»Ihr müsst mit uns rechnen, mit unserer Andersartigkeit«

Transintegrative Entgegenfahrten im Werk Irena Brežnás

Swati Acharya

Abstract

While the migration literature has since long dealt with the question of alterity and worked on sharpening of contours of the ›Self‹ and the ›Other‹, the contemporary authors with the so called migration background tend to focus on the overlapping rather than segregating the categories of alterity. Irena Brežná’s multidimensional work looks at ›constructions‹ such ›nation as Space‹ and the spatial category of ›Heimat‹ in the specific German context. This paper concentrates on Irena Brežná’s attempts to overcome the alleged segregation of ideological constructs like ›Heimat‹ and the ›Foreign‹ and how she takes a step forward in the trans-integrational direction. The paper argues with the help of her novel The thankless Foreigner that her conscious polemical approach towards concepts such ›land of origin‹ and ›land of arrival‹ no longer serve any purpose as far as the creative expression in multiple languages is concerned.

Title:

»Yes, We Are Different and You Have to Count Us in«: Trans-Integrational Aspects in the Works of Irena Brežná

Keywords:

alterity; Irena Brežná (* 1950); transintegration; multilingualism; migration literature

Hans-Joachim Gehrke nennt die Autorinnen und Autoren, deren Literatur als Grenzüberschreitung in jeder Hinsicht zu verstehen ist, »Grenzgänger im Spannungsfeld von Identität und Alterität« (Gehrke 1999: 16). Im Anschluss daran stellt sich die Frage, mit welchen Grenzen es die Grenzgänger zu tun haben? Abgesehen von den geographischen Grenzen, sind Grenzen als ein literaturwissenschaftliches Konstrukt eine Sache der Perspektive, einer Perspektive des Innen und Außen, des Eigenen und des Fremden. Klaus Müller (vgl. 1997) unterteilt sie in Endosphäre und Exosphäre. Die Dynamik dieser Sphären macht den Kern der ganzen Debatte um die Grenzfrage aus. Grenzen sind nicht nur porös, sondern überlappend und sich gegenseitig beeinflussend. Die klassischen Kategorien in unserem Kontext sind die von Heimat und Außenwelt, von Zuhause und Fremde. Das Augenmerk dieses Beitrags richtet sich auf Irena Brežnás Versuche, die Begrifflichkeiten der Heimat und der Fremde zu überwinden und sie in Richtung Transintegration zu bewegen.

1. Verständnis von Migration und Interkulturalität im ost-westeuropäischen Kontext

Während sich die Migrationsliteratur in ihren Anfangsjahren mit der Frage der Abgrenzung des Eigenen vom Fremden beschäftigte, tendiert sie heute eher dazu, die Überlappung dieser Kategorien zu behandeln. Irena Brežná verfolgt in ihrem vielfältigen Werk die Auseinandersetzung mit den Konstruktionen wie ›Raum der Nation‹ und dem ›Heimatraum‹ (vgl. Behschnitt 1999: 351). Der Raum der Nation ist eine relativ einfache Konstruktion, mit geographisch und politisch festgelegten Grenzen. Spannend wird es dagegen bei der Konstruktion des Heimatraums. Er beansprucht nicht nur die kollektive Zugehörigkeit zu einem bestimmten Territorium, sondern bleibt eng an die Individualität des Subjekts gebunden. Die individuellen Konturen des Heimatraums bestehen aus der Erinnerung, den Kindheitserfahrungen sowie der persönlichen Entwicklungsgeschichte und lassen sich daher nur unvollständig geographisch kartieren. Der Heimatraum existiert per se im Bereich des Ungreifbaren und findet daher seinen gesuchten und gewünschten Ausdruck im Raum der Kunst und im Raum der Literatur.

Diese Spannungen schlagen sich in der Literatur der deutschsprachigen Autoren nieder, die in Osteuropa geboren wurden, nach Deutschland, Österreich oder in die Schweiz migriert sind und in der deutschen Sprache ihren literarisch produktiven, kreativen Ausdruck gefunden haben. Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel hat bereits 2002 proklamiert, dass die Mitte ostwärts liege. Er hat die fest verankerten Vorurteile des Westens dem Ostblock gegenüber scharf kritisiert und die Weichen gestellt für das Phänomen des eastern turn in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, der sich in den Postperestroikazeiten auffällig gemacht hat (vgl. Schlögel 2002: 14-64). Brigid Haines fasst in ihrer Analyse dessen (vgl. Haines 2008: 135-149), was sie »östlichen Wandel« nennt, so zusammen: Die Texte des eastern turn oder der Osterweiterung haben, »a transitory unity deriving from its – often autobiographically based – thematic concern with the communist period in the eastern bloc, and its aftermath« (ebd.: 137).

Irena Brežnás Schreiben hat zum größten Teil mit der Spätphase des Kommunismus und der postkommunistischen Wandlung in Ost- und Westeuropa zu tun, aber sie überwindet diese Erinnerungsarbeit, indem sie am Beispiel ihrer eigenen Mehrsprachigkeit und ihres Kulturhintergrunds die Funktion einer Avantgarde übernimmt. Sie musste 1968 als 18-jähriges Mädchen unmittelbar nach den Ereignissen des Prager Frühlings mit ihrer Familie die Tschechoslowakei, ihre damalige Heimat, verlassen und lebt seitdem mit kleinen und großen Abwesenheitsphasen in der Schweiz. Sie ist als Journalistin, Kriegsreporterin, Übersetzerin und Dolmetscherin und vor allem als Schriftstellerin aktiv. Wie Ilma Rakusa und Yoko Tawada gehört Brežná zu den Autorinnen der »Literaturen ohne festen Wohnsitz«, die »mit und in mehreren Zungen« (Ette 2005: 203) sprechen und schreiben. Ottmar Ette hatte die »Literaturen ohne festen Wohnsitz« bereits 2005 eingeführt und er erfasst m.E. die bedeutungstragende Relevanz dieser Literaturbewegung am zutreffendsten. Bis dahin hatte man mit diversen Bezeichnungen gerungen, sei es ›Migrationsliteratur‹, ›Literatur mit Migrationshintergrund‹ oder ähnliche Variationen. In seinem Werk ZwischenWeltenSchreiben rühmt Ette »transareale, transkulturelle und translinguale Dynamiken, die im Zeichen eines ständigen und unabschließbaren Springens zwischen Orten und Zeiten, Gesellschaften und Kulturen eine Literatur ohne festen Wohnsitz in den Mittelpunkt rücken« (ebd.). Brežná konstatiert die Konstellation ›Fremde in der Heimat‹ im Zeichen der Bewegungsfigur des Odysseus und schreibt über ihre Unruhe und ihre Gewissensbisse, während des Prager Frühlings angesichts der russischen Panzer eigene Landsleute verraten zu haben (vgl. Brežná 1996: 14). Sie entmystifiziert die tradierten Heimatbilder und stellt immer wieder den Kontrast zwischen den Wunschbildern der ersehnten Heimat und der vorgefundenen Wirklichkeit in den Vordergrund. Ihre Heimatkritik beinhaltet eine »Außerhalbbefindlichkeit« (Ette 2005: 186). Damit verleiht sie einem innerhalb der ›Literatur ohne festen Wohnsitz‹ oft vorkommenden Phänomen einen erlebten Ausdruck, in dem die Heimkehr zu einer Begegnung mit einem längst fremd gewordenen Land wird und sich in einer schmerzhaften Dialektik der Heimatlosigkeit offenbart.

Meine deutsche Stimme ist hoch wie die Stimme der Kastraten. Ich habe bei ihr Zuflucht gefunden vor der klebrigen, verführerischen Muttersprache, von der ich mich jedes Mal mit viel Kraft losreißen muss […] ich fliehe vor dem Dämmerlicht der Kindheit […] wo ich so heimisch bin, dass ich dort keine Augen brauche. Ich renne zu Worten ohne Geschichte. Das neue Haus hat luftige, nach nichts riechende, lichte Räume. (Brežná 1996: 61).

Die textinternen Sprachkonflikte kann man dann besser verstehen, wenn man die textexternen (auto)biographischen Züge aus dem Leben Brežnás herausfiltert. Die Kindheitserfahrung in einem totalitären Regime, die der Muttersprache zugeteilte, fast erzwungene Funktion der Manipulation, die Atmosphäre der Denunziation und des Verdachts auch in der eigenen Familie rufen bei der Autorin große Skepsis gegenüber der Muttersprache hervor. Sie erwähnt in dem 2008 erschienenen Roman Die beste aller Welten, dass sie in ihrem Kopf zwei Sprachschienen habe; die eine für die Schulworte und die andere für die Familienworte. Die Schulworte sind dabei immer die Wiederholung und Bestätigung des indoktrinierten staatlichen Vokabulars.

Im Werk Brežnás kommen die verschiedensten Erfahrungen des Exils, der Flucht und der Migration zum Ausdruck. Ihre autobiographisch angehauchten fiktiven Schriften sind der geeignete Nährboden für die Auseinandersetzung mit all diesen Begriffen des modernen Lebens im Transit. Besonders durch ihre eigene Tätigkeit als Dolmetscherin und Journalistin im Allgemeinen und als Kriegsreporterin im Besonderen kommt es in ihren Texten zu polemischen Äußerungen, die nicht ein bestimmtes, durch Not aus dem eigenen Land vertriebenes Volk meinen, sondern auf eine transareale und transkulturelle Weise die weltweit aktuell gewordene condition humaine kommentieren. Ihr Werk und überhaupt ihre Lebensanschauung bauen auf einem intertextuellen Gerüst auf und machen die zahlreichen Stimmen aus der Vergangenheit wieder hörbar, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Der 1980 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete polnische Dichter Czesław Miłosz findet ein Echo in den Schriften Brežnás, indem sie wie Miłosz Freiheit zum Kernwert und Grundsatz des Lebens erklärt. »Freiheit von etwas, das ist viel, aber es ist zu wenig, ist viel weniger als Freiheit zu etwas« (Schlögel 2002: 53). Brežná lehnt sich an andere Dissidentenstimmen aus Osteuropa an, wie an Wladimir Bukowski.1 Durch ihre Schweiz-Kritik unterstreicht sie den »stechenden Schmerz der Freiheit«, den Bukowski beschreibt, um die Erfahrung des Westens auf den Nenner zu bringen. Bukowski empfand den Westen als Land des Exils, aber nicht unbedingt der Hoffnung. Die in den Texten von Brežná beschriebenen Schikanen der Behörden an den Grenzen, in den Visaabteilungen, in den Anmeldungsbüros, in den Flüchtlingslagern erinnern an die Klagen von Stefan Zweig, der als Exilant vor der Nazidiktatur fliehen musste. Für Zweig war »jeder Stempel in dem Paß eine Brandmarkung« und »jede Form von Emigration eine Ursache von unvermeidlicher Gleichgewichtsstörung« (Zweig 2001: 207). Die Intertextualität bei Brežná baut Brücken zwischen den Autoren aus Ost- und Westeuropa, die für transnationale Bewegungs-und Ausdrucksfreiheit plädiert hatten, aber auch zu den Autoren aus der Schweiz, wie Friedrich Dürrenmatt und Hugo Loetsche, die in ihrem Werk heimatkritische Töne vernehmbar gemacht hatten (vgl. Johnston 2015).

Obwohl das Œuvre Brežnás vielfältig und mehrschichtig ist, wurden bis 2012 eher ihre journalistischen Schriften wahrgenommen und diskutiert. Nach dem Erscheinen ihres autobiographischen Romans Die undankbare Fremde (vgl. Brežná 2012) bekam sie die wohlverdiente Anerkennung in den Schweizer Literaturkreisen und einen Ehrenplatz in der Anthologie für zeitgenössische Literatur in der Schweiz (vgl. Schallié / Zinggeler 2012). Die undankbare Fremde versteht sich als Brežnás Kritik an der Schweiz, aber auch als Kritik an den gesellschaftlichen Erwartungen der Zugewanderten, an Kategorien wie ›Herkunftsland‹ oder ›Ankunftsland‹, und schildert ihren Widerstand gegen die bestehenden Strukturen.

2. Rhetorik der Dankbarkeit

Der Romantitel deutet auf der einen Ebene auf die Protagonistin hin als ein Subjekt, das sich dem Gastland gegenüber undankbar verhält. Damit ist der Blick des Gastgeberlandes angesprochen, der sich auf die zugezogene Fremde richtet und es als den Handlungsträger ausweist. Man kann den Titel aber auch aus dem invertierten Blick der Protagonistin selbst auffassen und ihre Enttäuschung spüren, dass das Gastland, also die Fremde, sich ihr gegenüber undankbar verhält. Im Text gibt es eine Szene, in der die Protagonistin eingebürgert wird und der Einbürgerungsbeamte Dankbarkeit von ihr verlangt. Sie ist sich aber der Vorteile bewusst, die die Zugewanderten dem Gastland bringen, über die man aber selten spricht.

Als schließlich die Feier des Gnadengeschenks kam, sagte der Einbürgerungsbeamte: »Sie sind jetzt alle glücklich und dankbar, unseren Pass in den Händen halten zu dürfen.« Menschen aus vielen Ländern saßen gesittet da, und niemand stand auf, um zu ergänzen: »Und Sie sind glücklich und dankbar, dass wir zu Ihnen gekommen sind« (Brežná 2012: 110).

Diese Inversionsmöglichkeit ist der Ausgangspunkt einer unbefangenen, ungehemmten und grenzüberschreitenden Aufgeschlossenheit der Autorin. Sie hebt die ineinander geflochtenen Prozesse der Migration und Integration hervor und unterstreicht dabei jeden Widerstand gegen die Assimilationsprozesse, die für die Zugewanderten meistens eine Negierung ihrer bisherigen Identität und Unterwerfung in ihrem neuen Profil bedeuten. Sie bevorzugt Partizipation statt Assimilation. Es gibt eine positivistische Möglichkeit, diese Fremde als die Schweiz zu verstehen, aber Brežná macht im Text nie explizit klar, dass das vermeintliche Migrationsland die Schweiz sei. Ebenso wenig haben die Figuren im Text Namen, außer Mara, die Freundin der Protagonistin. Mit dieser Anonymität der Räume und der Personen schafft Brežná einen transarealen Raum und eröffnet Möglichkeiten, solche Narrative global anzuwenden und ihre Relevanz zu betonen. Sie bewegt sich souverän in dieser transnationalen bzw. transarealen Arena und stiftet dadurch neue, postkulturelle Identitäten.

Der Text Die undankbare Fremde eröffnet mit einer skeptischen Begegnung mit der Fremde, wo der Argwohn der Protagonistin neben die »Emigrationslust« ihrer Mutter gestellt wird.

Wir ließen unser Land im vertrauten Dunkel zurück und näherten uns der leuchtenden Fremde. »Wie viel Licht!«, rief Mutter, als wäre das der Beweis, dass wir einer lichten Zukunft entgegenfuhren. Die Straßenlaternen flackerten nicht träge orange wie bei uns, sondern blendeten wie Scheinwerfer. Mutter war voller Emigrationslust und sah nicht die Schwärme von Mücken, Käferchen und Nachtfaltern, die um die Laternenköpfe herumschwirrten, daran klebten, mit Flügeln und Beinchen ums Leben zappelten, bis sie, angezogen vom gnadenlosen Schein, verbrannten und auf die saubere Straße herunterfielen. Und das grelle Licht der Fremde fraß auch die Sterne auf. (Ebd.: 5)

Brežnás ›Entgegenfahrten‹ in Richtung Transintegration sind nicht nur ihre Auflehnungsversuche gegen die Assimilation, sondern gegen die von der Gesellschaft erwartete Normativität des Integrationsbegriffs selbst. Was als die Leidensgeschichte einer Zwangsehe einer unmündigen Braut mit einem strengen, alten Mann, also als ein Einzelschicksal, ausgelotet wird, gewinnt später einen Komplizen in der Rolle der Dolmetscherin, und dann wird der Erzählstoff zum Schauplatz einer flächendeckenden kritischen Handlung. Die alltäglichen Kämpfe bereiten eine Gratwanderung vor, indem die Protagonistin zwischen dem ›Ich‹ und ›dem fremden Land‹ gespalten leben muss. Gegen die Ermahnungen des Lehrers: »Pass dich an. Stell dir vor, du gehst auf der Straße und alle denken, du seiest von hier« (ebd.: 22), kommt das schmerzhafte Bekenntnis: »[K]eine Waschmaschine wusch mein altes Ich so rein, dass ich ein unbeflecktes Leben beginnen könnte. Dankbar sollte ich sein, hier leben zu dürfen. Und stets pünktlich. Wem und wofür sollte ich pünktlich dankbar sein, dass es mir in der besseren Welt so schlecht ging?« (Ebd.: 23)

Ihre Arbeit als Dolmetscherin für Gefangene, Drogensüchtige, Kriegsflüchtlinge, Depressive, Ausgebeutete, kurz: für die aus dem sozialen Leben Entmachteten, bietet ihr ein Bildnis ihres eigenen Lebenszwecks. Sie nimmt ihre Lebenssituation als eine Chance wahr, jedwede Grenzen zu überschreiten. Die beklemmenden Erfahrungen in der Fremde werden zu subversiven Werkzeugen der Selbstbefreiung, indem sie proklamiert, »je mehr Mauern und Regeln da sind, umso freier will ich sein. Das Gefängnis ist ein verschmutztes Kloster, das verrückte Hoffnungen aufkommen lässt. […] Deshalb bin ich da, und das Dolmetschen ist nur ein Vorwand« (ebd.: 26f.). Das Dolmetschen wird zum Sinnbild der Brücke zwischen unterschiedlichen Sprachen, zwischen den Entwurzelten und den Behörden des Gastlandes, aber auch zwischen dem am Anfang bodenlosen Ich der Protagonistin und deren späterem selbst-und weltsicherem Ich. »Das seelische Hinken der Entwurzelten aller Länder« bietet der Protagonistin »Aufnahme im gemeinsamen Fremdsein« und lässt sie fahren im »Fahrwasser der Fremde« (ebd.: 102).

3. Schluss: Brežnás Perspektivenwechsel

An dieser Stelle möchte ich Brežná in die von Ottmar Ette eingeführte Kategorie der ›Literatur ohne festen Wohnsitz‹ einordnen. Obwohl diese Literatur in einem Sinne Literatur der Grenzüberschreitungen heißen will, ist sie gleichzeitig markiert durch hochkomplexe »Grenzziehungen und Verwerfungen« (Ette 2005: 14). Eine andere Debatte, der diese Literatur sich unterziehen musste, war ihre Positionierung vis-a-vis der Nationalliteratur bzw. Weltliteratur. Ette lehnt die Kategorien der National- bzw. Weltliteratur vehement ab, indem er nicht nur den von Homi K. Bhabha angepriesenen ›dritten Raum‹ (vgl. Bhabha 2000) evoziert, sondern darüberhinausgehend ein zuversichtliches Plädoyer für eine neue Literatur ohne festen Wohnsitz sowie für eine neue Literaturwissenschaft erstellt. Die Territorialisierbarkeit der Literaturen wird als überflüssig abgelehnt.

Es geht nicht um die Fixierung einer neuen Kartographie des Literarischen mit einer damit verbundenen Ausweisung neuer literarischer Räume, sondern um die Aufbrüche neuer transkultureller, translingualer und transarealer Bewegungsmuster jenseits der von Sprachverarmung geprägten Unterscheidung von National- und Weltliteratur (Ette 2005: 15).

Brežná macht die neuen Erfahrungen der Dislokation und Heterotopie zu global nutzbaren Utensilien und erklärt Millionen von Emigrierten in Übereinstimmung mit Vilém Flusser (vgl. 1992: 247-264), selber ein lebenslanger Flüchtling und Migrant, nicht zu Außenseiterinnen und Außenseitern, sondern zu »Vorposten der Zukunft«. Sie verkündet mit ihrer neuen Inkarnation als »Emigrazia« (Brežná 2012: 115) eine neue Zugehörigkeit, einen neuen Gemütszustand. »Meine Heimat ist Ausländerin. Von hier lasse ich mich nicht mehr emigrieren« (ebd.: 104). Darin zeigt sich nicht nur eine unbefangene Einstellung der sogenannten Fremde gegenüber, sondern die Heimat selbst bleibt keine konstante Gegebenheit mehr. Emigration ist für sie nicht, »die angestammte Gemeinschaft gegen eine neue Mickrigkeit einzutauschen. Emigrazia ist dehnbar, elastisch, durchlässig« (ebd.: 115).

Viele Vertreter des eastern turn wie Terézia Mora, Ilija Trojanow, Ilma Rakusa, Melinda Nadj Abonji, Catalin Dorian Florescu, Richard Wagner, Saša Stanišić – um nur einige wenige zu nennen – verleihen literaturwissenschaftlichen Begriffen wie Transkulturalität ein passendes literarisches Gewand, dessen Fasern aus farbigen Stoffen bestehen. Sie verstehen sich als Sammlerinnen der Welten und Seelen, auch als Händler, »die einkaufe[n] und verkaufe[n]« (ebd.: 131). Brežnás Protagonistin beschreibt ein zutreffendes Bild, wenn sie in einer Stadt Bäuerinnen trifft, die aus ihren Dörfern vertrieben wurden. Um die Verletzung zu mildern, nur gespendete Kleider tragen zu können, hatten sie diese zunächst in Stücke zerschnitten, um daraus ein neues Patchworkkleid zu erschaffen. Es war fremd, schenkte ihnen aber eine gewisse Geborgenheit.

Genau das machen die ›Literaturen ohne festen Wohnsitz‹: Sie »drehen das Leiden am Fremdsein um und forder[n] ein Recht auf Fremdheit« (ebd.: 136). Die Fremdheit ist dann kein unvermeidliches Schicksal, sondern eine Chance, die ›Außerhalbbefindlichkeit‹ in eine ›Globalbefindlichkeit‹ zu verwandeln.

Anmerkungen

1 | Wladimir Bukowski ist ein ehemaliger russischer Dissident, der durch sein Schreiben über die psychiatrischen Anstalten in der ehemaligen UdSSR bekannt wurde. Vgl. Bukowski 1983.

Literatur

Behschnitt, Wolfgang (1999): Die Konstruktion von Heimat in der Literatur. Zu Fredrika Bremers Roman Die Mittsommerreise. In: Monika Fludernik / Hans-Joachim Gehrke (Hg.): Grenzgänger zwischen Kulturen. Bd. 1. Würzburg, S. 349-365.

Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort v. Elisabeth Bronfen. Aus dem Engl. v. Michael Schiffmann u. Jürgen Freudl. Tübingen.

Brežná, Irena (1996): Falsche Mythen. Reportagen aus Mittel- und Osteuropa nach der Wende. Bern.

Dies. (2008): Die beste aller Welten. Roman. Berlin.

Dies. (2012): Die undankbare Fremde. Roman. Berlin.

Bukowski, Wladimir (1983): Dieser stechende Schmerz der Freiheit. Russischer Traum und westliche Realität. Aus dem Russ. v. Anton Manzella. Stuttgart.

Ette, Ottmar (2005): ÜberLebenswissen. Bd. 2: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin.

Flusser, Vilém (1992): Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie. Mit einem Nachwort v. Milton Vargas u. editorischen Notizen v. Edith Flusser u. Stefan Bollmann. Düsseldorf / Bensheim.

Gehrke, Hans-Joachim (1999): Einleitung. Grenzgänger im Spannungsfeld von Identität und Alterität. In: Ders. / Monika Fludernik (Hg.): Grenzgänger zwischen Kulturen. Bd. 1. Würzburg, S. 15-26.

Haines, Brigid (2008): The Eastern Turn in Contemporary German, Swiss and Austrian Literature Debate. In: Journal of Contemporary Central and Eastern Europe 16, H. 2, S. 135-149.

Johnston, Jonny (2015): Critical of Swissness or Critically Swiss? Recent Autobiographical Fictions by Irena Brežná. In: German Life and Letters 68, H. 2, S. 171-189.

Müller, Klaus (1997): Geschichte der antiken Ethnologie. Reinbek b. Hamburg.

Schallié, Charlotte / Zinggeler, Margrit Verena (Hg.; 2012): Globale Heimat.ch: Grenzüberschreitende Begegnungen in der zeitgenössischen Literatur. Zürich.

Schlögel, Karl (2002): Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang. Frankfurt a.M.

Zweig, Stefan (42001): Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt a.M.; online unter: http://www.literaturdownload.at/pdf/Stefan%20Zweig%20-%20Die%20Welt%20von%20gestern.pdf [Stand: 1.9.2019].