Flucht und Exil

Die Quantentheorie und die Poetisierung transgenerationaler Gedankenwelten in Ulrike Draesners Sieben Sprünge vom Rand der Welt1

Dina Aboul Fotouh Hussein Salama2

Abstract

Ulrike Draesner, a prize-winning writer of novels, short stories, critical essays and poetry, and one of the most popular authors in contemporary Germany today focuses in her novel Sieben Sprünge vom Rand der Welt (2004; Seven Leaps from the Edge of the World) on various themes: flight and displacement, memory and neuroscience. The aim of this study is based on the hypothesis that Ulrike Draesner used Quantum theory as a narrative »to express what could not be expressed«: the transgenerational trauma transmission caused by the forced migration and displacement of families through the second world war, who had to leave their homes in Breslau; an experience that still affects the physical, and psychological state, lives and minds of the following generations. Based on an interdisciplinary perspective this study considers elements of quantum mechanics, like »Superposition«, »quantum teleportation«, »wave particle duality«, »cat state«, »the paradox« and »intervention« by observation and measurement as a poetic strategy for »cascading memories« especially traumatic memories as a poetic narrative for telling transgenerational trauma transmission through the perspectives and polyphony of the family members of four generations.

Title:

Quantum Theory as a Poetic Expression for Transgenerational Trauma Transmission in Ulrike Draesner’s Novel Sieben Sprünge vom Rand der Welt

Keywords:

Ulrike Draesner (* 1962); Sieben Sprünge vom Rand der Welt; transgenerational trauma transmission; quantum teleportation; superposition

In einem Gespräch mit Jan Wagner beschreibt die mehrfach preisgekrönte Poeta docta Ulrike Draesner, wie das »Erinnern« bei ihr funktioniert: »Also gut, blicke ich zurück, doch springend, sozusagen als Probe auf mein Gedächtnis, es wird sich (doch) gemerkt haben, was wichtig war … Ich stelle fest: Es hat sich Gefühle gemerkt – die inneren Gefühle« (Draesner / Wagner 2014: 4). Mit dieser Antwort werden zwei wichtige Aspekte reflektiert, die wesentlich sind für die spezielle Poetik des Gedächtnisses und der Narration seiner Erinnerungen bei Ulrike Draesner, wie sie in ihrem Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt3 (2014) zum Ausdruck kommen: der selektive Blick und der Sprung. Es ist das sprunghafte Zurückblicken, ein Erinnern »immer nur in Stücken« (S 323), das sich zugleich je nach Wichtigkeit und Gefühlsintensität für das Innere arrangiert und sich ins Bewusstsein vordrängt.

Im Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt, an dem Draesner ungefähr zehn Jahre gearbeitet hat, werden auf 555 Seiten mehrere Diskurse behandelt, die vor allem mit zwei Hauptkomplexen verflochten sind: Flucht und Vertreibung und das Thema der transgenerationalen Trauma-Übertragung4.

Ziel dieses Beitrags ist aufzuspüren, wie die transgenerationalen posttraumatischen Gedankenwelten in den Sieben Sprüngen ästhetisch zum Ausdruck kommen. Es geht hier vor allem darum, die literarischen Mittel und Mechanismen der transgenerationalen Trauma-Übertragung auf der poetischen Darstellungsebene nachzuzeichnen. Hierbei möchte ich behaupten, so meine These, dass Ulrike Draesner ein poetisches Konzept entwickelt, dessen kognitionsnarratologische Mechanismen und Strukturen analog zur Quantentheorie als Quantenpoesie gelesen werden können.

Im Roman wird die Erfahrung von Flucht und Vertreibung als Kollektiverfahrung europäischer Geschichte gelesen, die sich als Geschichtstrauma in die Gedankenwelten seiner Figuren gleich einem Engramm, einem Erinnerungsbild, eingraviert hat. Die Sieben Sprünge, von Literaturkritikern meist als ›Panorama-‹, als Familien- bzw. Generationenroman bezeichnet, entfalten über den Sprung in die Seelen der aus Schlesien vertriebenen Familien aus vier Generationen die traumatischen Erinnerungen an die Flucht und die Vertreibung aus Breslau in Richtung Westen infolge der Grenzverschiebung Polens. Diese Rückblicke kreuzen sich spiegelbildlich mit der Zwangsumsiedlung polnischer Familien nach Westen und dem Einzug in die noch warmen Häuser ihrer deutschen »Vorwohner« (ebd.: 453), »die unsichtbaren Menschen in meinem Haus« (ebd.: 417), wie sie von Halka bzw. Halina (Boris Nienaltowskis Mutter) genannt werden. Mit der Westverschiebung der Polen, die ihrerseits den Sowjets hatten weichen müssen, hatte man den Breslauern nicht nur ihre Heimat Schlesien als Raum – »das zerbombte Breslau« (ebd.: 455) –, sondern auch »die Zeit zerbombt« (ebd.: 446).

Der Definition Aleida Assmanns (vgl. 2008: 192) nach bezieht sich das Trauma auf ein schmerzhaftes lebensbedrohendes Erlebnis, vor dem sich die Wahrnehmung als Selbstschutzmechanismus verschließt. Dieser vom Bewusstsein abgespaltene und eingekapselte Vorfall kann später nur schwer erinnert und erzählt werden. Nicht vergessen, aber verdrängt, macht sich diese traumatisch erfahrene Begebenheit in der Folge durch eine bestimmte Symptomatik bemerkbar. Eine weitere Eigenschaft historischer Traumata offenbart sich in ihrer Nachträglichkeit (vgl. Margalit 2003; Caruth 1996; Freud 1969); was bedeutet, dass sie von einer Generation zur anderen unbewusst in Form psychischer Störungen weitergeleitet werden. Erst durch die Therapie, in der das abgespaltene Trauma in bewusste Erinnerung transformiert und mit der Identität vermittelt wird, kann, so Assmann, die destruktive Kraft des traumatischen Zustands entschärft werden. Das verschwiegene, aber dennoch von den Eltern auf deren Kinder übertragene transgenerationale Trauma bezeichnet Nicolas Abraham (vgl. 1991: 692) als Lücke oder Leerstelle im Wissen der Nachgeneration, als Krypta, aber auch als memoria negativa (vgl. ebd.: 689f.).

1. Quantentheorie als poetische Strategie

Fragt man nun nach den poetischen Strategien, mit denen sich der Bezug zwischen den Sieben Sprüngen und der Quantentheorie herstellen lässt, so bedarf es eines kurzen Einblicks in die Quantensphysik. Der allgemeinen Definition nach stellen Quanten kleinste Portionen der uns umgebenden Wirklichkeit dar. Mit Quanten werden nicht klassische Teilchen, sondern Zustände bezeichnet. Der Quantensprung bezeichnet den Übergang zwischen zwei Werten bzw. Zuständen einer physikalischen Größe im atomaren Bereich. Typisch für den Quantensprung ist, dass er winzig ist und in sehr kurzer Zeit abläuft.5 Kernaussage der Quantenphysik ist der Dualismus von Teilchen und Welle. Das bedeutet: Was in der klassischen Physik als Teilchen angesehen wurde (z.B. Elektronen), zeigt in manchen Situationen auch Welleneigenschaften (z.B. Photonen).

Ein weiterer wichtiger Aspekt in der Quantentheorie ist das ›Paradoxon‹. Anhand des sog. Spaltenbeispiels wurde erklärt, dass streng gegensätzliche Aussagen gleichzeitig bestehen können. Mit dieser Quantenlogik, nach der es auch Zwischenwerte, Zwischenstationen zwischen richtig und falsch geben kann, wurde das Paradoxon in die Quantenphysik integriert – was bisher in der klassischen Logik nicht möglich war. Zur Veranschaulichung dieses Paradoxons unternahm Erwin Schrödinger (1887-1961) ein Gedankenexperiment, bekannt als ›Schrödingers Katze‹ (vgl. Schrödinger 1935):

Das Paradoxon besteht darin, dass eine Katze mit den Regeln der Quantenmechanik in einen Zustand gebracht werden könnte, in dem sie gleichzeitig ›lebendig‹ und ›tot‹ ist, und in diesem Zustand der Superposition verbleibt, bis die Experimentieranordnung untersucht wird. Die gleichzeitig tote und lebendige Katze würde erst dann eindeutig auf ›lebendig‹ oder ›tot‹ festgelegt, wenn man sie beobachtet und eine Messung durchführt. Im Unterschied zu makroskopischen Systemen erfolgt eine Veränderung durch die Beobachtung und bei der Messung.6

Zusammenfassend kann man sagen, dass das Paradoxon nach der Quantenmechanik darauf beruht, dass verschiedene Zustände eines Systems, das von der Wechselwirkung mit der Umgebung isoliert ist, durch ›Überlagerung‹ wieder einen möglichen und stabilen Zustand des Systems ergeben können. Ein solcher quantenmechanischer Zustand, in dem sich mehrere Einzelzustände überlagern und jeweils mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit präsent sind, wird auch als Zustand der ›Superposition‹ oder, in Anlehnung an das Gedankenexperiment, als Katzenzustand (cat-state) bezeichnet. In Analogie zur Quantenlogik ist das Bedürfnis nach einer Sprache aufgekommen, die an die Ganzheit einer Situation erinnert und sich auf wechselnde Beobachtungssituationen bezieht. Niels Bohr erschließt aus dieser Unmöglichkeit eine Beschreibungsweise, die die Trennung zwischen Objekt und Subjekt aufhebt und stattdessen das Kontinuum von überlagerten Prozessen mit den Strukturen der ›Komplementarität‹ erklärt (vgl. Graf 2013: 62f.):

Es handelt sich hier um allbekannte Eigentümlichkeiten des Gefühls- und Willenlebens, die sich gänzlich der Darstellung durch anschauliche Bilder entziehen. Insbesondere findet der scheinbare Gegensatz zwischen dem kontinuierlichen Fortschreiten des assoziativen Denkens und der Bewahrung der Einheit der Persönlichkeit eine eindrucksvolle Analogie in dem Verhältnis der von dem Superpositionsprinzip beherrschten Wellenbeschreibung des Verhaltens materieller Teilchen zu deren unzerstörbarer Individualität. Die unvermeidbare Beeinflussung der atomaren Erscheinungen durch deren Beobachtung entspricht hier der wohlbekannten Änderung der Färbung des psychischen Geschehens, welche jede Lenkung der Aufmerksamkeit auf ihre verschiedenen Elemente begleitet. (Bohr 1929: 486)

Ludwig Wittgensteins Bestreben, in seinem Tractatus logico-philosophicus (1921) das »Sagbare« vom »Nicht-Sagbaren« zu trennen (Wittgenstein 1963: 7), erinnert an die Bemühungen der Quantenphysiker, das Messbare vom Nichtmessbaren abzugrenzen und darin die Lösung des Beschreibungsproblems im Komplementaritätsprinzip zu finden. In ähnlicher Weise verortet Françoise Balibar einen Zusammenhang von Literatur und Quantenmechanik auf der sprachlichen Ebene:

Diese wenigen fragmentarischen Andeutungen lassen mich denken, daß die Wirkung, die der dem europäischen Bewußtsein durch die Quantentheorie auferlegte Paradigmenwechsel auf die Literatur gehabt haben mag, falls eine solche Wirkung überhaupt existiert, nicht in den angesprochenen Themen gesucht werden darf, sondern viel eher in einem eventuellen Wandel der narrativen Verfahren. Literatur und Wissenschaft haben gemein, daß beide auf Sprache angewiesen sind, und allgemeiner auf Repräsentation. Vernünftigerweise läßt sich annehmen, daß jene Krise der Repräsentation und die Unmöglichkeit, wie früher zu reden, die die Physiker erlebt haben, gleichermaßen die Literatur betroffen hat. (Balibar 2002: 47f.; Hervorh. D.S.)

Ulrike Draesner zeichnet sich, wie auch Durs Grünbein, dadurch aus, dass sie in ihrer Lyrik der 1990er Jahre naturwissenschaftliche Positionen mitaufgenommen hat. Insofern ist eine Vernetzung von Naturwissenschaft und Literatur, von Physik und Poetik eines ihrer wesentlichen Merkmale, häufig auch in der Prosa. Das Schreiben zwischen Poesie und Naturwissenschaft äußert sich in ihren Gedichten, die um den menschlichen Körper kreisen und ihn im Spannungsfeld von subjektiver Erfahrung einerseits und objektiver Vermessung durch die Wissenschaft andererseits verorten. An Körpertexten, aber auch am Textkörper können Folgen der Entwicklung der Biowissenschaften für unser Menschenbild abgelesen werden.7 Dazu äußert sich Draesner in ihren Bamberger Reden Zauber im Zoo wie folgt:

Über die Verflechtung von Körper und Sprache, die Knotenpunkte in diesem Netz, Metaphern und Idiome. Immer kommen wir irgendwo her. Werden rückgeführt, zerlegt, sollen klein und darin lesbar sein. Literatur aber, als Textum / Gewebtes, das sich über Haut und Kleid tragen lässt, setzt uns zusammen, anders, neu. Vom Zerlegen und Zusammensetzen, vom Herkommen möchte ich sprechen. (Draesner 2007: 9)

Im folgenden Abschnitt möchte ich nun zeigen, wie die Mechanismen der Quantenphysik – so meine Hypothese – für die Veranschaulichung des Phänomens der transgenerational trauma transmission als poetisches Narrationsprinzip des Romans, seiner Struktur, seiner Figurenkonstitution und -konstellation herangezogen werden. In ihrem Essay Atem, Puls und Bahn. Das Denken des Körpers im Zustand der Sprache (1999) bekennt sich Ulrike Draesner zu »Formen von Komplexität, die von Linearität und eingeführter Zweiwertlogik abweichen« (Draesner 1999: 63) und führt den Begriff des ›Bedeutungshofes‹ ein:

Zwar werden von Mathematikern, Philologen und Sprachphilosophen Wörter gern mit der Geradeaus-Lampe der Logik angestrahlt, doch immer wieder zeigt sich, dass sie so nicht funktionieren wollen. Wörter haben Höfe. Besser noch: sie halten Bedeutungs-Hof und schürzen ihre Röcke, in deren Falten Sinn(e) und Kombinationsmöglichkeiten rascheln. (Draesner 2007: 59)8

In den Sieben Sprüngen finden sich Abwandlungen von ›deuten‹, ›deuteln‹, ›turn‹, ›turnen‹ u.a., deren Weiterverwandlung sich zu einem Spiel mit dem semantischen Sinn formt und Konnotationen und Wortassoziationen erzeugt. Hierzu zählen zahlreiche Neusemantisierungen, wie z.B. »Habseligkeit« (S 279) als »hab dich selig«, »Mimikry […], es bedeutete Vertreibung« (ebd.: 421) oder metaphorische Konstruktionen wie »die Mildigkeit der Stadt« oder die »Taumschmelze« (ebd.: 425). Den Ausführungen Ertels nach sieht Draesner die »Inszenierung und Sichtbarmachung von komplexer Mehrdeutigkeit« (Ertel 2014: 21) als Aufgabe und Mehrwert von Literatur. In diesem Zusammenhang sind Polyphonie, unzuverlässige Erzähler, der Wechsel zwischen Ich und Er des Erzählers (Hannes-Kapitel, vgl. S 281-394), der die Verschmelzung von Subjekt und Objekt veranschaulicht, aufblitzende Erinnerungen inmitten des Bewusstseinsstroms usw. einzuordnen. Bei Draesner zeichnen sich die narrativen Arrangements durch eine Verschmelzung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus, die sie als »gleitende Nachbarschaften« (Draesner 2006: 264) bezeichnet. Auf Grundlage der poetischen Erkenntnis, das Unsagbare, als »wissenschaftlich Unsichtbares« mittels ästhetischer Verfahren sichtbar und sagbar zu machen, findet das im Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt traumatisch erfahrene und darum »unsagbare« Wissen seine poetische Gestaltung in Form von narrativen Einlagen von Erinnerungssegmenten, die teils blitzhaft und wie Quanten sprunghaft aufleuchten, teils von den Betroffenen verschwiegen werden. Ähnlich dem Superpositionsprinzip des Quantenzustands überlagern sich Einzelzustände, die sich im Roman mit den Interwelten – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft –, aber auch mit den Innen- und Außenwelten der verflochtenen Figuren durchkreuzen und deren Zusammenhänge als Summe verflochtener Einzelzustände angesichts des geheimnisvollen Zugs der Traumata und des lückenhaften transgenerationalen Gedächtnisses nicht eindeutig aufgedeckt werden. Oft erweisen sich diese Figuren, die selbst Erzählinstanzen ihrer eigenen Geschichten sind, als unzuverlässige Erzähler.

Die im Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt aufgearbeiteten traumatischen Erlebnisse und Schrecken des Zweiten Weltkriegs, vor allem die Erfahrung von Flucht und Vertreibung, wirken sich als Erinnerungen und Traumata auf die Kinder und Enkel der vertriebenen Familien identitätskonstituierend aus, rollen sich als weiterwirkendes »Echo«, »wie ein rückwärtswachsender Farn« (S 284), in dem Bewusstsein der späteren Generationen der Nachkriegskinder des Zweiten Weltkrieges kaskadenhaft auf und wachsen sowohl in ihre Gegenwart als auch in ihre Zukunft hinein: Die Wiederkehr der Vergangenheit, die sich nicht als vergangen erweist, der »rückwärtswachsend[e] Farn«, macht sich mit verunsichernden Zeichen bemerkbar und übt so über die Generationen und Lebensgrenzen hinweg seine weiterwachsende verflechtende Wirkung aus, wie bei einem »weit gebreiteten Rhizom« (ebd.: 293). Im Hannes-Kapitel erklärt der Förster Priebke: »›Alles, was man sieht‹, […] ›hat ein Gegengewicht in der Erde.‹« (Ebd.) Diese Aussage gibt im Prinzip das wieder, was der Kunsthistoriker Wilhelm Pinder zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Begriff der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹ (vgl. Pinder 1961, vgl. auch Bloch 1962) skizziert hat.

Die folgende Tabelle soll die über Generationen miteinander verflochtene Figurenkonstellation – eines Familien-Rhizoms – veranschaulichen:

Tabelle 1

schlesische Familie in Oels / Breslau

polnische Familie nach Wrocław »verschoben«

  1. Eltern: Hannes (geb. 1892) und Elisabeth / Lilly (geb. 1896; beide in Oels / Schlesien)
  2. Emil (geb. 1921) und sein Bruder Eustachius auch Stach genannt (geb. Anfang Dezember 1930, heiratet Ines), beide Brüder in Oels / Schlesien geboren
  3. Sandra und Simone (geb. 1962 in München), die Johnny heiratet
  4. Esther (geb. 1996)
  1. Eltern: Grazyna und Leszek (beide aus Lemberg / Lwiw / Lwów)
  2. Halina / Halka (geb. 1924) und Dr. Tomasz (aus Krakau) Nienalt(owski)
  3. Boris Nienaltowski (geb. Anfang der 1960er Jahre; sein leiblicher Vater: Heinrich, ohne Land, geboren in Breslau) und Antonia
  4. Jennifer (geb. Anfang der 1990er in München)

Im Folgenden möchte ich anführen, wie mittels einer sog. Quantenpoetik die transgenerationale Trauma-Übertragung im Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt literarisch und ästhetisch mit den Mitteln einer Quantenpoesie gelesen werden kann: Zunächst wird Hannes, der Vater von Eustachius, die Verkörperung von »contradictions« (S 387), als Paradoxon kurz vorgestellt. Anschließend soll am Beispiel des Verhältnisses Simones zu ihrem Vater Eustachius eine narrative Poetisierung des Superpositionsprinzips, aber auch einer Quantenteleportation, veranschaulicht werden, um anschließend mit Hilfe einer aus der Quantentheorie inspirierten Lesart Eustachius und die Frage der Schuld zu beleuchten. Es geht einerseits um das Verhältnis Simones zu ihrem Vater Eustachius und andererseits um Eustachius und die Frage der Schuld. Weitere Beispiele für poetische Analogien und Anknüpfungspunkte zur Quantentheorie können hier nur kurz angesichts des vorgesehenen Rahmens mit Hilfe einer Tabelle im Anhang dieses Beitrags umrissen werden.

2. Hannes, »die Wurzel allen Übels«9

Eustachius’ Vater Hannes wird als das »Spiegelbild« (ebd.: 386) seiner selbst, also seines Sohnes Eustachius, eingeführt, der durch »contradictions« gezeichnet ist. Hannes, »der Grund hatte, am wenigsten zu wissen, der sich voller SCHEU und SCHULD erinnerter EHRE und SCHAM nachts an den Kopf griff« (ebd.: 387; Hervorh. i.O.). Die erinnerte Episode an Paul Bader, den Hannes als junger Offizier während des Krieges vor einer Höhle stehen gelassen hat, um ein vergessenes Notizbuch zu holen, verfolgt ihn immer noch. Als er zurückkommt, findet er ihn mit einem Loch über der rechten Braue vor:

er wusste nicht, wie viele Menschen auf

sein Konto gingen, you have to

account for it

[…]

to count up

to count down

alle Zahlen zerstört, Kontraste ertrug er mit Mühe, Rechnungen ertrug er nicht, Zahlen ertrug er nicht, weder die großen noch die kleinen

»Volkskörper«, »Kollektiv«, »Rotte«, »Horde«, »Fähnlein«, »Sprung«, ein unheimliches Wort ersetzte

das nächste […] die Augenblicke größter Ausgesetztheit und größter Geborgenheit hatte er an der Front erlebt

in kürzester Zeit

hintereinanderweg durchlitten, he felt

safe, it’s paradoxical (ebd.: 388f.; Hervorh. D.S.)

Die biogenetischen Erkenntnisse weisen auf den Prozess der Überlagerung und Transmission, einer sog. Quantenteleportation, zwischen Vater Hannes und Sohn Eustachius hin:

Eustachius sagte, im Alter sei jede Zelle

10.000 Mal durch die eigene Kopie ersetzt, nichts anderes mehr als eine Erinnerung an sich selbst, er war

seine Erinnerung an sich selbst,

war hineingeworfen worden, doch ebenso aus eigenem Antrieb gesprungen, das Kriegsleben war in ihn eingedrungen, selbst die Kopien der Kopien enthielten es, sein Gesicht

hatte sich aufgeteilt, hinter den Muskeln und Sehnen lag es noch einmal

dort zitterte es vor Schmerz um die Heimat

dort glühte es schamrot – Nazischam, Wegsehscham, Schussscham, Verlustscham, Jetztscham

und dort, im Verborgensten, in der tiefsten Schicht, aus der niemals ein Wort nach außen drang, die er aber, das wusste er aus den Briefen der Kameraden, nicht allein kannte, brannte sie, brannte sie weiter, brannte ihn: die Sehnsucht nach der irren Schönheit

des Lebens im Krieg.

[…]

Das Schwarz der Holunderbeeren erinnerte mich an alles und nichts, das Schwarz der sie pflückenden Amseln. (Ebd.: 392-394)

»Erinnerungen an sich selbst«, »Kopien der Kopien« und die Erinnerungen »an alles und nichts« veranlassen zur Frage danach, ob sich das Schuldgefühl des Vaters wegen des Todes Baders und die Tötung während beider Kriege als »Kopie« des damaligen Zustandes einem Engramm gleich auf Eustachius übertragen haben könnte? Hat Hannes seine Schuldgefühle unbewusst auf seinen Sohn projiziert? Hannes’ Traumatisierung wurzelt primär darin, weder seinen besten Freund Bader noch den Kleiber retten oder gar seinen Sohn heilen zu können.10 Beide Episoden, Hannes / Bader und Eustachius / Emil, weisen Parallelitäten auf. Hier könnte an Simones Befürchtung, dass Eustachius womöglich Zeuge oder, für sie noch schlimmer, gar schuldig am Tod des eigenen Bruders ist, angeknüpft werden. Ist dies der Auslöser seines Traumas, das nur über blitzhafte Funken, als »Mandarinen-Erinnerung« (ebd.: 156)11, in sein Bewusstsein dringt? Haben sich auf Eustachius die inneren Zustände des Vaters übertragen? Oder hat Eustachius tatsächlich seinen Bruder für den Genuss einer Mandarine erschossen und somit als Spiegel seines Vaters, der seinerseits für Emils Sterilisation gesorgt hatte, dem Ganzen ein früheres Ende gesetzt?

3. Eustachius und Simone: Quantenteleportation und die Aufhebung von Objekt und Subjekt

Liegen mehrere, über zeitliche und räumliche Distanzen verschränkte Zustände vor, kann eine Informationsübertragung bzw. eine Quantenteleportation (vgl. dazu Ursin u.a. 2004; Riebe u.a. 2004; Zeilinger 2000; Bouwmeester u.a. 1997) ausgelöst werden. Eustachius ist als Mensch und Geist eine Summe diverser Zustände, die ihn in der Gesamtheit ausmachen. Die im Roman über mehrere Erzählstimmen verstreuten Hinweise auf die Biographie des Vaters von Eustachius, Professor für Medizin und Neurowissenschaften sowie Affenforscher, verdichten sich zu einem langfristig belastenden Schuldgefühl, einem verinnerlichten Zustand, von dem die Tochter Simone, die »manchmal seine Bilder träumt« (S 129), kein explizites Wissen, sondern nur die Lücke hat. Simones Angst vor Schnee zählt zu den nachhaltigen Spuren, die die Flucht ihrer Großeltern in der Nacht vom 19. auf den 20. Januar 1945 in ihr hinterlassen hat. Das Ahnen eines Geheimnisses weckt nicht nur den Forscherdrang in Simone, der schließlich ihre Berufswahl bestimmt, sondern treibt Simone auch zu einer Suche nach Emils Grab im gegenwärtigen Polen, dem ehemaligen Schlesien (Sonderhausen), an. Eine Suche, die erfolglos bleibt: »Ich hatte Emils Grab dort in Sonderhausen gesucht […] Vater wollte nie von Emil erzählen« (ebd.: 250).

»Vater wollte nie von Emil erzählen«. Es ist dieser Zustand des Nichtwissens oder eines Halbwissens vom Verschwinden seines Bruders Emil, einem Wissen von Schuld und Unschuld an dessen Tod zugleich, das den traumatisierten Zustand vom Vater auf die Tochter übergehen lässt, so dass beide zu einer Einheit zusammengezogen werden und eine Individuation der Tochter Simone im Sinne einer eigenständigen Entwicklung verhindert wird. Simones unbegründete Angst vor Schnee, ihre krummen Finger, die der gekrümmten Haltung ihres Vaters ähneln, u.a. repräsentieren die physischen und psychischen Symptome dieser Trauma-Übertragung und -Überlagerung. Diese kann analog zur Quantenmechanik mit einer Quantenteleportation verglichen werden. Simone imaginiert dieses Verhältnis ebenfalls mit einem physikalisch inspirierten metaphorischen Bild:

Ich dachte an Eustachius. Er, ich und die Alm existierten in mir als vierdimensionale, getaktete Objekte aus Stromverbindungen, so weit über verschiedenste Neuronenareale gespannt, als habe ein Maler alter Schule versucht, einen Körper nach exzentrischen Regeln auf eine Fläche zu spreizen. (Ebd.: 241)

Wendet man das Konzept der Quantenteleportation auf die Traumatherapie an, so geht man gemäß der Quantenmechanik davon aus, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt keine Materie, sondern nur ein Zustand dieser Materie übertragen wird. Eine Situation oder eine Person erzeugt einen Zustand im anderen, ohne sich dessen bewusst zu sein, z.B. ein Trauma. Dieser traumatische Zustand ist nach der Übertragung beim Sender nicht mehr bekannt, evtl. vergessen. Anders verhält es sich beim Empfänger, der diesen übertragenen Zustand als Teil des eigenen Gesamtzustandes auch wieder an andere weitergeben kann. Folglich beschränkt sich die Anwendung der Quantenteleportation als Konzept auf die Traumatherapie nicht nur auf die Übertragung eines Zustands zu einem bestimmten Moment, sondern weitet sich auf eine generationenüberschreitende Weitergabe eines traumatischen Zustandes aus. Kommt es Jahre später durch Ereignisse, Gespräche usw. zum Messvorgang, wird dieser traumatische Zustand bewusst und kann be- und verarbeitet werden.

4. Jennifer und Esther: Intervention durch Beobachtung (Messung)

Im Folgenden soll anhand von zwei Beispielen der Zustand der Überlagerung (Superposition), der sog. cat state, und dessen Veränderung durch Jennifers und Esthers Intervention veranschaulicht werden. Es werden zwei Fernsehauftritte mit dem berühmt-berüchtigten Professor Grolmann, Affenforscher und Neurowissenschaftler, live übertragen und von Jennifer, der Tochter des Psychiaters Boris, mitverfolgt.12 Eustachius Grolmann, der sich im Eigenversuch Implantate ins Gehirn setzt, strahlt beim ersten Auftritt mit seinen lustigen Affen Wärme und Sympathie aus. Das zweite Mal, nachdem Jennifer das TV-Team mit Informationen aus dessen Vergangenheit gespeist hat, erzielt einen entgegengesetzten Effekt:

Grolmann bewegte sich nicht. […] Hager und schief stand der alte Mann auf der Bühne. Der Applaus erstarb. […] Hätte er nicht so pikiert geschaut, hätte er einem leidgetan. Etwas Drittes kam hinzu: Er hatte diesmal die Affen nicht mit auf die Bühne bringen dürfen. Es zeitigte exakt den Effekt, den ich mir erhofft hatte – ihm fehlte Wärme. Und das Kästchen? Keine Krone mehr, nur ein aus dem Kopf dringender Apparat, kalt, blendend, brutal.

Grolmann wirkte unmenschlich.

Etwas zutiefst Gefühlloses ging von ihm aus. (Ebd.: 414f.)

Die Frage nach der Schuld Eustachius’ vereint die binäre Opposition einander ausschließender Bilder von Welle und Teilchen. Entweder hat Eustachius seinen Bruder Emil erschossen, oder er hat es nicht. Allerdings ist das Paradoxon von einem Sowohl-als-auch nach dem Quantenprinzip möglich. Vergleichbar mit Schrödingers Katze: Solange man die Kiste verschlossen hält und nicht hineinschaut, kann die Katze tot und lebendig sein. Das Öffnen der Kiste, in der sich Schrödingers Katze befindet, übernimmt Esther, mit der Eustachius über seine angebliche Tötung des eigenen Bruders spricht. Esther kann die Schuldfrage, deren Antwort im unbesprochenen, unausgesprochenen und vor allem nicht erinnerten Traumazustand ein Sowohl-als-auch implizieren kann, entscheiden und Eustachius erlösen. Gemäß heute noch gültiger quantenphysischer Erkenntnisse, die weitaus aktueller als Schrödingers Katze sind, kann ein Messvorgang den Zustand beeinflussen. Auf die Traumatherapie übertragen bedeutet dies, dass ein Gespräch mit einem anderen Menschen einen solchen Messvorgang darstellen kann, mit dessen Hilfe der traumatisierte Zustand erfasst und durch die Bewusstmachung sofort beeinflusst wird; bei einer Therapie idealerweise positiv. Folgende Textstelle veranschaulicht, dass Esther mit ihrem »Opsi« eine ähnliche Messung vornimmt:

Oder hatte er nur behauptet, dass Emil tot war, um seine Mutter vor der SS-Wahrheit zu schützen? Schämte er sich, weil es ihm nicht gelungen war, den hinkenden Bruder aufzuhalten? Der bei der SS sowieso bald sterben würde. Hatte Stach das gedacht, als er davonging – nach dem Schuss? Oder ganz ohne Schuss? […]

Hatte er seine Behauptung, Emil erschossen zu haben, nur als worst-case-Szenario ins Spiel gebracht: das schlimmste vorstellbare Ende einer schrecklichen Aprilnacht in Sondershausen? Stach wusste nicht mehr, ob er es sich einbildete oder es erlebt hatte, traute seiner Erinnerung nicht, egal, was sie sagte? Mit Hilfe meiner Reaktion versuchte er herauszufinden, wer er war, genauer: daran, als wen ich ihn sah und was ich ihm zutraute, wollte er ablesen: was er getan hatte? […]

Er hätte ihn vielleicht gern erschossen.

Und dieser Wunsch, lang vergessen, dieser verdrängte Wunsch kam nun in Form einer falschen Erinnerung hervor. (Ebd.: 509f.; Hervorh. D.S.)

Die erinnerte Vergangenheit, die Erinnerung an die letzte Begegnung mit Emil, die mit der »Mandarinen-Erinnerung« (ebd.: 156) bezeichnet wird, umschreibt letztendlich die Erinnerung eines Kindes. Aus der Kindheitserinnerung, also einer unzuverlässigen, kindlichen Wahrnehmung und Zeugenschaft, ergibt sich das wirre Gedankenbild der eigenen Schuld und eines unzuverlässigen Erzählens als Narrationsprinzip des Romans. Nach diesem Resultat scheint der gekrümmte Eustachius mit der krummen Nase erleichtert, biegt die krumme Zigarette in symbolischer Geste gerade und schaut seine Enkelin »[z]ufrieden« (ebd.: 511) an. Es scheint, als habe Esther durch ihre bedingungslose Liebe ihren Opsi von seinen Schuldgefühlen befreit und ihm die ›schiefe‹ Wirklichkeit wieder geradegebogen: »[e]r, der versuchte, seinen Erinnerungen zu entfliehen[, d]er sich nach den Worten Simones seine Geschichte vom Leib hielt« und der »nach innen zu blicken« schien und sich dabei in Wirklichkeit, statt »offen zu berichten«, »von sich selbst fort[bog], mechanisch und kalt.« (Ebd.: 46) Esther befreit ihren Großvater von seinem Trauma und seinen damit verbundenen Schuldgefühlen, nicht durch De- oder Rekategorisierung, sondern durch eine Rekonzeptualisierung, indem sie die Möglichkeit erwägt, dass Eustachius sich zwar den Tod Emils gewünscht haben mag, diesen aber nicht eigenhändig verschuldet hat, sondern dass sich die innere Wunschvorstellung als Faktum auf ihn übertragen haben könnte. In Analogie zur Quantenphysik fungiert Esther als Messgerät, also als Beobachtungsinstanz, die notwendig ist, um den Schwebezustand und eine weitere Quantenteleportation – an weitere Generationen – mittels Aufdeckung und Bewusstmachung, die einem traumatherapeutischen Vorgang ähnelt, zu beenden.13 Denn erst durch Messung und Beobachtung in Form einer Bewusstmachung kann eine weitere Traumaübertragung auf kommende Generationen beendet und das Kontinuum gebrochen werden.

In Draeslers Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt verkörpern die Figuren durch die Übertragung von historischen Traumata aus der europäischen Vergangenheit eine raumzeitliche Grenzüberschreitung. Als Grenzgänger zwischen schlesischen und polnischen Familien breiten sich in den Gedankenwelten dieser Figuren durch die verflochtene Geschichte Heimaterinnerungen als erinnerte »Nichtswelt«, als »das Unzuhause« (ebd.: 402), rhizomartig aus, so dass sie ihr Orientierungs- und Wahrnehmungsmuster beeinflussen. Der Roman selbst verkörpert eine symbolische Symbiose dieser raumzeitlichen Grenzüberschreitung, eines Europas im Übergang. Die destruktive Kraft der überlagerten Traumata europäischer Geschichte könnte – so der Vorschlag Draesners – über das Erzählen und das Erinnern und vor allem über das empathische Zuhören eines moralischen Zeugen aufgehalten und in eine »befriedende Erinnerung« (Assmann 2008: 205), umgekehrt werden, wie Assmann das Erinnern und Erzählen als Alternative zur Rache beschreibt. In Analogie zur Quantentheorie kann das Observieren in Form eines empathischen Zuhörers bzw. eines kollektiven Zeugengedächtnisses eine Weitergabe und eine damit verbundene weitere Belastung durch das destruktive Potential dieses Kontinuums an erzählten und verschwiegenen Erinnerungen aufheben und umwandeln, umwandeln in »ein in die Zukunft gerichtetes Wissen« (ebd.: 204). Die Bezeugung der erfahrenen Ungerechtigkeit, aber auch des Erzählens von der eigenen Schuld rücken den Roman von einer revanchistischen Nähe ab und ermöglichen einen Weg der Aufarbeitung und einer Versöhnung durch Empathie.

Anhang: Quantenpoetik in den Sieben Sprüngen

Tabelle 2

Quanten:
kleinste Einheiten

  • Bewusstseinsstrom; memories cascading
  • poetische Dichte
  • kleinste Erinnerungseinheiten, »Puzzleteilchen« (S 78)
  • »Zerlegungssprache« (S 222) u.a.

Quantensprung:
Übergang von einem Wert zu einem anderen

  • Sprünge zwischen Vergangenheit und Gegenwart beim Erzählen
  • keine lineare Handlung, keine Einheit von Zeit und Raum, Drehungen, Loops, Wiederholungen
  • ›Worthöfe‹: neue Wortkreationen mit neuem Sinn bzw. offeneren Assoziationsräumen
  • Überlagerung durch Komplementärprinzip
  • Unschärfe
  • unzuverlässige Erzähler

Superposition:
quantenmechanischer Zustand der Überlagerung mehrerer Einzelzustände, die auch gegensätzlich – paradox sein können, und deren Kontinuum

  • Übertragung der Traumata auf die dritte Generation als Kontinuum: Simone und Boris, aber auch Esther und Jennifer (evtl. auch Hannes’ Schuldgefühle auf Eustachius)
  • Überlagerung der Schicksale ›anderer‹
  • Einheit von Subjekt und Objekt: Simone und Stach als eins, Eustachius und Emil als eins, Wechsel von Ich- zur Er-Perspektive desselben Erzählers, von ›Ich‹ zu ›Hannes spricht‹
  • Gegenwärtigkeit von Nichtanwesenden
  • paradoxe Möglichkeiten: Gegensätzliches wird möglich; Antithese, Synthese, Grauzonen und Zwischenräume

Messung und Beobachtung:
Bei Aufstellung des Messgeräts bzw. beim Öffnen der Kiste (Schrödingers Katze), also erst durch Beobachtung, kollabiert das Quantensystem und erhält Eigenschaften von Teilchen / Elektronen anstelle von Wellen / Licht bzw. Photonen.

  • Die dritte Instanz (des Zeugen) ruft Veränderung hervor (löst das Kollabieren wellenartiger verschwommener Erinnerungsblitze aus).
  • Katze in der Kiste: Emils Tod als Krypta14; das im tiefsten Inneren verborgene Trauma von Eustachius
  • Jennifer und die zwei TV-Auftritte von Eustachius; Jennifers Messergebnis: Gefühllosigkeit und Kälte
  • Esther und die zwei Gespräche mit Eustachius; Esthers Messergebnis: Schuldillusion und befriedende Erlösung. Diffuse Ambiguität bewirkt durch ein Eindeutigmachen eine Befreiung aus dem seelischen Zwiespalt.

Anmerkungen

1 | Mein aufrichtiger Dank für Lektüre, kritische Kommentare und wertvolle Hinweise richtet sich an: Ulrike Draesner, Michael Dallapiazza und Gabriele Ziehten. Christian Ziethen sei für die fachliche Begutachtung in Bezug auf die Quantentheorie gedankt.

2 | Universität Kairo

3 | Zitate in diesem Beitrag stammen aus der Ausgabe Draesner (2014), im Folgenden mit der Sigle S angegeben.

4 | Diese ist bekannt als transgenerational trauma transmission (auch als memoria negativa bezeichnet, vgl. Assmann 2008: 198).

5 | Der Kopenhagener Deutung gemäß entzieht sich die Wellenfunktion der Quanten aufgrund ihrer Eigenschaften einer Beschreibung mit klassischen Begriffen, da diese Begriffe aus der Gesamtheit von Möglichkeiten stets nur ein Faktum fixieren und somit stets nur ein reduziertes, unscharfes Bild vermitteln würden. Die Tatsache, dass unsere Begriffe – unsere Erkenntnis, die unsere Anschauung prägt – stets begrenzt sind und nach Immanuel Kant von Raum, Zeit und Kausalität abhängen, verleitete den Physiker und Nobelpreisträger des Jahres 1922, Niels Bohr, dazu, in seinem Atommodell atomare Prozesse mit mehreren Begriffen, die komplementär zueinander stehen und aufeinander angewiesen sind, und mit Hilfe von Wortgemälden anstelle der klassischen Sprachlogik zu beschreiben. Vgl. Graf 2013: 55f.

6 | Siehe dazu Meyenn 2011; Gribbin 2004 u. Schrödinger 1935: 812.

7 | Beispiele für die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit den poetologischen Texten Draesners und ihrer Auseinandersetzung mit Erkenntnissen, Fragen und Problemen der Naturwissenschaften stellen die Arbeiten Anna Ertels (vgl. 2014) und Aura Heydenreichs (vgl. 2014) dar.

8 | Siehe dazu auch Ertel 2014: 20.

9 | S 387.

10 | Dies wurde in einer privaten Korrespondenz von Ulrike Draesner betont.

11 | Zur »Mandarinen-Erinnerung« siehe ausführlich Sütterlin 2016: 174-176.

12 | Jennifer hat ein gestörtes, von Eifersucht durchzogenes Verhältnis zu ihrem Vater, dem »Heimatpsychologen« (S 399): »Da war es, das ungeheuerlich starke und schmerzhafte Band. Seelenband! Haben das alle Kinder und Eltern zwischen sich?« (Ebd.: 404) Es wird »[s]emanto-emotionales Bonding« (ebd.: 179) genannt. Sie war eifersüchtig auf »Boris’ frisch entdeckte Vertriebene« (ebd.: 398) und dessen Auswirkung auf ihren »Vater, der nur mehr Boris heißen wollte, Vater Boris, alternder Seelenberater mit internationalem, na ja, europäischem, vor allem osteuropäischem Ruf, hoffnungslos in Übertragung und Gegenübertragung verstrickt« (ebd.).

13 | Aus dem privaten schriftlichen Austausch mit Ulrike Draesner – hier in Anführungsstrichen hervorgehoben – ging hervor, dass Draesner die Haltung Esthers ihrem Großvater gegenüber als den wesentlichen Schritt ihrer inneren Emanzipation ansieht: indem es der Enkelin »egal ist, was er getan hat«, und sie »sehr souverän beschließt, nicht in die Kiste schauen zu wollen«, da der Inhalt für das »Jetzt« gleichgültig ist.

14 | Siehe dazu ausführlich Sütterlin 2016: 180-182.

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