že kdybychom všichni tři nedovedli‹ – a pak to měl dovésti Hanka dokonce ›ve dvou odstínech staré češtiny‹, […] i myslím, kdyby se methodou Gebauerovou šlo na Zeyera a Vrchlického, že by oba (v porovnání s běžnou naší češtinou) dávno museli býti prohlášení za praprafalešné, a nevím, zdali by vu°bec některý poeta zu°stal nefalešným.« (Píč 1911: 2)
18 | In einigen Studien gilt Svoboda als einer der möglichen Mitfälscher (vgl. Strejček 1947: 11f.; Nezdařil 1985: 23).
19 | Neben Svobodas Übersetzung hält Nezdařil folgende Übertragungen ins Deutsche für gelungen: von Josef Matthias Graf von Thun (1845), Moritz Hartmann (1847) und Siegfried Kapper (1859). Alle diese Übersetzer waren Verfechter der Echtheit der Handschriften (vgl. Nezdařil 1985: 31f.).
20 | Es ist daher sicherlich kein Zufall, dass gerade Vrchlický und Čech in den 1909 geschriebenen Memoiren von Bertha Suttner erwähnt werden. Suttner schildert hier die Ereignisse von 1895: »Wir machten einen Ausflug nach Prag – meiner Vaterstadt. Der Verein Concordia hatte mich eingeladen, eine Vorlesung zu halten. […] Für meinen Vortrag hatte ich – da ich in einem literarischen Verein sprach, das Thema ›Friedensliteratur‹ gewählt – und da ich in Böhmen war, auch böhmische Autoren zitiert – die beiden großen Dichter Vrchlický und Svatopluk Čech. In aller Unschuld hatte ich gar keine Ahnung davon, daß es in dem von nationalen Kämpfen zerrissenen Prag eine Ungehörigkeit war, im ›Deutschen Hause‹ tschechische Geister zu rühmen. Einen Augenblick soll im Saale eine gewisse Beklemmung geherrscht haben – als aber die herrlichen (von Friedrich Adler mehr nachgedichteten als übersetzten) Verse der beiden tschechischen Dichterfürsten erklangen, waren die deutschen Zuhörer entwaffnet, und die Mißstimmung wich.« (Suttner 1968: 346f.)
21 | Mauthner kannte sich mit der Problematik schon seit seinen jungen Jahren aus. Die Handschriften wurden nämlich an deutschen Gymnasien in Prag ausführlich besprochen, was Mauthners großes Missfallen erregte: »[…] so mußten wir uns mit einer tschechischen Fälschung [der Königinhofer Handschrift] beschäftigen, während uns die Nibelungen, Walter und Wolfram unbekannt blieben.« (Mauthner 1918: 134) Vgl. dazu auch Petrbok 2007: 259f. In den Erinnerungen gibt es aber auch Stellen, an denen er viel versöhnlicher über die Fälschungen urteilt (vgl. Mauthner 1918: 134f. u. 267).
22 | Zu Goethes Umarbeitung der Übersetzung Svobodas vgl. Nezdařil (1985: 28f.). Nezdařil ist der Ansicht, dass Goethes Neugestaltung des Gedichts das Original übertrifft. Für eine ausführlichere Analyse dieser Stelle im Roman vgl. Jičínská 2014: 77f.
23 | Die Romanfigur des Jaroslaw Kral, Kaschas Onkel, auf den sich Kascha in dieser Szene beruft (hier nicht zitiert) und der sich später das Leben nimmt, ist eine Anspielung auf das tragische Geschick von Josef Ladislav Píč.
24 | Eine der vier monumentalen Statuengruppen auf dem Vyšehrad stellt Ctirad und Šárka dar, eine andere Slavoj und Záboj – jene Gestalten also, die in der Königinhofer Handschrift dargestellt werden. Zur Symbolik der nationalen Denkmäler in Prag vgl. Nekula 2010.
25 | Laut Genette (1988: 88) produziert die Metalepse auch komische Effekte. Meines Erachtens liegt auch Mauthners Satire in Die böhmische Handschrift dieser Figur nahe.
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