Begegnungen im Wald

Heimische Zivilisationsgrenzen im 18. Jahrhundert

Klaus-Michael Bogdal

In einer Szene auf der Burg Jagsthausen in Goethes Schauspiel Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand lernt Karl, »sein Söhnchen«, dass arme Ritter ›ausreiten‹ müssen, um mit Gewalt Gerechtigkeit wiederherzustellen und sich ganz nebenbei auf diese Weise ihren Unterhalt sichern. Als Elisabeth ihren Sohn Karl, den Götz für ein wenig verweichlicht hält, fragt: »Wärst du nicht auch ausgeritten?« (Goethe 1963, 159), weist er dieses Ansinnen verängstigt zurück: »Nein! Da muß man durch einen dicken, dicken Wald, sind Zigeuner und Hexen drin.« (Ebd.) Was hier als Ausgeburt der Fantasie und kindlich-naive Urangst vor magischen Orten und Kräften erscheint, wird den Zuschauern im fünften Akt, in der Szene »Nacht. Wilder Wald«, in der Götz auf der Flucht vor den kaiserlichen Truppen in ein »Zigeunerlager« gerät, als soziale Realität der Zeit vorgeführt. ›Zigeuner‹ gelten seit den systematischen Verfolgungen im 16. Jahrhundert bis in das 19. Jahrhundert hinein als die »Waldmenschen« (Schenkendorf 1912, 209) Europas, die sich den unzugänglichen und unübersichtlichen Raum mit Räubern oder Marginalisierten und Pauperisierten wie Köhlern oder ›Hexen‹ teilen. Auch im Götz werden sie als Erdhöhlenbewohner auf der Entwicklungsstufe von Jägern und Sammlern beschrieben, wenn z.B. die »Zigeunermutter« ihrer Tochter die Anweisung erteilt: »Flick das Strohdach über der Grube«, und der Sohn die Abendmahlzeit präsentiert: »Ein Hamster, Mutter. Da! Zwei Feldmäus.« (Goethe 1963a, 255) In der frühen Neuzeit erschließen nur wenige Verkehrswege die großen Waldgebiete Zentraleuropas. Die Jagdvergnügungen der adligen Landesherren werden in der Literatur immer wieder als gefährliches Eindringen beschrieben, sobald eine liminale Zone im Verfolgungseifer überschritten wird. Jenseits dieses durch Bewirtschaftung zumindest bei Tageslicht kontrollierten Bereichs liegt der ›tiefe Wald‹, ein fremdes, unzivilisiertes Territorium: wie der tropische Urwald das »Herz der Finsternis« (Joseph Conrad), ein ›Un-Ort‹, in dem das ganz Andere der eigenen Kultur vermutet wird. Ein ›Un-Ort‹ ist durch Mangel charakterisiert: das Fehlen vertrauter Familienstrukturen, ständischer Hierarchien, der Religion, der Verwaltung usw. Er wird aber auch als Unordnung wahrgenommen, weil er dem Herrschaftszugriff und der Sozialkontrolle, der für die dörflichen Gemeinschaften und die ummauerten Städte kennzeichnend sind, entzogen ist. So deutet z.B. Goethe die ›Zigeuner‹ im zeithistorischen Rückblick auf die Französische Revolution und die Napoleonischen Kriege als symbolische Verkörperungen gesellschaftlicher Ordnungslosigkeit, als er sie im Maskenzug von 1818 neben anderen literarischen Figuren aus einigen seiner Dramen und denen Friedrich Schillers, gespielt von den Damen und Herren der Weimarer Gesellschaft, auf den Straßen der Residenzstadt wandeln lässt: »Götz von Berlichingen tritt auf, […] Landvolk zeigt sich, den einfachen Lebensgenuß zur verworrensten Zeit, Zigeuner dagegen den gesetzlichen Zustand aufgelöst anzudeuten.« (Goethe 1968, 603)

Wie kann es angesichts der Grenzziehung, die im eigenen Land nicht nur ethnisch und sozial, sondern auch topografisch das markiert, was als Zivilisation zu gelten hat, zu Begegnungen kommen? In der Literatur des 18. Jahrhunderts wird die Begegnung meist als Zufall inszeniert. ›Zigeuner‹ gelten als Nomaden und als solche bestimmen sie durch ihr plötzliches Auftauchen und Verschwinden Ort, Zeitpunkt und Dauer des Zusammentreffens. Deshalb scheint ein Einblick in ihre Lebensweise nicht möglich. Einzig das Auffinden eines ›Zigeunerlagers‹ – meist in finsterer Nacht durch den verräterischen Schein der Feuer und fremdartigen Gesang herbeigeführt – gestattet eine flüchtige Begegnung. Im Laufe des 18. Jahrhunderts bilden sich drei Begegnungsvarianten heraus, die auf unterschiedliche Weise die heimische Zivilisationsgrenze konfirmieren. Am häufigsten wird die räumliche Distanz gewahrt. Das Lager bietet aus der Ferne das Bild eines fremden, ursprünglichen, vorzivilisatorischen Lebens in der Natur. In der zweiten Variante gestaltet sich die Begegnung zu einem gefährlichen Unterfangen. Die ›Zigeuner‹ erscheinen als umherschweifende Marodeure, die im Lager ihre Beute verprassen und die Hinzukommenden ausplündern. Schließlich wird drittens das Lager auch als rettender Fluchtort geschildert. In ihm findet man eine archaische, den Regeln der Gastfreundschaft verpflichtete Gemeinschaft vor.

In Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre scheint sich eine Möglichkeit der Begegnung durch die rousseauistisch inspirierte Rückwendung der zivilisationsgeschädigten Gesellschaft zu einer naturgemäßen Lebensweise abzuzeichnen, als Wilhelm Meister und seine Freunde in einer unübersichtlichen Kriegssituation zur Flucht gezwungen werden.1 Der zivilisierten Umgebung entkommen, schlagen sie an einem idyllischen Ort im Wald ein Lager auf. Der Aufenthalt in der Natur stärkt ihr Gemeinschaftsgefühl und scheint »jedes Gemüt zu reinigen« (Goethe 21971, 231). Die positiven Erfahrungen werden mit der Topografie und den ›Waldmenschen‹ und ihrer Lebensweise in Verbindung gebracht:

Man beneidete die Jäger, Köhler und Holzhauer, Leute, die ihr Beruf in diesen glücklichen Wohnplätzen festhält; über alles aber pries man die reizende Wirtschaft eines Zigeunerhaufens. Man beneidete die wunderlichen Gesellen, die in seligem Müßiggange alle abenteuerlichen Reize der Natur zu genießen berechtigt sind; man freute sich, ihnen einigermaßen ähnlich zu sein. (Ebd.)

Die gefühlte Nähe entspringt einer vermeintlichen Affinität der sich unkonventionell wähnenden Künstlergruppe. Die Beschreibung der Szenerie wird zu einer merkwürdigen Form positiver Selbstentfremdung gesteigert. »Ihre seltsamen Kleidungen und die mancherlei Waffen gaben ihr [der Gruppe] ein fremdes Aussehen.« (Goethe 21971, 231) Die Metamorphose bleibt jedoch nicht frei von inszenatorischen bzw. theatralischen Momenten, die Waldidylle droht zur Kulisse zu werden. Der imaginierte Identitätswechsel findet auch eine sprachliche Resonanz, wenn, wie bei ›Wilden‹, von der »kleinen Horde« und von Wilhelm als »dem Anführer derselben« (ebd.) die Rede ist. Doch schon auf dem Höhepunkt des Gemeinschaftserlebens im selbst geschaffenen ›Zigeunerlager‹ deutet der Erzähler das Illusionäre der Situation an, wenn er vom »Wahn des Moments« (ebd., 232) spricht. Dann aber schlägt die Idylle jäh in Schrecken um, als eine Räuberbande – ob es sich um ›Zigeuner‹ handelt, bleibt offen – die Gruppe überfällt und ausraubt. Was anhält, ist das Gemeinschaftsgefühl, das sich in der heldenhaften Verteidigung der Frauen und des Hab und Gut äußert. Das emphatisch erlebte Lager verwandelt sich in ein Schlachtfeld, in eine »Wiese, wo zerbrochene Kasten, zerschlagene Koffer, zerschnittene Mantelsäcke und eine Menge kleiner Gerätschaften zerstreut hin und wieder lagen.« (Ebd., 234) Das selbst aufgebaute ›Zigeunerlager‹ im Wald erweist sich als ein romantisches Bühnenbild – das Stichwort fällt nicht zufällig im Zusammenhang mit dem Begriff »Illusion« (ebd., 232) im Kapitel dieses Romans – das destruiert wird, noch bevor eine Begegnung mit einem »Zigeunerhaufen« überhaupt stattgefunden hat.

In Goethes Schauspiel Götz von Berlichingen taucht das ›Zigeunerlager‹ als Fluchtort auf. Die verschiedenen Fassungen und Bearbeitungen gestalten diesen Schauplatz unterschiedlich aus, doch ist die dramatische Grundsituation stets ähnlich. Nach ihrer verheerenden Niederlage flüchten die verstreuten Aufständischen vor den kaiserlichen Truppen in eine unwirtliche Natur und stoßen in der Szene »Nacht. Wilder Wald« auf eine archaische Gemeinschaft von Nomaden, die ›Zigeuner‹. In der zweiten Fassung ehren sie den Fremden als Gast und teilen mit Götz brüderlich ihre Habe: »Seid willkommen! Alles ist Euer, was wir haben.« (Goethe 1963b, 257) Sie versorgen seine Wunden und unterstützen ihn militärisch: »Götz, unser Leben und Blut lassen wir für Euch.« (Ebd.) In einer Variante erscheinen sie als Räuberbande, die sich auf derb-komische Weise um ihre Beute balgt (ebd. [Paralipomena], 472-474). In der ersten Fassung, in der nicht Götz, sondern Adelheid von Walldorf sich zu den ›Zigeunern‹ verirrt bis Sickingen sie aus dem Wald zurückführt, wird das Fremdartige eines über magische Kräfte verfügenden Volkes betont. Die ›Zigeunerinnen‹ sprechen beim Kochen über dem Feuer wie die Hexen in Shakespeares Macbeth unheimliche Worte über Werwölfe mit dem formelhaften Refrain »Wille wau wau wau! / Wille wo wo wo!« (Goethe 1963b, 108) In dieser gottesfernen Welt des Aberglaubens hört der ›Zigeuner-Hauptmann‹ den »Wilden Jäger« dahin ziehen. Frauen und Männer beherrschen allerlei magische Praktiken, die den ›Zigeunern‹ seit dem Mittelalter zugeschrieben wurden. Sie sorgen dafür »daß dem Jäger die Büchs versagt, daß’s Wasser nicht löscht, daß Feuer nit brennt« (ebd., 111) und »löschen den Brand im Dorf, […] geben der Kuh die Milch wieder, vertreiben Warzen und Hühneraugen, unsere Weiber sagen die Wahrheit, die gute Wahrheit.« (Ebd., 113) Der nach der Ankunft im ›Zigeunerlager‹ geführte Dialog zeigt eine Erstbegegnungssituation, die durch eine asymmetrische Beziehung gesteuert wird. Nicht der Eindringling muss sich erklären, sondern die Gastgeber müssen sich ständig rechtfertigen und ihr Wesen, ihren Charakter und ihre Gebräuche und Sitten darlegen. Auf die Szene im Drama bezogen ist das ein situationsunangemessenes Verhalten, denn angesichts der näher rückenden Ritter und Reiter haben die ›Zigeuner‹ anderes zu tun, als Dinge zu bekennen wie »wir sind keine Räuber« (ebd., 111), »Wir tun niemands Leids« (ebd., 110), »Wer uns was schenkt, dem nehmen wir nichts« (ebd., 113) und Erkenntnisse über die Speise- und Lebensgewohnheiten mitzuteilen, die Goethe offensichtlich aus Miguel de Cervantes Novelle La Gitanilla übernommen hat, wenn es u.a. heißt: »[…] wir säubern s Land vom Ungeziefer, essen Hamster, Wieseln und Feldmäus. Wir wohnen an der Erd und schlafen auf der Erd und verlangen nichts von euern Fürsten als den dürren Boden auf eine Nacht, darauf wir geboren sind, nicht sie.« (Ebd., 110) Auch der »wilde Wald« ist nicht mehr herrenlos, sondern Teil eines herrschaftlichen Territoriums. Aber die Geburt auf nackter Erde weist unmissverständlich darauf hin, dass er sich dennoch jenseits der Zivilisationsgrenze erstreckt.

Bei strikter Segregation und Kontaktvermeidung ließen sich nach diesem Modell räumlicher Ausgrenzung mögliche Konflikte vermeiden. Dagegen stehen im 18. Jahrhundert sowohl gegenteilige Erfahrungen als auch das Wissen der aufklärerischen Anthropologie. Denn Grenzüberschreitungen in beide Richtungen sind die Regel, nicht die Ausnahme. Nicht nur in den übersee-ischen Kolonien, auch in Europa schreitet die Erschließung bis dahin schwer zugänglicher Gebiete durch Eingriffe wie Trockenlegung von Sumpfgebieten, Kanalisierungen oder wirtschaftliche Nutzung von Wäldern, Steppen und Tundren rasch voran. Diese territorialen Eroberungen werden im Bewusstsein der eigenen Überlegenheit stets als Zivilisierungsprojekte begriffen. Auf der anderen Seite geht die aufklärerische Geschichtstheorie davon aus, dass sich auch jene Völker, die aus ihrer Perspektive die höchste Stufe der »Menschheitsgeschichte« (Herder) erreicht haben, sich all das aneignen müssen, was die Menschheit im Verlaufe ihrer Entwicklung bisher hervorgebracht habe: von den ›primitiven‹ Formen über die Hochkulturen der Antike bis zur Jetztzeit. Dieser Blick auf die Geschichte der menschlichen Gattung führt zur Entdeckung der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher zivilisatorischer Entwicklungsstufen in der Gegenwart, nicht nur bei den ›Wilden‹ in Amerika, Afrika und Australien, sondern auch in Europa. Dazu gehört auch, dass die aufklärerische Anthropologie das vermeintliche Entwicklungspotential dieser Völker taxiert oder wie bei den ›Zigeunern‹ oder Samen dessen (ethnisch bedingtes) Fehlen konstatiert, um Erziehungsprogramme daraus abzuleiten. Neben den Bedingungen und Gründen für den zivilisatorischen Fortschritt der Menschheit vermeint die aufklärerische Geschichtstheorie ebensolche für einen Rückschritt oder Verfall angeben zu können. Eine Gefahr droht der erreichten Kulturstufe dadurch, dass die Lebensweise der Völker auf ›niedrigerer Stufe‹, denen man deshalb begegnet, weil man ihnen über die Zivilisationsgrenze hinaus nachsetzt, auf die eigene Kultur zurückwirkt, in dem sie nun ihrerseits aus dem ›tiefen Wald‹ in die Zivilisation einbrechen. Unter den Erklärungen für eine risikoreiche Rückwirkung ist die Vorstellung nicht die seltenste, dass das Leben auf der Kindheits- oder Jugendstufe der Menschheit einen besonderen Reiz auf Gesellschaften ausübt, die sich als vernunftgeleitete und disziplinierte Ordnungen definieren. Auch in der Waldidylle in Goethes Wilhelm Meister lässt sich diese Vorstellung als lustvolles jugendliches Spiel beobachten.

Für den Volksaufklärer, Pädagogen und Schriftsteller Johann Heinrich Pestalozzi ist die Vorstellung, dass das mühsame Werk der Erziehung einer bewussten, moralischen Prinzipien folgenden Lebensführung durch die Begegnung mit anderen Lebensweisen gefährdet werden könnte, unerträglich. Im Unterschied zu vielen anderen Autoren der Zeit nimmt er deshalb die ›Zigeuner‹ im Sinne der aufklärerischen Anthropologie ernst. Er betrachtet sie als ein Volk auf niedrigster Zivilisationsstufe und damit als Gefahr für eine von der Vernunft geleitete Familien-, Gesellschafts- und Staatsordnung. Der ›Zigeuner‹ ist für Pestalozzi ein ›Waldmensch‹, triebgeleitet, ungesellschaftlich und ohne sittliche Erziehung.2 Ohne Erfahrungstatsachen zu berücksichtigen, stilisiert er durch anthropologische Verallgemeinerungen die ›Zigeuner‹ zum Exempel eines mangelhaften, zu überwindenden gesellschaftlichen Zustands. Sie erscheinen als Ausdruck eines Konkret-Allgemeinen, nicht wert, als Individuen wahrgenommen zu werden. Ihre Lebensweise wird nicht – wie in ersten Ansätzen bei Goethe – ethnologisch beschrieben, sondern ausschließlich zu volkspädagogischen Zwecken ausgedeutet. Nicht sie, die ›Wilden‹ (Strasky 2006, 151-153), sind die Objekte der Erziehung, sondern die Schweizer Bauern und Bürger. Sitten und Gebräuche der ›Zigeuner‹ setzt Pestalozzi wie selbstverständlich als wenig erstrebenswert und verachtungswürdig voraus. Ihr Volkscharakter offenbart jene Gefahren, die auch dem zivilisierten Bürger drohen, wenn er die erforderlichen Anstrengungen unterlässt und seine Pflichten vernachlässigt. Jeder Mensch missrät, so heißt es in Lienhard und Gertrud (1787),

wenn er sich selbst überlassen wild aufwächst, träg, unwissend, unvorsichtig, unbedachtsam, leichtsinnig, leichtgläubig, furchtsam, und ohne Gränzen gierig, und wird dann noch durch die Gefahren, die seiner Schwäche, und die Hindernisse, die seiner Gierigkeit aufstoßen, krumm, verschlagen, heimtückisch, mißtrauisch, gewaltsam, verwegen, rachgierig, und grausam. (Pestalozzi 1928, 330)

Trägheit, Unwissenheit, Gier, Verschlagenheit, Heimtücke, Grausamkeit usw.: Pestalozzi zählt hier jene Eigenschaften auf, die zeitgenössische Anthropologen wie der Göttinger Universitätsprofessor Heinrich Moritz Gottlieb Grellman in seinem Buch Die Zigeuner. Ein historischer Versuch über die Lebensart und Verfassung, Sitten und Schicksahle dieses Volkes in Europa, nebst ihrem Ursprunge (1783) als wesenstypisch für sie und die ihnen vergleichbaren ›infamen‹ Völker wie die Hottentotten erachtet hatten. Dass ein Mensch aus diesem Volk »der Gesellschaft nicht nur nichts nützt, sondern ihr im höchsten Grad gefährlich und unerträglich ist« (Pestalozzi 1928, 331), schlussfolgert Pestalozzi im Unterschied zu Grellmann, der sie nach dem ökonomischen Nützlichkeitsprinzip zur Arbeit zwingen möchte. Bei beiden wird jedoch gleichermaßen die eigene Kultur als Wertmaßstab zugrunde gelegt. Das ungeregelte und ziellose ›Zigeunerleben‹ stellt das gefährliche und verführerische Gegenbild zur gewünschten Ordnung dar, die sich durch Selbstdisziplin und gegenseitige Kontrolle auszeichnen soll (Stransky 2006, 184).

Immer wenn in Lienhard und Gertrud die ›Zigeuner‹ in Erinnerung oder auf den Schauplatz der Handlung gerufen werden, geht es Pestalozzi darum, den inneren Zusammenhang zwischen richtiger und falscher Erziehung und Lebensführung, zwischen Glück und Unglück und zwischen Wohlstand und Elend zu erklären:

[E]s ist gewiß, daß zum Exempel eine Frau, die sich von Jugend auf der Unordnung und Unachtsamkeit gewohnt ist, ihre Kinder nicht besorgt, vieles der Haushaltung zu Grund gehen läßt; […] Es ist gar zu vieles zu tief in seinem Innersten eingewurzelt, das er schwer hat abzulegen; und ich glaube fast, ein solcher Mann und eine solche Frau würden leichter dahin zu bringen seyn, mit dem Jaunervolk in die Häuser einzubrechen, und mit den Zigeunern und Bettlern im Wald um ein Heidefeuer herum zu tanzen, als aufrichtige Freude daran zu haben, wenn man sie wollte in eine Ordnung bringen […]. (Pestalozzi 1928, 367f.)

Deshalb bedarf es ungeheurer, nie nachlassender Anstrengungen, um in die Gesellschaft von außen Institutionen und Gebräuche einzupflanzen und dazu Autoritäten und Vorbilder zu schaffen, die einen raschen Rückfall in die Unordnung zu verhindern wissen. Jene, die nicht in der Familie dazu erzogen wurden, sind für Pestalozzi die ›Jauner‹ und ›Zigeuner‹ innerhalb der eigenen Gesellschaft, die diese ständig in ihrem Bestand gefährden. In Lienhard und Gertrud geht es deshalb darum, »aus verwilderten Naturmenschen« (Pestalozzi 1928, 384) gemeinschaftsfähige und ordnungsliebende Bürger zu machen, und um die Hindernisse und Schwierigkeiten auf dem Weg dahin. Drastisch werden zwei Ordnungen kontrastiert: die nomadische »Zigeuner-Ordnung« des Waldes und die bürgerliche Ordnung des »braven Hauses«. Der Lehrer prägt den Kindern der Gemeinde deshalb »als erste Lehre ihrer Kindheit« ein, dass »nur verdiente Freuden wahre Freuden, und hingegen alle Freuden in den Tag hineingenossen, zur Zigeuner-Ordnung gehören, die sich für das Wald- und Bruder-Leben, aber nicht für ein braves Haus in einem ehrlichen Dorf schicken.« (Ebd., 413)

Auf diese Weise entstehen zwei Grenzlinien und damit zwei Fronten, an denen die Abwehr organisiert werden muss. Die eine Linie verläuft zwischen den Eigenen und ihrem Territorium – hier dem Dorf – und den Fremden im ›tiefen Wald‹, die andere im Innern eines jeden Menschen. Aus anthropologischer Sicht handelt es sich um dieselbe Grenze bzw. Zivilisationsschwelle. Der Roman versucht den Nachweis zu erbringen, dass die größere Gefährdung von jenen ausgeht, die von innen heraus das Gemeindeleben verändern. Vergnügungsorte, an denen unbeschwert getrunken und getanzt wird, werden als unübersehbare Siegeszeichen der »Zigeuner-Ordnung« präsentiert. Deren geheime Erfolge werden durch ihre symbolische Repräsentation inmitten der Dorfgemeinschaft sichtbar gemacht und zugleich durch eine rituelle öffentliche Beschämung in eine Niederlage umgedeutet, z.B. wenn ein Mädchen unverheiratet ein Kind zur Welt bringt:

Die Knaben des Dorfs durften einer Schandtochter vier Wochen nach dem Kindbett einen Zigeuner-Tanz tanzen; sie bauten ihr vor dem Haus eine Heidenhütte von Tann-ästen, und Stroh darinn und Mies [Moos] zu einem Lager wohl für ihrer drey oder vier; wenn sie hinein wollten, spielten sie mit ihrer Zigeunertrommel dreymal nacheinander um die Hütte herum einen Heidentanz, und die unordentliche Kindsmutter mußte diese Hütte sechs Wochen drey Tage vor ihrer Thür dulden, sonst durften die Knaben ihr eine neue bauen, und wieder trommeln und tanzen. (Ebd., 412)

Dieses Dorfritual kommt ohne verbale Beschimpfungen oder Schmähungen aus. Die Demütigung besteht einzig im Vergleich mit dem vermuteten Lebenswandel der als Nichtchristen, als »Heiden« angesehen ›Zigeuner‹. Deren Hütte wird aus dem Wald in das Dorf versetzt und dem festen Haus gegenübergestellt. Hütte und Strohlager (vs. Bett) bezeichnen dinglich den Ort der sexuellen Verfehlung, denn ›Zigeuner‹ kennen nach damaliger Auffassung kein Ehesakrament, sondern nur das Konkubinat und praktizieren darüber hinaus noch die Polygamie. Merkwürdig an diesem Ritual ist allerdings, dass ein Knabenkollektiv ausgerechnet durch den wilden »Heidentanz«, der eine sexuelle Komponente enthält und die Fantasie wie den Körper erhitzt, ein ›gefallenes‹ Mädchen beschämen sollen. Von einer Vernunftordnung, die Pestalozzi propagiert, zeugt es jedenfalls nicht. Die Austreibung der Sünde schließt einen Moment von Faszination und Begehren ein.

In der dritten Fassung von Lienhard und Gertrud (1819) taucht mit dem Waisenmädchen Sylvia eine Figur auf, die als »Zigeunerin« bezeichnet wird.3 Der Name verweist überdeutlich auf ihre Herkunft aus dem Wald:

Das Kind war in allem, was es suchte, wollte und that, einer gebornen Zigeunerin gleich. Es schneuzte sich die Nase mit der Hand durch die Finger; es spie an die Wand und auf den Tisch; […] es sprang halb nackend in den Zimmern herum […].4

Das ›Waldmädchen‹ – die Erinnerungen an den in der zeitgenössischen Pädagogik sehr bekannten »Wilden von Aveyron«, den 1799 gefundenen ›Wolfsjungen‹ des französischen Arztes Itard, mag eine Rolle gespielt haben – wird als Beispiel vorzivilisatorischen, ›wilden‹ Verhaltens eingeführt, das offensichtlich jederzeit in eine intakte Familienwelt einbrechen kann. Sicherlich spielt bei der Wahl der Figur auch der Geschlechteraspekt eine Rolle. Die ›Hyänen‹ der Französischen Revolution sind noch nicht vergessen. Die wilde Sylvia stellt eine besondere Herausforderung für die Erzieher dar. Ihre ›Natur‹ bedarf der strengen Ordnung einer Klostererziehung. Diese auf Überwachung und Disziplinierung spezialisierte Institution bildet wie das Arbeitshaus oder das Gefängnis den denkbar größten Kontrast zum unkontrollierbaren Wald. In der Einsperrung als Maßnahme zur Vermeidung äußerer Reize und der Befriedigung innerer Begierden und durch die rigide Einschränkung der Bewegungsfreiheit sieht Pestalozzi ohnehin eine Möglichkeit, die Wildheit einzudämmen, nicht aber sie in Vernunfthandeln umzuwandeln.

Anders als die ›Wilden‹ inmitten der Zivilisation zählen die ›Zigeuner‹ zu jenen, die sich durch ihre nomadische Lebensweise ›in den Wäldern‹ einer derartigen Erziehung und Überwachung zu entziehen vermögen, zumindest im 18. Jahrhundert. Aus der Sicht aufklärerischer Gesellschaftspolitik müssen sie auch noch von dort vertrieben werden, weil sie vor allem die ›einfachen‹ Menschen des Volkes an deren eigene, kaum gebändigte ›Wildheit‹ erinnern. Der Abstand zu ihnen scheint nicht groß genug und die Grenze bleibt in beide Richtungen durchlässig. Pestalozzis Roman errichtet nicht nur eine Schule der Austreibung der Wildheit, sondern schult auch in der Vertreibung der ›Wilden‹. Während die erste pädagogische Anstrengung von einer Frau geleistet wird, muss die zweite von einem jungen Mann bewältigt werden, damit er zukünftig dazu in der Lage ist, die Kontrolle über den ›Wald‹ in Herrschaft umzuwandeln. Dazu muss er lernen, der Vernunft und Erfahrung zu vertrauen statt an magische Kräfte zu glauben:

Ich sollte Förster werden und also solcherley Zeugs weder glauben noch fürchten; deshalb nahm er mich zu Nacht, wenn weder Mond noch Sterne schienen, wenn die Stürme braußten, auf Fronfasten und Weyhnacht in den Wald; wenn er dann ein Feuer oder einen Schein sah, oder ein Geräusch hörte, so mußte ich mit ihm drauf los über Stauden und Stöcke, über Gräben und Sümpfe, und über alle Kreuzwege mußte ich mit ihm dem Geräusch nach; und es waren immer Zigeuner, Diebe und Bettler – sodann rief er ihnen mit seiner erschrecklichen Stimme zu: Vom Platze, ihr Schelmen! Und wenn’s ihrer zehn und zwanzig waren, sie strichen sich immer fort und ließen oft noch Häfen und Pfannen und Braten zurück, daß es eine Lust war. (Pestalozzi 1927, 168f.)

Bei diesem Übergriff werden die Menschen, die als Eigentums- und Obdachlose im Wald Unterschlupf gesucht haben, nicht nur vertrieben, sondern auch noch verspottet, denn ›Zigeuner‹ galten landläufig als abergläubisch und feige. Vor dem geringen Besitz und vor der ›Wohnung‹ der Heimatlosen zeigen sie keinerlei Respekt. Diese rohe Handlung der dörflichen Autoritäten scheint jedoch der Tugenderziehung nicht entgegenzustehen. Das Lustgefühl, das ein Vergnügen am Leiden anderer und an der Macht über sie ist, wird nicht bekämpft, sondern bewusst hervorgerufen. Die Pädagogik, die im Roman an den Figuren exemplifiziert ist, hat entgegen ihrem Selbstverständnis also auch eine ›schwarze‹ Seite. Sie dringt gleichermaßen in die tiefen und dunklen Regionen der Seele und des (landschaftlichen) Raums ein und möchte vor beiden die Angst nehmen. Doch bedroht sie, um der Bedrohung zu begegnen, und übt Gewalt aus, um Gewalt zu verhindern. Der Unterschied zu der Begegnung im Wald bei Goethe, sowohl im Wilhelm Meister als auch im Götz, ist erheblich. Obwohl der Raum auch dort ab- und seine Bewohner, die ›Zigeuner‹, ausgegrenzt sind, werden beide respektiert. Passagen und Überschreitungen ändern ihn nicht. Bei Pestalozzi wird die Überschreitung zu einem imperialen Akt der Inbesitznahme. Müssen im Wilhelm Meister die Flüchtenden ihre Habseligkeiten zurücklassen, so in Lienhard und Gertrud die ›Zigeuner‹ oder »Diebe und Bettler«. Die äußere Zivilisationsgrenze wird eliminiert, ein ›fremdes‹ Territorium im heimischen Gefilde nicht mehr geduldet. Sie verläuft nun im Inneren der Menschen, zwischen Begierden und Vernunft, zwischen Laster und Tugend, zwischen Gottlosen und Gottesfürchtigen.

Anmerkungen

1 Ich fasse hier zu Goethes Darstellung von ›Zigeunern‹ die Ergebnisse einer umfangreicheren Untersuchung zusammen: Bogdal 2007, 71-108.

2 So die zutreffende Feststellung von Strasky 2006, 149.

3 Ich folge der Deutung von Stransky 2006, 154-156.

4 Zit. n. ebd., 155.

Literatur

Bogdal, Klaus-Michael (2007): »Dieses schwartz, ungestaltet und wildschweiffige Gesind«. Symbolische Codierung und literarische Diskursivierung der ›Zigeuner‹ vor 1800. In: Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Michael Zimmermann. Stuttgart, S. 71-108

Goethe, Johann Wolfgang von (1963a): Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand. Dramatisiert. In: Ders.: Berliner Ausgabe. Bd. 7: Poetische Werke. Dramatische Dichtungen. Berlin

Ders. (1963b): Götz von Berlichingen. In: Ders.: Berliner Ausgabe. Bd. 7: Poetische Werke. Dramatische Dichtungen. Berlin

Ders. (1968): Maskenzug. Bei allerhöchster Anwesenheit Ihro Majestät der Kaiserinmutter Maria Feodorowna in Weimar. In: Ders: Berliner Ausgabe. Bd. 4: Poetische Werke. Gedichte und Singspiele. Berlin/Weimar

Ders. (21971): Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Ders.: Berliner Ausgabe. Bd. 10: Poetische Werke. Romane und Erzählungen. Berlin/Weimar

Pestalozzi, Johann Heinrich (1927): Lienhard und Gertrud. 3. Teil 1785. 4. Teil 1787. Sämtliche Werke 2. Bd. Hg. v. Artur Buchenau, Eduard Spranger u. Hans Stettbacher. Berlin/Leipzig

Ders. (1928): Lienhard und Gertrud. 3. Teil 1785. 4. Teil 1787. Sämtliche Werke 3. Bd. Hg. v. Artur Buchenau, Eduard Spranger u. Hans Stettbacher. Berlin/Leipzig

Schenkendorf, Max von (1912): Die silberne Hochzeit bei den Zigeunern. In: Paul Czygan: Neue Beiträge zu Max von Schenkendorfs Leben, Denken, Dichten. In: Euphorion 19, 1. u. 2. Heft

Strasky, Severin (2006): Das Sittliche und das Andere. Johann Heinrich Pestalozzis Bild der Juden und »Zigeuner«. Bern/Stuttgart/Wien