Migrierende Menschen – aktuelle Märchen

Die Rolle mündlicher Traditionen aus Afrika bei der Integration in Deutschland

Adriana Haro-Luviano de Rall / Dietrich Rall

Abstract

During recent years, critical cultural commentaries about globalization have repeatedly suggested that although the global transfer of goods has intensified and is nowadays almost unlimited, migrants are far from being able to cross borders without facing problems. Although this issue cannot be further explored here, cultural exchange as a by-product of migration and the trade of goods is not a new phenomenon but has been taking place for millennia. Fairy tales belong and have belonged to the literary genres that have been transcontinental in this way. In the context of the transitions between European and African cultures, this article outlines historical and current communication processes, using the example of anthologies and narrative situations in order to examine the tradition of German and African fairy tales and their impact on cultural transfer. A concrete example of such transitions is the Senegalese storyteller Ibrahima Ndiaye, who has been living in Saarland for 25 years and who is interested in the role of fairy tales, stories and children’s books to help people in Europe understand African culture and its customs and rites.

Title:

Migrants – Modern Fairy Tales. The Role of African Oral Traditions in Integration Processes in Germany

Keywords:

Africa; migration; cultural transfer; fairy tales; integration

1. Migration und Integration

Migration und Integration – heutzutage zentrale Themen und existentielle Probleme für Menschen, Gesellschaften und Völker – waren für kulturelle Güter wie Mythen und Märchen seit Jahrtausenden ein natürlicher Entwicklungsprozess, der bewies, dass Interkulturalität, Kulturtransfer und Horizonterweiterungen fundamentale Gegebenheiten des menschlichen Daseins sind. Zu den bekanntesten Gattungen, die auf diese Weise transkontinental unterwegs waren, gehören die Märchen, ursprünglich eine orale, heute aber auch eine literarische, visuelle und musikalische Gattung, besonders in Film und Fernsehen. Vom Märchen Rotkäppchen und der böse Wolf gibt es z.B. nicht nur die Fassung der Brüder Grimm, sondern auch viele regionale Varianten in Europa und Ostasien. Von der »kosmischen Jagd« lässt sich eine »Ur-Storyline« (Weber 2016) nachweisen: Ein Mensch jagt ein großes Tier. »Diese Jagd findet im Himmel statt oder sie führt die Beteiligten dorthin. Das Tier überlebt und verwandelt sich in das Sternbild des Großen Bären«; diese Geschichte hatte »sich schon Jahrtausende vor Ovid über die halbe Welt verbreitet: Neun Varianten fanden sich in Asien, eine in Afrika, zwei in Amerika.« (Ebd.)

Wie in den europäischen Tierfabeln stehen auch in afrikanischen Märchen oft Tiere im Zentrum der Erzählung:

Hyäne (Wolf) und Schakal (Fuchs) sind vermutlich überall in Afrika Protagonisten für Dummheit bzw. Schlauheit; die Spinne kommt als Trickser-Figur vor allem in Westafrika und im oberen Nilgebiet vor, während der Hase in dieser Rolle hauptsächlich in Zentral- und Ostafrika verbreitet ist. Die Schildkröte als Symbol für Klugheit dürfte allgemein in Afrika vorkommen (Jungraithmayr 1994: 344).

Der Autor des Nachworts, der Anmerkungen und des Literaturverzeichnisses zu den Afrikanischen Märchen, ursprünglich schon 1917 herausgegeben von Carl Meinhof und ab 1991 neu aufgelegt im Diederichs Verlag, gibt seiner Hoffnung Ausdruck, »dass ein allgemeiner afrikanischer Motivindex« zur Klärung vieler offener Fragen beitragen wird, besonders ein von der DFG gefördertes, interuniversitäres Projekt, »das sich die Erstellung eines Motiv- und Themenkatalogs für Afrika zum Ziel gesetzt hat«. An verschiedenen deutschen Universitäten wurden laut Jungraithmayr in den 90er Jahren »ebenfalls umfangreiche Sammlungen afrikanischen Erzählguts bearbeitet und für vergleichende Untersuchungen aufbereitet.« (Ebd.: 344f.). Christian Weber fährt in seinem Artikel fort:

Bereits vor Jahren erstellten Wissenschaftler den ATU-Katalog (abgekürzt für Aarne-Thompson-Uther), bis heute das wichtigste Referenzwerk. Es verzeichnet 2000 unterschiedliche sogenannte »Internationale Typen« von Volkserzählungen und Märchen aus 300 Kulturen weltweit, die jeweils aus einem bestimmten Mix von Themen, Plots und Charakteren bestehen. […] Neu hingegen sind die Methoden, mit denen Anthropologen und Ethnologen, Linguisten und Kognitionswissenschaftler die Märchen, Mythen und Sagen der Welt erkunden. Sie bedienen sich der Algorithmen der Genetik, um auf einer besser abgesicherten Basis zu den Ursprüngen der großen und kleinen Erzählungen der Menschheit zu gelangen. (Weber 2016)

Auf diese Weise sind Stammbäume und Verwandtschaftsbeziehungen rekonstruierbar, und es lassen sich ihre Wurzeln entdecken: »[S]ie reichen mitunter bis in die Altsteinzeit« (ebd.). Mit dieser an der Genetik orientierten Methode lässt sich der Ursprung von Märchen, Mythen und Sagen tiefer ergründen und weiter verfolgen als bis in den Orient, der Herkunft von so berühmten Sammlungen wie den Märchen von Tausendundeiner Nacht, der Historia septem sapientium oder Teile des Decamerone von Boccaccio. Die dritte Erzählung des ersten Tages dieses zehnmal zehn ›Novellen‹ enthaltenden Erzählmarathons dreht sich um die Ringparabel, eine »märchenhafte Erzählung« (Wiedemann 1994: 388), die im Zentrum des wohl bekanntesten Theaterstücks der deutschen Aufklärung steht: Gottfried Ephraim Lessings dramatisches Gedicht Nathan der Weise, das Werk der deutschen Literatur über Toleranz und Zusammenleben von Kulturen und Religionen.

Auf dem GiG-Kongress Europa im Übergang in Flensburg 2017 steht die Thematisierung von Transferprozessen im Zentrum. »Es gilt, die große Bedeutung von Übergängen herauszustellen sowie Transformationen in literarischen Poetiken, in kulturellen, kognitiven und emotionalen Prozessen, in interkultureller Kommunikation und interlingualen Transferprozessen aufzuzeigen, zu beschreiben und zu analysieren« (GiG 2017: 2). Ebenso wird darauf hingewiesen, dass im Rahmen des Kongresses »vergleichende Untersuchungen des ›Nordens‹ mit dem ›Süden‹ und dem maritimen Großraum des Mediterraneums, einschließlich der Übergänge zwischen europäischen und afrikanischen Kulturen« im Fokus stehen« (ebd.).

»Globale Migration ist das Thema unserer Zeit«, schreibt Paul Collier, und wie viele andere Migrationsforscher hat er erkannt, dass man vor dieser Situation und der damit zusammenhängenden Wahrheit nicht die Augen verschließen kann: »Flucht und Migration sind strukturelle Probleme, unser wirtschaftliches und politisches System forciert das, was wir ›Flüchtlingskrise‹ nennen: globale Wanderbewegungen«. Und: »Seit einigen Jahrzehnten erleben wir auf der Welt den Beginn eines Ungleichgewichts epischen Ausmaßes«. (Collier 2016: 20) »Die Flüchtlingskrise ist eigentlich eine Staatskrise«, findet der Publizist Ranga Yogeshwar, und eine »etwas naive Willkommenskultur« (Yogeshwar 2016: 32) sollte einem intensiven und innovativen Nachdenken über Integration Platz machen:

Ich glaube, dass uns die Ankunft so vieler Geflüchteten in Europa zum ersten Mal vor Augen führt, dass unsere eigenen Handlungen spürbare Folgen haben. Insofern ist das ein historischer Moment. Bisher wurden wir mit den Konsequenzen unserer Lebensweise, unseres Wirtschaftssystems und unserer Außenpolitik nie spürbar konfrontiert. Weder in der Kolonialzeit noch in der Moderne wollten wir von den Katastrophen, die wir in der Welt anrichteten, etwas wissen. (Ebd.: 32f.)

Die Integration von Migranten und Einwanderern aus Afrika und dem Vorderen Orient steht im Mittelpunkt der Diskussion darüber, wie und wie viele Migranten in den verschiedenen europäischen Ländern aufgenommen werden können. Dabei kann es nicht nur darum gehen, sich an eine oder mehrere ›Leitkulturen‹ anzupassen oder sie gar zu verinnerlichen, sondern es stellt sich auch die Frage, inwieweit die Bewohner der aufnehmenden Länder bereit sind, kulturelle Inhalte aus den Herkunftsländern der Migranten zu tolerieren, zu akzeptieren oder gar in die eigene Kultur zu integrieren. Andererseits sollte man nicht übersehen, dass nicht alle Migrierenden auf der Flucht sich unbedingt, z.B. in Deutschland, integrieren möchten. Vielleicht ist ja dieses Land nur eine Zwischenstation und wir brauchen »Integrationsmodelle auf Zeit«, wie es Jürgen Wertheimer (2016) genannt hat. »Mit Integrationskursen und ein wenig Landeskunde« ist es nicht getan und auch nicht mit einem vagen Kulturbegriff, denn »nicht alle Flüchtlinge wollen langfristig in Deutschland bleiben«, für viele ist Deutschland ein »Ausweichziel« auf dem Weg woandershin, eine Warteschleife, »bis sie selbst wissen, ob und wohin die Reise gehen soll« (ebd.).

2. Märchen und Integration, am Beispiel des Lebens und Werks von Ibrahima Ndiaye

Aber viele Migranten wollen und sollen sich integrieren. Die Gruppe von Migranten, welche qua Gesetz am schnellsten in bestehende Strukturen der Gastländer integriert werden könnten, sind die schulpflichtigen Kinder. Damit die Integration in die Klassen und Gruppen gelingt, müssen sich nicht nur die Neulinge anpassen, sondern die schon bestehenden Gruppenverbände sollten sich so weit öffnen, dass die Neuankömmlinge ihren Platz darin finden können. Dabei wird die Frage eine wichtige Rolle spielen, ob die Mitglieder der Klassenverbände flexibel genug sind, um das fremdkulturbedingte Agieren und Denken zu tolerieren und zu akzeptieren. Die in Marburg lebende Sozialwissenschaftlerin und Journalistin afrikanischer Herkunft, Nkechi Madubuko, weiß über Rassismus im Alltag Bescheid: »Kinder und Jugendliche, die eine Migrationsgeschichte haben, sind oft mit Vorurteilen und Rassismus konfrontiert. Kinderpsychologen wissen, dass rassistische Beschimpfungen, vor allem wenn sie regelmäßig vorkommen, keine Kleinigkeiten, sondern seelische Verletzungen sind« (Madubuko 2016). Kinder können lernen, sich zu wehren und ein gutes Selbstwertgefühl mit ihrem »Anderssein« aufzubauen, ein Prozess, den die Autorin »Empowerment« nennt (ebd.).

Die Migranten bringen Gedanken, Sitten und Gebräuche mit sich, die wahrscheinlich zunächst von Mitschülern als ›fremd‹ empfunden werden. Und sie bringen Geschichten aus ihren Kulturen und Gesellschaften mit sich, die horrend sein können, aber sie können auch Interesse wecken, neugierig machen und ihren Mitmenschen dabei helfen, sich neue Welten zu erschließen.

Im Folgenden gehen wir anhand von Anthologien und anderen Publikationen der Frage nach, wie Märchen aus europäischer und afrikanischer Tradition im Integrationsprozess und beim Kulturtransfer eingesetzt werden können und eingesetzt wurden, sei es im formalen Unterrichtsgeschehen oder im Rahmen von Lesungen vor Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Dabei gehen wir konkret auf Werke und Veranstaltungen des aus dem Senegal stammenden Autors Ibrahima Ndiaye ein. Der Geschichtenerzähler lebt seit 25 Jahren im Saarland und begeistert auf seinen Veranstaltungen sowohl Kinder als auch Erwachsene – diese besonders als Kabarettist. Auf seiner Homepage definiert er diese Seite seiner Arbeit als »ein interkulturelles Kabarett, senegalant und saarkastisch« (Ndiaye 2014).

Im Vorwort zu Ibrahima Ndiayes Märchenbändchen Mini-Mini, die Schlange, die Füße haben wollte schreibt Leo Meiser, Landesbeauftragter für pädagogische Prävention des Saarländer Ministeriums für Arbeit, Familie, Prävention, Soziales und Sport, über Ibrahima Ndiaye:

Er ist ein Meister in der Vermittlung der Kultur seiner ersten Heimat Afrika, ein Mann von unglaublicher Kraft und Glaubwürdigkeit im Bemühen um die Integration von Menschen seiner Hautfarbe in seiner zweiten Heimat Deutschland und ein »Kinderversteher«. […] Tatsächlich nimmt der perfekt deutsch und ebenso überzeugend auch »saarländisch« sprechende Künstler zumeist Kontakt mit seinen kleinen und großen Fans auf, indem er seine Trommel, seine Rhythmik, seine Musik und seinen Tanz die Herzen öffnen lässt. Dies gelingt ihm seit nunmehr zehn Jahren äußerst erfolgreich. In dieser Zeit hat »Ibo« mit etwa 500 Sportvereinen und über 100 Grundschulen im Saarland erfolgreich gearbeitet und rund 20.000 Kinder im Alter von sechs bis 10 Jahren in beeindruckender Weise soziales Lernen vermittelt. (Leo Meiser 2010: 4f.)

Die Reaktionen auf Auftritte Ibrahima Ndiayes in anderen Bundesländern sind ähnlich positiv und sowohl in der Presse als auch im Internet einsichtbar. So machte er auf einer Lesereise durch Ostfriesland in Blomberg und Neuschoo Halt und brachte einen Hauch von Schwarzafrika ins ferne Ostfriesland. Aus Garbsen, Region Hannover, melden die Medien im Januar 2017:

Afrikanische Märchen als Integrationsprojekt. Kinder mit Migrationshintergrund finden sich oft schwer in der neuen Heimat zurecht. Für ein Integrationsprojekt ist Autor Ibou Ndiaye an die Grundschule Stelingen gekommen, mit einem afrikanischen Märchen zum Mitspielen im Gepäck. Trommeln, Tierstimmen und gemeinsames Lachen, das verbindet schnell. (Behrens 2017)

Ähnlich beeindruckt von Ndiayes Ausstrahlung, Kunst und Wirkung zeigte sich der Reporter, der von einer Veranstaltung am Goethe-Institut Senegal im Jahr 2015 berichtete:

Im Märchen Mini-Mini erzählt Ibrahima von der Geschichte einer kleinen Schlange, die wie alle anderen Tiere Beine haben möchte. Als sie feststellte, dass dies unmöglich war und dass sie ihr Leben lang kriechen wird, biss sie schließlich alle anderen Tiere.

Der Autor ist der Ansicht, dass es ihm allein durch den Titel seines zweiten Buches Amadou Ma Amadou gelungen ist, die deutschen Leser mit afrikanischen Namen vertraut zu machen. […]

Die von Ibrahima erzählten Märchen sind universelle Geschichten afrikanischer Inspiration. […] Außerdem ist zu erwähnen, dass sein Märchenbuch Dikum dakum als Lehrwerk im Programm der Grundschulen in Rwanda gilt. (Mboumba 2015)

Ndiaye beendete »den Abend mit einem sehr emotionalen Märchen in der Sprache Goethes.« (Ebd.)

Manches von dem, was wir hier über die Rezeption afrikanischer Märchen durch deutsche Grundschüler vorgetragen haben, mag naiv klingen auf einer Tagung der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik zum Thema: »Europa im Übergang: Interkulturelle Transferprozesse – Internationale Deutungshorizonte«. Aber Autoren und Künstler wie der studierte Germanist Ibrahima Ndiaye sind Modelle für gelungene Integration und Vermittler von Kulturen in mehrere Richtungen. In diesem Fall setzt dieser ›Botschafter‹, wie er auch immer wieder bezeichnet wird, bei jungen Menschen in Deutschland an, damit sie sehr früh lernen, fremde Kulturen zu akzeptieren, sich für sie zu interessieren und sie in ihren kulturellen Horizont zu integrieren. Im Senegal wird Ibrahima als erfolgreicher und auch in Frankreich und Deutschland preisgekrönter Autor geschätzt, dessen in Deutschland publizierte Erzählungen auch im weit entfernten zentralafrikanischen Ruanda von Grundschülern gelesen werden. Die Deutsche Welle hat ihn 2010 für das internationale Projekt »Learning by Ear – ich erzähl dir was« gewonnen (vgl. Ndiaye 2014). Dabei legt Ndiaye Wert darauf, seine afrikanische Identität zu betonen. Er habe seinen eigenen Schocolili Verlag in Saarbrücken gegründet, »um zu vermeiden, dass meine afrikanische Seele gestohlen wird.« (Mboumba 2015)

Mit dieser Haltung seiner eigenen Kultur gegenüber und gegenüber der Kultur seines Gastlandes – und überhaupt gegenüber den Kulturen Europas – steht Ibrahima Ndiaye nicht allein. Auffallend oft sprechen afrikanische Schriftsteller in Interviews von ihren Wurzeln, von ihrer Identität, vom Überleben im eigenen und in fremden Ländern, vom Leben und Schreiben in mehreren Kulturen, von der Spannung zwischen ihrem Leben im Exil und dem Schreiben in ihrer Muttersprache, die oft nur als gesprochene Sprache existiert, und der adoptierten Schriftsprache. Stellvertretend sei dazu die wohl bekannteste Schriftstellerin Senegals zitiert, Aminata Sow Fall, die im Gespräch mit Manfred Loimeier, dem Autor der Sammlung Wortwechsel, Folgendes zu bedenken gab:

Sicherlich liefert die Kenntnis anderer Kulturen auch Vorteile, aber diese Vorteile kann man nur erkennen, wenn man selbst im Gleichgewicht ist. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass man nur man selbst sein kann, wenn man das, was man aus anderen Kulturen lernen kann, in seine eigene Kultur, in seine eigene Identität integriert. Eine andere Kultur sollte einen nicht überwältigen, so dass die eigene Kultur verarmt, sondern bereichern (Loimeier 2002: 69f.).

3. Die Tradition des Geschichtenerzählens im Senegal und anderswo

Über die Tradition des Geschichtenerzählens im Senegal hat sich Ibrahima Ndiaye ausführlich geäußert. In einem Vortrag, dessen Skript uns Ndiaye 2017 speziell für dieses Referat zur Verfügung gestellt hat, heißt es:

Geschichtenerzählung ist einer der fundamentalen Aspekte der afrikanischen Seele. Ihr Ursprung liegt in der Liebe der afrikanischen Völker zur Unterhaltung, zum Dialog und zur Kommunikation.

Senegal – Tor zu Schwarzafrika – hat eine reichhaltige erzählerische Tradition. Die Vielfalt der dort lebenden Stämme macht aus der ursprünglich mündlichen Literatur ein buntes Gebiet. […]

Diese ganzen Geschichten sind wichtige Kommunikationsmittel. Sie dienen nicht nur der reinen Unterhaltung, sondern vielmehr der Wissensvermittlung, der Sozialkritik und der Erziehung. Sie verkörpern eine ganze Welt – eine Welt der Wunder, der Katastrophen, der Feen, der übernatürlichen Kräfte, des Glaubens und des Aberglaubens. (Ndiaye 2017: 89f.)

Ibrahima Ndiaye beschreibt und erklärt seinen deutschsprachigen Lesern aber nicht nur die afrikanische Tradition des Märchenerzählens. Er möchte mit seinen vielfältigen Aktivitäten als interkultureller ›Botschafter‹ auf seine europäischen Leser und Zuhörer einwirken, um zu einem besseren Verständnis afrikanischer Kulturen beizutragen. Im Vorwort zu seiner Sammlung senegalesischer Märchen, Léébóón – Lippóón. Ndumbelaan, das Reich der Tiere, schreibt er: »Menschen in Europa die afrikanische Kultur mit ihren Sitten und Riten näherzubringen, war mir in meiner jahrelangen Tätigkeit als Referent für afrikanische Kultur immer ein besonderes Anliegen. Ich denke, gegenseitiges Verständnis ist eine wichtige Voraussetzung für ein harmonisches Miteinander.« (Ndiaye 1999)

Es gibt schon seit langem Bemühungen darum, die afrikanische Märchenwelt den deutschsprachigen Lesern näherzubringen. Vor hundert Jahren widmeten die Herausgeber den Band mit afrikanischen Märchen in der Reihe Die Märchen der Weltliteratur »Den tapferen deutschen Männern und Frauen in Afrika« (Meinhof 1917: 1). Ein Jahr später gab es keine deutschen Kolonien mehr, weder in Afrika noch woanders. Und es sollte lange dauern, bis sich größere Teile der deutschen Bevölkerung Rechenschaft darüber ablegten, welche Konsequenzen die Kolonialpolitik nach sich gezogen hat. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, an die von Ranga Yogeshwar hervorgehobene Tatsache zu erinnern, dass die Europäer lange Zeit die Augen vor den Katastrophen verschlossen haben, welche die Kolonialzeit weltweit angerichtet hat (vgl. Yogeshwar 2016: 33).

Dies alles bedeutete nicht, dass Carl Meinhof in seinem Vorwort zu der Anthologie afrikanischer Märchen im Diederichs Verlag sich nicht einfühlend über die afrikanischen Märchenerzähler geäußert hätte:

Sie sind geborene Erzähler, meine afrikanischen Freunde, und Märchen kennen sie alle. Es ist nur schwer, den Fluss der lebendigen Rede, der noch durch eine lebhafte Gebärdensprache unterstützt wird, in der Schrift festzuhalten. Fängt man an zu schreiben, dann ermüdet der Erzähler leicht und begnügt sich damit, nur kurz den Inhalt wiederzugeben. (Meinhof 1917: 3)

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts bestätigte Ulla Schild in ihrem Nachwort zu den von ihr übersetzten und im Diederichs Verlag herausgegebenen Westafrikanischen Märchen, dass

Märchenerzählen […] keineswegs eine aussterbende Kunst [ist], eine Kunst, die dem »traditionellen« Afrika angehört und mit dem Fortschritt zerfallen wird. Märchen werden heute noch erzählt wie eh und je, nur passen sie sich der neuen Zeit an. […] Märchen werden für das moderne Theater umgestaltet und Märchenerzähler treten bei internationalen Kulturfestivals auf oder gehören zum Stab des Nationaltheaters. »Ist auch der Dichter verstorben«, sagt ein Sprichwort der Ewe, »seine Zunge verfault nicht.« (Schild 1975: 284)

4. Schluss

Hundert Jahre nach Meinhofs Anthologie afrikanischer Märchen lebt die Wirkung der von Ibrahima Ndiaye vorgetragenen Märchen von seinen Gesten, seiner Mimik, von der Musik, seinem Tanz und seinem Lachen. All dies trägt dazu bei, dass Menschen in Deutschland ein Gespür für den Wert fremder kultureller Elemente bekommen, die mit den Märchen in die sogenannte Leitkultur übertragen werden und sie bereichern.

Natürlich gibt es neben Ibrahima Ndiaye viele andere Autorinnen und Autoren, die dazu beitragen, Afrika europäischen Kindern und Erwachsenen näherzubringen. Darum bemühen sich nicht nur Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus Afrika, sondern auch deutsche Autoren. Als Beispiel sei zum Schluss das Kinderbuch Aminatas Entdeckung genannt, das von Monika Bulang-Lörcher und Hans-Martin Große-Oetringhaus im Rahmen des Projekts »Eine Welt in der Schule« verfasst wurde. Gefördert wurde die Publikation vom Grundschulverband unter Mitarbeit zahlreicher Mitglieder des Arbeitskreises Grundschule e.V. Das Buch erzählt vom Leben und vom Alltag Aminatas »in einem kleinen Dorf im Senegal«. »Doch dann geschieht etwas, was alles gründlich durcheinanderbringt« (Bulang-Lörcher / Große-Oetringhaus 2006a: Umschlagseite). Abgesehen von der eigentlichen Erzählung erscheinen im Buch für die Leser immer wieder erklärende Kommentare über Afrika und die Lebensbedingungen und Traditionen im Senegal. Zusätzlich wurden auf CD-ROM didaktisierte »Materialien zum Kinderbuch« veröffentlicht (vgl. Bulang-Lörcher / Große-Oetringhaus 2006b).

Es gibt noch viele andere Publikationen zu entdecken. Ob und wie die beschriebenen Initiativen zur kulturellen Annäherung zwischen Afrikanern und Europäern Früchte tragen, ist nur schwer zu bemessen. Aber wir hoffen es, denn: »Wir brauchen neue Brücken«, wie sie der frühere GiG-Präsident Bernd Thum in der Zeitschrift Kulturaustausch gefordert hat (vgl. Thum 2017). Wir brauchen neue Brücken auf allen Niveaus, in vielen Formen, auf vielen Gebieten und zu vielen Ländern:

Niemand zweifelt daran, dass der Dialog zwischen Europa und Afrika intensiviert werden muss. Bildung und Kultur gehören dabei neben der wirtschaftlichen Stabilisierung zu den zentralen Aufgaben euroafrikanischer Politik. Bislang hat Deutschland aber mit keinem der Sahel-Länder außer dem Senegal ein Kulturabkommen geschlossen, nicht einmal mit Algerien, dessen Süden zur Sahelzone gehört. Erst durch die epochale Migrationsdynamik sind die westafrikanischen Sahel-Länder vom Senegal bis zum Tschad für die deutsche Öffentlichkeit und Politik interessant geworden. […] Eine besonders aktuelle Bedeutung hat für Deutschland der europäisch-mittelmeerisch-subsaharische Raum, ein bis auf die Antike zurückgehendes dynamisches Gefüge mit dem Mittelmeer als Epizentrum. (Ebd.: 66)

Kongresse wie dieser über »Europa im Übergang. Interkulturelle Transferprozesse – Internationale Deutungshorizonte« sind ein Schritt in die von Thum und anderen Autoren skizzierte Richtung. Ein langer Weg liegt noch vor uns. Für die Zukunft wünschen wir uns persönlich, außer der Lektüre traditioneller und zeitgenössischer migrierender Märchen, mehr Geschichten von gerechten afrikanischen und europäischen Staaten ohne Bürgerkriege, von florierenden Kulturlandschaften und der erfolgreichen Integration migrierender Menschen in weltoffenen Gesellschaften.

Literatur

Behrens, Benjamin (2017): Afrikanische Märchen als Integrationsprojekt. In: HAZ.de, 13. Januar 2017; online unter: https://www.haz.de/Umland/Garbsen/Nachrichten/Integrationsprojekt-an-der-Grundschule-Garbsen-Stelingen-mit-Autor-Ibou-Ndiaye [Stand: 1.9.2019].

Bulang-Lörcher, Monika / Große-Oertringhaus, Hans-Martin (62006a): Aminatas Entdeckung. Projekt »Eine Welt in der Schule«. Frankfurt a.M.

Dies. (2006b): Aminatas Entdeckung. Projekt »Eine Welt in der Schule«. Materialien zum Kinderbuch. Überarb. u. aktualis. CD-ROM-Version. Frankfurt a.M.

Collier, Paul (2016): Arm trifft Reich. In: Kulturaustausch. Zeitschrift für internationale Perspektiven 66, H. 2, S. 20.

GiG (Hg.; 2017): Call for Papers. Europa im Übergang. Interkulturelle Transferprozesse – Internationale Deutungshorizonte; online unter: http://www.litwiss-fl.de/gig-kongress-2017/call-for-papers/ [Stand: 1.9.2019].

Jungraithmayr, Herrmann (1994): Nachwort. In: Carl Meinhof (Hg.): Afrikanische Märchen. Nachwort, Anmerkungen u. Literaturverzeichnis v. Herrmann Jungraithmayr. München, S. 337-346.

Loimeier, Manfred (2002): Wortwechsel. Gespräche und Interviews mit Autoren aus Schwarzafrika. Bad Honnef.

Madubuko, Nkechi (2016): Es kann nicht jeder Petra heißen. Rassismus im Alltag: Wie Kinder lernen können sich zu wehren. In: Kulturaustausch. Zeitschrift für internationale Perspektiven 66, H. 2, S. 46.

Mboumba, Franck Christopher (2015): Au coeur de la littérature. Märchenbücher von Ibrahima Ndiaye. In: Goethe-Institut Senegal, Oktober 2015, übers. v. Al Hassane Niang; online unter: https://www.goethe.de/ins/sn/de/kul/sup/ceu/20869188.html [Stand: 1.9.2019].

Meinhof, Carl (Hg.; 1917): Afrikanische Märchen. Jena.

Meiser, Leo (2010): Vorwort. In: Ibrahima Ndiaye: Mini-Mini, die Schlange, die Füße haben wollte. Saarbrücken, S. 3-5.

Ndiaye, Ibrahima (1999): Vorwort. In: Ders.: Léébóón – Lippóón. Ndumbelaan, das Reich der Tiere, und andere Märchen aus dem Senegal. St. Ingbert, o.S.

Ders. (2009): Amadou ma Amadou. Märchen aus dem Senegal. Saarbrücken.

Ders. (2010): Mini-Mini, die Schlange, die Füße haben wollte. Saarbrücken.

Ders. (2014): Über Ibrahima. Der Geschichtenerzähler; online unter: http://ibrahima-ndiaye.de/ueber-ibrahima/der-geschichtenerzaehler [Stand: 1.9.2019].

Ders. (2017): Geschichtenerzählung im Senegal. Manuskript.

Ders. / Mazille, Capucine (2013): Dikum dakum. Der geheimnisvolle Zauberspruch. Saarbrücken.

Schild, Ulla (1975): Nachwort. In: Dies. (Hg.): Westafrikanische Märchen. Übers. v. Ders. Düsseldorf / Köln, S. 279-284.

Thum, Bernd (2017): Wir brauchen neue Brücken. In: Kulturaustausch. Zeitschrift für internationale Perspektiven 67, H. 1, S. 66.

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Wertheimer, Jürgen (2016): Warum wir Integration auf Zeit brauchen. In: SZ.de, 16. August 2016; online unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/aussenansicht-willkommens-und-abschiedskultur-1.3122652 [Stand: 1.9.2019].

Wiedemann, Conrad (1994): [Art.] »Lessing, Gotthold Ephraim«. In: Walther Killy (Hg.): Deutsche Autoren. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Bertelsmann Lexikon. Bd. 3. München, S. 383-391.

Yogeshwar, Ranga (2016): Wir schaffen das, wenn wir wollen. Die Flüchtlingskrise ist eigentlich eine Staatskrise. In: Kulturaustausch. Zeitschrift für internationale Perspektiven 66, H. 2, S. 32f.