Bericht zum Workshop Asien-Pazifik. Translokale Verbindungen und imaginäre Besetzungen (1. Juni 2019) an der University of Tokyo, Komaba

Tobias Akira Schickhaus

Das geografische Dreieck zwischen Japan, China und Australien hat den europäisch-amerikanischen Asien-Pazifik-Diskurs nachhaltig geprägt. Die Metropolen Sydney und Seoul, Tokio und Taipei sind Brennspiegel der Globalisierung, die sie ideell repräsentieren. Diese Ideen sind ein historisches Produkt, hervorgegangen aus einer Wahrnehmung dieser Orte als Versorgungsbasen, als exotische Warenumschlagsplätze oder Fischmärkte voller Rikschas und Glöckchengeklingel. Aber heute reiben sich fremde Betrachterinnen und Beobachter aus dem Westen beim Anblick dieser erhabenen Agglomeration von Menschen, Gebäuden, Zügen, Verkehrs- und Handelswegen die Augen. Es ist, als ob dieser Blick es nicht wahrhaben kann, ja vielleicht auch nicht wahrhaben möchte, dass sich trotz geschäftlicher Beziehungen auch nach vielen Jahren diese Asiaten immer noch nicht verstehen lassen! Der alteingeübte Eurozentrismus reicht nicht mehr aus, um die in Stahlbeton hochgezogenen Zeugen pazifischer Geschichte in den Zoo für Exotik zu verbannen. Diese historische Verschiebung globaler Aufmerksamkeit hat eine in Japan arbeitende germanistische Forschungsgruppe, die ost-westliche Kulturkontakte aus der Perspektive von Raumtheorien untersucht, zum Thema eines Workshops gemacht.

Mit Unterstützung einer Reihe von Institutionen, die vom Zentrum für Deutschland- und Europastudien der University of Tokyo, Komaba, und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst bis zum Universitätsverein Bayreuth reicht, konnte am 1. Juni 2019 die Veranstaltung mit dem Titel Asien-Pazifik. Translokale Verbindungen und imaginäre Besetzungen unter der Federführung von Thomas Schwarz (University of Tokyo, Komaba) durchgeführt werden.

Welche Erkenntnisse zur Rekonstruktion eines imaginären Asien-Pazifik-Diskurses gewähren kollektive Bilder und Narrative im sowohl synchronen als auch diachronen Zuschnitt? Welche Funktion übernehmen dabei die Dimensionen des Ozeans oder jene der pazifischen Insularität und inwieweit lassen sich aus den Einzelergebnissen historiografische Beiträge einer kritischen Geschichte kolonialer Machtverhältnisse und exotistischer Fantasien gewinnen? Auf diese Fragen ging das Programm mit insgesamt zehn Vortragenden ein.

Den Keynote-Vortrag Hans Bethge und die Erfindung der chinesischen Poesie hielt Yixu Lu (University of Sydney), die im Rahmen eines Fellowships der Japan Society for the Promotion of Science nach Japan gekommen war. Am Beispiel des 1907 veröffentlichten Bandes Die chinesische Flöte rekonstruiert Lu die Übersetzungsgeschichte dieser ›Nachdichtungen‹, deren Übersetzungen nicht den chinesischen Originalen, sondern europäischen, bereits übersetzten Quellen von Hans Heilmann, Judith Gautier oder Marquis d’Hervey-Saint-Denys entnommen wurden. Lu zeigte, dass Bethge mit dieser eklektischen Übersetzung immer auch Adressatinnen und Adressaten des deutschen Bildungsbürgertums im Blick hatte, um ein Chinabild im neuromantischen exotischen Kleide zu vermitteln.

Für die Konstruktion des pazifischen Raumes sind überdies die historischen Arbeiten japanologischer und sinologischer Provenienzen von Bedeutung. Als wegweisend zu nennen sind der Titel des britischen Diplomaten und Gelehrten William George Aston, A History of Japanese Literature (1899), sowie die Geschichte der japanischen Literatur (1906) des deutschen Germanisten und Japanologen Karl Florenz, ergänzt um seine Übersetzung japanischer Gedichte, Dichtergrüße aus dem Osten (1894). Thomas Pekar (Gakushuin University) diskutiert in seinem Vortrag Das literarisch-lyrische Japan-Bild in Deutschland um 1900 das Problem philologischer Texttreue und interpretierender Nachdichtung in Ergänzung des bereits präsentierten Bethge – nur diesmal aus japanologischer, literaturgeschichtlicher Perspektive.

Mit Blick auf den Asien-Pazifik-Diskurs darf betont werden, dass die vielfältigen Ansätze zu seiner Erforschung gewiss keinen uniformen Standards zu unterwerfen sind, sondern eine die Disziplinen übergreifende Vielfalt, also Interdisziplinarität, erfordern. Dies war auch am 1. Juni in Tokio deutlich erkennbar.

Michael Wetzel (Universität Bonn) zeigte am Beispiel von Pierre Lotis Roman Madame Chrysanthème (1887) auf, wie stereotype Vorstellungen exotischer ostasiatischer Weiblichkeit in einer diskursiven Kampfarena als Okkupationsstrategie westlicher Kolonialfantasien zum Einsatz kamen. Dem geopolitisch wirkmächtigen Narrativ der Insularität und der Südsee-Hybridität widmeten sich gleich vier Vorträge: Roman Lach (Keimyung University) und Thomas Schwarz (University of Tokyo, Komaba) begaben sich auf die Suche nach Spuren des deutschen Kolonialismus und Exotismus in der Südsee. Sie gingen der Frage nach, inwieweit Der Pazifik als Erzieher (Lach im Anschluss an Karl Haushofer) die deutsche Südseesehnsucht im 19. Jahrhundert beflügelte und inwieweit Die Memoiren des deutschen Marineoffiziers Freiherr von Spiegel (Schwarz) und seine Bewertungen sexueller Beziehungen mit kolonisierten Insulanerinnen die Ansichten der zeitgenössischen Geopolitik und Anthropologie widerspiegelten. Im Zentrum des Vortrags von Tobias Akira Schickhaus (Universität Bayreuth) stand die Frage, worin die Attraktivität von Insularität als lyrischer Raumkonfiguration liegt. Als Ausgestaltung eines literarischen Interims wurden Motive der Insel am Beispiel deutscher, japanischer und iranischer Gedichte vorgestellt. Mithilfe eines komparativen Verfahrens las Michael Yates (Rikkyo Unversity) Jean Giraudoux’ Roman Suzanne et le Pacifique (1921) vor dem Hintergrund von Gilles Deleuzes Essay Desert Islands.

Den Wandel von Begriffen zeichnete Jan Straßheim (Keio University) in seinem Vortrag In Stein gemeißelt: Nishida, der »Friedensturm« und die Kontextualität politischer Bedeutungen nach. Im Fokus des Beitrags stand der Ausdruck hakkō ichiu (dt., die acht Ecken [der Welt] unter einem Dach). Diesem politischen Slogan wurde durch das Hakkō-ichiu-Monument in Myazaki während des Zweiten Weltkriegs ein Denkmal verliehen, das heute als ›Friedensturm‹ bekannt ist.

Zwei weitere Beiträge beschäftigten sich während des Workshops mit der japanischen Variante des Südsee-Exotismus, dem Nanyo-Orientalismus. Als der japanische Anthropologe Tadao Umesao 1957 einer Allianz pazifischer Inselnationen von Indonesien und Mikronesien über die Philippinen und Papua Neuguinea bis hin zu Australien und Neuseeland das Wort redete, blieb vor allem die Rolle der Japonesia zu diskutieren. Sollte die japanische Inselnation eine Partnerin auf Augenhöhe sein oder sollte ihr doch eher die Rolle einer Hegemonialmacht zukommen? Dieser Frage ging Mario Kumekawa (Keio University) in seinem Vortrag Japan und der Pazifik: Tadao Umesaos ökologische Position nach. Ryota Nishinos (Nichibunken – International Research Center for Japanese Studies, Osaka / University of the South Pacific, Fiji) Vortrag mit dem Titel Nanyo-Orientalism in Sugimura Mitsuko’s Regiman no hi stellte den 1981 veröffentlichten historischen Roman Fire over Regiman von Sugimura Mitsuko (1910-1986) vor. Der Roman nimmt die Sokehs-Rebellion von 1910 / 11 auf den Karolinen-Inseln, damals Deutsch-Neuguinea, gegen die deutsche Kolonialherrschaft zum Anlass eines fiktionalen Entwurfs von Geschichte. Diskutiert wurde in diesem Vortrag die kulturwissenschaftlich bedenklich ambivalente Haltung der Autorin, den Widerstandskampf der Sokehs einerseits zu romantisieren, aber zugleich auch suggestiv einem verstärkten japanischen Engagement im Pazifikraum das Wort zu reden. Denn vor dem Hintergrund deutscher Gräuel kann sich Japan als die bessere Kolonialmacht präsentieren.

Ein zwar in Gänze anderes, aber an das Workshop-Thema komplett anschlussfähiges und relevantes Thema schnitt Andreas Becker (Keio University) an. Auch das Internet, so immateriell und ortlos es den meisten Nutzerinnen und Nutzern erscheinen mag, ist nicht nur im stetigen Wandel begriffen, sondern beruht – zum Erstaunen etlicher Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Diskussion – auf einer ganz physischen Infrastruktur. In seinem Vortrag Über Seekabel und Rechenzentren referierte der Medienwissenschaftler über Die materielle Infrastruktur des Internets im Pazifisch-Asiatischen Raum. Er verdeutlichte, welche Zentren der Pazifikstaaten in welchem Ausmaß miteinander vernetzt sind.

Dieser interdisziplinäre Workshop konnte durch das Engagement vieler in Japan, Südkorea und Deutschland arbeitender Germanistinnen und Germanisten in Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen aus der Amerikanistik und Japanologie verwirklicht werden. Im Hintergrund steht die langjährige Forschungszusammenarbeit eines Netzwerks, das zuletzt mit dem Band Wohnen und Unterwegssein. Interdisziplinäre Perspektiven auf west-östliche Raumfigurationen auf sich aufmerksam machen konnte (hg. v. Mechthild Duppel-Takayama, Wakiko Kobyashi u. Thomas Pekar, Bielefeld 2019). Es bleibt zu hoffen, dass die Neuausrichtung dieser Forschungsgruppe ebenfalls zu einer Publikation führt.