Krisenrhetorik und Legitimationsritual

Einsprüche gegen Deutungsmonopole (nicht nur) in der Germanistik

Dieter Heimböckel

Abstract

An article published in the news magazine Der Spiegel at the beginning of 2017 once again triggered a discussion about the so-called crisis in German studies. This discussion will be taken as an opportunity to reflect on the argumentative strategies and patterns associated with the topos of crisis. Particular attention will be paid to the fact that German studies in German-speaking countries, and especially in Germany, apparently still think in terms of national philology and hardly take note of the situation of German studies in the ›rest of the world‹. If only recently a lack of willingness on the part of German-speaking Germanists to take up initiatives for a professional bi- and multilaterally organized dialogue was registered with concern, it is high time to problematize this fact.

Title:

Crisis Rhetoric and Legitimation Ritual. Objections against Monopolies of Interpretation (not only) within German Studies

Keywords:

dialog; ›domestic and foreign german studies‹; interculturalism, crisis discourse; national philology

Im Globalisierungsprozess steht und fällt die Zukunftsfähigkeit der Geisteswissenschaften damit, ob und wie sie sich die Belange interkultureller Orientierung zu eigen machen.

(Jörn Rüsen)

1.

Am 7. Februar 2017 schreibt ein offensichtlich empörter Kollege, so empört, dass man sich die Frage stellen muss, warum mit ihm – redensartlich gesprochen – förmlich die Gäule durchgegangen sind, folgende E-Mail:

O-Ton Anfang der 1990er Jahre, liebe KollegInnen: die haben keine Ahnung, völlig unbrauchbar, interessieren sich nur noch für Boris Becker und Michael Jackson, man kann kein Bibel- oder Mythologie-Wissen mehr voraussetzen, alles muss von Grund auf neu erarbeitet werden – und das Schlimmste: Die lesen nicht; darum Plädoyer für Lesetests zu Beginn der Veranstaltung – am besten: abschaffen, diese Studierenden. Wohlgemerkt: Anfang der 1990er.

Und nun der Spiegel-Artikel: sehr interessant, aber nur deshalb, weil er diese Larmoyanz und das Krisengefasel zum x-ten Mal reproduziert.

Ich lasse den Text hier enden, ansonsten könnte das, was dann folgt, den Kollegen ernsthaft kompromittieren. Was aber war geschehen? Im Nachrichtenmagazin Der Spiegel erschien am 6. Februar 2017 ein Artikel von Martin Doerry, ehemals Student der Germanistik an der Universität Tübingen, wo er, was die Hausmitteilung des Organs seinen Leserinnen und Lesern nicht vorenthalten wollte, bei Koryphäen wie dem Literaturwissenschaftler Hans Mayer, bei Walter Jens und dem Philosophen Ernst Bloch im Seminar saß. (Die Bedeutung von Koryphäen spielt in dem Artikel selbst eine Rolle, und sie wird von mir an anderer Stelle auch noch einmal aufgegriffen.) Vierzig Jahre später, so die Hausmitteilung weiter, hat sich Doerry in germanistischen Fakultäten in Hamburg und Frankfurt am Main umgesehen und »viele faszinierende junge Studenten« getroffen, die zwar mit Leidenschaft studierten, aber unter der »Massenabfertigung« zu leiden hätten. Doerry zieht den Schluss: »Die Germanistik könnte an ihrer Größe ersticken.« (Der Spiegel 2017) Das ist aber bei weitem nicht alles, was Doerry in seinem Beitrag, der unter der bezeichnenden Überschrift Schiller war Komponist erschienen ist, über den aktuellen Zustand der Germanistik in Deutschland zum Besten gibt. Er ist zwar bereit einzuräumen, »dass die Diskussion um die ›Krise der Germanistik‹ fast so alt […] wie das Fach selbst« sei (Doerry 2017). In jüngerer Zeit allerdings flamme diese Debatte verstärkt auf – ein Befund, den viele Beobachterinnen und Beobachter sowie Hochschullehrerinnen und -lehrer und nicht zuletzt auch Doerry teilten. Was ihn zu seiner Diagnose veranlasst, die er sich vermeintlich von aktiven Kolleginnen und Kollegen aus der Disziplin bestätigen lässt, ist u.a. der Umstand, dass dem Fach der Biss fehle, es, anders als in der Geschichtswissenschaft, keine Vorzeigeintellektuellen gebe, die sich an öffentlichen Diskussionen beteiligten, man sich eines fachlichen Jargons bediene, der für niemanden mehr verständlich sei, die Ausdifferenzierung ein Maß angenommen habe, die zu einer selbst für Eingeweihte kaum noch zu durchschauenden Unübersichtlichkeit beigetragen habe, die publizierte Forschung ins Uferlose ausarte und so ihrer eigenen Verödung Vorschub leiste und schließlich, dass unter dem Massenandrang der Studierenden zuallererst die Qualität leide. »[W]er nicht so recht weiß, was er mal werden soll, studiert eben gern mal Germanistik«, so das ebenso ernüchternde wie flapsig formulierte Fazit des Ex-Studenten der Germanistik (ebd.). Ich werde nachfolgend auf das eine oder andere Argument eingehen, nicht um den Artikel zu entkräften, denn er verdient es nicht, dass man sich eingehender mit ihm auseinandersetzt, sondern wegen seiner Krisenrhetorik einerseits und des geradezu ritualisierten Reaktionsmodus andererseits, der auf ihn folgte. Denn tatsächlich ließen die Stellungnahmen nicht lange auf sich warten. Schon am 8. Februar 2017 folgte die erste Gegenrede von Stefan Martus in der FAZ unter dem ironisierenden Titel Der eierlegende Wollmilchgermanist wird dringend gesucht (Martus 2017), und tags darauf meldeten sich die von Doerry zitierten Eideshelfer im Deutschlandfunk (vgl. Koschorke / Fecke 2017) und in der FAZ mit dem Hinweis zu Wort, dass ihre Aussagen durch den Spiegel-Beitrag entstellt wiedergegeben worden seien (vgl. Drügh / Komfort-Hein / Koschorke 2017). Es folgten weitere Artikel u.a. in der Zeit (vgl. Kastberger 2017), in der NZZ (vgl. Berndt 2017), in der FAZ (vgl. Glück 2017) sowie eine 45-minütige Rundfunksendung im SWR2 unter dem Titel Steckt die Germanistik in der Krise? (O.A. 2017) Darüber hinaus widmete sich ein Blog des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung (Berlin) dem Thema Germanistik in der Kontroverse (ZfL 2017), und seine Leiterin, Eva Geulen, beteiligte sich an dieser Kontroverse mit einer Nebenbemerkung zum jüngsten Streit um die Germanistik (Geulen 2017). Der meines Wissens vorläufig letzte Beitrag dazu datiert, um das zeitliche Ausmaß der Diskussion vor Augen zu führen, vom 20. Juni 2017 und stammt aus der Feder Kai Kauffmanns, der mit seinem in der FAZ abgedruckten Statement die »jüngst beschworene Krise der Germanistik« als eine »Krise der Lehrerbildung« ausbuchstabiert (Kauffmann 2017).1 Seitdem scheint der Qualm, der mit dieser Diskussion aufgestiegen ist, einigermaßen und bis auf Weiteres verraucht zu sein. Bis auf Weiteres heißt: bis es jemandem wieder einfällt, eine Germanistik-Rakete zu zünden, deren Knall die Betroffenen aus ihrer Beschaulichkeit weckt und dann reflexhaft und umso aufgebrachter aufschreien lässt: dass sie – selbstredend – erstens sich in der Öffentlichkeit zu Wort melden, zweitens sich einer Sprache zu bedienen wissen, die jede / r versteht, drittens eine wichtige und für die Gesellschaft relevante Arbeit ausüben, viertens Studierende ausbilden, die auch jenseits des Lehramts einen Job finden, usw. usw. Für die Annahme, dass es dazu kommen wird, muss man nicht mit einer prophetischen Gabe ausgerüstet sein, sondern das lehrt ein Blick in die Vergangenheit. Hierzu genügen einige Schlaglichter – so zum Beispiel auf Heinz Ludwig Arnolds Beitrag Das Fach in Dauerkrise aus der Zeit vom 23. April 1971, auf Rudolf Walther Leonhardts in der Zeit abgedruckten Vorschlag vom 6. September 1985, dass einzig eine Schwerpunktverlagerung nach Ostasien die Germanistik vielleicht noch aus ihrer Misere retten könne, oder auf den rund zwei Jahre danach ebenfalls in der Zeit veröffentlichten Beitrag von Joachim Dyck zur Dauerkrise in der Germanistik (16. Oktober 1987). Einem Fachvertreter wie Norbert Oellers mochte über diese ganzen Krisenszenarien förmlich der Kragen geplatzt sein, als er sie mit seinem Artikel über das Elend des Krisengeredes in der FAZ am 4. März 1987 einigermaßen emphatisch konterte; sicher aber ist, dass man diesen Text, von einigen Nuancen abgesehen, auch heute noch, im Abstand von über 30 Jahren, so abdrucken könnte, wie er seinerzeit erschienen ist. Er würde sich fast nahtlos in die Phalanx derjenigen einreihen lassen, die aktuell zur Krise der Germanistik Stellung beziehen. Welche Verschwendung an Ressourcen, welche Vergeudung von Kreativität und Potential!

Inzwischen ist daher nicht nur die Rede von der Krise der Germanistik, sondern auch von deren Belanglosigkeit regelrecht zu einem Topos geworden. Rede und Widerrede beleben das Geschäft und generieren zugleich Bedeutung und / oder tragen zu ihrer Stabilisierung bei. Darüber hinaus wird der Eindruck erweckt, man sei auf der Höhe der fachlichen Diskussion, man kümmere sich und beteilige sich an der erforderlichen Selbstreflexion des Faches. Deren unbedingte Notwendigkeit soll auch gar nicht in Frage gestellt werden. Ganz im Gegenteil! Wie produktiv sie sein und wie ergiebig sie ausfallen kann, dokumentiert der inzwischen legendäre Germanistentag in München 1966 und die dort geführte Diskussion zur Rolle der Germanistik in der NS-Zeit zur Genüge. Ohnehin kann und soll es hier nicht darum gehen, die Qualität des Faches in Zweifel zu ziehen. Um sich einen Eindruck von seiner aktuellen Leistungsstärke zu verschaffen, genügt bereits ein Blick auf die zahllosen Promotions-, Habilitations- und anderweitigen Bewerbungsverfahren, die sich insgesamt auf einem so hohen Niveau bewegen, dass Stefan Matuschek im Rahmen eines von der DVjs 2015 veranstalteten Sonderheftes Zur Lage der Literaturwissenschaft zumindest für seine Disziplin nicht umhin kam festzustellen: »Wie gut steht es um ein Fach, das solch einen Nachwuchs hat.« (Matuschek 2015: 494) Matuschek gab allerdings im gleichen Atemzug zu bedenken, dass eine solche Bestandsaufnahme eine Relativierung erfahre, wenn man sie von der Bewerberseite aus betrachte: »Die Auswahlverfahren sind hoch kompetitiv, ein für viele frustrierender Verdrängungswettbewerb. Er trägt zur Qualitätssicherung des Faches bei, aber nicht zur Lebensqualität der jüngeren Fachvertreter. Was für die Wissenschaft gut ist, kann schlecht für die Wissenschaftler sein«, so Matuschek (ebd.). Ob sich am Ende diese Bewerbungssituation nicht auch auf die Qualität des Faches oder doch zumindest auf sein Selbstverständnis mittelbar auswirkt, darauf wird später noch einmal kurz einzugehen sein. Die in Matuscheks Relativierung liegende Einschränkung sensibilisiert jedoch zunächst einmal nicht nur dafür, dass wir es bei genauerer Betrachtung des Falls mit Nutznießern, Verlierern und selbstgemachten Problemen zu tun haben, sondern ganz allgemein für die Frage, wie man, wenn von der Germanistik die Rede ist, über sie spricht, von welcher Germanistik überhaupt gesprochen wird und vor allem: wer über sie spricht. Denn bei allen Kontroversen im Detail oder in der konzeptionellen Ausrichtung gibt es bei den an deutschsprachigen Institutionen lehrenden und forschenden Kolleginnen und Kollegen, wie gesagt, keinen Zweifel darüber, dass es sich um ein im deutschsprachigen Fächerkanon hochrangig etabliertes Fach handelt, dessen Bestand nicht gefährdet ist, auch wenn angesichts der Krisenrhetorik sich ein anderer Eindruck aufdrängen kann oder möglicherweise sogar einstellen soll. Aber um sie sorgen müsse man sich erst einmal nicht. Wenn jenseits der deutschsprachigen Germanistik von Krise die Rede ist, stellt sich etwa für die Germanistiken in Nord- und Südeuropa, aber auch in den USA oder in Südamerika der Sachverhalt ganz anders dar – ein Sachverhalt, der übrigens auch für die Italianistik in Deutschland oder für die Skandinavistik in Spanien gilt. Der Abbauprozess (nicht nur) der europäischen Philologien ist übergreifend und spricht für sich, nur dass, worauf Konrad Ehlich hingewiesen hat, innerhalb der betroffenen Disziplinen diese Sprache bislang nicht oder kaum vernommen worden ist (vgl. Ehlich 2013: 114). Es wird höchste Zeit, dass sich daran etwas ändert.

2.

Im Kontext der hier angesprochenen Sensibilisierung für Fragen, die mit Blick auf die Germanistik thematisiert werden, ist eine etwas zu kurz gekommen, die ich aber nachfolgend in den Fokus der Auseinandersetzung rücken möchte, nämlich die, worüber, wenn von Germanistik die Rede ist, nicht oder kaum einmal gesprochen wird. Auf diese Frage gibt es keine einsinnige Antwort, und ich werde sie auch im Rahmen meines Vortrags nicht erschöpfend behandeln können,2 zumal sie, wie mir scheint, mit der Frage danach, wer wie von welcher Germanistik spricht, eng und mehrfach verwoben ist. Die Akzentsetzung, die ich vornehme und von der aus manches über die Germanistik hinaus in den Blick gerückt werden soll, orientiert sich an dem Forum, zu dem ich spreche und das sich, wie es spezifisch für die Gesellschaft für interkulturelle Germanistik ist, mehrheitlich aus Kolleginnen und Kollegen zusammensetzt, die nicht im deutschsprachigen Raum in der Germanistik forschen und lehren. Man könnte auch von den Nichtdazugehörigen oder Außenseitern sprechen, für die sich der Begriff der Auslandsgermanistik eingebürgert und an dem sich gerade in der jüngsten Zeit – und m.E. vollkommen zu Recht – so manche Kontroverse entzündet hat. Dass das Wort vom Außenseiter durchaus seine Berechtigung hat, ist eine Behauptung, die ich nicht einfach in den Raum stellen möchte, sondern mit der ich mich auf eine Äußerung von Eva Geulen beziehe, die sich damit von der auch in dieser Hinsicht geradezu beschämenden aktuellen Diskussion zur Krise der Germanistik wohltuend abhebt. Eva Geulen schreibt in ihrem Blog: »Zur bitteren Ironie der Attacken auf den bösen Buben der Germanistik als Nationalphilologie gehört ihre Blindheit für die Situation unserer Kolleginnen und Kollegen der sogenannten Auslandsgermanistik, ohne die wir ein gutes Stück ärmer wären.« (Geulen 2017) In der Tat ist dieser Umstand bitter, und vielleicht ist er sogar mehr als bitter insofern, als die Blindheit erstens nicht vom Himmel gefallen, sondern ein fester Bestandteil der Wahrnehmungspraxis ist, und zweitens nicht nur diejenigen, die die Diskussion regelmäßig vom Zaun brechen, also die Repräsentanten der Medienöffentlichkeit, sondern auch die inlandsgermanistischen Kollegien von ihr betroffen sind. Und diese Blindheit bezieht sich zum einen auf die fachlichen Leistungen der Kolleginnen und Kollegen und zum anderen auf die institutionelle Situation an den nichtdeutschsprachigen Universitäten. Man wende nicht ein, dass es doch die eine oder andere Kooperation, die eine oder andere bi- oder multinationale Partnerschaft in die eine oder andere Richtung gebe und man sehr wohl und nachweislich von einem wechselseitigen Interesse ausgehen könne. Das ist zugestanden, und die Bemühungen auf diesen Ebenen sollen im Einzelnen hier auch nicht kleingeredet oder bagatellisiert werden. Es geht vielmehr um das Symptomatische einer Wahrnehmungs- und Diskurspraxis, die, ob nun intendiert oder nicht intendiert, das sei zunächst einmal dahingestellt, verschleiert und hinter der sich spezifische Mechanismen mit nicht zu unterschätzenden Implikationen und fallweise weitreichenden Konsequenzen im Feld der Germanistik verbergen. In Bezug auf die fachliche Seite beziehe ich mich u.a. auf die Untersuchung zu einer Rundfrage der durch die Universität Siegen herausgegebenen Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik aus dem Jahre 2013, deren Antworten anlässlich des vierzigjährigen Bestehens der Zeitschrift in einem Jubiläumsheft unter dem Titel Turn, Turn, Turn? Oder: Braucht die Germanistik eine germanistische Wende im Dezember 2013 veröffentlicht wurden (vgl. Heimböckel 2015). Bezeichnend für die Umfrage ist die Verteilung nach den Herkunftsländern. Denn von den 43 Kolleginnen und Kollegen gehören 38 deutschsprachigen Universitäten an, während fünf aus nichtdeutschsprachigen Ländern stammen: aus China, Slowenien, Spanien, aus der Türkei und den USA. Das mag eine Zufallskonstellation sein, aber das Verhältnis sagt etwas darüber aus, wer, wenn von der Germanistik die Rede ist, über sie spricht bzw. dazu eingeladen wird, über sie zu sprechen. Denn was Germanistik ist, bestimmt grosso modo die sog. Inlandsgermanistik, zu der sich – auch im Fall der angesprochenen Umfrage – die sog. Auslandsgermanistik allenfalls wie ein Appendix verhält. Es sei interessant zu sehen, heißt es in dem Umfrage-Resümee explizit und bezeichnenderweise, dass Auslandsgermanistinnen und -germanisten die in den Stellungnahmen diskutierten Fragen noch einmal anders beurteilen würden (vgl. Bleumer u.a.: 194). Was es bedeutet, wenn ein Auslandsgermanist als interessant wahrgenommen wird, hat Todd Kontje von der Universität San Diego in seiner – ironisch überspitzten – Einleitung zu seinem Beitrag Eulen nach Athen? Impulse der ›Auslandsgermanistik‹ in einer deutschen Wissenschaft aus dem Jahre 2011 auf den Punkt gebracht:

Als so genannter ›Auslandsgermanist‹ ist man es gewohnt, von der deutschen Germanistik nicht ernst genommen zu werden. […] Falls man es wagt, selber etwas über deutsche Literatur zu veröffentlichen, weiß man schon im Voraus, dass es vielleicht von den Kollegen zu Hause eingesehen wird, aber dass es höchstwahrscheinlich in Deutschland nicht gelesen wird, vor allem wenn man nicht auf Deutsch schreibt. Dass es so etwas wie Auslandsgermanisten gibt – so stellt man sich die deutsche Ansicht vor –, ist vielleicht theoretisch interessant, aber es bleibt letztendlich ein kurioses Randphänomen, worauf man auch verzichten kann. (Kontje 2011: 31)

Dass die Germanistiken aus dem nichtdeutschsprachigen Raum nicht nur Kärrnerarbeit im Bereich der Sprach-, Literatur- und Kulturvermittlung betreiben, sondern hier auch hochkompetente und anschlussfähige bzw. innovative Forschung geleistet wird, die obendrein ihre immer schon vergleichende Kompetenz in den Fachkontext einzubringen vermag, wird allzu häufig nicht zur Kenntnis genommen. Diese Tendenz wird zweifelsohne durch die unsägliche Unterscheidung zwischen In- und Auslandsgermanistik begünstigt. Bei dieser Unterscheidung wird der vorzugsweise auch Binnengermanistik genannten Inlandsgermanistik die Bedeutung zugeschrieben, über die intimeren Kenntnisse, d.h. über die Eigenschaft einer Mutterdisziplin, zu verfügen, an deren Nabelschnur sich die nachgeborene oder Nachwuchs-Disziplin nährt. Das scheint für eine innige Beziehung zu sprechen, wodurch die Auslandsgermanistik aber de facto zu einer Germanistik zweiter Klasse degradiert wird. Mit dem ungebrochenen Fortwesen dieser Unterscheidung wird aber nicht nur eine Privilegierung der deutschsprachigen Germanistik aufrechterhalten, was schon problematisch genug ist, sie ist auch ein wesentlicher Grund dafür, warum sie geradezu hypochondrisch über ihre Krise spricht und die wirkliche Krise jenseits ihres nationalen Bezugsrahmens fast teilnahmslos verfolgt. Ungeachtet anderslautender Stimmen, ungeachtet des vollmundig formulierten Anspruchs, die Germanistik zu internationalisieren und sie in einen multilateralen Kontext zu stellen, wird in ihr und um sie herum immer noch nationalphilologisch gedacht. Englischsprachige Ausgaben der DVjs ändern ebenso wenig etwas daran wie international organisierte Tagungen mit 15 Teilnehmern aus 16 Ländern. Dass es umgekehrt, angesichts einer solchen Vereinseitigung, seit den 1980er Jahren, worauf Jürgen Fohrmann hingewiesen hat, zu Absetzbewegungen in der internationalen Germanistik als Antwort auf die deutsche Germanistik gekommen ist (dies gelte u.a. für die USA, aber auch für Indien oder Japan), muss daher nicht verwundern und soll in diesem Zusammenhang aus Gründen der argumentativen Ausbalancierung auch nicht unerwähnt bleiben (vgl. Fohrmann 2013: 6). Darin hat man jedenfalls einen weiteren Grund zu sehen, warum es »eher selten oder nicht zu einem globalen Bezugsrahmen des Fachs« komme (ebd.: 7). Fohrmann sieht daher die Krise nicht so sehr als eine des Faches und seiner Gegenstände, als vielmehr als Krise des Bezugsrahmens; und in der Tat ist es dieser Bezugsrahmen, über den gesprochen werden muss – allerdings nicht im Modus der Krise, sondern in Bezug auf seine konsequente Nichtbeachtung und Unterwanderung sowie auf die, wie ich finde, fatalen Konsequenzen in institutioneller Hinsicht.

Gemeint ist damit zum einen die Ebene der grenzüberschreitenden Kooperation. Auch in diesem Fall gibt es positive Beispiele, keine Frage, und je exzellenter die Hand ist, die ausgestreckt wird, desto freudiger nimmt man sie in Empfang. Aber Exzellenz ist ein Markenzeichen, mit dem sich nur die Happy Few schmücken können. Diejenigen, die nicht dazu gehören, leisten in der Regel zwar auch exzellente Arbeit, sie verfügen aber nicht über das Renommee, den Standortvorteil, das Geld oder was auch immer die Faktoren sein mögen, die die Reputation und damit die Bereitschaft für eine Zusammenarbeit oder zumindest für ein offenes Ohr begünstigen. So gehört ebenfalls zur bitteren Ironie, dass sich, wie im ersten Heft der diesjährigen Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes ausdrücklich »mit Betroffenheit« zur Kenntnis genommen wurde, »die europäischen Germanistenverbände eine stärkere Unterstützung seitens der deutschsprachigen Länder« zwar wünschten, dass aber »wichtige Anreize zum Dialog über die Zukunft der Germanistik seitens der deutschsprachigen GermanistInnen nicht aufgegriffen worden seien« (Kennedy / Miedema 2017: 2). Und es grenzt vermutlich nicht an Kühnheit, wenn man davon ausgeht, dass Kolleginnen und Kollegen in den nichteuropäischen Germanistiken von ähnlichen Erfahrungen berichten können. Offensichtlich ist der Wunsch von Karl Robert Mandelkow, den er 2001 mit Blick auf die deutschsprachige Literaturwissenschaft formulierte, als er für sie das Deutungsmonopol der deutschen Literatur in Frage stellte und dazu aufforderte, es mit denen zu teilen, »die man oft noch immer diffamierend Auslandsgermanisten nennt« (Mandelkow 2001: 369), bis heute ein frommer Wunsch geblieben. Und nicht nur das: Über solche Fragen hinaus, die für das Fach von inhaltlichem Belang sind, geht mit der mangelnden Bereitschaft zum Gespräch auch die Nichtbeachtung der Probleme einher, mit denen die Kolleginnen und Kollegen vor Ort zu kämpfen haben. Der Wunsch nach einem Dialog wird ja am Ende durch die vermutlich nicht immer explizit geäußerte Hoffnung genährt, der zum Teil fortschreitenden Erosion in ihrem Fach durch die inlandsgermanistische Unterstützung entgegenwirken oder zumindest durch Fürsprache eine Stärkung der eigenen Position befördern zu können. Denn die Realität sieht doch so aus: Während man sich in Deutschland vor Studierenden der Germanistik in der Regel kaum retten kann, die Veranstaltungen fallweise aus allen Nähten platzen, der wissenschaftliche Nachwuchs in der Breite und Qualität ein Niveau erreicht hat wie niemals zuvor in der Geschichte des Faches und der publizistische Output neue Höhen erklimmt, gehen andernorts summa summarum (natürlich auch hier Ausnahmen eingerechnet) massiv die Studierendenzahlen zurück und werden ganze germanistische Abteilungen geschlossen. Im westlichen Nachbarland Frankreich verkümmert die Germanistik zu einem Orchideenfach (vgl. Kleie 2017), und im nördlichen Nachbarland Dänemark liegt die deutsche Sprache faktisch im Sterben (vgl. Colliander 2017). Wohl dem, der eine Krise hat und sie daran festmacht, dass nicht alle Germanistinnen und Germanisten so schreiben wie Richard David Precht.

Aber es ist nicht die Zeit für Ironie oder Sarkasmus. Die Lage ist ernst, sehr ernst sogar. Darüber kann auch die in vielen Ländern gestiegene Zahl an Deutschlernenden nicht hinwegtäuschen. Denn erstens sind Spracherwerb und akademische Fachkompetenz getrennt voneinander zu betrachten, und zweitens ist der Anstieg der Zahl ebenso wie seinerzeit die Nachfrage nach Spanisch ein konjunkturelles Phänomen und daher ohne strukturell nachhaltige Relevanz. In dem Moment, in dem Deutschland seine ökonomische Vormachtstellung einbüßen wird, in dem Moment wird, für diese Prognose bedarf es keines profunden wirtschaftlichen Sachverstandes, auch die Nachfrage nach Deutsch unausweichlich sinken. Diesen Ernst der Lage sieht die deutschsprachige Germanistik (und in abgewandelter Form auch ihre Kritikerinnen und Kritiker) im Großen und Ganzen nicht. Sie sieht ihn nicht aus Befangenheit, sie sieht ihn nicht, weil sie Nabelschau betreibt, sie sieht ihn nicht, weil sie, wenn man an den Nachwuchs denkt, im aufreibenden Bewerbungswettbewerb den Fokus allein auf ihr Fortkommen richtet, oder weil sie sich einfach nicht dafür interessiert. In dieses Szenario fügen sich die Rede über die Krise ebenso wie die Legitimationsrituale zu ihrer Entgegnung ein. Dabei folgt die Rede von der Krise u.a. einer mehr oder weniger durchschaubaren Strategie der Legitimation und Besitzstandswahrung gegenüber Politik und Zivilgesellschaft, die das Angebot immer wieder strukturell in den Blick nehmen, um es zu sichern, zu korrigieren, auszubauen bzw. zu begrenzen und auch auf seine langfristige Wirksamkeit hin zu untersuchen. In diesen Zusammenhang möchte ich meine nachfolgenden Ausführungen stellen, um das Problem über die Germanistik hinaus auch für Aspekte zu öffnen, die sowohl von interkultureller Relevanz als auch für die Geisteswissenschaften und ihren Krisendiskurs von Belang sind.

3.

Bleiben wir zunächst noch einmal bei dem Bezugsrahmen, über den zu sprechen ich mir vorgenommen habe und dem ich mich nunmehr intensiver widmen möchte. Denn ich möchte mich gegen den möglichen Vorwurf wappnen, am Ende doch nur sub specie der Germanistik gesprochen zu haben. Sowenig ich meine Subjektivität hintergehen kann, sowenig kann ich zugegebenermaßen meine fachliche Herkunft verleugnen. Und das ist auch gar nicht mein Ziel. Aber als Germanist arbeite und argumentiere ich philologisch, nicht national – zumal als Lehrender an der Universität Luxemburg mit einem Schwerpunkt in Literatur und Interkulturalität. Vielleicht muss man nicht so weit gehen wie Nicolas Pethes, der unter Anspielung auf Bruno Latour verkündet hat, dass wir im Grunde nie Germanistinnen und Germanisten gewesen seien (vgl. Pethes 2013). Sicherlich aber waren wir es nie nur, erst recht nicht die Gründungsväter, die mit ihrer vergleichenden Perspektive eher einer Praxis nahestanden, wie sie in der Komparatistik gepflegt wird und die für Kolleginnen und Kollegen, die nicht an deutschsprachigen Universitäten arbeiten, heute häufig selbstverständlich ist. Dabei kann es nicht darum gehen, den Blick von den kulturellen Archiven und ihren nationalen Genesen gänzlich abzuwenden und, für die Literaturwissenschaft gesprochen, die deutschen, englischen, französischen, italienischen usw. Werke ausschließlich als literarische Belege allgemeiner Prinzipien von Wortkunst, Poetizität, Textualität, Intertextualität usw. zu verstehen (vgl. Fohrmann 2013: 10). Das wäre eine Verengung, an der gerade einer interkulturell ausgerichteten Germanistik nicht gelegen sein kann. Setzen wir aber voraus, dass es nicht nur eine Germanistik gibt und schon gar nicht von der Germanistik als deutscher Wissenschaft die Rede sein sollte, so kann es nicht gleichgültig lassen, was an anderen Orten mit ihr und jenseits von ihr passiert. Zumal dann nicht, wenn man mit Konrad Ehlichs Vorschlag einer Transnationalisierung der Philologien im Allgemeinen und der Germanistik im Speziellen sympathisiert (vgl. Ehlich 2013: 114) und in Erich Auerbachs Diktum, dass unsere philologische Heimat nicht die Nation, sondern die Erde sei (vgl. Auerbach 1992: 96), eine bedeutende und immer noch nicht angemessen reflektierte Orientierungsgröße sieht. Es kann u.a. nicht gleichgültig lassen, worüber in den letzten Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes mit Blick auf die Forschungs- und Ausbildungsperspektiven in Europa Auskunft gegeben wurde (vgl. Miedema 2017) und wie im internationalen Handbuch Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, in einem ungleich größeren, weil weltumspannenden Rahmen, die Bestandsaufnahme für Deutsch an Schulen und Hochschulen in nichtdeutschsprachigen Ländern ausgefallen ist (vgl. Krumm u.a. 2010). Es kann aber aus vergleichbaren Gründen auch nicht gleichgültig lassen, wie hochtourig inzwischen, vom Englischen und seinen Ablegern natürlich einmal abgesehen, der allgemeine Abbauprozess der Philologien insgesamt erfolgt. Dass die Wahrnehmung hierbei immer noch nationalen Erwägungen ausgesetzt ist, bezeugt der weithin vernehmbare Aufschrei, mit dem man hierzulande auf die Eindampfung des Deutschunterrichts an französischen Schulen reagierte, während beispielsweise die gleichzeitige Schließung der Romanistik an der Universität Aachen, in unmittelbarer Nachbarschaft also zu Wallonien, bis auf regionale Proteste und den Widerstand der Betroffenen vergleichsweise geräuschlos vonstattenging. Und während die italienische Germanistik händeringend (wenn auch mit großem Engagement) u.a. deswegen nach gleichgesinnten Partnern im Mittelmeerraum sucht, weil die Dozierendenstellen in dem Fach und in entsprechender Weise auch die Mittelzuweisungen signifikant rückläufig sind, sind in Deutschland die ohnehin knapp bemessenen Lehrstühle und Stellen in der Italianistik nach und nach gestrichen worden bzw. nach wie vor von Streichungen bedroht. Man stelle sich vor, die Philologien würden allmählich abgeschafft werden und keine / r bekäme es mit?

Aber daran ist ja, wie suggeriert wird, nicht zu denken. Der deutschen Germanistik geht es ausgesprochen gut, und in der französischen bzw. kanadischen Galloromanistik sowie in der portugiesischen bzw. brasilianischen Lusitanistik dürfte es ähnlich sein. Fragt sich nur, wie lange noch. Offensichtlich lange genug, um davon auszugehen, dass der aktuelle Schnupfen, wie es in dem Rundfunkbeitrag Steckt die Germanistik in der Krise? (O.A. 2017) ausdrücklich heißt, durch Sinnerzeugung, Begeisterung und einen Dialog mit der spezialisierten Öffentlichkeit relativ rasch kuriert werden könne. Wer in rehabilitationsmedizinischen Zyklen denkt, erhofft sich durch eine größere fachliche Beweglichkeit, durch die Annäherung der Teilfächer, durch die Einhegung der massiven Ausdifferenzierung oder durch die Schrumpfung des Faches eine nachhaltigere Rekonvaleszenz des Patienten. Wenn da nur nicht die Studierenden wären, deren Schwächen man nicht verschweigen dürfe, auf deren Ausbildung und Sozialisation man sich allerdings einstellen müsse. Kaum ein Wort drüber, welche bildungspolitischen und ökonomischen Voraussetzungen zur Erzeugung dieser Schwächen beigetragen haben, wie man willfährig universitätsfremde bzw. unerprobte Ansätze übernommen hat, ohne sie noch weiter zur Diskussion zu stellen, und wie man durch Strukturen, in denen man arbeitet bzw. die man bedient, an der Perpetuierung dieser Schwächen mitgewirkt hat und auch in Zukunft weiterhin mitwirken wird. Was sich auf diese Weise einstellt, ist ein doppeltes Dilemma: Erstens redet man, wenn man über die Krise der Germanistik redet, durchweg über solche Dinge hinweg, die von fachlicher und politischer Brisanz sind, und zweitens werden Argumentationsmuster bemüht, die durch ihre gleichsam gebetsmühlenartige Wiederholung die Krise einerseits trivialisieren, mit denen sie aber andererseits, wie bei einem Ritual, förmlich internalisiert wird. Dadurch kommt es, wie es Elisabeth von Erdmann in Bezug auf die nicht minder heftig geführte Diskussion um die Krise der Geisteswissenschaften formuliert hat, dazu, dass man die Funktionalisierung und den Selbstbestimmungsverlust der geisteswissenschaftlichen Diskurse akzeptiere und aufgedrängte Vorstellungen übernehme, wobei man auf diese Weise hoffe, den Geisteswissenschaften wieder einen Platz in der Gesellschaft zu verschaffen, ohne freilich zu sehen, dass das bei den vorgegebenen Werten nur ein nachgeordneter Platz sein könne (vgl. Erdmann 2007: 184). Die andere Seite des Krisendiskurses ist – und das gilt sowohl für die Geisteswissenschaften im Allgemeinen als auch für die Germanistik im Besonderen –, dass man solchermaßen in eine Tretmühle der Rechtfertigung gerät und dabei regelmäßig Allgemeinplätze wie die von Interdisziplinarität, Internationalität, Dynamik und Vielfalt abruft (vgl. Lamping 2015: XXIX) oder (infolge der ›systematischen Kränkung‹, um mit Jochen Hörisch [vgl. 2007] zu sprechen) sich dazu gedrängt fühlt, Fragen nach dem Nutzen und den Leistungen des Faches bzw. der Wissenschaften zu beantworten, die man selbst nicht gestellt hat. Und weil man fallweise meint, diesen Fragen, die man nicht gestellt hat, nicht gewachsen zu sein oder man ihrer Beantwortung ein größeres Gewicht, mehr Beachtung und Bedeutung beimessen möchte, wendet man sich an ausgewiesene Expertinnen und Experten oder Koryphäen mit einem bestimmten Ruf, an solche Leute, die es schon immer besser als andere wussten und daher immer wieder konsultiert werden und die sich, nebenbei bemerkt, auch gerne konsultieren lassen oder unaufgefordert selbst zu Wort melden; solche Leute, die man in Insider-Kreisen mitunter ›big shots‹ nennt, weil ihnen das Vermögen zugesprochen wird, zu treffen bzw. treffender als andere zu formulieren. Ob zum Nutzen und Wohlergehen der jeweiligen Disziplin oder Wissenschaft, das will ich erst einmal nicht beurteilen. Jedenfalls ist dieses Vorgehen Bestandteil eines inzwischen eingeschliffenen Vorgehens, über das sich – ablesbar an den entsprechenden Wortmeldungen in wissenschaftlichen Organen, Tagungs- und Sammelbänden sowie Artikeln und Interviews in den Medien – Deutungsmonopole herausbilden, die den Reaktionsmodus auf Krisenanwürfe und Legitimationszwänge prägen. Man könnte natürlich sagen, dass gegen solche Beiträge, die ein gewisses Engagement und Interesse an der Fach- und Wissenschaftsentwicklung bezeugen, erst einmal nichts einzuwenden sei, und ihr Wert soll hier pauschal auch gar nicht in Abrede gestellt werden. Aber wenn sie die Ursache-Wirkung-Logik nicht durchbrechen, mit der für die Krise diejenigen zur Verantwortung gezogen werden, die sie cum grano salis nicht ausgelöst haben, und wenn auf die Legitimationszwänge nicht mit intellektueller Distanz, sondern gleichsam mit deren Verinnerlichung reagiert wird, indem man sie fast widerstandslos zur eigenen Sache macht, dann ist Einspruch geboten. Und dieser Einspruch ist allgemeiner wie grundsätzlicher Art: Der Einspruch richtet sich, bezogen auf die Geisteswissenschaften, gegen die Einrede einer Krankheit und deren Hypochondrie. Die Patientin liegt weder im Sterben, noch sollte man Anstalten treffen, sie in Würde abtreten zu lassen (vgl. dagegen Gumbrecht 2013). Schluss mit nutzlos hat es vor zehn Jahren Harald Welzer (2007) sowohl im energischen Widerspruch zu den geisteswissenschaftlichen Totengräberinnen und Totengräbern als auch in Abgrenzung zu einem Wort von Joachim Ritter formuliert, für den das Nutzlose der Geisteswissenschaften zu ihrer intrinsischen Qualität gehört hatte (vgl. Ritter 1961). Ich möchte Ritters Auffassung nicht wiederbeleben, aber danach fragen, auch wenn es auf den ersten Blick banal klingen mag, ob eine Wissenschaft, die den Menschen, seine Leistungen und Irrwege, ins Zentrum der Auseinandersetzung stellt, tatsächlich einer Legitimation bedarf? Und wenn es ihrer bedarf, wäre danach zu fragen, wer ein Interesse daran haben bzw. es wünschen könnte, dass es zu ihrer Delegitimierung kommen möge? Man sollte vielleicht einmal ein Experiment wagen, für das sich Hartmut Böhme (vgl. 2002) ausgesprochen hat, als er für einen Generalstreik der Geisteswissenschaften plädierte, und zwar gerade deshalb, weil »mit einem Schlag die kommunikativ-symbolische Reproduktion der Gesellschaft kollabieren« würde und unmittelbar nachvollziehbar und fühlbar wäre, bis in welche Bereiche und Verästelungen hinein wir unter ihrem Einfluss stehen. Aber für die Initiierung eines solchen Experiments müsste es zu einer Solidarisierung kommen, für die es aktuell leider kaum Anzeichen gibt. Zumindest lehrt der Blick auf die Germanistik, dass Anstalten dieser Art eher nicht ins Kalkül gezogen werden. Stattdessen lässt man sich in der deutschen Germanistik Krisen einreden, die keine sind, und verliert Krisen und sogar Notsituationen aus den Augen, von denen auch sie, vielleicht früher, als ihr lieb ist, betroffen sein könnte. Erst kürzlich, angesichts der aktuellen Krisen-Diskussion, wurde vorgeschlagen, die Geschichte der Germanistik-Schelte zu einem Thema für eine germanistische Abschlussarbeit zu machen (vgl. Anz 2017). Das dürfte in der Tat eine lohnende Arbeit sein, um einerseits die in dem Argumentations-Pingpong liegende Monotonie des Diskurses zu entlarven und um andererseits mit den Mitteln, die den Philologien u.a. zu Gebote stehen, die mit dem Krisengerede einhergehenden Strategien und die den Legitimationsritualen immanenten Argumentationsmuster aufzudecken. Das wäre ein Beitrag zur fachlichen Selbstaufklärung, wie man sie von uns fordert, und es wäre ein Beitrag zur gesellschaftlichen Selbstaufklärung, weswegen man die Geisteswissenschaften mitunter fürchtet. Bis dahin (wenn das Projekt inzwischen nicht schon in Angriff genommen worden ist) gibt es entweder die Möglichkeit abzuwarten, bis die nächste Krisen-Rakete gezündet wird, um mich dann, weil urplötzlich die Diskussion eine ganz andere Wendung genommen hat, ggf. eines Besseren zu belehren; oder es gibt die Möglichkeit, mehr Aufmerksamkeit zu entwickeln und dem Beispiel Stéphane Hessels (vgl. 2011) zu folgen und sich zu empören: Aufmerksamkeit u.a. in Bezug auf die unschätzbaren Leistungen der Kolleginnen und Kollegen, die an nichtdeutschsprachigen Universitäten arbeiten, und auf ihre zum Teil prekären Verhältnisse, unter denen sie tätig sind; und Empörung über die Leichtfertigkeit, mit der man den nichtnationalen Philologien sukzessive den Garaus zu machen sucht. Vielleicht ist es an der Zeit, für ein philologisches Manifest zu werben, zumindest aber mehr Solidarität einzufordern, statt die Meinungsführerschaft weiterhin in den Händen einiger weniger zu wünschen.

Anmerkungen

1 | Wenn an dieser Stelle vom vorläufig letzten Beitrag zu der von Doerry ausgelösten Kontroverse die Rede ist, so sind damit konkrete Stellungnahmen in Presse, Rundfunk und Internet gemeint. Als Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung war und ist sie nach wie vor präsent, so u.a. auf der internationalen Tagung Germanistik – eine interkulturelle Wissenschaft?, die vom 29.11. bis 1.12.2018 an der Universität Aix-Marseille stattfand, oder im Rahmen einer Publikation, die sich dem Thema Literaturwissenschaften in der Krise widmet (Heise-von der Lippe / West-Pavlov 2018).

2 | Zur Dokumentation des Publikumsbezugs folgt der an einigen Stellen modifizierte und bibliografisch aktualisierte Beitrag im Wesentlichen dem Text meines Plenarvortrags im Rahmen der Flensburger GiG-Tagung Europa im Übergang. Interkulturelle Transferprozesse – Internationale Deutungshorizonte. Zur Reaktion auf den Vortrag vgl. Niewel 2017 und Lorenz 2018: 275.

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