Dankesrede

Verleihung des Preises der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik für erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler 2018 auf der Jahrestagung der GIG in Germersheim am 26. September 2019

Doris Bachmann-Medick

Sehr geehrte Frau Schiewer, sehr geehrte Gutachterinnen und Gutachter aus dem Vorstand, Beirat und Ausschuss der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik, liebe Anwesende!

Gleich zu Beginn: einen herzlichen Dank für Ihre Ehrung meiner Arbeit. Und das an diesem passenden Ort, dem Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Universität Mainz in Germersheim. Dieser historische Ort einer ehemaligen militärischen Festung ist heute mehr denn je geöffnet: durch die Weltoffenheit der Sprach- und Kulturvermittlung, wie sie von hier ausgeht. Hatte ich in der Vergangenheit schon einmal Vorträge an diesem kosmopolitischen Festungsort gehalten – zu Menschenrechten als Übersetzungsproblem und zum translational turn in den Kultur- und Sozialwissenschaften –, so werde ich heute eher in einer Art Schnelldurchgang meine Anliegen zur Sprache bringen.

Mitglied der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik war ich quasi von der ersten Stunde an. Und von Anfang an ist es mir darum gegangen, die Interkulturelle Germanistik in einem weiteren Horizont zu denken. Seither beschäftigte mich die Frage, unter welchen Bedingungen die Interkulturelle Germanistik überhaupt sinnvoll werden kann, ja, welches die Bedingungen ihrer Möglichkeit sind. Die Germanistik wird ja nicht dadurch schon interkulturell, dass sie in die Welt hinein exportiert wird (so meinte ich schon in meinen Anfangsjahren in der GiG); vielmehr erst dadurch, dass sie mit den Literaturen der Welt in eine spannungsreiche Austauschbeziehung tritt; dass sie sich grundsätzlicher verortet: als eine allgemeine Literaturwissenschaft unter kulturwissenschaftlichen und komparatistischen Vorzeichen; dass sie vor Augen bringt, wie bereits in den literarischen Texten selbst Interkulturalität zur Entfaltung gebracht wird: Interkulturelle Germanistik bzw. Literaturwissenschaft bedeutet ein Arbeiten an den Gelenkstellen interkultureller Vermittlung und Auseinandersetzung. Es ging mir stets darum, von hier aus auf einen weiteren kulturtheoretischen Begründungsrahmen für die Interkulturelle Germanistik hinzuarbeiten. So hatten es freilich auch andere im Sinn – ich denke hier etwa an die übergreifende Toleranzforschung (wie sie Alois Wierlacher stark gemacht hat) und überhaupt an die hermeneutische Rahmung durch die nachhaltige Fremdheitsforschung, basierend auf dem Prinzip des Fremdverstehens. Ich selbst habe anfangs vor allem die ›verfremdende‹ Perspektive der Kulturanthropologie, der Ethnologie als Fremdheitswissenschaft, eingebracht. Damit kam allerdings zugleich der Impuls auf, den durch Hermeneutik gesetzten Rahmen zu überschreiten. Sind nicht gerade auch Handlungssituationen mit ihren Erfahrungen von kulturbedingten Brüchen, Verwerfungen, Missverständnissen und Kontextwechseln wichtige Brennpunkte literarischer Darstellung und Rezeption? Und eben nicht nur Fremdverstehen durch Kulturdialog?

Solche Fragen stellten sich in dem Moment, in dem das anfängliche Zauberwort der Interkulturalität kritischer in den Blick genommen wurde. Entscheidend hierfür waren die zunehmenden Globalisierungsprozesse, wie sie in den Migrationsliteraturen besonders sichtbar wurden. Sie führten vor Augen, dass Interkulturalität durchaus auch eine irreführende Kategorie sein kann. Zieht sie nicht zu zwangsläufig Unterscheidungslinien zwischen Kulturen und kulturellen Eigenschaften, so dass sie den komplexen Verflechtungen und Überschneidungen längst nicht mehr gerecht wird? Und überhaupt, ist nicht alles Kulturelle immer schon interkulturell? Jedenfalls ist Interkulturalität nicht unbedingt gekoppelt an Fremderfahrung. Sie ist vielmehr auch immer schon ›interne Interkulturalität‹, greifbar im cultural encounter von Einwanderungsgesellschaften, symbolisch ausgestaltet in den Texten einer ›neuen Weltliteratur‹, die über ein ›interkulturelles‹ Vorzeichen hinaus mehrsprachig und immer schon übersetzt sind – »born translated«, wie es Rebecca Walkowitz formuliert.

Eine Bedingung der Möglichkeit von Interkultureller Germanistik musste also ein entschiedener ›Rahmenwechsel‹ sein (wie ihn der französische Philosoph und Sinologe François Jullien eindringlich gefordert hat) – um die eigenen kulturellen Vertrautheiten durch eine Außensicht erkenntnisfördernd zu ›verrücken‹. Ein solcher ›Ortswechsel des Denkens‹ (Jullien) war für die Interkulturelle Germanistik die Herausforderung, einzurücken in den weiteren Horizont der Literaturen der Welt, über Europa hinaus. Auch waren nicht zuletzt die europäischen Kanonvorstellungen von Weltliteratur zu überdenken, in denen auch die Interkulturelle Germanistik anfangs durchaus noch befangen blieb. Die postkolonialen Entwicklungen waren es, die hier europäische Vorannahmen und Universalisierungen produktiv ins Wanken brachten. Ausgehend gerade von den neueren Literaturen der Welt und eben nicht von den theoretischen Großerzählungen, rückten sie die kolonialistisch verankerte Machtasymmetrie auch zwischen den Literaturen in den Blick.

Hiermit waren und sind neue Herausforderungen verbunden. Sie verlangen die Öffnung der ursprünglich stark hermeneutisch orientierten Interkulturellen Germanistik hin zu einer Analysehaltung, die stärker auf Praxisszenarien orientiert ist – auch auf Seiten der Literatur: Wie gehen denn europäische und nichteuropäische Literaturen miteinander um, so wurde gefragt, wie gehen sie aufeinander ein, wie sind sie – nicht zuletzt durch Kolonialismus – miteinander verflochten? Wie wird in literarischen Texten die Frage unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeiten konkret ausgestaltet? Auch hier ist ein ›Rahmenwechsel‹ gefordert: mit Blick auf Szenarien der (inter)kulturellen Auseinandersetzung und der Bewältigung von Kontextwechseln in einer globalen Gesellschaft, ganz besonders durch die Praxis der Übersetzung.

Werden die Ansätze der Interkulturellen Germanistik an diesem perspektivischen Angelpunkt greifbar? Ihre lange Entwicklungsgeschichte zu vergegenwärtigen, ist hier nicht die Gelegenheit. Neben den zahlreichen Protagonisten, die ihre jeweiligen Perspektiven eingebracht haben, kann ich vielmehr nur kurz meine eigenen Versuche andeuten, auf einen solchen Rahmenwechsel hinzuwirken – einen Rahmenwechsel, um einer spezifischen Form von Interkulturalität auf die Spur zu kommen, nämlich dem ›Weltbezug‹ der Literatur, auch der deutschsprachigen, in ihrer Auseinandersetzung mit weltweiten Problemszenarien. Hierfür scheint mir eine Einstellung auf kulturelle Übersetzung unabdingbar, nicht zuletzt als Versuch, eine ›Relaissprache‹ zu finden – von der Gesine Schiewer im letzten Heft der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik gesprochen hat –, um die zunehmenden Komplexitäten und Kontextbrechungen in heutigen Gesellschaften und Literaturen zu bewältigen. Eine andere Möglichkeit wäre, systematische Konzepte für eine solche Relaisfunktion auszuarbeiten. Ich meine Konzepte, die gerade nicht durch spezifische kulturelle Bedeutungen bereits festgelegt sind, sondern die als sogenannte travelling concepts neue Gelegenheiten bieten für vielstimmige interkulturelle Zugänge und Anschlussstellen. Eine weitere Bedingung der Möglichkeit interkultureller Germanistik, die ihr weltweites Kommunikationspotential stärken könnte, wäre also, sie mit solch offenen travelling concepts zu verknüpfen. Sie ermöglichen der Germanistik, sich noch stärker als bereits geschehen zu entprovinzialisieren und einzurücken in die Horizonte der Literaturen der Welt, aber auch in kulturwissenschaftliche Diskurse. In diesem Sinn verstehe ich mein Buch Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (6. Aufl. 2018) auch als eine Ausarbeitung solch systematischer konzeptueller Knotenpunkte. Mit den jeweiligen Fokussierungen dieser turns ergeben sich vielfältige Anschlussstellen, an denen sich Literaturen begegnen und durch die sie gemeinsame Weltbezüge herstellen können. So kann etwa der spatial turn erhellen, wie ›Raum‹ in deutschsprachigen Migrationsliteraturen eine ganz besondere Rolle spielt. Er kann aber auch die Beschreibungen von mentalen Innenräumen in japanischer Literatur analytisch erschließen. Ist die Konstruktion von Raum hier kulturell gänzlich anders oder vielleicht doch ähnlich wie in der deutschen Literatur? Auch ›Bild‹ und ›Bildlichkeit‹ im Gefolge des iconic turn eignen sich als konzeptuelle Bezugspunkte, die zugänglich machen, wie gerade die Literatur an der Ausgestaltung und Transformation solcher Konzepte aktiv mitwirkt. Das Potential solcher literarischer Verarbeitungen wird gerade an der Kategorie der ›Zeit‹ auf dem Germanistentag 2019 in Saarbrücken diskutiert. Von solchen kategorialen Gelenkstellen aus könnte sich die Interkulturelle Germanistik noch weiter öffnen für andere Literaturkonzepte und die vielfältigen Umgangsweisen mit symbolischen Repräsentationen. Mit Blick auf derartige Bezugspunkte ließe sich schließlich auch Interkulturalität konkreter fassen: als ein gemeinsames Bezugsfeld, das von allen Seiten aus zugänglich ist und eurozentrische Vorannahmen mit ihren Universalisierungsansprüchen hinter sich lässt.

Eine vertiefte Reflexion von Übersetzung ist hierfür besonders erhellend. Inter- oder eher Transkulturalität wird schließlich überhaupt erst durch Übersetzungsprozesse ins Werk gesetzt, durch Übersetzung von, innerhalb und zwischen Kulturen oder besser: zwischen kulturellen Elementen, Situationen, Vorstellungen und Handlungsweisen. Allerdings ist Übersetzung hier weit mehr als ein Vorgang von Bedeutungsübertragung im hermeneutischen Sinn. Übersetzung lässt sich vielmehr ebenfalls als eine Kategorie kultureller Praxis in Anspruch nehmen – gerade angesichts der gegenwärtigen, global geprägten, mehrsprachigen und mehrpoligen Lebensumstände. Übersetzung kann hier die Klippen in kulturell vielschichtigen und oft auch ›ungleichzeitigen‹ Interaktionssituationen bewältigen, indem sie genaue Aufmerksamkeit auf die jeweiligen Kontextbrüche sowie auf mögliche Vermittlungsschritte richtet. Die zunehmende gesellschaftliche und literarische Erfahrung solcher Bruchstellen aufgrund von Kontextwechseln und unterschiedlichen Zugehörigkeiten fordert Übersetzung als Handlungseinstellung geradezu heraus. Und damit wären wir im Schnelldurchgang bei der nachhaltigen Weiterentfaltung der Übersetzungskategorie hier in Germersheim angekommen, also auch bei dieser Tagung, die ja explizit translatorische Handlungsformen zum Thema hat: ›Übersetzen – Vermitteln – Repräsentieren‹.

Besonders die interdisziplinären und transkulturellen, also kulturenübergreifenden Anregungen des translational turn – aber auch die Herausforderungen der anderen kulturellen Wenden – halten die Interkulturelle Germanistik offen für den Umgang mit kulturdifferenten Denk- und Handlungsweisen. Und doch ist Übersetzung dabei weit mehr als nur ein Differenzkonzept; es ist auch ein Ähnlichkeitskonzept. Hierauf haben vor allem Anil Bhatti und Dorothee Kimmich im weiteren Problemfeld der Interkulturellen Germanistik die Aufmerksamkeit gelenkt. Nach der allzu langen Fixierung der Kultur- und Literaturwissenschaften auf kulturelle Differenzen könnte es fruchtbar sein, Ausschau zu halten nach kultureller Ähnlichkeit, verstanden als eine »Figur des Dritten, die dem Denken in Identität und Differenz hinzugefügt werden muss«, so Dorothee Kimmich. Ließen sich nicht gerade durch Übersetzung auch Ähnlichkeitsanschlüsse zwischen Kulturen und Literaturen freilegen?

In jedem Fall trägt diese Tagung dazu bei, die Neupositionierung der Interkulturellen Germanistik, wie sie seit einiger Zeit im Gange ist, noch gezielter auszugestalten: durch einen translatorischen Zugang. Ein solcher Zugang bereichert einerseits die Germanistik, insofern er ihre immer noch national geprägte Literaturgeschichte zu einer ›Übersetzungsgeschichte‹ umdeutet. Andererseits bereichert er wiederum die Übersetzungswissenschaft, indem er auch sie in einen weiteren Horizont von translational humanities einrückt, welche die Herausforderungen der Weltgesellschaft zwischen Differenzen und Ähnlichkeiten als einen wechselseitigen Übersetzungszusammenhang begreifen. Von hier aus jedenfalls eröffnet sich die Möglichkeit, die Interkulturelle Germanistik als (wechselseitige) Übersetzungswissenschaft auszuarbeiten – ihre Ausbildung interkultureller Kompetenz noch genauer als eine Übersetzungskompetenz zu verstehen, ihr aktives Übersetzen immer auch als ein Sich-selbst-Übersetzen. Von meiner Seite aus bin ich solchen Fragen vor allem in konzeptueller Hinsicht nachgegangen. Was dies jedoch in den jeweiligen Arbeitsfeldern der Interkulturellen Germanistik konkret heißt und wie sich daraus eigentlich erst praxistaugliche Konzepte entwickeln, dies genau können Tagungen wie diese zeigen. Ich freue mich jedenfalls sehr, hier zu sein und an der Weiterprofilierung der Interkulturellen Germanistik mitwirken zu können – nicht nur an ihrer translatorischen Öffnung.

Herzlichen Dank für diese Ehrung!