Sandra Annika Meyer: Grenzenlose Mutterliebe? Die Mutter als Alteritätsfigur in ausgewählten transkulturellen Familiennarrativen der Gegenwartsliteratur. Aglaja Veteranyi – Zsuzsa Bánk – SAID

Würzburg: Königshausen & Neumann 2019 – ISBN 978-3-8260-6646-7 – 45,00 €

In Anbetracht dessen, dass Flüchtlinge neben dem Klimawandel zurzeit die größte politische Herausforderung der Europäischen Union bilden, ist die Auseinandersetzung mit Migration brandaktuell. Dies gilt auch für die literarische Produktion und die literaturwissenschaftliche Forschung. Die vorliegende Studie, die 343 Seiten umfasst und als Dissertation an der Universität Hamburg entstanden ist, positioniert sich in diesem Feld. Wie Sandra Annika Meyer im einleitenden Kapitel erläutert, verfolgt ihre Arbeit

eine doppelte Zielsetzung: Zum einen gilt es zu eruieren, wie Familie zu Beginn eines von Migrations-, Flucht- und Entortungserfahrungen geprägten 21. Jahrhunderts erzählt wird. […] In diesem Zusammenhang rückt zum anderen die Figur der Mutter in den Fokus der nachfolgenden Ausführungen. […] Ihre enge Wechselwirkung mit der Selbstkonstitution der Erzählerfiguren, die sich in allen untersuchten Texten bewusst als Tochter oder Sohn inszenieren, ist unübersehbar (23f.).

In Meyers Studie werden im Grunde zwei Tendenzen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (und ihrer Erforschung) leitmotivisch miteinander verknüpft: das Interesse für inter- und transkulturelle Fragestellungen einerseits (hierzu später mehr) und die große Popularität des Familien- und Generationenromans andererseits. Da sich gegenwärtige ›Familienromane‹ aber inhaltlich und narratologisch von gattungstypologischen Vorgängertexten aus dem 19. oder dem frühen 20. Jahrhundert (wie Thomas Manns Buddenbrooks. Verfall einer Familie) unterscheiden, plädiert die Verfasserin im vierten Kapitel ihrer Studie für eine Umbenennung des Genres. Vor dem Hintergrund, dass Familiengeschichte heute nicht mehr chronologisch und aus auktorialer Perspektive erzählt werde, sondern »eine – oftmals polyperspektivische – anachronische Spurensuche« (97) und »eine Konstruktionsarbeit« (98) impliziere, führt die Verfasserin unter Rückgriff auf Wolfgang Müller-Funks (vgl. 2007; 2008) Verständnis von »Narrative[n] als Mittel der Kohärenzstiftung« (107) – so der Titel eines Unterkapitels – ihren Begriff ›Familiennarrativ‹ ein. Dass Narrative laut Müller-Funk Identität, Individualität und Zusammengehörigkeit eines Individuums zu einem Kollektiv erst konstruieren (vgl. 109), zeigt sich nämlich der Verfasserin zufolge gerade auch in jenen Narrativen, »die sich der Familie als kollektiver Organisationsform widmen: Das abstrakte kulturelle bzw. universale Konstrukt ›Familie‹ wird durch das Erzählen einer individuellen Familiengeschichte mit konkretem Inhalt gefüllt und gegebenenfalls neu modelliert. Gleichzeitig stiftet die narrative Annäherung an die Familiengeschichte überhaupt erst eine familiäre Zusammengehörigkeit und ein tragbares Identitätskonzept über zeitliche oder räumliche Brüche hinweg.« (Ebd.) In ›transkulturellen Familiennarrativen‹, einem diesbezüglichen Subgenre (vgl. 106), würden räumliche Konzepte wie Heimat, Nation oder Kultur(en) und damit verbundene Identitäten darüber hinaus als prozessuale Konstrukte de-essenzialisiert (vgl. 114f.).

Das Buch beginnt aber in Kapitel zwei mit theoretischen Ausführungen zu Mutterschaft und Mutterliebe. So wirft die Verfasserin zunächst einen Blick auf den Medea-Mythos »als Urtopos der fremden Mutter in Kunst und Literatur« (31). Während Medea bis heute meist ausschließlich als Kindsmörderin stigmatisiert wird, ist sie laut Meyer – in Nachfolge von Marketta Göbel-Uotila (vgl. 2005) – »zunächst und vor allem eine Fremde, die gezwungen ist, ihre Heimat zu verlassen und als Geflüchtete zu leben.« (35) Gerade der Aspekt des Scheiterns als Mutter in und an der Fremde mache Medea für die textanalytische Fokussierung auf Mutterfiguren ertragreich, auch wenn »in den ausgewählten Werken keine direkte Arbeit am Mythos« (34) betrieben werde. Im selben Kapitel werden anschließend feministische Positionen von Simone de Beauvoir, Judith Butler und Elisabeth Badinter diskutiert, die mit neuen, performativen und diskursiven Weiblichkeitskonzepten zu einer Entmythologisierung von Mutterschaft und Mutterliebe beigetragen haben (vgl. 41-57). Da sich das traditionelle Mutterbild aber im deutschen Sprachraum als äußerst beharrlich erweise (vgl. 61), verspricht sich Meyer gerade von deutschsprachigen Mutterdarstellungen fremdsprachiger Autor/-innen »einen hohen Erkenntnisgewinn« (66).

Im dritten Kapitel rekurriert die Verfasserin zunächst auf die Benennungsschwierigkeiten in Bezug auf die »über einen nationalphilologischen Horizont hinausweisen[de]« (67) Literatur, um ihrer Arbeit schließlich Wolfgang Welschs Begriff ›Transkulturalität‹ zugrunde zu legen. Letzteren kann man allerdings wesentlich kritischer sehen, als dies Meyer tut. Wenn die Verfasserin dem Interkulturalitätsforscher Norbert Mecklenburg nämlich Polemik gegen Welschs Konzept vorwirft (vgl. 88), müsste sie selbst fairerweise auch andere Kritikpunkte als Welschs »schwammiges Universalverständnis von Kultur« (88) in ihre Diskussion mit einbeziehen – zum Beispiel den,

dass wir auch da, wo wir, Welsch sehr wohl folgend, komplexe transkulturelle Hybridisierungsprozesse, Mischungen analysieren, von mindestens zwei differenzierbaren Größen ausgehen müssen. Es kommt darauf an, entlang welcher Linien differenziert wird – entlang sprachlicher, sozialer, territorialer etc. So berechtigt Welschs Transkulturalitätskonzept ist, es blendet die historische Dimension und die Koexistenz verschiedener Kulturmodelle zu sehr ab. (Bosse 2013: 71)

Ins Zentrum ihres Buches hat Meyer die ausführliche Textanalyse von drei ›transkulturellen Familiennarrativen‹ gestellt, die mit dem bis heute nahezu unantastbaren Narrativ der ›guten Mutter‹ brechen und stattdessen Mütter zeigen, die ihre eigenen Kinder im Stich lassen (vgl. 12). Indem die Mütter als Figuren der Alterität angelegt sind, so eine Hauptthese der Studie, belasten und erschweren sie die Identitätsbildung der Erzähler/-innen (vgl. insbesondere 139, 146, 151-153, 170, 228-230, 232f., 252, 265, 274, 277, 283, 299, 301). »Als unterbestimmte, nicht fassbare Fremde sind sie [für ihre Kinder; C.P.] zugleich Leerstelle und Fixpunkt des Denkens« (299), schreibt die Verfasserin in ihrem Fazit. Der mehrdeutige Titel Grenzenlose Mutterliebe? verweist sowohl auf das Hinterfragen einer naturgegebenen großen Mutterliebe als auch auf die territoriale und kulturelle Grenzüberschreitung der Protagonist/-innen (vgl. 23). Als Grenzgänger müssen ebenso die Autor/-innen der untersuchten Werke gesehen werden, auch wenn Meyers Textanalyse – völlig zu Recht – auf biografische Rückschlüsse weitgehend verzichtet und sich stattdessen einem close reading verschreibt, das durch die oben genannten kulturwissenschaftlichen Ansätze ergänzt wird (vgl. 28f.). Aglaja Veteranyi (1962-2002), die einer rumänischen Zirkusfamilie entstammt, erlernte die deutsche Sprache erst als junge Erwachsene in der Schweiz. In ihrem Debütroman Warum das Kind in der Polenta kocht (1999), der autobiografische Züge aufweist und im fünften Kapitel der Studie untersucht wird, erzählt eine namenlose, kindliche Ich-Erzählerin »eine durch Flucht und Exil brüchig gewordene Familiengeschichte« (129). Nach der Flucht vor dem neostalinistischen Ceaușescu-Regime in den Westen leidet das Kind nicht nur unter »einem allumfassenden Gefühl der Heimatlosigkeit« (119), sondern auch unter »der starken Exzentrik seiner Mutter« (11), die als Zirkusakrobatin Tag für Tag in der Manege ein die Tochter beängstigendes Kunststück aufführt. Als Zirkusartistin (vgl. 139f.), als sexualisierte Frau (vgl. 155) und durch das spätere Abschieben der Kinder in ein Kinderheim (vgl. 147f.) weist die Mutter »ihre Mutterrolle immer wieder klar zurück. […] In der Missachtung der kindlichen Bedürfnisse nach Sicherheit, Geborgenheit und Fürsorge negiert sie klassische Rollenmuster des Weiblich-Mütterlichen und steht ihrer Tochter als Alteritätsfigur gegenüber.« (155) Meyer deutet Veteranyis Mutterentwurf folglich als ›destruktive Mutter‹. Dagegen wird in dem Roman Der Schwimmer (2002), dem im sechsten Kapitel analysierten Primärtext, eine ›geflüchtete Mutter‹ gezeigt, die ihre Familie ohne Vorankündigung verlässt. Die Autorin Zsuzsa Bánk (geb. 1965) hat die Geschichte in den 1950er Jahren in Ungarn, dem Herkunftsland ihrer eigenen Eltern, angesiedelt. Nachdem die Mutter aus den Zwängen des Sozialismus (und dessen Mutterbild) ausbricht und sich in den Westen absetzt, beginnt für die zurückgelassenen Angehörigen ein Nomadenleben, das zu einer Entortung und sozialen Isolation der mutterlosen Kinder führt (vgl. 192-196). Zu einer Alteritätsfigur wird die Mutter laut der Verfasserin u.a. durch ihren Außenseiterstatus in Ungarn (als mutmaßliche Roma), ihre Flucht in die Fremde des Westens (und ihre dortigen Assimilationsbemühungen bis hin zum Ablegen der ungarischen Muttersprache) sowie ihren Bruch mit gängigen Geschlechterrollen (vgl. 207-209), der neben dem Verlassen der Kinder auch ihr Aufbegehren gegen das Frauenbild ihrer Zeit betrifft: »Sie ist keine kommunistische Bäuerin, sondern sehnt sich nach einem selbstbestimmten Leben in der Großstadt. […] Gleichzeitig deutet der Text eine mögliche lesbische Beziehung zwischen Katalin [der Mutter; C.P.] und der mit ihr geflüchteten Vali an« (208). Der dritte Primärtext – Gegenstand des siebten Kapitels – stammt von SAID, der 1947 in Teheran geboren wurde und seit 1965 in Deutschland lebt. In dem Werk Landschaften einer fernen Mutter (2001), das von den drei untersuchten Texten am stärksten autobiografisch grundiert ist, beschreibt ein exilierter iranischer Schriftsteller das lang ersehnte Wiedersehen mit seiner ihm ›unbekannten Mutter‹, von der er kurz nach seiner Geburt in Iran getrennt wurde. »Mutterverlust und Exilerfahrung«, argumentiert Meyer, sind bei SAID »so eng miteinander verwoben, dass scheinbar nur eine Familienzusammenführung den politisch begründeten Heimatverlust kompensieren kann.« (257) Das verspätete Kennenlernen von Mutter und Sohn findet im Mai 1990 in Kanada, »auf neutralem Boden« (252), statt. Eine Mutter-Sohn-Beziehung entsteht dabei nicht mehr, so dass der Erzähler zehn Jahre später in einem nachgestellten Epilog zugleich Abschied von seiner Mutter und vom Iran nimmt (vgl. 283f.). Indem die Mutter den Erzähler als »verderbt, schamlos und verwestlicht« (281) bezeichnet und seine schriftstellerische Tätigkeit ablehnt, »erscheint die Mutter letztlich auch bei SAID als Verhinderungsfigur eines transkulturellen Lebensentwurfes des Protagonisten.« (282) In allen drei Texten zeigt Meyer überzeugend auf, dass die Mutter eine »performative Figur im Sinne Judith Butlers« (301) ist und somit »ihren essenzialistischen Status« (302) verliert. Durch Grenzüberschreitungen wird bei Veteranyi, Bánk und SAID »ein Raum eröffnet, der die Neuaushandlung von Identität in Abgrenzung zur Mutter als Anderer anstößt.« (300) Am Ende steht jeweils »die Integration der mütterlichen Fremdheit in den eigenen Identitätsentwurf.« (302)

Aufgrund ihrer genauen Textanalysen ist Meyers Monografie durchaus lesenswert. Betont werden muss allerdings, dass zu den Primärtexten (v.a. zu Warum das Kind in der Polenta kocht und dem Schwimmer) wesentlich mehr Sekundärliteratur vorliegt, als die Verfasserin die Leser eingangs glauben macht (vgl. 17). Dies beweist die Verfasserin selbst, indem sie allen Einzelanalysen eine mehrseitige Einführung in die »Quellenlage und Rezeption des Werkes« (121, 181 und 240) voranstellt. Wenn zum literarischen Werk Veteranyis bereits mehr als 20 Aufsätze und vier Dissertationen erschienen sind (vgl. die Fßn. 432-452 der Studie), ist das für eine Autorin, deren Debütroman aus dem Jahr 1999 stammt und die drei Jahre später aus dem Leben schied, durchaus bemerkenswert. Auf die literaturwissenschaftlichen und literaturkritischen Beiträge nimmt die Verfasserin im Rahmen ihrer eigenen Textanalyse folgerichtig auch immer wieder Bezug – im Veteranyi-Kapitel ist dies insbesondere Katja Surens Dissertation (vgl. 2011), im Bánk-Kapitel die Dissertation von Szilvia Lengl (vgl. 2012). Der Rezensent erlaubt sich an dieser Stelle den Verweis auf seine ungefähr zeitgleich entstandene, von der Autorin nicht mehr berücksichtigte Dissertation, in der SAIDs Werk Landschaften einer fernen Mutter bereits einem close reading unterzogen wurde (vgl. Palm 2017). Auch wenn in dieser Arbeit der Fokus weniger auf der Mutterfigur als den Exilierungen des Erzählers liegt, sind hier viele Einsichten in ähnlicher Weise zu finden – auf theoretischer Ebene übrigens auch eine nuanciertere Auseinandersetzung mit Welschs Konzept der ›Transkulturalität‹ (vgl. ebd.: 230-236).

Ein Blick auf die vorhandene Sekundärliteratur verrät, dass die Verfasserin ihrem mutig formulierten Anspruch, »eine gravierende Forschungslücke« (23) zu schließen, nicht gerecht werden kann. Dafür hätte sie ein weniger erschlossenes Textkorpus wählen müssen. Auch wenn die Arbeit weniger innovativ ist, als sie gerne wäre, kann sie mit der Fokussierung auf die Mutter als Alteritätsfigur als ein weitgehend gelungener Beitrag zu einer inter- und transkulturell orientierten Literaturwissenschaft betrachtet werden. Zu bemängeln sind abschließend noch das reduktionistische Verständnis von ›Komparatistik‹ (vgl. Fßn. 64), technische Pannen in den Fußnoten 115 und 133 (wodurch ein Teil des Fußnotentextes fehlt), eine Namensverwechslung (die Zeit-Journalistin heißt nicht Sabine Mayer, sondern Susanne Mayer; vgl. 60) sowie das Fehlen von Siglen für die Primärtexte. Dadurch wird der positive Gesamteindruck aber höchstens geringfügig geschmälert.

Christian Palm

Literatur

Bosse, Anke (2013): Interkulturalität – von ›Transfer‹ zu ›Vernetzung‹. In: Christiane Solte-Gresser / Hans-Jürgen Lüsebrink / Manfred Schmeling (Hg.): Zwischen Transfer und Vergleich. Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturbeziehungen aus deutsch-französischer Perspektive. Stuttgart, S. 65-78.

Göbel-Uotila, Marketta (2005): Medea. Ikone des Fremden und des Anderen in der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Hildesheim.

Lengl, Szilvia (2012): Interkulturelle Frauenfiguren im deutschsprachigen Roman der Gegenwart. Aspekte der interkulturellen Literatur und der Literatur von Frauen in den Werken von Terézia Mora, Zsuzsa Bánk und Aglaja Veteranyi im Vergleich zu den Werken von Nella Larsen und Gloria E. Anzaldúa. Dresden.

Müller-Funk, Wolfgang (2007): Nach einer Philosophie der symbolischen Formen. Aspekte einer narrativen Kulturtheorie. In: Iris Därmann / Christoph Jamme (Hg.): Kulturwissenschaften. Konzepte, Theorien, Autoren. München, S. 89-104.

Ders. (22008): Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Wien / New York.

Palm, Christian (2017): Exil und Identitätskonstruktion in deutschsprachiger Literatur exilierter Autoren. Das Beispiel SAID und Sam Rapithwin. Heidelberg.

Suren, Katja (2011): Ein Engel verkleidete sich als Engel und blieb unerkannt. Rhetoriken des Kindlichen bei Natascha Wodin, Herta Müller und Aglaja Veteranyi. Sulzbach / Taunus.