Das Prinzip des Reisens ist auch das Prinzip des Fragens

Botschafter der Sphinx

Helmut Schäfer

Wiederabdruck nach: Helmut Schäfer: Das Prinzip des Reisens ist auch das Prinzip des Fragens. Botschafter der Sphinx. In: Natalie Bloch/Dieter Heimböckel (Hg.): Theater International. Eine Vortragsreihe. Bd. 1. Bridel 2014, S. 47-62 © Die Autoren 2014 Hydre Éditions.

Als wir das ›Theater an der Ruhr‹ 1981 gegründet haben, waren wir uns schon im Vorfeld sicher, dass die internationale Arbeit einer unserer Schwerpunkte sein würde. Zu dieser Zeit wäre das anderen Theatern nicht in den Sinn gekommen. Wir haben vor über drei Jahrzehnten also etwas gemacht, was eigentlich gar nicht ging: Wir haben Schauspieler engagiert, die noch kein Deutsch sprachen, die es im Laufe der Arbeit erst gelernt haben. Eine ganz wichtige, zunächst fremdsprachige Schauspielerin war Gordana Kosanović, die wir durch eine Inszenierung in Belgrad – noch vor der Gründung des Theaters – kennenlernten. Sie gründete mit uns das ›Theater an der Ruhr‹ und war eine zentrale Säule der ersten fünf Jahre. Schrecklicherweise starb sie 1986 – viel zu früh.

Für das Publikum und die Kritik war die Besetzung mit fremdsprachigen Schauspielern vollkommen ungewohnt. In der Folge haben noch viele Schauspieler bei uns gearbeitet, deren Muttersprache eine andere war. Zu diesem Schritt führte uns die Überzeugung, dass alle Kulturen hybrid sind, dass nationale Kulturen in diesem Sinne nie existiert haben. Betrachtet man Texte von Autoren wie Shakespeare oder Goethe, wird dies bereits zu ihren Zeiten deutlich. Die Vorstellung einer nationalen Kultur ist historisch im späten 18. Jahrhundert in Deutschland entstanden, als die Idee der Nation noch von dem Gedanken der Befreiung getragen war. Dieses Konzept einer nationalen Kultur paarte sich im 19. Jahrhundert in Europa mit der Konstruktion der reinen Rasse und wurde damit endgültig unhaltbar. Es war von vornherein absurd, da die Vorstellung von einer reinen Kultur im Rückblick auf die Geschichte bizarr ist. Um solche Vorstellungen zu durchbrechen, haben wir als Erstes gesagt: »Na, dann schauen wir doch mal, was passiert, wenn wir mit einer jugoslawischen Schauspielerin arbeiten, deren Qualität – und dies war natürlich unser wichtigstes Motiv – herausragend ist.« Später haben Schauspieler aus allen möglichen Ländern in unserem Ensemble gespielt, Mexikaner, Niederländer, Türken, Spanier.

Durch diese Begegnungen entstanden Erfahrungen, die wir ansonsten ausgesperrt hätten. Solche Erfahrungen lassen sich nur durch die Praxis gewinnen, theoretische Vorerwägungen helfen da nicht sonderlich weiter. Das war auch der Grund, weshalb wir uns sehr rasch entschlossen haben, Kontakt mit Ländern aufzunehmen, die eher ›neben der Hauptstraße‹ liegen. Zunächst gab es den wichtigen Kontakt mit Jugoslawien, einem Land, mit dem wir sehr intensiv zusammengearbeitet haben. 1985 / 86 haben wir das erste Mal ein Festival bei uns in Mülheim mit jugoslawischen Theatern ausgerichtet. Die Grundidee bestand darin, über drei Jahre die Kultur eines Landes vorzustellen. Wir haben nicht nur Inszenierungen eingeladen, sondern auch flankierende Veranstaltungen angeboten, wie z.B. Ausstellungen, Diskussionen, Lesungen etc. So hatten die Zuschauer die Möglichkeit, tatsächlich tiefer in die Theaterkultur eines anderen Landes hineinzuschauen. Wir haben es damals geschafft, dies mit 40.000 DM, heute also 20.000 €, umzusetzen. Mehr Geld gab es nicht.

Um das alles überhaupt finanzieren zu können, kam uns die Idee des Austauschprinzips, das heißt, wir haben auch in dem anderen Land zu ähnlichen Bedingungen gespielt – erst dadurch wurde unser Festival, das wir seitdem »Theaterlandschaften« nennen, möglich. Nach der dreijährigen Phase mit Jugoslawien haben wir uns sehr stark Richtung Osteuropa orientiert. Die Theaterkultur dieser Länder war zu jener Zeit im Westen eher unbekannt. Französische oder italienische Theater musste man nicht unbedingt präsentieren, denn die Möglichkeit, Aufführungen aus diesen Ländern zu sehen, existierte schon länger. Vielmehr galt es, aus unserer Sicht die Länder zu zeigen, die in der Bundesrepublik Deutschland zu dieser Zeit nicht vertreten waren. Jahre später haben wir ein Seidenstraßen-Projekt entwickelt, in diesem Zusammenhang waren wir 2002 – als erstes Theater aus dem Westen seit 1979 – in Teheran, nur wenige Wochen vor dem Krieg in Bagdad haben wir dort gespielt. Diesen Weg der internationalen Arbeit, der uns in Länder führte, für deren Kultur sich kaum jemand interessierte, sind wir konsequent gegangen und haben sie ebenfalls zu »Theaterlandschaften« in Mülheim an der Ruhr eingeladen.

Aber zurück zum Anfang: Dass Theater reisen, entspricht sozusagen ihrer Kunst. Betrachtet man die aristotelischen Überlegungen zu der Differenz der Akte, erkennt man ein Prinzip des Reisens, der Bewegung. Die Zuschauer begeben sich ebenfalls auf eine Reise und wandern von Akt zu Akt mit. Auch die Romanliteratur ist schlussendlich aus der Reiseliteratur entstanden – wie Ralf Rainer Wuthenow das sehr schön in seinem Buch Muse, Maske und Meduse dargestellt hat. Auch Georg Lukaćs hat in seiner Theorie des Romans zu zeigen versucht, dass mit Gustave Flaubert in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine entscheidende Veränderung eintrat. Die Reisen in unbekannte Länder wurden sekundär, da durch die Kolonialisierung der Welt nahezu alles erkundet war; das wurde nun zu einem Spezialgebiet der Wissenschaften, der Ethnologie. Die Literatur beginnt zu diesem Zeitpunkt, sich auf die Reise ins Innere des Subjekts zu begeben. L’Éducation sentimentale von Flaubert sei als Beispiel erwähnt. Auch in der Theaterliteratur lässt sich das erkennen, wenn auch in anderen Zeitzusammenhängen. Genannt seien vor allem die nordischen Dramatiker Ibsen und Strindberg.

Ich halte dies insofern für interessant, als es uns etwas über eine andere Idee des Reisens mitteilt, eine Idee, die mit der Aufklärung verbunden ist. Und da kommen zwei Sachen zueinander: Aufklärung und Selbst-Aufklärung. Der, der reist, ist einer, der sich selbst aufklärt. Was macht er? Er verlässt sein Geviert, um andere Orte anzuschauen und sie miteinander zu vergleichen. Er wird womöglich feststellen: »Moment mal, zuhause sind die Verhältnisse ja viel schlechter, als ich es hier in der Fremde erlebe.« Reisen ermöglicht also zuallererst die Befähigung zum Vergleich. Ist diese Möglichkeit eröffnet, entstehen Fragen. Ähnlich war die Wirkung der ersten Bibelübersetzung aus dem Lateinischen ins Deutsche. Erstmalig konnten die Menschen verstehen, was ihnen zuvor auf Lateinisch vorgetragen wurde und worauf sie sozusagen liturgisch reagierten. Sie konnten es nun auch, je nach Befähigung, überprüfen. Bis zu diesem Zeitpunkt war ihnen die Möglichkeit, Fragen zu stellen, nicht gegeben; Kritik blieb so mehr oder weniger ausgeschlossen. Wie hier ist auch das Prinzip des Reisens ein Prinzip des Fragens. Aufklärung entsteht nicht durch Antworten, sondern durch Fragen. Und Selbstaufklärung ist ein Aspekt des Prinzips des Reisens innerhalb der Theaterkunst.

Anknüpfend an solche Überlegungen haben wir uns seinerzeit gefragt, wohin wir reisen wollen? Das, was wir zu kennen glaubten, sollte es nicht sein. Aufklärung als Selbstaufklärung ist womöglich in Turkmenistan oder Bagdad erfolgreicher als in den USA. Deshalb ist der Einfluss auf die eigene Arbeit durch diese Reisen nicht zu unterschätzen. Bewusst wurde uns das, als wir Ende der 1990er Jahre Antigone von Sophokles machten. Die Art und Weise, wie wir es inszenierten, wäre ohne sehr bestimmte Erfahrungen in diesen Ländern nicht möglich gewesen. Das bedeutet nun nicht, dass man Antigone ohne solche Impressionen nicht inszenieren könnte – das wäre töricht –, aber unsere Inszenierung ließ erkennen, dass bestimmte Einflüsse von Erfahrungen in sie eingegangen waren, die sich der langjährigen Praxis des Reisens verdankten und uns eher fremde Bildwelten zeigten. Entsprechend unterschiedlich fielen die Reaktionen auf die Aufführung aus.

Ein Blick auf die Antike zeigt schon, dass auch dort das Prinzip des Reisens für die literarischen Werke bedeutend, ja zentral war. Auf welche Reise begibt sich Odysseus eigentlich, wenn er zum Beispiel im 13. Gesang, dem vielleicht theatralischsten von allen, ins Totenreich gelangt und dort auf die Vorfahren seines Geschlechts und Stammes trifft? Was soll durch die Reisen der Odyssee erzählt werden? Horkheimer und Adorno sprechen in der Dialektik der Aufklärung mit Blick auf die Odyssee von der Fluchtbahn des Subjekts. Festzuhalten ist, dass sich Odysseus an den damals bekannten Rändern der Welt entlang bewegte, und das, was sich in die eigene Herkunftsidentität nicht fügte, wurde zerstört. So galt es, unter anderem, den Zyklopen zu vernichten. Insofern ist die Fluchtbahn des Subjekts auch eine Blutspur, die zu einer endgültigen Identität verhelfen sollte, aus der heraus Subjektivität begründbar schien. Zwei Jahrzehnte später bemerkte Adorno in der Negativen Dialektik, dass Identität die größte Schimäre sei, mit der man sich herumschlage. Wahrscheinlich, so muss man schließen, ist Subjektivität bis heute nichts anderes als die Aufhebung, vielleicht Vernichtung dessen, was den eigenen Erfahrungen fremd und nicht kommensurabel ist.

Wir haben uns also entschieden, dorthin zu gehen, wo man sich wahrscheinlich nicht auskennt. 1987 begannen wir eine intensive Zusammenarbeit mit der Türkei. Als erstes deutsches Theater gastierten wir dort vor bald 30 Jahren mit Mitteln des Goethe-Instituts und haben im selben Jahr das türkische Nationaltheater nach Nordrhein-Westfalen eingeladen. Die türkischen Schauspieler gastierten in mehreren Städten Nordrhein-Westfalens vor restlos ausverkauften Häusern, mehrheitlich von türkischen Mitbewohnern besucht. Nun lag es auf der Hand, dass man diese Arbeit institutionalisieren musste, denn die zahlreichen türkischen Arbeitsimmigranten und Steuerzahler in Nordrhein-Westfalen hatten auch einen Anspruch darauf, regelmäßig Theater in ihrer eigenen Sprache in deutschen Stadttheatern zu hören und zu sehen. Wir bieten türkische Inszenierungen mittlerweile regelmäßig an. So zeigen wir seit drei Jahren unter dem Titel Szene Istanbul alle vier bis fünf Wochen eine andere Inszenierung aus Istanbul, sodass es für die türkischen Mitbürger eine selbstverständliche Angelegenheit ist, Theater in ihrer Heimatsprache zu sehen.

Diese Zusammenarbeit mit dem türkischen Theater haben wir fortgesetzt. Es gab damals keine freie Szene in der Türkei, es gab nichts außer dem türkischen Staatstheater und dem Stadttheater. Das türkische Staatstheater ist unter der Beratung des deutschen Emigranten Carl Ebert gegründet worden. Es hat seine Zentrale in Ankara. Nach und nach entstanden weitere Theater in verschiedenen Städten. Dieses vollständig zentralisierte Theater ist autoritär organisiert und von politischen Intrigen durchdrungen, sodass die Intendanten sich kaum länger als ein bis zwei Jahre halten können. Mühselig für eine Zusammenarbeit, aber wir haben diese Mühen auf uns genommen und konnten so die allererste Koproduktion mit der Türkei machen.

1994 luden wir türkische Schauspieler des Nationaltheaters nach Mülheim ein und inszenierten mit ihnen zusammen Im Dickicht der Städte von Bertolt Brecht. Es war wohl die erste mehrsprachige Arbeit in der Bundesrepublik. Türkisch, Deutsch, Spanisch, Englisch und noch einige deutsche Dialekte haben wir in diesem Zusammenhang versammelt. Im Dickicht der Städte eignet sich besonders gut, weil in diesem fiktiven Chicago, das Brecht dort ausmalt, zwei Volksgruppen aufeinandertreffen: Europäer auf der einen und Asiaten auf der anderen Seite. Es findet ein gnadenloser Kampf zwischen Garga und Shlink statt, ein Kampf um Liebe, der im Namen von Herrschaft und Unterwerfung ausgefochten wird. Das eigentliche Ziel dieses Kampfes ist der Untergang. In Im Dickicht der Städte ist Brecht eigentlich – was sich kaum verstehen lässt, wenn man ihn nur auf das epische Theater reduziert – am Irrationalen interessiert. Das sind die allerbesten Brecht-Texte, die frühen Theaterstücke, aber auch die Kriegsfibel und seine Lyrik. Dieses Irrationale entzündete unser Interesse. Denn auch beim Zusammenkommen verschiedener Kulturen ist natürlich etwas Irrationales, etwas nicht Nachvollziehbares festzustellen. Wir wissen wenig übereinander, und das öffnet den Raum für Spekulationen, und die wildesten haben ihren Ausgang in dem, was wir an uns selbst nicht verstehen und auf die andere Kultur projizieren.

Interessanterweise werden wir im kommenden Jahr1 wieder eine Koproduktion mit der Türkei machen. In ähnlicher Formation, dieses Mal aber mit einem freien Theater, dem Kumbaracı50. Trotz größerer Pausen hat also immer eine Kontinuität zwischen unserem und dem türkischen Theater bestanden.

Diese Zusammenarbeit führte uns zu der Idee, die Seidenstraße zu bereisen. Es war ein vielbesprochenes Projekt, auch in der Öffentlichkeit. Es begab sich, dass wir eine Frau Stoop-Wirth des Goethe-Instituts in Ankara trafen, die wir aus Zagreb schon kannten. Diese Frau war eine der besten MitarbeiterInnen des Goethe-Instituts, der ich je begegnet bin, eine wunderbare Person. Sie hatte die Idee, man müsse die Seidenstraße mit dem Theater bereisen. Sie selbst hatte das bereits mit einem VW-Bus gemacht, ganz alleine. Wir waren sofort begeistert, stellten uns aber auch die Frage, ob man in Länder wie den Iran oder den Irak tatsächlich reisen sollte. Wir haben das dann lange mit dem Ensemble diskutiert. Das seinerzeit akute Problem bestand darin, dass, kurz bevor unser Gastspiel stattfinden sollte, zwei bedeutende iranische Schriftsteller ermordet wurden. Es war klar: Wir konnten nicht einfach dorthin fahren und so tun, als wenn nichts geschehen wäre. Am Ende haben wir uns entschieden, in den Iran zu reisen, um nicht die Falschen zu bestrafen, nämlich diejenigen, die an wirklicher Kommunikation interessiert waren.

Zunächst waren wir sehr überrascht, welche Inszenierungen eingeladen wurden. Es gab zu dieser Zeit einen politisch liberalen Flügel, der sich um eine vorsichtige politische Öffnung des Iran bemühte. Sie luden zwei Inszenierungen ein: Tschechows Kirschgarten und eine Aufführung mit dem Titel Pinocchio-Faust. Wir hatten Faust I in zwei Teile aufgeteilt, im ersten Jahr entstand Pinocchio-Faust, im zweiten Jahr der zweite Teil Margarete-Faust. In Pinocchio-Faust haben wir die Geschichte von Faust aus der Perspektive dieses Pinocchios, der aus einem Tischbein geschnitzt wird, erzählt. Wenn man den Anfang von Faust I liest, trifft man auf einen leichenähnlichen Menschen, ohne Perspektive, ohne gelebtes Leben. Wie also muss die europäische Kultur beschaffen sein, dass sie ein solches Wesen, diesen Faust, hervorbringt? Pinocchio ist, kaum auf der Welt, von ungeheurer Vitalität, durchläuft dann eine Erziehungsmaschine, die ihn eben zu jener Leiche macht, auf die wir in Goethes Faust treffen. Um das zu erzählen, haben wir Pinocchio in ein Jesuiten-Seminar versetzt, wo er von den Patres erzogen wird, eher unangenehme, autoritäre Zeitgenossen. Dass die Iraner ausgerechnet diese Aufführung eingeladen haben, hat uns zunächst sehr verwundert. Doch uns wurde klar, dass sie etwas darüber erzählt wissen wollten, was in ihrem Land passiert, da in unserer Inszenierung eben diese Patres, die Geistlichen, es waren, die Pinocchios Vitalität zerstörten.

Am ersten Abend in Teheran, kurz vor der Vorstellung (der Saal war schon voll), stand immer noch wie bei einem Rockkonzert eine unglaubliche Zuschauermenge vor dem Theater und drängte mit Macht nach innen. Die Verantwortlichen wussten nicht mehr, was sie tun sollten. Roberto Ciulli hatte dann spontan eine Ansage gemacht, in der er die Morde an den Schriftstellern ansprach. Die Veranstalter wurden immer nervöser, denn es war für sie auch sehr prekär, weil sie uns eingeladen hatten und genau diese liberale Öffnung wollten. Diese Morde an den Schriftstellern konnte man allerdings nicht unter den Tisch fallen lassen, da war nichts zu machen.

Das war der erste Baustein unseres Seidenstraßen-Projektes, einer Reise, die uns bis nach Kirgisien geführt hat. Umgekehrt haben wir in all diesen Jahren die Theater aus den jeweiligen Regionen in einer »Theaterlandschaft Seidenstraße« in der Bundesrepublik präsentiert. In den letzten Jahren haben wir uns verstärkt mit den Ländern beschäftigt, in denen der arabische Frühling bald ein grauer Winter wurde.

Ich möchte noch einmal zur Antike zurückkommen und damit auch zu der Frage, warum man reist. Antike Dramen sind die Verarbeitung von Mythen, insofern handelt es sich um eine zweifache Aufklärung. Denn die Mythen selbst sind Aufklärung, man braucht nur an den bereits zitierten Zyklopen zu denken. Warum ein Vulkan Lava speit, erklärte man sich eben aus einer Erzählung: Zeus hatte die Zyklopen in einen Berg verbannt, um dort seine Schwerter zu schmieden, darum schlugen aus diesem Berg Funken in Form von speiender Lava. Vom Status her ist das eine plausible, fast physikalische, die kausale Logik nutzende Erklärung, allerdings in Form einer Erzählung. Später ändert sich dieses Verhältnis, nicht mehr der Mythos ist der Grund des Theaters, sondern ab dem 18. Jahrhundert wird es die Geschichte selbst. Beispielsweise Wallenstein, wo Schiller in die Kriegsgeschichte zurückgreift: Er mystifiziert nicht die Geschichte, sondern er analysiert sie als Historiker, der er nun einmal war, und klärt den Zuschauer auf, weil Geschichte als Geschichte nichts anderes in sich trägt und von der, so Hegel, nichts zu lernen ist, da sie allein in der Chronologie der Kriege besteht. Tragödie und Mythos, Drama und Geschichte sind sozusagen die Grundfiguren der dramatischen Literatur. Neben diesen Grundfiguren existiert die Aufklärung, in Form einer doppelten Aufklärung: Die Tragödie enträtselt den Mythos und die hinter ihm stehenden Götter. Die Abwesenheit der Götter wird zum geheimen Zentrum der Tragödie, der Himmel ist leergefegt, von ihm ist keine Hilfe mehr zu erwarten, und die Menschen bleiben sich selbst überlassen – wahrhaft eine Tragödie bis heute. Durch diese Abwesenheit der Götter geraten auch die moralischen Parameter ins Schwanken, denn es gibt keine übergeordnete Instanz mehr, auf die man normative Vorschriften projizieren kann. Das war im politischen Interesse der attischen Tragiker, denken wir an die Bakchen, in denen Euripides bereits voraussagt, dass die attische Polis zusammenbrechen wird. Das Ende der Bakchen zeigt diesen Untergang, der sich aufgrund eines mechanisch gewordenen Staats vollzieht; dieser Staat von Pentheus, der die Frauen an die Webstühle verbannte. Dies ist für Euripides die Grundkonstellation: In dem Moment, in dem das Mythische zugunsten einer eindimensionalen Rationalität verbannt wird, also der Gott Dionysos ins Exil muss – Dionysos ist ja der zusammengeflickte Gott –, kehrt es mit Wucht in Gestalt des vertriebenen Gottes und seiner Heerscharen zurück und zerstört dieses Theben, dessen Menschen jede Triebnatur leugnen müssten.

Schon damals hat man sich mit der äußeren und der inneren Natur auseinandergesetzt. Das ist keine neuzeitliche, sondern eine antike Frage. In der Neuzeit, nach dem Ende des 30-jährigen Kriegs, wird klar, dass die Auseinandersetzung mit den Affekten grundlegend ist – was der Antike bewusst war. Das sieht man auch im König Ödipus von Sophokles: Auf einem Kreuzweg hindert Ödipus ein Reisender am schnellen Fortgang seiner Fahrt, voll Ungeduld erschlägt er ihn. Später, als er sich auf der Reise zu sich selbst als Detektiv befindet, um sein Schicksal zu verstehen, stellt er dann fest, dass dies sein Vater war. Die Reise wird nun zur Selbstsuche und führt nach innen, und er entdeckt auf dem Grund des Ichs nichts als die Leere des Subjekts. Nichts als Zufälligkeit, nichts, was uns auf eine vorhandene Transzendenz verweist. Es ist die einfache, blanke Materialität. Darin besteht das Außerordentliche der griechischen Tragödie, dass sie Jahrhunderte vor der Entstehung des sogenannten Materialismus in Frankreich im 18. Jahrhundert auf die bloße Materialität verweist. Dieses Verweisen erzeugte das Entsetzen.

Man könnte zum Beispiel auch Antigone anders lesen, als es gewöhnlich der Fall ist: dass sie ihren toten Bruder begräbt, um ihn nicht mehr sehen zu müssen, der Anblick ist ihr unerträglich, nur illusionslose Materie, die sie vermutlich auf sich selbst projiziert. Die Tragödie bringt den Materialismus deutlich ins Spiel.

Der Untertitel des heutigen Vortrags Botschafter der Sphinx meint natürlich auch die Abwesenheit einer unmittelbar sprachlichen Kommunikation. Ich spreche von einem anderen Verstehen. Natürlich verstehe ich in Teheran kein Wort, wenn ich eine iranische Vorstellung sehe, und dennoch beginnt etwas zu sprechen. Allein der Klang einer Sprache lässt einen etwas verstehen, der Fall der Worte, Schmerz hat einen fast physischen Gleichklang in allen Kulturen, aber Verstehen allein reicht nicht aus. Es geht um ein schauendes Verstehen, also darum, den Blick im Blick eines Kunstwerks oder einer Theateraufführung zu gewinnen. In Teheran haben die iranischen Zuschauer auf unsere Aufführungen wie auf eine Sphinx geschaut. Wir haben uns aber nicht wie die Sphinx den Berg hinuntergestürzt. Das tat sie nur deshalb, weil die Antwort von Ödipus auf die Frage: »Was geht auf vier Beinen am Morgen, auf zwei Beinen am Mittag und auf drei Beinen am Abend?« – »Der Mensch« lautete. Das Naiv-Prätentiöse dieser Antwort kann einen schon zur Verzweiflung bringen. Kein Wunder, dass sie sich den Berg hinuntergestürzt hat.

Schauendes Verstehen führt zu jenem Staunen, von dem gelegentlich behauptet wurde, dass es zum Ursprung der Philosophie gehöre. Im Theater drückt sich das Staunen in einem zentralen Symbol aus, dem roten Vorhang. Der Vorhang möchte uns bedeuten: Das, was dahinter ist, kennst du nicht. Und wenn du hierhin kommst, dann komm nicht darum, um etwas sehen zu wollen, was du kennst. Staune, dass du etwas siehst, was dir nicht bekannt, was dir fremd ist. So entsteht die Reise, von der ich gesprochen habe. Sehen wir auf der Bühne aber etwas, was wir hinlänglich kennen, und zwar nicht nur, weil wir das schon mal im Theater gesehen hätten, sondern auch täglich in jedem Wirtshaus sehen könnten, dann sind wir am falschen Ort.

Anmerkungen

1 | Anm. der Hg.: Gemeint ist also das Jahr 2015.