Vom Übergang als Schutz gegen den Übergriff

Überlegungen zu Wilhelm Raabes Prinzessin Fisch (1882 /1883)

Iulia-Karin Patrut

Abstract

The article discusses how Wilhelm Raabe’s narrative Prinzessin Fisch relates different types of transitions to each other and thus creates a network of implications that resists the logic of violence which is inscribed into the every-day normality German Society in a small city in the German Harz mountains in a transitional process of modernization. A close reading reveals that the father obviously has abused his children. Different types of textual strategies creating transitional moments are shown to be aiming at unmasking this highly illegitimate, tabooed bodily border-crossing, that could not be explicitly mentioned by that time. In addition, the cultural bias first suggested by the text appears to be a wrong track: Not the ‹foreign’ migrants and returnees from the US and Mexico are the malicious ones, but the patterns of violence are located within the German bourgeois milieu, being perpetuated all over the world as part of transborder early Globalization. Literary transitions and intertextuality appear as resistance moments in this abysmal view on the German society at the end of the 19th century.

Title:

Transition as protection against abuse. Considerations on Wilhelm Raabe’s Prinzessin Fisch (1882 / 1883)

Keywords:

Wilhelm Raabe (1831-1910); Prinzessin Fisch; sexual abuse; globalization; critique of capitalism

Im Aufsatz werden drei Einsatzweisen poetischer Übergänge diskutiert, mittels derer Wilhelm Raabe in der Erzählung Prinzessin Fisch Gewaltdiskurse und verbrämende Selbstbeschreibungen in der Gesellschaft seiner Zeit offenlegt. Dabei wird der besonderen Rolle interkultureller Begegnungen und interkontinentaler Reisen im Handlungszusammenhang und vor dem Hintergrund der ›ersten Globalisierung‹ im ausgehenden 19. Jahrhundert nachgegangen.

Prinzessin Fisch zählt zu den späten Erzählungen Raabes. Sie erschien 1882 / 1883 in Westermanns illustrierten deutschen Monatsheften. Jahrbuch für das gesamte geistige Leben und wurde in jüngerer Zeit nur von Dirk Göttsche (vgl. 2009) eingehender interpretiert. Göttsche deutet die Erzählung als einen der konventionelleren Texte Raabes, dem es immerhin gelänge, Robinsonaden und koloniale Phantasien zu desillusionieren und die deutsche Beteiligung am überseeischen Imperialismus offenzulegen, ansonsten aber an humanistischen Bildungsidealen als Hort des Widerstands gegen den Triumphzug liberaler Wirtschaft festhielte. Der Aufsatz legt die Erzählung als abgründigere Abrechnung mit der bürgerlichen Kleinstadtidylle aus.

Die Erzählung handelt von einem Jungen aus einem Städtchen im Harz, Theodor Rodburg, der als Kind betagter Eltern, des angesehenen Notars Dr. Rodburg und seiner Frau, im zarten Alter von nur zwölf Jahren zur Vollwaise wird. Die Buchbindermeisterin Mutter Schubach und ihr Altgeselle, der Buchbinder Bruseberger, die das Nachbarhaus bewohnen, adoptieren ihn. Er kann von seinem neuen, vorläufigen Domizil aus in den Garten seines früheren Hauses sehen. Bruseberger, der Buchbindergeselle, teilt sich die Vormundschaft mit dem Oberlehrer Drüding, einem leidenschaftlichen Hobbybotaniker. Theodor wird von seiner Geburt an bis zum Antritt eines Jurastudiums in Leipzig dargestellt.

Die wichtigste Herausforderung, die Theodor bewältigen muss, begegnet ihm in Gestalt seines verschollenen, 25 Jahre älteren Bruders Alexander Rodburg und dessen Geliebter Romana Tieffenbacher, der Ehefrau des 70-jährigen Joseph Tieffenbacher. Dieser hat ausgerechnet Theodors Elternhaus erworben und sich als Lateinamerika-Rückkehrer mit seiner exotischen mexikanischen Frau dorthin auf sein Altenteil zurückgezogen. Theodor, der sich als naiver, unerfahrener Heranwachsender in die mindestens 20 Jahre ältere Romana verliebt, wird Zeuge erotischer Begegnungen zwischen Romana und seinem heimgekehrten Bruder Alexander, den er zuerst maßlos bewundert, weil er ihn für einen glücklichen, erfolgreichen Robinson hält, der die Welt kennt. Sobald er merkt, dass Alexander mit Romana Ehebruch begeht, grenzt er sich von ihm ab und geht nach bestandenem Abitur nach Leipzig, wo er, wie zuvor sein Vater, ein Jurastudium antritt. In Leipzig erfährt er, dass sein Bruder Alexander Romana ›entführt‹ hat und zurück nach Amerika gegangen ist. Theodor kehrt daraufhin nicht mehr nach Ilmenthal zurück – zumindest nicht innerhalb der erzählten Handlung.

Prinzessin Fisch wirkt zunächst wie ein Bildungs- und Erziehungsroman, denn die Erzählung thematisiert Übergänge zwischen unterschiedlichen Lebensabschnitten und lebensaltersspezifischen Phantasien (darunter auch die Robinsonaden) als ›Reifung‹: Kurz vor Schluss legt Theodor das Abitur, die ›Reifeprüfung‹, ab. Aber auch der Übergang des kleinen Städtchens Ilmenthal, das an Bad Harzburg angelehnt ist, spielt eine zentrale Rolle: Ilmenthal verwandelt sich aus einem ›Kuhdorf‹ zu einem international bekannten Luftkurort und ist am Ende global vernetzt und in europäischen Hauptstädten wie Paris medial präsent. Eisenbahn und Telegraphie halten Einzug; Männer und Frauen aus dem Ausland, die schnelle Gewinne erzielen wollen und dabei unter Umständen auch in ihre ›alte Heimat‹ nach einem Aufenthalt in Übersee zurückkehren, lassen sich dort nieder, was dazu führt, dass sich Wegführung, Straßenbild und -namen sowie die Architektur schlagartig innerhalb eines Jahrs verändern. Hinzu kommt aber noch ein Drittes: Im Text finden sukzessive Übergänge zwischen möglichen Sichtweisen auf dieses Geschehen statt; diese poetischen Übergänge fordern immer wieder neue Lesarten der lebensgeschichtlichen und modernisierungsbedingten Übergänge ein.

1.

Am markantesten ist dieses Erzählverfahren im Falle jenes Handlungsstrangs, der sich als besonders abgründig erweist und in bisherigen Interpretationen unbeachtet geblieben ist: Viele Indizien sprechen dafür, dass sich hinter der Fassade des Hauses Rodburg mindestens sadistische Folter, wahrscheinlich sogar sexueller Missbrauch der Knaben durch den Vater abspielte. Bruseberger, der immer wieder neue Versuche anstellt, Zusammenhänge zu erkennen, scheitert am Geschehen im Nachbarhaus.

»Schönholz’ Zusammenhang aller Wissenschaften habe ich doch ziemlich genau mehrmals studiert, aber die Geschichte der Erziehung gibt für so was kein Exempel. Unten bei den Feuerländern wäre er wohl noch am ersten möglich!…« (Raabe 1979: 204). Bruseberger beklagt hier die Zustände im Haus des ehrwürdigen Notars Rodburg im Nachbarhaus. Der Verweis auf die Feuerländer lässt darauf schließen, dass es um gravierende Tabubrüche – allen voran des Inzesttabus – geht, die in den damaligen wissenschaftlichen Schriften wie dem angesprochenen Schönholz’schen Werk1 den Kolonisierten zugeschrieben wurden, insbesondere Afrikanern und Patagoniern. Dass die Anspielung so zu verstehen ist, wird dadurch bekräftigt, dass Bruseberger die Situation als »Schande« (ebd.: 295) umschreibt; vielsagend ist vor allem, dass er nach diesen Andeutungen hinzufügt, er müsse bei dem, was Theodor erleidet, vor allem an seine eigene verlorene Kindheit denken; in den niedrigen Ständen, aus denen er stamme, komme es auf einen missratenen Menschen mehr oder weniger nicht an, »jedoch als Honoratiorenproduktion sollte man dies wirklich zur publiken Warnung auf Pappe ziehen und es irgendwo so öffentlich als möglich zum abschreckenden Muster für Eltern besserer Stände an die Wand hängen« (ebd.: 205). Dem Bedürfnis nach öffentlicher Thematisierung sexuellen Missbrauchs wird im 19. Jahrhundert aber nicht nachgekommen. Und selbst Bruseberger fehlt jedes Verständnis für Alexander, obwohl auch er zu den Opfern gehört. Als der Halunke und Taugenichts, wie sich der durchgegangene Sohn selbst bezeichnet, zurückkehrt, erkundigt er sich zunächst, ob Bruseberger etwas erzählt habe, und erhält mit »kurioser Trockenheit« als Antwort: »Der Bruseberger hat gar nichts erzählt, Herr Rodburg« (ebd.: 255).

Die Erzählung führt damit vor, wie unfähig die Gemeinschaft ist, schlimmstmögliche Gewalt, die sich fast täglich ereignet, zur Kenntnis zu nehmen und darauf zu reagieren. Alle Kontrollmechanismen versagen, denn treibt es einmal einer so arg, dass es außen an der »Straßenseite« zu sehen ist, dann rückt ihm »die Polizei von wegen Verwahrlosung und öffentlichem Ärgernis auf den Hals« (ebd.: 242) – ohne dass sich viel zu ändern bräuchte; und »[n]ach hinten hinaus« habe ohnehin niemand etwas zu vermelden, »und so bleibt da durchschnittlich alles beim alten durch die Generationen« (ebd.: 242). Genau dieser gleichgültige, feige Umgang bringt es mit sich, dass die Dunkelziffer der Opfer, auf die der Text hinweisen möchte, sehr viel höher ist. Deshalb betont die Erzählerstimme: »und die gestorbenen [Kinder] zählten hier unbedingt noch mit« (ebd.: 196).

Selbst Bruseberger, der, wie es scheint, Ähnliches erleiden musste und wohl auch deshalb seinerzeit von zu Hause geflüchtet ist, kann kein Wort der Beschwichtigung im Umgang mit Alexander finden. Wenngleich er selbst nur durch Zufall – durch die Begegnung mit ›Mutter‹ Schubach auf der Landstraße – einem ähnlichen Schicksal entgangen war, empört Bruseberger das »Böse-Jungen-Gegrinse«, mit dem Alexander »hohnlächel[t]« (ebd.: 275) besonders. Freilich ist Alexander im Recht, wenn er ihn gleich bei der ersten zufälligen Begegnung im Städtchen anklagt: »[M]ich hättet ihr vor Jahren nicht ins Haus genommen und zu einem frommen Knecht Fridolin aufgepäppelt« (ebd.). Er spielt damit auf Schillers nach einem alten Sagenstoff gestaltete Ballade Der Gang nach dem Eisenhammer (1797) an, in der Fridolin mit dem Leben davonkommt, gerade weil er die gegen ihn gerichtete tödliche Gewalt seiner Herren völlig verkennt. Dies scheint auch auf Theodor zuzutreffen, denn er empfindet vor allem Ehrfurcht vor dem väterlichen Zimmer und hat die wichtigsten Begebenheiten seiner früheren Jahre, wie es eingangs heißt, »am wenigsten selber im Gedächtnis« behalten (ebd.: 199). Dass ihm Ähnliches wie Alexander widerfahren ist, vermutet dieser wahrscheinlich nicht zu Unrecht: »Übrigens, Bruseberger, ein bißchen spaßhaft ist diese Geschichte doch mit dem Vergnügen, was sich unser Seliger in meiner Abwesenheit nochmal gestattet hat – wahrscheinlich zu einem Ersatz für mich.« (Ebd.: 275) Offenbar war unter den Geschwistern Alexander derjenige, der besonders sadistisch missbraucht wurde, und dass es nicht bei diesem Einzelfall blieb, bestätigt auch Bruseberger, wenn er den Zustand Theodors in dessen zwölftem Lebensjahr mit einem völlig aus dem Leim gegangenen Buch vergleicht, das von sechs Geschwistern nacheinander misshandelt wurde.

Die Bediensteten im Hause Rodburg klagen jedenfalls darüber, dass man wohl »schon selber von seiner Geburt an und von der Natur zum Werwolf, zum Gespenst, zu einer eingemauerten Nonne, zu einem Scheusal, Greuel« (ebd.: 202) bestimmt sein müsste, wenn man es mit dem alten Notar aushalten könne, der noch dazu zu allen anderen Übeln sein Haus – und mit sich den Knaben Theodor und die Dienstmagd – von innen abschließe, und dass man, wolle man das Haus verlassen, »jedesmal dem Herrn den Schlüssel aus der Hosentasche abverlangen müsse und womöglich noch dazu schriftlich« (ebd.). Schon daraus geht hervor, dass im Hause Rodburg Unerhörtes und nicht Hinnehmbares vor sich geht, das den Augen der Öffentlichkeit verborgen bleiben muss.

Gegen Ende der Erzählung begründet der sonst so abgeklärt wirkende Alexander seine zweite Flucht aus Ilmenthal damit, dass das Vaterhaus seinen Schrecken nicht verloren hat: »Brr, diese Decke hier über unsern Köpfen!« Aus der Stuckatur schaut als Insignie der Doppelmoral und der Bigotterie ein Engel des jüngsten Gerichts ins Zimmer: »[D]er Posaunenengel da hat dem bösen Rodburg nur selten zu einem friedlichen, häuslichen Vergnügen die stumme Musik geliefert. Seht die Bestie, Triumph hat sie oft genug zu meinem kindlichen Geheul geblasen« (ebd.: 337).

Dazu passt, dass alle Kinder, Töchter und Söhne, das Haus so schnell wie möglich verlassen und Verständnis für das rasch kündigende Personal äußern. Die scheidenden Dienstmägde beklagen, dass jeder Mensch doch auf einen »Zusammenhang mit der übrigen Welt gestellt« (ebd.: 202) sei. Im Hause des respektablen Doktors der Jurisprudenz ist der Zusammenhang, der das Gemeinschaftsband zwischen den Menschen zusammenhält, unterbrochen, weil offenbar fortlaufend gegen ein Tabu menschlicher Kultur und Zivilisation verstoßen wird – ein Verstoß, der so schwerwiegend ist, dass sich die Mägde mit Vergleichen aus der Geisterwelt behelfen, wenn sie umschreiben oder vielmehr verschweigen, was sich hinter verschlossenen Türen abspielt. Alle äußern ihr Mitleid gegenüber Theodor, niemand hilft ihm aber in der Zeit zwischen seinem fünften Lebensjahr, dem Todesjahr seiner Mutter, und seinem zwölften, in dem sein Vater stirbt. Wie Fremde kommen die Geschwister herbei und trachten danach, das Erbe möglichst schnell zu verteilen und sich alsbald wieder in unterschiedliche Richtungen zu trennen, als wollten sie nichts lieber, als die geteilten Erinnerungen vergessen. Sicher ist, dass Theodor in diesen Jahren um seine Kindheit gebracht wird, denn er sieht aus wie ein alter Greis, und was ihm noch darüber hinaus im Haus und Zimmer seines Vaters widerfährt, wird nicht ausgesprochen. Alle tun so, als würden sie es nicht verstehen. Besonders aufschlussreich ist die Todesstunde der Mutter, in der sie etwas verständlich zu machen versucht, was sich die Anwesenden wahrzuhaben weigern. Mit großer Beharrlichkeit macht die Sterbende Zeichen und spricht Wörter, die den Familienmitgliedern nicht ins Bewusstsein dringen: »[W]as sie dabei murmelte, verstand längere Zeit keiner, und den ängstlichen Blick noch weniger« (ebd.: 198), bis schließlich eine der Töchter ihr den jüngsten Sohn vorführt, den die Mutter mit einer letzten schützenden Geste umfasst. Die letzten Worte »Mein Kind – mein arm lieb –« (ebd.) sowie der letzte Blick der Mutter begleiten Theodor auf seinem Lebensweg als eine Art Schutz, der durch alle Gewalt hindurch, über alle Tabus hinweg von der Schwelle zwischen Leben und Tod aus gesprochen wurde.

Es zeichnet sich bereits hier ab, dass schon den anderen Knaben möglicherweise etwas widerfahren ist, was die Mutter dem schutzlosen, dem Vater ganz und gar ausgelieferten Jüngsten ersparen möchte. Selbst über die Mägde heißt es: »Das unglückliche Geschöpf, das Kind, tat natürlich allen diesen Jungfrauen und Witwen sehr leid; aber – selbst eine bloß achttägige Kündigungsfrist war noch viel zu lange bei einem Manne wie der Herr Doktor für eine ältere gebildete Dame oder ein einzelnstehendes wohlerzogenes Fräulein.« (Ebd.: 202)

Vor Theodor hat aber ein anderer, nämlich Alexander, eine Tortur erlebt, die in der Erzählung nur angedeutet wird: Offenbar hat Alexander als Kind, während er von seinem Vater missbraucht wurde, vergeblich um Hilfe gerufen. »Nicht wahr, Alter, ich war noch der einzige, der das melodische Organ hatte, dann und wann die Werkstatt und die Küche der Mutter Schubach in das helle Elend hineinzuflöten? Well, eines nach dem andern!« (Ebd.: 259) Die Schreie Alexanders sollen weithin zu hören gewesen sein, aber niemand – auch nicht die hilfsbereit wirkende ›Mutter‹ Schubach oder der ›Philosoph‹ Bruseberger kamen ihm zu Hilfe. Nicht allein der Vater versagt, sondern auch die Mutterfiguren und das gesamte bürgerliche soziale Umfeld. Alexander erweist sich als gebrochener Charakter, der aufgrund frühkindlicher traumatischer Erfahrungen auch im Erwachsenenalter asymmetrische, missbräuchliche Beziehungen sucht.

Bei allen herzigen Kindheitserinnerungen, ob ich’s nicht ganz genau wüßte! Señora, Ihr Fläschchen! Was ich da hinter jener Wand ausgestanden habe, das kann kein verflossener Plantagennigger nachfühlen. Natürlich ist das die Pforte, vor der ich mich heute noch erst einen Moment an die Mauer lehnen muß, ehe ich mich hineintraue. Bitte, entschuldigt mich einen Augenblick – Señora, Ihren Fächer! Tieffenbacher, por l’amor de Dios, decken Sie mir den Rücken, alter Freund, – meine Gefühle von den Schultern bis zum Kreuzbein überwältigen mich zu sehr! (Ebd.: 291)

Alexander stellt durchaus klar, dass sein Vater offenbar ein Serientäter war, und klagt als Einziger – obwohl alle ihn für den Bösewicht halten – die Verdorbenheit hinter der bürgerlichen Fassade radikal an, wobei er insbesondere den Sadismus und Zynismus des Vaters anklagt:

»Hm«, sagte der ältere Rodburg, »ich bin glücklicherweise nicht der einzige, der in diesem Raume geblutet hat. Wie drückt sich Vater Drüding aus, wenn er auf lateinisch meint, daß es ein wahrer Trost sei, allerlei Kameraden im Pech zu haben, Theo? By Jove, Don Jose, Heulen und Zähnklappen mit und ohne Noten hat’s hier gegeben. Uh, der alte brave Herr tat dann und wann einen guten Griff ins volle Fleisch, und hatte er einen Lieblingsklienten in der Schraube und unter der Schere, so flog die Wolle ziemlich ausgiebig herum, und man konnte das Geblöke des armen Hammels häufig durch drei Wände vernehmen. Bewahre mich der Himmel, daß ich dem seligen Biedermann etwas Übles nachrede, Kleiner. Im Gegenteil, er wäre ein rechter Esel gewesen, wenn er die Gaben, die ihm unser gütiger Herrgott verliehen hatte, nicht zu seinem und seiner Familie Besten angewendet hätte. Wir Kinder waren die zeitweilige Aufregung und den Lärm aus Papas Büro auch ganz gewohnt, und nur Mama drückte bei außergewöhnlich lebhaftem Geschäftsverkehr immer noch ganz zitternd die Hände auf die Ohren oder horchte bänglich an der Tür – hinter jener Tür dort.« (Ebd.: 293)

Dass der Vater vorgibt, er handle stets zum Besten seiner Familie, gehört zur Rhetorik wohlhabender Honoratioren; dass in seinem Haus die Mutter nichts anderes tut, als sich zitternd die Ohren zuzuhalten, wenn ihr Mann mit einem »Griff ins volle Fleisch« sich dem Geschäfts- (oder Geschlechts-?)Verkehr mit einem brüllenden Knaben hingibt, freilich nicht – dies zählt zu den Dingen, die sich im hinteren, von außen nicht einsehbaren Zimmer und in Gärten abspielen.

Einiges spricht also dafür, dass hier eine der wenigen recht eindeutigen Darstellungen kindlichen Missbrauchs in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhundert vorliegt.

Nicht nur muss dadurch die Figur Alexander Rodburgs ganz anders eingeschätzt werden, auch auf Kolonialismus, Imperialismus und Modernisierung wirft der Text unter Berücksichtigung dieser extremen Gewalterfahrung ein anderes Licht. Nicht Alexander ist diabolisch, sondern das Bürgertum selbst kennzeichnet sich dadurch, dass es Verhaltensweisen und Selbstbeschreibungen entwickelt hat, um eine tiefsitzende Gewalt zu verbrämen. Insbesondere männlich-väterliche Autorität wird als Quelle von Übergriffen und Missbrauch entlarvt. Deutlich wird, dass die Gewalt, die Alexander in die Welt hinausträgt, der häuslichen Gewalt entsprungen ist, die er als Kind erfahren hat. So betrachtet, erweist sich der Text als Auseinandersetzung mit Wiederholungs- und Verschiebungsmustern von Gewalt, die über die Generationen hinweg wirksam sind und globale Ausmaße annehmen.

2.

Damit ist die Lesart von dem ›korrupten‹ Amerika als Gegenbild des bieder-integren Ilmenthal widerlegt. Die Erzählerstimme teilt die affirmative, selbstbestätigende Sicht auf die ›guten Ilmenthaler‹ vordergründig, liefert aber beiläufig Informationen, dank denen allmählich Zusammenhänge Konturen gewinnen, die in eine ganz andere Richtung weisen. Nicht nur der Notar Rodburg und jene, die ihn decken, werden auf diese Weise demaskiert, die gesamte sich modernisierende Welt, die frühe industrielle und mediale Globalisierung mit ihren Übergängen und auch die lebensgeschichtlichen Schwellen sind von Gewaltmustern affiziert. Ilmenthal ist dabei eine wichtige, aber nicht die einzige Quelle von Machtasymmetrien. Erhellend sind insbesondere die wenigen Hinweise auf das Vorleben Romanas. Gemäß ihres Spitznamens ›Fisch‹, den auch Alexander gebraucht, zum Stummsein verurteilt, teilt sie sich nicht mit, sondern versucht, über Teilhabe an zweifelhaften Geschäften erträglich zu leben. Die Erzählerstimme macht keinen Hehl daraus, dass ihr übel zumute ist im kalten Ilmenthal, dessen Einwohner sie bestaunen, statt mit ihr zu interagieren – einschließlich Theodor, von dessen Projektionen sie gar nichts weiß.

Romana wurde, wie die Leserinnen und Leser aus einem Kapitel erfahren, in dem die auktoriale Erzählerstimme nicht aus Theodors, sondern aus ihrer Perspektive berichtet, auf Drängen ihrer Eltern in Mexiko mit Joseph Tieffenbacher aus Bödelfingen in Deutschland verheiratet, der sich in der österreichischen Verwaltung hochgedient hatte und im Gefolge des Erzherzogs Maximilian in den Kampf um Mexiko gegen Benito Juarez gezogen war. In den Zimmern des alten Notarhauses Rodburg in Ilmenthal, in dem Theodor und zuvor auch sein verschollener Bruder Alexander aufgewachsen waren und das ihr nun mit gehört, erinnert sich Romana in einer längeren, traumhaften Episode, in der sie sich ihren Lebensweg noch einmal vergegenwärtigt, an die Wegstrecke nach Querétaro und von dort zum Hafen, von dem aus sie nach Europa eingeschifft wurde. In Querétaro, einem wichtigen Schauplatz im Kampf um die Unabhängigkeit Mexikos, behaupten sich die mexikanischen Freiheitskämpfer um den Liberalen Benito Juarez und verurteilen den von Frankreich unterstützten österreichischen Kaiser Maximilian zum Tode. Wie ›Maximiliano‹, der in Mexiko dauerhaft instauriert werden sollte, wurde auch Romanas Vater, ein unter verschiedenen Regierungen bewährter Verwaltungsbeamter, der den kolonialen Kaiser unterstützte, in Querétaro von den Freiheitskämpfern exekutiert, während Romana mit ihrer Mutter als Kriegsgefangene »unter einer Eskorte spaßhaft aufgelegter Reiter von der Gegnerpartei« (ebd.: 334) zum nächsten Hafen gebracht wird. Bevor sie diesen Weg antritt, wird sie von ihrem frisch angetrauten Mann, »Joseph Tieffenbacher aus Bödelfingen gottlob ziemlich beruhigt« (ebd.: 333), dem Schutz und der Obhut »eines neugewonnenen Freundes aus der Gegnerpartei, des Kapitäns in der Legion of honour, der aus nordstaatlichen nordamerikanischen Gentlemen bestehenden juaristischen Hülfstruppe, Mr. Alexander Redburgh aus Ilmenthal an der Ilme« (ebd.), übergeben. Diese Übergabe der mexikanischen Frau von einem deutschen Mann (der Caballero genannt wird) an einen anderen (der sich Gentleman nennt) mutet schon allein deshalb seltsam an, weil offenbleibt, weshalb der gerade verheiratete José Tieffenbacher keinen Verdacht gegenüber Alexander schöpft, weshalb er sich nicht näher erkundigt, welche Geschäfte Rodburg mit der Mutter Romanas plant, wegen denen Alexander zurückbleibt und erst verspätet nach Europa kommt, und schließlich, was es damit auf sich hat, dass Rodburg und Romana in Paris, wo sie mit Tieffenbacher zunächst leben, ihn dazu drängen, die ungeliebte Mansardenwohnung im Boulevard Sevastopol aufzugeben und ausgerechnet das Elternhaus Alexander Rodburgs in Ilmenthal an der Ilme zu erwerben, um es mit Romana zu beziehen.

Romana ist erstens gemeinsam mit ihren Eltern in das Kriegsgeschehen involviert; dessen Details hat Raabe aus Fürst Felix von Salm-Salms zweibändigem Querétaro (vgl. ebd.: 626) entnommen, also aus einer Quelle, die dem Geschehen sehr nahestand, denn Salm-Salm hatte als Adjutant den Truppenbefehlshaber Kurfürst Maximilian nach Mexiko begleitet. Romanas Vater, der viele Regierungen überstanden hatte, ist mit Maximilian in Querétaro in eine Falle geraten und wird gehängt; die ebenfalls geschäftstüchtige Mutter freundet sich rasch mit Alexander an, und sie beginnen gemeinsam Geschäfte zu planen, von denen unklar bleibt, inwiefern sie auch Tieffenbacher, der das notwendige Kapital bereitstellt, bis ins Letzte bekannt sind. Zweitens ist Romana Spielball in den Geschäften, die die beiden Männer miteinander abwickeln, und drittens ist sie auch Mitwisserin Alexanders, mit dem sie wohl von Anfang an ein Verhältnis hat, und insofern Mittäterin, als sie mit Wertpapieren ihres Ehemanns flüchtet. Der mit viel Ironie dargestellte Schwabe Tieffenbacher wirkt einerseits durch seine Selbstgespräche und sein freundliches Plappern sympathisch. Andererseits ist ihm bewusst, dass die Geschäfte, denen Alexander auch mit seinem Kapital nachgeht, nicht nur zu seinem, sondern auch zu Alexanders Vorteil sind. Es scheint ein Einverständnis – um nicht zu sagen: einen Handel – zwischen den beiden Kriegsgegnern in Querétaro gegeben zu haben, im Zuge dessen die bereits verheiratete Romana von ihrem Ehemann an Alexander Rodburg – auch als eine Art ›Kriegsbeute‹, wie angedeutet wird – übergeht. Über Romana erfahren wir ferner, dass sie »nicht die geringsten Einwendungen gemacht« hatte, als ihr Vater »Don José Tieffenbacher« (ebd.: 331f.) für sie als Ehemann aussuchte – und mit den gleichen Worten lobt Tieffenbacher das »Weibele« (ebd.: 295) und »Frauele« (ebd.) Romana, das abermals »wenig Einwürfe« (ebd.) macht, als auf Anraten Alexanders der Umzug von Paris nach Ilmenthal beschlossen wird. Bei näherem Hinsehen erweist sich, dass Romanas Vater ebenfalls eine Art ›Kriegszahlmeister‹ war – zuletzt hatte er eine Stelle im nicht näher beschriebenen »Verpflegungswesen«. Er zögerte offenbar nicht, sowohl seine Frau als auch seine Tochter, die es »ziemlich schlecht in ihrem väterlichen Haus« (ebd.: 332) hatte, als Unterpfand für sein Fortkommen einzusetzen, so dass er sein Amt »unter mehreren Dutzenden von Präsidenten der verschiedensten Haut- und Parteifarben festgehalten hatte« (ebd.: 331). Für solche Verhältnisse spricht auch, dass Eufemia, Romanas Mutter, einen der Anführer der Truppen Benito Juarez’, Don Victoriano Turbacio, heiratet. Dieser hatte wiederum während der Reise von Querétaro nach Veracruz Ansprüche auf Romana erhoben und war von Rodburg möglicherweise an die Mutter verwiesen oder mit dieser im Zuge eines weiteren ›Tauschgeschäftes‹ verkuppelt worden, denn nachdem er, wie es (unglaubwürdig) heißt, Romana in Veracruz an Ehre unverletzt ihrem Gatten übergibt, reist er nicht gleich mit nach Paris, sondern geleitet Doña Eufemia zunächst zurück nach Mexiko-Stadt. »Daß er dort noch eine kleine Privatkostenrechnung mit der Regierung Benito Juarez’ auszugleichen hatte, traf sich freilich recht geschickt« (ebd.: 335). Dieser und weiteren Andeutungen lässt sich entnehmen, dass die Verheiratung der Mutter Romanas mit dem Anführer Victoriano Turbacio Teil eines Geschäftspakets ist, zu dem wohl auch gehört, dass Doña Eufemia Turbacio ein staatliches Gehalt erhält, weil sie »beim Straßenbauwesen mit angestellt ist« (ebd.); auch schreibt Alexander Rodburg an Tieffenbachers Schwiegermutter Doña Eufemia, als er beschließt, Ilmenthal mit dem von den globalisierungsbegeisterten Bürgerinnen und Bürgern investierten Geld – und mit Tieffenbachers Ehefrau und Wertpapieren – zu verlassen.

Diese im Text angelegten Spuren gipfeln letztlich darin, dass Joseph Tieffenbacher sich vor der Hinrichtung bewahrte, indem er seine Frau Romana verkaufte oder zumindest doch mit einpreiste. So ist jedenfalls Romanas wiederholte Rede von einem »miraculo de la Santissima« (ebd.) aufzufassen, wenn sie darüber räsoniert, wie wunderlich es sei, dass sowohl sie als auch ihr aus einer kurzen Haft entlassener Mann sich nach Europa eingeschifft haben: »[E]s war ein Wunder, ein Wunder, ein Wunder« (ebd.) – unter anderem, weil »ihr Gatte nicht wie der Papa gehängt oder wie Kaiser Maximiliano erschossen wurde« (ebd.: 333).

Das ›Wunder‹ war freilich ein geplantes. Das Selbstgespräch Romanas verläuft im Übrigen strukturanalog zu den Selbstbeschreibungen der ›guten Bürger‹, die durchaus kein positives Gegenbild zu den ›amerikanischen‹ Figuren abgeben: Auch die Ilmenthaler verbrämen ihre Entscheidungen, die sie aus gewinnorientierten und wenig tugendhaften Gründen treffen, wie etwa die Einrichtung eines künstlichen Wasserfalls, indem sie ihr Tun (z.B. Beschlüsse des Magistrats) externalisieren und dem neuen Geist der Zeit zuschreiben.

Dieser euphemisierende Blick eignet nicht allein den Ilmenthalern und den aus Übersee Kommenden, auch die Erzählerstimme macht sich zum Komplizen der Beschönigung. Sie entfaltet einen Rechtfertigungsdiskurs, den die Leserinnen und Leser gegen den Strich lesen müssen. Allerdings sät sie selbst Zweifel an der Richtigkeit dieser Art, das Geschehen einzuordnen. An manchen Stellen kippen hyperbolische Anerkennungsbekundungen recht offensichtlich in einen satirischen Ton, so beispielsweise, wenn Alexander Rodburg mitten in einer Lobestirade ein »US-Ehrenlegionar« (ebd.: 335) genannt wird, wobei in dem ›Legionar‹ der skrupellose Söldner anklingt, der sich oxymoronisch zur ›Ehre‹ verhält.

Anderenorts wecken ironische Signale Zweifel an der Zweisamkeitsidylle zwischen Tieffenbacher und seiner Frau Romana, die in der ersten Zeit nach ihrer Ankunft in Ilmenthal Haus und Garten kaum verlassen. Eine einzige Textstelle legt – allerdings recht unmissverständlich – inmitten der plapperhaft-belanglosen Monologe ›Papa Pepes‹, wie Joseph Tieffenbacher genannt wird, offen, dass er um das Verhältnis zwischen Romana und Alexander weiß. Als Alexander, nachdem er abermals überseeische Geschäfte zu erledigen hatte, nach Ilmenthal zurückkehrt, geht er in Tieffenbachers Abwesenheit in sein früheres Elternhaus, um dort Romana allein zu treffen. Tieffenbacher kehrt überraschend heim und ertappt die beiden, wie er selbst in Anwesenheit von Alexander, Theodor und Romana berichtet:

[H]e, he, he, habe ihn [Alexander; I.-K.P.] mal überrascht, neulich bei seiner ersten Visite, als Proprietär seines Ilmenthaler Ahnenschlosses! Hat mir viel Spaß gemacht. Arrangiert sich manches sehr leicht unter dem blauen Himmel, was der Mensch für unmöglich hält. Wohnen hier nun quasiment wie eine Familie beisammen –« (ebd.: 296).

Dies kann unschwer als ein Bekenntnis zu einer Ménage-à-trois verstanden werden, die bereits in Mexiko, unter freiem Himmel – in Querétaro –, ausgehandelt wurde. Wann immer also die Erzählerstimme von der Naivität Tieffenbachers spricht, legt sie eine falsche Fährte, und wenn Nachbarn oder andere Ilmenthaler dies tun, zeugen sie von ihrer eigenen fehlenden Menschenkenntnis:

[H]abe keine Lust, den Trockenwohner für des Städtles Zukunftbevölkerung zu spielen, – habe drüben jenseits der Ilme schon ein Terrain für mögliche Spekulationen ins Auge gefaßt, he Frau! he Gentlemen?!…Wollen unsere paar Pfunde nicht bloß vergraben oder verwohnen in Ilmenthal an der Ilme – wollen auch unsererseits dem lieben Ort nach Möglichkeit zu einer internationalen Universalreputation verhelfen! (Ebd.: 276).

Der schrullig und harmlos wirkende Tieffenbacher beteiligt sich aktiv an den Spekulationen um die mögliche Zukunft des Ortes und ist damit am Ende nicht nur das verlassene Opfer, der Gegenstand allgemeiner Anteilnahme, sondern auch – hintergangener – Mittäter.

3.

Die dritte Textstrategie, Übergänge gegen Übergriffe einzusetzen, beruht auf Intertextualität. In Raabes Figurenreden, mitunter auch in Erzählerkommentaren oder im Handlungsverlauf, tauchen Zitate aus anderen literarischen Texten auf. Diese führen dazu, dass die Figuren in neuen Kontexten gesehen und umgedeutet werden müssen, oder aber dazu, dass sie einen Anstoß zur eigenen Entwicklung erhalten. Letzteres ist der Fall, wenn die intertextuellen Verweise in den Handlungsverlauf eingebunden sind – etwa in Form eines offenen Buchs, auf das der Blick des Protagonisten zufällig fällt.

In Raabes Erzählung sind diese intertextuellen Verweise bewusst als Übergänge angelegt, die Ähnlichkeiten und Strukturanalogien zu auf den ersten Blick ganz verschiedenen Situationen herstellen oder mitunter den Figuren Anstöße zur Veränderung geben.

Erstens fällt der Blick Theodors zufällig auf Johann Wolfgang Goethes Gedicht Der neue Amadis, als er gerade im Begriff war, Romana wie der König in Thule ewige Treue zu schwören. Die beiden Texte treten vor seinem inneren Auge in einen Widerstreit zwischen Pathos und »schalkhaftem Ernste« (ebd.: 283), wobei sich Letzterer doch durchsetzt, indem sich Theodor in dem kindlichen ›Ich‹ wiedererkennt, das von ritterlichen Abenteuern träumt und dabei doch in einer armseligen, lebensfernen Welt gefangen ist. Mit einer ›Prinzessin Fisch‹ lässt sich eben nicht zu Tisch gehen:

Ritterlich befreit ich einst

Die Prinzessin Fisch

Und sie war ganz obligeant

Führte mich zu Tisch

Und ich war galant (ebd.: 285).

Theodor erkennt sich selbst im Knaben, der exotische Fluchtphantasien hat – wie früher schon in Gestalt von Robinsonaden, die ihn in fremde Welten und Abenteuer führten; Phantasien, die sein Bruder Alexander in die Tat umgesetzt hat, mit unguten Folgen. Eine in der Biographie angelegte Erklärung für exotische Ausfluchtphantasien liefert Goethes Gedicht auch gleich mit, indem es Vernachlässigung, Gewalterfahrungen und Isolation zumindest andeutet:

Als ich noch ein Knabe war,

Sperrte man mich ein;

Und so saß ich manches Jahr

Über mir allein,

Wie im Mutterleib (ebd.: 284).

Alexander und Romana entstammen für Theodor jenem »Reich der blauen Wunder und Abenteuer, nach welchem sich der unmündige Knabe, mit seinem Robinson Crusoe und Ferdinand Cortez im Sinne, so sehr gesehnt hatte« (ebd.: 308). Erst als er lernt, reflektiert mit Literatur umzugehen und sich damit von diesen Gestalten zu unterscheiden, überwindet er die Verstrickung in die Liebesphantasie um eine Frau, in der er den intergenerationellen sexuellen Missbrauch, den er als Kind möglicherweise beobachtet oder sogar selbst erlitten hat, unbewusst wiederholt. Zu einem »Mitbürger in der Welt der Phantasie« (ebd.: 309) wird Theodor für Bruseberger aber stets in einem zweifachen Sinne: zum einen als einer, dessen Vorstellungen anfällig bleiben für gewaltgeladene Wiederholungsmuster, und zum anderen als jemand, der insbesondere durch literarische Lektüren Distanz gewinnt und eine zweite Reflexionsebene, eine ›Schwelle‹ einzuziehen vermag, die es ihm schließlich erlaubt, von der ›Heimat‹ in Ilmenthal und seinem Elternhaus Abschied zu nehmen.

Zweitens sagt Alexander von sich: »[I]ch bin’s – bin der Räuber Jaromir« (ebd.: 275), und gibt sich damit als ›verlorener Sohn‹ aus, der als Verbrecher und Mörder heimkehrt, um in der Sage wie in Grillparzers Ahnfrau mit seiner Schwester und der gespensterhaft zurückkehrenden Ur-Mutter zu schlafen und den Vater zu ermorden. Auch er greift auf Literatur als Medium der Selbstreflexion zurück, ohne ihr allerdings Heilsames entnehmen zu können. Auch von seinem Vater heißt es, er ähnle in seinen letzten Lebensjahren King Lear – allerdings führt die Reue zu keiner Läuterung.

Drittens vermittelt der Schubkarren voller »wahrer Weltliteratur«, den Bruseberger in der Schlussszene schiebt, den Eindruck, er trüge nicht unerheblich zum erfreulichen Ausgang des Textes bei, denn es kommt nur wegen der Bücher, die Bruseberger verkaufen wollte, zur entscheidenden Begegnung, die zur Ablösung Theodors von der ›falschen Heimat‹ führt. Inmitten der mitgeführten ›Weltliteratur‹ wird der Buchbinder, der ansonsten immer nach dem ›Zusammenhang der Dinge‹ sucht, zum »großer Zergliederer und Scheidekünstler« (ebd.: 383), der seinen Zögling mäeutisch in einen Zustand überführt, in dem er von der falschen Heimat getrennt ist: auch dies ein Übergang. Aus ihm sollen sich, so der Wunsch des älteren Mentors, neue Zusammenhänge ergeben, die vielleicht in vielen Jahren zu einer Wiederbegegnung führen könnten, die dann gerade keine Heimkehr sein kann.

Viertens schließlich weist sich der gesamte Text selbst vielerorts als ein solches ›gemachtes Ding‹ aus, als eine Reflexionsserie unterschiedlich gelagerter Vorstellungen, die wünschenswerte Übergänge ermöglichen, dagegen aber schädliche Grenzüberschreitungen wie auch die Perpetuierung gewaltträchtiger Muster als solche ausweisen und verhindern helfen können. Gleich zu Beginn des Textes exponiert sich der Erzähler als ein Schriftsteller-Ich, dass »gleichfalls Bescheid« weiß »mit dem Spinnen, Wickeln und Abschneiden menschlicher Schicksale« wie die »Parzen« Klotho, Lacheis und Atropos, die »Kolleginnen«, bei ihrer »unausgesetzten Fabriktätigkeit« (ebd.: 193). Die Arbeit der ›Kolleginnen‹ betrifft den Grundbestand an Übergängen, während die schriftstellerische Arbeit mühsam als Schwellenkunde betrieben werden muss, wie der Erzähler selbstironisch klagt. Seine Gemachtheit stellt der Text gleich auf den ersten Seiten aus, denn der Erzähler reist, um sich von der mühsamen parzengleichen Arbeit zu erholen, in die Berge – in den internationalen Luftkurort Ilmenthal, wo er fast unbemerkt ins Geschehen abtaucht. Freilich bleibt die Erzählerstimme während des gesamten Handlungsverlaufs keineswegs passiv, sondern spinnt an Übergängen, falschen und richtigen Fährten, greift Selbstrechtfertigungsdiskurse auf und stimmt in den euphemistischen Diskurs ein, der die bürgerliche Doppelmoral und die ihr inhärente Gewalt kaschiert. Aber es gelingt der Erzählerstimme auch, all dies zu entlarven und zu konterkarieren, nicht zuletzt durch die Arbeit an und mit individuellen und kollektiven Übergängen. Statt sich zu erholen, ist der Erzähler aus dem Leben wieder zur Kunst zurückgekehrt und hat die Grenze zwischen beiden durchlässig gemacht.

In diesem Sinne ist auch die letzte Intervention der auktorialen Erzählerstimme zu verstehen, als am Ende des Textes Theodor in Begleitung von Bruseberger die Entscheidung fällt, sich weiter seinem Jurastudium in Leipzig zu widmen und bis auf Weiteres nicht mehr nach Ilmenthal zurückzukehren. Der Schwellenzustand, in den Theodor eintritt, gleicht nicht einer erhabenen Beobachterposition. Er steht zwar auf einer Anhöhe oberhalb Ilmenthals, aber auf einem aufgelassenen, verwilderten Nebenweg, von wo aus zwei Randständige den fast monumentalen Einzug der Kurachitektur, der Eisenbahngleise und der neuen Wegeinfrastruktur passiv zur Kenntnis nehmen. An dieser Schwelle erkennt Theodor, dass der für ihn lebensgeschichtlich wichtige Übergang sich als Abkehr von dem Elternhaus und dessen sozialem Umfeld vollziehen muss. Diese Entscheidung unterstreicht die Erzählerstimme: »Wir aber – wir hatten zuerst die Absicht, dieser wahrhaftig wahren Geschichte den Titel zu geben: // Auf der Schwelle!« (Ebd.: 386; Hervorh. i.O.)

Diese Sätze beschließen den Text und bringen nicht nur den Standpunkt des Protagonisten Theo, sondern den der gesamten Erzählung auf den Punkt. Aus der Überkreuzung unterschiedlicher Übergänge – wissenschaftlicher, medialer, infrastruktureller, ökonomischer, kultureller und psychologischer Natur – ergibt sich ein poetischer Schwellenzustand, von dem aus es vielleicht gelingen kann, die Gewaltmuster zu überwinden. Während Alexanders wiederholte Flucht in die Neue Welt gerade keine Befreiung aus den asymmetrischen Mustern gewährleistet, sondern zur Wiederholung missbräuchlicher Verhältnisse (gegenüber Romana, aber auch im Umgang mit Versklavten und Kriegsgefangenen) verleitet, eröffnet das Verharren Theodors am Ende des Textes ›auf der Schwelle‹ zumindest Möglichkeiten. Dieser widerständige Schwellenzustand tritt nicht von selbst ein, sondern ist Ergebnis poetischer Übergänge.

Anmerkungen

1 | Es handelt sich dabei um einen populärwissenschaftlichen Text, Handbuch aller Wissenschaften in ihrem Wesen, ihrer Entwickelung und ihrem Zusammenhange gedrängt dargestellt als Leitfaden zur wissenschaftlichen Selbstbildung, der in Berlin 1838 / 39 erschien und von Fr. von Schönholz verfasst wurde (vgl. Schönholz 1838 / 1839).

Literatur

Göttsche, Dirk (2009): ›Pionier im alten abgebrauchten Europa‹. Modernization and Colonialism in Raabe’s Prinzessin Fisch. In: Ders. / Florian Krobb (Hg.): Wilhelm Raabe. Global Themes – International Perspectives. London, S. 38-51.

Raabe, Wilhelm (1979): Prinzessin Fisch. In: Ders: Sämtliche Werke [Braunschweiger Ausgabe]. Hg. v. Karl Hoppe u. Jost Schillemeit. Bearb. v. Karl Hoppe, Hans Oppermann u. Kurt Schreinert. Göttingen, S. 191-386.

Schönholz, Freiherr von (1838 / 1839): Handbuch aller Wissenschaften, in ihrem Wesen, ihrer Entwickelung und ihrem Zusammenhang gedrängt dargestellt als Leitfaden zur wissenschaftlichen Selbstbildung. Berlin.