Theater – zum Staunen

Natalie Bloch / Dieter Heimböckel

Im Jahre 2014 wurde am ›Institut für deutsche Sprache, Literatur und für Interkulturalität‹ der Universität Luxemburg die Vortragsreihe Theater International ins Leben gerufen. Diese Reihe, bei der im Wechsel TheaterwissenschaftlerInnen und TheatermacherInnen, KritikerInnen und AutorInnen zu Wort kommen, beleuchtet und hinterfragt seitdem, wie sich Aspekte der Internationalisierung auf Identität, Struktur und Ästhetik des zeitgenössischen Theaters auswirken. Die aus den unterschiedlichen Blickwinkeln der Vorträge resultierenden Perspektiven auf die Verfassung des Theaters der Gegenwart – zum einen aus dem künstlerischen Nahraum der DramaturgInnen, RegisseurInnen und AutorInnen, zum anderen aus der eher distanzierten, aber möglicherweise genauso leidenschaftlichen Beobachterposition der WissenschaftlerInnen – führen einerseits seine Diversität, Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit vor Augen und diskutieren andererseits seine Theatermodelle oder lassen sie kritisch Revue passieren. Mit der Reihe wird insofern das Ziel verfolgt, die Auseinandersetzung mit dem Theater der Gegenwart als ein unabgeschlossenes prozessuales Denken zu dokumentieren, das sich fortwährend in ein neues Verhältnis zu seinem Gegenstand setzt.

Von besonderem Interesse für die Vortrags- und Publikationsreihe ist das in diesem Zusammenhang häufig genannte ›interkulturelle Theater‹, unter dem nicht nur Produktionen von Theaterschaffenden unterschiedlicher nationaler und ethnischer Herkunft verstanden werden, sondern auch solche Inszenierungen, in denen die Fremdheitserfahrungen und Missverständnisse, das Zusammentreffen von Denk- bzw. Handlungsformen und Sprachen aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten, zu einem zentralen Merkmal werden (vgl. Regus 2009: 42). Auch wenn viele TheatermacherInnen und FestivalleiterInnen heutzutage den Blick in die Welt weiten wollen und mit dieser interkulturellen und transnationalen Ausrichtung ein Theater von europäischer wie außereuropäischer Geltung anstreben, ist diese Theaterform keinesfalls neu, wie Helmut Schäfer in seinem im ersten Band von Theater international veröffentlichten und hier wieder abgedruckten Beitrag Das Prinzip des Reisens ist auch das Prinzip des Fragens. Botschafter des Sphinx erläutert. Und Helmut Schäfer weiß, wovon er spricht: Er gründete gemeinsam mit dem Schauspieler und Theaterregisseur Roberto Ciulli 1981 das ›Theater an der Ruhr‹ und ist seitdem dessen künstlerischer Leiter und Dramaturg, wobei sich das ›Theater an der Ruhr‹ seit seinen Anfängen der internationalen Kulturarbeit verpflichtet hat. Helmut Schäfer selbst hat dabei nicht nur zahlreiche Stücke übersetzt und bearbeitet, es ist auch wesentlich sein Verdienst, dass das ›Theater an der Ruhr‹ nach wie vor ein Ort der intellektuellen wie auch interkulturellen Auseinandersetzung ist. Denn lange bevor Begegnungen zwischen Menschen unterschiedlicher nationaler und ethnischer Herkunft auf der Bühne ›en vogue‹ wurden, pflegte das ›Theater an der Ruhr‹ einen konsequenten künstlerischen Austausch mit verschiedenen europäischen und außereuropäischen Ländern, der sich auch in den eigenen Inszenierungen niederschlägt. Verschiedene Hautfarben und Akzente korrespondierten auf der Bühne des ›Theater an der Ruhr‹ bereits mit der gesellschaftlichen Realität, als in dieser noch die Vorstellung vom Theater als ›Tempel‹ der Hochkultur und Hort der nationalen Sprache hochgehalten wurde.

»Als wir das ›Theater an der Ruhr‹ 1981 gegründet haben«, führt Helmut Schäfer zu Beginn seines Vortrags aus (S. <?> dieser Ausgabe), »waren wir uns schon im Vorfeld sicher, dass die internationale Arbeit einer unserer Schwerpunkte sein würde. Zu dieser Zeit wäre das anderen Theatern nicht in den Sinn gekommen.« Was seinerzeit noch ein Alleinstellungsmerkmal war, gehört, wie bereits angedeutet, inzwischen vielerorts zur Alltagspraxis einer Theaterkultur, die versucht, »mit einer dezidiert interkulturellen und transnationalen Ausrichtung den Blick in die Welt zu weiten.« (Bloch / Heimböckel 2019: 383) Für das Theater in Deutschland und im deutschsprachigen Raum kann die Vorbildfunktion, die diesbezüglich das ›Theater an der Ruhr‹ eingenommen hat, gar nicht hoch genug eingeschätzt werden (vgl. ebd.: 386). Diese Ein- und Wertschätzung spiegelt sich nicht zuletzt in dem Umstand wider, dass Roberto Ciulli u.a. 2013 den Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen und in diesem Jahr (2019) den renommierten Deutschen Theaterpreis DER FAUST für sein Lebenswerk erhalten hat. Bereits zu seinem 80. Geburtstag hatte man Ciulli u.a wegen seiner Kunst gewürdigt, uns Wirklichkeit so erscheinen zu lassen, »dass sie aus dem Spiegel des Gewohnten heraustritt, in anderem Licht erscheint, in Erstaunen versetzt« (Rossmann 2014), womit ein Credo formuliert wurde, das Helmut Schäfer für das ›Theater an der Ruhr‹ und damit auch für seine Arbeit produktions- und wirkungsästhetisch als wesentlich beschrieben hat: »Staune, dass du etwas siehst, was dir nicht bekannt, was dir fremd ist. So entsteht die Reise, von der ich gesprochen habe.« (S. 147 dieser Ausgabe)

Literatur

Bloch, Natalie / Heimböckel, Dieter (2019): Drama und Interkulturalität. In: Andreas Englhart / Franziska Schößler (Hg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft: Drama. Berlin / Boston, S. 372-387.

Regus, Christine (2009): Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Ästhetik, Politik, Postkolonialismus. Bielefeld.

Rossmann, Andreas (2014): Roberto Ciulli. Von Pinocchio zu Faust. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 31. März 2014.