Gemeinsam mit dem Germanistischen Institut der Károli Gáspár Universität zu Budapest und der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Technischen Hochschule ebendort hat die internationale Gesellschaft für interkulturelle Germanistik (GiG) zu einer Konferenz am 7. bis 9. Mai 2009 eingeladen, die das ebenso geschichtsträchtige wie aktuelle und zukunftsweisende Thema Ostmitteleuropa als Begegnungsraum zum Gegenstand eines interdisziplinären Dialogs zwischen den Teilfächern der Germanistik einerseits und zwischen der Germanistik und andern Fächern wie den Sozial-, Wirtschafts- und Kommunikationswissenschaften anderseits zu erheben sich vorgenommen hat. Das Thema war dieser Intention entsprechend weit gefasst: Es umgreift alle Arten der Begegnung – kulturelle, sprachliche, literarische, wirtschaftliche, soziale, mediale, konfessionelle – in dieser insbesondere nach der sog. Osterweiterung der Europäischen Union in den Fokus des allgemeinen Interesses geratenen Region mit all ihren komplizierten historischen, politischen, ökonomischen, Verwerfungen und Verflechtungen.
Ostmitteleuropa als Schnittstelle eines einmalig fassettenreichen interkulturellen Raums zwischen ehemals verfeindeten politischen Blöcken bietet eine Vielzahl von kaum oder wenig erforschten Fragestellungen, bei deren Bearbeitung sich verschiedene theoretische Ansätze bewähren können und die nicht selten auch genauere empirische Untersuchungen erfordern. In vollem Bewusstsein der historischen Tiefendimension des Themas konzentrieren sich die Beiträge indes in der Regel eher auf die Gegenwart und allenfalls jüngste Vergangenheit, um einerseits der ständig zunehmenden Bedeutung interkultureller Kommunikation auf den tangierten Fachgebieten gerecht zu werden, andererseits um das kreative Potential dieser in vielen Hinsichten stimulierenden europäischen Region zu erschließen.
Entsprechend hochrangig haben die Gastgeber die festliche Eröffnung in den historischen Räumen der traditionsreichen Károli Gáspár Universität auszugestalten gesucht: Nach den Grußworten seiner Exzellenz Hochwürden Bischof Gusztáv Bölcskei, ihrer Exzellenz Dr. Dorothee Janetzke-Wenzel, Botschafterin der Bundesrepublik Deutschland und zugleich Schirmherrin der Veranstaltung, seiner Exzellenz Dr. Michael Zimmermann, Botschafter der Republik Österreich, seiner Exzellenz Christian Mühlethaler, Botschafter der Schweiz sowie seiner Magnifizenz Péter Balla, dem Rektor der Universität, wird die Tagung eröffnet vom Präsidenten der GiG gemeinsam mit seinen Kollegen Frau Prof. Dr. Anita Czeglédy, der Leiterin des Lehrstuhls für Germanistik an der Károli Gáspár Universität, und Herrn Dr. Ulrich Langanke, dem Leiter des Fachgebiets Interkulturelle Kommunikation an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Technischen Hochschule. Die Redner heben in ihren kurzen Ansprachen die Bedeutung des Deutschen als eines wichtigen Kommunikationsmittels in Mitteleuropa hervor und weisen darauf hin, dass derzeit mehr als 17 Millionen Menschen in Europa Deutsch als Fremdsprache lernen, von denen allein zwei Drittel aus dem Osten Europas stammen.
Der Staatssekretär des ungarischen Ministeriums für Bildung und Wissenschaft, der Germanist und prominente Sprachforscher Prof. Dr. Karl Manherz, zugleich Präsident des Ungarischen Deutschlehrerverbandes, lässt es sich nicht nehmen, den zugleich bildungspolitisch brisanten und fachlich gehaltvollen Eröffnungsvortrag zu halten. Er sucht zunächst den Leitbegriff des Tagungsthemas Ostmitteleuropa einzugrenzen und verdeutlicht dabei, wie problematisch die geografische Bestimmung des Ausdrucks sein kann. Dann erinnert er an die zentrale Rolle Ungarns Rolle als Begegnungsstätte zweier deutscher Kulturen in der Vergangenheit mindestens bis zur sog. Wende 1989. In einem optimistischen Ausblick skizziert er die Zukunft des Faches in Ostmitteleuropa, in dessen Rahmen noch zahllose Untersuchungsfelder gründlicher Erforschung harrten. Allein schon die Beobachtung des gegenwärtigen Sprachwandels durch den intensiven Kontakt mit den anderen deutschen Sprachgebieten sei eine germanistische Herausforderung. Aber auch die interdisziplinäre Öffnung des Faches und die Vernetzung von sprach- und kulturwissenschaftlichen Ansätzen mit andern Fächern (bis hin zu wirtschaftswissenschaftlichen und politischen Themenfeldern) gelte es noch zu intensivieren vor dem Hintergrund einer (auch aus demografischen Gründen) schwindenden Zahl von Staatsbürgern der Region, die sich in einem ethnischen Sinne zur deutschen bzw. deutschsprachigen Minderheit bekennen. Dabei sei die Bedeutung solcher Fachsymposien wie dem hier verwirklichten für die Stärkung und Erhaltung der deutschen Sprache als regionaler Verkehrssprache auch für die interkulturelle Zusammenarbeit in Wirtschaft und Kultur nicht zu unterschätzen. In diesem Sinne sei die Tagung der GiG über den »Begegnungsraum Ostmitteleuropa« die vielleicht wichtigste germanistische Veranstaltung Ungarns im Jahre 2009.
Der Direktor des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim, Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ludwig Eichinger, geht in seinem anschließenden Plenarvortrag mit dem Titel Und auch das Deutsche. Alte und neue Mehrsprachigkeit als Herausforderung für Europa auf die Frage nach der gegenwärtigen Stellung des Deutschen in Ostmitteleuropa ein und gelangt zu dem Schluss, dass das Deutsche – wie sich schon jetzt in der Wahl zweiter Fremdsprachen zeige (bei der das Deutsche nach dem Englischen noch immer die Spitzenstellung einnehme) – gemeinsam und in unterschiedlicher räumlicher Verteilung mit dem Französischen (dann auch mit dem Spanischen und dem Russischen) das Zeug dazu habe, bei einer näheorientierten sprachlichen Ausgestaltung des europäischen Sprachraums gerade in Mittel- und Osteuropa eine wichtige Rolle zu spielen und es sich folglich in dieser Region besonders lohne, Deutsch zu lernen. Denn gerade nach dem EU-Beitritt der Länder Ostmitteleuropas (EU-Osterweiterung 2004-2008) könne das Deutsche seine früher traditionelle Rolle als Lingua franca vor allem in den Bereichen Kultur, Literatur und Wissenschaft in den ostmitteleuropäischen Gesellschaften wiedererlangen und – unbeschadet (oder parallel zu) der unstrittigen Dominanz des Englischen in den Bereichen Wirtschaft und Technologie – in einem durch historisch intensive Vernetzung geprägten Kultur- und Wirtschaftsraum Ostmitteleuropa im Rahmen der regionalen Mehrsprachigkeit neue Funktionen übernehmen.
Ein von der Hanns-Seidel-Stiftung unterstützter Empfang rundet den Eröffnungstag ab, der anschließend mit einer Vorführung des bewegenden Dokumentarfilms Der Verrat von Farkas-Zoltán Hajdú und Gábor Balogh seinen Ausklang findet, der die Geschichte der Siebenbürger Sachsen erzählt, die im Verlauf der Tagung noch in einem Vortrag von Zoltán Szendi genauer erläutert wird. Das Kulturprogramm wird außerdem (am zweiten Tag) ergänzt durch eine vom Goethe-Institut veranstaltete (und teilweise auch kontrovers aufgenommene) Lesung des deutsch-rumänischen Autors Richard Wagner, dieses Flaneurs zwischen Rumänien, Ungarn, Österreich, Deutschland und langjährigen Gefährten der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller (2009), dessen Werk András Balogh später in ihrem Vortrag genauer vorstellt.
Der Morgen des zweiten Tages beginnt mit dem Plenarvortrag des GiG-Präsidenten Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Ernest W.B. Hess-Lüttich zum Thema: Deutschsprachige Minderheiten und ihre Medien in Ostmitteleuropa: ein Blick in deutsche Zeitungen in Ungarn. In seinem einleitenden Überblick weist er darauf hin, dass außerhalb des deutschen Sprachraums heute ca. 300 Tages- und Wochenzeitungen (wenn man Vereinsblätter und Gemeindepostillen hinzunimmt, sogar über 3000) in deutscher Sprache erscheinen, die freilich oft immer noch das Image altmodischer Heimatzeitungen haben. Er frage sich, ob dieses Image heute noch mit der Wirklichkeit übereinstimme. Leider gebe es kaum repräsentative wissenschaftliche Untersuchungen zu dieser Frage. Dabei hätten solche Zeitungen in den letzten Jahren vielfach einen professionellen Modernisierungsprozess durchlaufen und nähmen wichtige Funktionen interkultureller Vermittlung wahr. Deshalb lohne für eine interkulturelle Germanistik, die sich im Sinne von Siegfried J. Schmidt auch als ›Medienkulturwissenschaft‹ verstehe (wie dessen Beitrag zu einer früheren GiG-Tagung überschrieben war), ein schärferer Blick auf die heutige deutsche Presselandschaft im Begegnungsraum Ostmitteleuropa.
Denn gerade dort habe es nach der politischen Wende zu Beginn der 1990er Jahre etliche Neu- und Wiedergründungen gegeben, was auf einen wachsenden Bedarf schließen lasse, wobei insbesondere die Baltische Rundschau (Litauen 1994), die Kaukasische Post (Tblissi 1994), die Sibirische Zeitung (Nowosibirsk 1998), die Moskauer Deutsche Zeitung (1998), die St. Petersburgische Zeitung (1991), die ADZ (Allgemeine deutsche Zeitung für Rumänien 1992), die Prager Zeitung (1991) und die Neue Pester Lloyd (1994) hervorzuheben seien. Aus dem heute (wieder) kaum überschaubaren Spektrum deutschsprachiger Blätter im Raum Ostmitteleuropa schneidet der Referent dann im Blick auf den Konferenzort exemplarisch ein Segment heraus – Ungarn natürlich – und unterzieht es mit dem Ziel einer vorläufigen Bestandsaufnahme einer genaueren Betrachtung. Dabei richtet er sein Augenmerk, nach kurzer historischer Einbettung, vor allem auf die aktuellen Entwicklungen funktional-typologischer Differenzierung. Denn das Selbstverständnis vieler dieser Zeitungen habe sich in jüngster Zeit grundlegend gewandelt: neue Leserschichten sollten erschlossen werden; die Redaktionen seien oft gemischt und praktizierten selbst, was sie sich programmatisch vorgenommen haben: zur praktischen Verständigung zwischen Nachbarn beizutragen, »zwischen den beiden Kulturen zu vermitteln« (Prager Zeitung).
Es folgt ein weiterer Plenarvortrag von Gabriel A. Brennauer, dem Geschäftsführenden Vorstand der Deutsch-Ungarischen Industrie- und Handelskammer, der – unter dem Titel Stand und Perspektiven der deutsch-ungarischen Wirtschaftsbeziehungen und gestützt auf umfangreiche Statistiken – auch das Verhältnis von Sprache und Wirtschaft behandelt und dabei der Stellung des Deutschen besondere Bedeutung beimisst. Angesichts des zunehmenden Engagements deutscher Unternehmen in der Region könne Sprach- und Kulturvermittlung auch aus wirtschaftlicher Sicht helfen, interkulturelle Missverständnisse und Reibungsverluste zu vermeiden. Die Voraussetzungen dafür seien z.B. durch die Volumina der Direktinvestitionen aus Deutschland (aber auch Österreich und der Schweiz) und die Bedeutung der deutsch(sprachig)-ungarischen Wirtschaftskontakte im Verhältnis zu anderen Partnern in der Region durchaus gegeben.
Auch der dritte Tag wird durch zwei Plenarvorträge eingeleitet. Zunächst spricht Prof. Dr. Heinrich J. Dingeldein von der Philipps-Universität Marburg zum Thema Fester Grund oder verlorenes Terrain? Vor dem Hintergrund seiner langjährigen Erfahrungen in diesem Raum entwirft er ein plastisches Bild der »Rolle der deutschen Sprache im mittleren und östlichen Europa heute«, vor allem im Blick auf die deutschen bzw. deutschsprachigen Minderheiten in den Grenzregionen zwischen Ungarn und Rumänien, in denen die donauschwäbischen und sächsischen Minderheiten seit jeher eine wichtige Rolle spielten im wirtschaftlichen und kulturellen Leben. Das Bewusstsein der Rolle dieser Bevölkerungsgruppen im historischen Gedächtnis der Einwohner beider Länder könne bei aller Sensibilität gegenüber den Verwerfungen der gemeinsamen Geschichte im 20. Jahrhundert die Position der deutschen Sprache als regionaler Verkehrssprache möglicherweise wieder stärken.
Den sechsten und letzten Plenarvortrag des Symposiums schließlich hält Prof. Dr. Magdolna Orosz von der Loránd Eötvös Universität (ungar. Eötvös Loránd Tudományegyetem = ELTE), zugleich Präsidentin der Gesellschaft für Ungarische Germanistik (GUG), über Interkulturalität, Identität, Fremdheit – Analysekategorien der Literatur der Jahrhundertwende, in dem sie auf dem Boden neuerer Ansätze zur Verortung des literarischen Individuums in den Kontexten der deutschsprachigen Literatur um die Jahrhundertwende (1900) auf die Bedeutung der interkulturellen Kontakte für die deutsch-ungarischen Beziehungen hinweist. Aus der literarischen Verkörperung stereotyper Charaktere von Akteuren der Jahrhundertwende und den für die Region so spannungsgeladenen Auseinandersetzungen der ostmitteleuropäischen Völker mit der dominanten deutschsprachigen Herrschaftsschicht in der Österreich-Ungarischen Monarchie und im Deutschen Reich ließen sich per analogiam Schlüsse ziehen, die zur Vermeidung historischer Fehler in diesem Raum beitragen könnten.
Angesichts der in dieser Fülle unerwarteten Zahl der zu dieser Konferenz angemeldeten Vorträge musste das Programm in vier Parallelsektionen aufgeteilt werden, über die hier nur stichwortartig berichtet werden kann, wofür die Referenten Verständnis haben werden. Der Berichterstatter versucht dabei, eine inhaltliche Bündelung zu verbinden mit einer lockeren Orientierung an dem chronologischen Verlauf der Tagung, um das Bild der Vielfalt zu erhalten, das der Teilnehmer bei aller thematischen Konzentration gewann (aus Raumgründen wird im Folgenden auf Titel und Herkunftsbezeichnungen verzichtet).
Eine der Sektionen umfasst vor allem Beiträge zur Literatur des 20. Jahrhunderts, in der das Thema ›Ostmitteleuropa‹ in je spezifischer Weise ästhetische Form annimmt. Sabine Egger fragt nach dem Verhältnis zwischen Deutschland und Osteuropa in der Lyrik Johannes Bobrowskis; Stephan Krause untersucht das Bild von Dresden in den Gedichten von János Térey; Withold Bonner geht der Frage nach, welche Funktion der Konstruktion »Ungarns als eines dritten Raumes« an der Schnittstelle zweier Seiten einer als binär erfassten Welt in zwei durch 35 Jahre und tiefgehende gesellschaftliche Veränderungen voneinander getrennten Texten zukommt: in Ingo Schulzes Adam und Evelyn (2008) bzw. in Franz Fühmanns Tagebuch Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens (1973); René Kegelmann spürt interkulturellen Begegnungen nach in dem Erzählband Ein Licht über dem Kopf des deutschsprachigen Autors bulgarischer Herkunft Dimitré Dinev; Zsuzsa Bognár entschlüsselt die Multikulturalität in Feridun Zaimoglus Roman Liebesbrand; Mira Miladinovic-Zalazni erinnert an die Freundschaft zwischen Heinrich Böll und Edward Kocbek; Liisa Steinby erkundet, was Kafka, Broch und Musil für Milan Kundera bedeuten; Takako Fujita beleuchtet Kafkas Prag und untersucht die Funktion der Protagonisten in seinem Werk; Antonia Opitz erschließt den Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan; Anita Czeglédy nimmt sich Teresia Moras Roman Alle Tage vor, für dessen Einsatz im Unterricht Yüksel Ekinci-Kocks plädiert, während Gábor Kerekes die ungarndeutsche Literatur vor allem nach der Wende 1989/90 sichtet und Agnieszka Palej interkulturellen Aspekten im Schaffen von deutsch-polnischen Migranten-Autoren der Gegenwart nachspürt; Gábor Csaba Dávid entwickelt ihren Begriff von Ostmitteleuropa am Beispiel des Werkes von Nelu Bradean-Ebinger; Katalin Takács destilliert aus den Heimatbüchern, Berichten, Erzählungen, Briefen und Tagebuchaufzeichnungen vertriebener Ungarndeutscher die literarischen Formen schmerzlicher Vergangenheitsbewältigung.
Die Beiträge zur Literatur werden am folgenden Tag fortgesetzt mit Referaten von Isabella Kesselheim über Interkulturalität im Werk Gerhart Hauptmanns, von Bálint Kovács über das Coupé als Begegnungsraum und Zufluchtsort in Alfred Döblins Linie Dresden-Bukarest, von Katalin Somló über Arthur Schnitzlers Reigen und dessen Neubearbeitung von Mihály Kornis, von Rita Iványi-Szabó und Ildiko Tóth über interdiskursive Metaphern (wie der Spiegel-Metapher) in den Erzählungen von Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler, von Réka Sánta-Jakabházy über das (post-)moderne Monodrama im multikulturellen Raum Siebenbürgens, von Andrea Leskovec über das interkulturelle Potential literarischer Texte im Vergleich ausgewählter Beispiele aus der zeitgenössischen deutschen und slowenischen Literatur, von Hedvig Ujváry über Literaturvermittlung in der ungarischen Presse am Beispiel von Mór Jókai.
Einen besonderen Akzent setzt die Sektion, in der die reiche Tradition deutsch-jüdischer Kulturbeziehungen im ostmitteleuropäischen Raum profiliert wird. Szilvia Ritz untersucht die Autobiografien jüdischer Schriftsteller; Péter Varga konzentriert sich auf jüdisch-deutsche autobiografische Schriften in Barany-Slawonien; Eszter Gombocz erinnert an donauschwäbisch-jüdische Schicksalsgemeinschaften im Budapester Stadtteil Altofen; Norbert Honsza analysiert das Verhältnis des deutsch-jüdischen Literaturkritikers polnischer Herkunft Marcel Reich-Ranicki zu seinen Lesern.
Neues bietet auch die Sektion mit den stärker kulturwissenschaftlich orientierten Ansätzen in den Beiträgen von Zaneta Sambunjak über Lenaus Slawen (Totentanz der Außenseiter), von Elfriede Wiltschnigg über die Repräsentation des ungarischen Ortes Szolnok in der Lyrik und bildenden Kunst (vor allem österreichischer Maler in der Nachfolge August von Pettenkofens), von Laura Hegedüs, die sich auf die kulturelle Komplexität der mehrsprachigen Grenzregion Burgenland/Westungarn konzentriert und am Beispiel narrativer Texte deutsch- und ungarischsprachiger Autoren die kulturwissenschaftliche Analyse der literarischen Wahrnehmung dieser Region in den Mittelpunkt stellt, von Sarolta Németh über den Streit um Symbole (z.B. Dom vs. Moschee) beim Zusammenstoß christlicher und islamischer Kulturen.
Vor allem historisch motiviert sind interessante Beiträge wie die von Balazs J. Nemes über weitgehend unbekannte mittelalterliche deutsche Handschriften in Rumänien, von Laszló Klemm, der einige wichtige Nachträge zur 1848er-Revolution aus Österreich und Ungarn beisteuert, oder von Katalin Gönczi, der über neue Forschungen zu deutschen Stadtrechten im Osten Europas berichtet.
Einen ganz anderen, aber nicht weniger gewichtigen Schwerpunkt der Tagung bilden die zahlreichen Referate zu Aspekten der Sprache, der Sprachgeschichte, des Sprachgebrauchs, der Mehrsprachigkeit, der Sprachvermittlung im interkulturellen Begegnungsraum Ostmitteleuropa, eingeleitet durch das Grundsatzreferat von Regina Hessky über interkulturelle Ansätze in der Sprachgermanistik. Erzsébet Knipf stellt Überlegungen zu Mehrsprachigkeit und Sprachwandel am Beispiel von Minderheitensprechern vor; Roberta Rada berichtet über das Projekt Weit verbreitete Idiome mit dem Vergleich von deutschen und ungarischen Phrasemen; Lali Kezba-Chundadse vergleicht verbale Vergangenheitsgefüge im Deutschen und Georgischen, Pál Uzonyi das Zustandspassiv und Zustandsaktiv im Deutschen und Ungarischen, Petra Szatmári Funktionsverbgefüge (»kommen« vs. »kerül«), Bernadett Modrián-Horváth Subjektprominenz und Topikprominenz in diesen beiden Sprachen.
Beiträge zur Lexik, Lexikologie, Lexikografie und Phraseologie runden den linguistischen Schwerpunkt des Tages ab mit dem Bericht von Uwe Quasthoff über das Projekt Deutscher Wortschatz und die darin kompilierten umfangreichen Corpora mit modernsten Mitteln der Textdatenspeicherung und -bearbeitung, mit der Eröffnung neuer Zugänge zur Phraseologie durch die statistische Erfassung von Stereotypen durch Zita Hollós, mit den Angaben zur Wortbildung in ein- und zweisprachigen Wörterbüchern (am Beispiel deutsch-dänischer und deutsch-polnischer Wörterbücher) von Janusz Stopyra, mit der Erörterung des Verhältnisses von Interkulturalität und zweisprachiger Lexikografie im multilingualen Mitteleuropa von Stefan Pongó.
Weitere Spezialbeiträge zur Linguistik bietet der folgende Tag mit Vorträgen von Attila Péteri über deutsche Interrogativsätze im Kontrast zu ausgewählten europäischen Sprachen, von Klaudia Vach über Geschehensverben in der deutschen und slowakischen Sprache, von Szilvia Gyór über Verbvalenz im deutsch-ungarischen Vergleich, von Márta Müller über fremde lexikalische Elemente in den ostdonaubairischen Handwerk-Fachwortschätzen, von Kalmán Kiss über die Stellung der deutschen Sprache im kaufmännischen Fremdsprachenunterricht des historischen Ungarn am Beispiel der Klausenburger Handelsakademie, von Szilvia Flögl zur Struktur und Semantik der Diminutivbildung in rheinfränkischen Sprechergemeinschaften Hessens und Süd-Ungarns.
Mit ihren Beiträgen über ›interkulturelles Management‹ und die Entwicklung ›ethischer Finanzierungsmodelle‹ plädierten Ulrich Langanke und Emese Borbély von der Technischen Hochschule Budapest zudem für die stärkere Berücksichtigung wirtschaftlicher Fragen im Gespräch über den Begegnungsraum Ostmitteleuropa und dessen zukünftige Entwicklung. Dieser Entwicklung gilt auch die sorgende Aufmerksamkeit der abschließenden Table ronde mit den Plenarreferenten. Eine Auswahl der Beiträge soll 2010 in der vom GiG-Präsidenten edierten Reihe Cross Cultural Communication erscheinen.
Im Zeichen weltweit progredienter Urbanisierung stehen Metropolen schon seit längerem auf der transdisziplinären Agenda konzeptioneller Überlegungen in Ingenieurwissenschaften, Energietechnologie, Architekturtheorie, Umweltpolitik, Stadtsoziologie, Stadt- und Raumplanung, Kommunal- und Regionalpolitik. Derzeit ist nun aber auch ein wachsendes kultur- und sozialwissenschaftliches Interesse an urbanen Räumen im Allgemeinen und an deren Diskurs- und Kommunikationsdimensionen im Besonderen zu beobachten. Eine wissenschaftliche Gesellschaft, die facheinschlägige Strömungen ihrer Zeit sensibel registriert, wird sich in solche Diskurse einzuschalten wissen. Die internationale Gesellschaft für interkulturelle Germanistik (GiG) teilt dieses aktuelle Interesse und begreift im Rahmen ihres kulturwissenschaftlich geöffneten Fachverständnisses das Thema Urbanität zu Recht auch als textwissenschaftliches. Sie lädt daher vom 11. bis 15. Oktober 2009 zu einer Tagung unter dem Titel Metropolen als Ort der Begegnung und Isolation an die Universität Istanbul ein. Die Metropole in der Überlappungszone von Orient und Okzident eignet sich wie wenige als Ort kritischer Reflexion neuer Forschungsperspektiven auf die sprachliche und literarische, soziale und kulturelle Konzeption der Großstadt in Gegenwart und Geschichte.
Statt dabei von einem durch fest umrissene Grenzen markierten Bild ›der‹ Metropole auszugehen, lädt die Konferenz dazu ein, sie dynamisch aufzufassen als Ort der Begegnung der verschiedensten Menschengruppen, in einer Zeit, in der sie sich infolge weltumspannender Veränderungsprozesse (Stichworte: Globalisierung, Migration etc.) hier und da bereits zu Mega-Städten entwickelt haben. Damit ist der Ausgangspunkt der Tagung umrissen: Es gilt die Voraussetzungen, denen zwischenmenschliche Kontakte und Begegnungen heute in solchen Mega-Städten unterliegen, auch in kultur-, literatur- und sprachwissenschaftlichen Überlegungen zu thematisieren und in der Gegenüberstellung unterschiedlicher Forschungsansätze zu problematisieren. Dazu bieten sich eine Fülle möglicher Fragestellungen und Themenbereiche zur konkreten Bearbeitung an – genannt seien hier nur die wenigen Stichworte, die die Gastgeber, allen voran die Professoren Nilüfer Kuruyazıcı, Mahmut Karakuş und Şeyda Ozil sowie ihr großes Team des Instituts für Germanistik der Universität Istanbul, den Teilnehmern zur Anregung vorgeben:
Da mit dieser Tagung zugleich das 25. Jubiläum der Gründung der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik im Jahre 1984 (in Karlsruhe) begangen wird, ist es eine würdig-angemessene Geste, ihren seinerzeitigen Gründungs- und heutigen Ehrenpräsidenten, den emeritierten Bayreuther Literaturwissenschaftler Alois Wierlacher, der von 1984 bis 1994 amtiert hatte, zu einem Eröffnungsvortrag einzuladen. Unter dem Titel Die kulturelle Bedeutung von Metropolregionen im heutigen Deutschland plädiert er darin auf gewohnt temperamentvolle Weise für die vermehrte Erforschung von Konzepten der ›Gastlichkeit‹ und empfiehlt, dabei seinem neuen Forschungsfeld der ›Kulinaristik‹ besonderes Augenmerk zu schenken, die er in einem gleichnamigen neuen Wissenschaftsmagazin zu profilieren und einem breiteren Publikum nahezubringen gedenke.
Einen weiteren Höhepunkt der Tagung bietet der bekannte Publizist, Reiseschriftsteller, Essayist, Herausgeber, Übersetzer, Bühnenautor, Produzent, Kolumnist und Fernsehmoderator Roger Willemsen mit einem fulminanten Vortrag über ›seine‹ Metropolen, in dem er in freier und prägnanter Rede von seinen interkulturellen Erfahrungen in Groß- und Mega-Städten der verschiedensten Regionen der Welt berichtet, wobei er stets die Balance zu halten weiß zwischen unabhängiger Nachdenklichkeit und aufblitzendem Witz, zwischen sinnlicher Anschaulichkeit und durchdachter Betrachtung, wenn er ein fasziniertes Publikum an seinen kritisch-wachen und empathisch-sensiblen Beobachtungen in Kabul oder Timbuktu, Nairobi oder São Paulo, Johannesburg oder Bangkok teilhaben lässt.
Nachdem der zweite GiG-Präsident, der emeritierte Salzburger Mediävist Ulrich Müller (Amtszeit 1994-2006), seine vorgesehene Teilnahme aus gesundheitlichen Gründen leider kurzfristig hat absagen müssen, wird der dritte Plenarvortrag von dem für ihn an seiner Stelle eingesprungenen gegenwärtigen Präsidenten der GiG (seit 2007), dem Berner Germanisten und Linguisten Ernest W.B. Hess-Lüttich, einem medienwissenschaftlichen Thema gewidmet. Er erweist den Gastgebern seine Reverenz, indem er aktuelle Metropolen-Filme deutsch-türkischer Regisseure in den Mittelpunkt seiner Überlegungen rückt: Filmregisseure türkischer Herkunft (z.T. aus Istanbul) haben die kulturelle Heterogenität der Großstadt zu ihrem Thema gemacht und mit ihren Filmen über die Probleme einer Existenz im kulturellen Dazwischen bemerkenswerte künstlerische und nicht selten auch kommerzielle Erfolge erzielt. Einige arbeiten heute erfolgreich sowohl in Hamburg oder Berlin als auch in Istanbul. Im Laufe der beiden letzten Dekaden hat sich geradezu ein eigenes Genre des deutsch-türkischen Films herausgebildet, dessen Merkmale der Vortrag anhand einiger ausgewählter Beispiele zu profilieren sucht. Der Referent knüpft darin in theoretischer Hinsicht an das in Princeton von Hamid Naficy entwickelte Konzept des Accented Cinema an und die in Berkeley von Deniz Göktürk entworfene Perspektive auf das Turkish German Cinema, das er am Beispiel vor allem der Filme von Fatih Akin illustriert. Sein besonderes Augenmerk gilt einerseits in thematisch-struktureller Hinsicht dem spezifischen Blick auf Tabuzonen des muslimischen Alltags in fremdkultureller Umgebung einer Metropole, auf ihre Szenen und Subkulturen, andererseits in methodisch-empirischer Hinsicht der Inszenierung von konversationellen Ritualen (Ritual Insults) in den Dialogen.
Die weitaus meisten Vorträge indes sind dem Bild der Großstadt in literarischen Texten gewidmet. Leider ist es im knappen Rahmen dieses Berichts nicht möglich, die Referenten werden dafür Verständnis haben, allen (insgesamt fast 100) Vorträgen so gerecht zu werden, wie es ihnen zukäme. Es kann hier nur ein Überblick in Stichworten gegeben werden (allein das Heft mit den Zusammenfassungen umfasst bereits 112 Seiten). Die aus der alle Erwartungen übersteigenden Zahl der Anmeldungen zur Präsentation angenommenen Referate werden in eng getaktetem Rhythmus in vier Parallelsektionen gehalten, was thematische Überschneidungen und Überlappungen hier und da unvermeidlich macht. Ihre Sortierung nach chronologischen Kriterien erweist sich aufgrund der meist komparatistischen oder kulturwissenschaftlich übergreifenden Ansätze als ebenso schwierig wie die nach Autoren oder Städtenamen oder Medien (Texte, Theater, Filme, Plakate, Lehrmaterialien etc.). Deshalb sei hier (in vollem Bewusstsein der Problematik) eine grobe formale Bündelung zu den Sektoren Literatur (mit dem Versuch einer lockeren topografischen Gliederung), Theater, Film, Sprache und Vermittlung (Didaktik) versucht, ohne die thematische Vielfalt allzu rigoros zu beschneiden (aus Raumgründen wird auch im Folgenden auf Titel und Herkunftsbezeichnungen verzichtet).
In thematisch passendem Anschluss an den Plenarvortrag von Alois Wierlacher exponiert Dieter Heimböckel Die Metropolregion als interkulturelle[n] Raum und liefert für das Thema das nötige theoretisch-anspruchsvolle Fundament. Einen willkommenen historischen Akzent setzen zudem Dina Aboul Fotouh Salama, indem sie die Herausbildung städtischer Räume und den Einfluss urbanen Lebens auf die mittelalterliche deutsche Literatur und die islamisch-arabische Literatur der Umajjaden- und Abassinenzeit nachzeichnet, und Alicja Borys, die die Geschichte der in der multikulturellen Metropole Konstantinopel des 16. Jahrhunderts isolierten deutschen Gesandten und ihrer Dienstboten erzählt, die nach der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Habsburgern und Osmanen nach 1526 in der bei der Hagia Sophia gelegenen kaiserlichen Botschaft von den anderen Auslandsvertretungen (in Galata) weitgehend abgeschnitten waren.
Im Übrigen sind die literaturwissenschaftlichen Beiträge vor allem (und dem engen Zeitrahmen entsprechend) kleinere Fallstudien zum Bild der Stadt oder zur Funktion der Metropole in den Werken einzelner Autoren, wobei – dem Tagungsort des Germanistentreffens sei Dank – Istanbul und Berlin einen ersten Schwerpunkt bildeten. So spürt Hüseyin Salihoğlu dem Thema ›Istanbul‹ in den Reisebeschreibungen von Ida Hahn-Hahn (Orientalische Briefe) und Gustav Rasch (Die Türken in Europa) nach; Norbert Mecklenburg (Köln) widmet sich unter dem Titel Metropole der Pogrome einem vergessenen Roman über Istanbul, nämlich Rudolf Lindaus Ein unglückliches Volk (1903); Julia Garraio bewertet das 2003 anonym erschienene Tagebuch Eine Frau in Berlin als literarische Analyse zwischengeschlechtlicher Ausbeutungsverhältnisse in Kriegsszenarios und aufwühlende Auseinandersetzung mit der Fragwürdigkeit der Zivilisation im totalen Krieg; im Vergleich der Romane von Yadé Kara Selam Berlin und Buket Uzuner Istanbullar weist Gürsel Aytaç Multikulturalität als Kennzeichen der modernen Großstadt aus; Dalia F. Salama liest Selam Berlin vor allem als literarische Darstellung einer deutsch-türkischen Erfahrung des Berliner Mauerfalls.
Michael Hofmann geht der Frage nach, wie sich das Verhältnis von »Großstadt und Mystik« in Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und Döblins Berlin Alexanderplatz einerseits und in Ahmet Hamdi Tanpınars Roman andererseits darstellt und welcher Status der Stadt Istanbul in der Mitte des 20. Jahrhunderts im Verhältnis zu den europäischen Metropolen Paris und Berlin zukommt. Asuman Ağaçsapan legt im Werk von Emine Segvi Özdamar den Wechselbezug frei zwischen Großstadterfahrung und der Identitätskonstitution der Hauptfigur; Kadriye Öztürk vergleicht Entfremdung und Fremdheitserfahrung in der Großstadt in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz und Emine Segvi Özdamars Seltsame Sterne starren zur Erde; Ümit Kaptı findet dagegen in der deutschsprachigen Literatur türkischer Autoren (wie Alev Tekinay) Beispiele für die Überwindung der Isolation in der Großstadt; Yoshito Takahashi vergleicht Brechts Im Dickicht der Städte mit Der verbrannte Stadtplan von Kobo Abe und sieht den modernen Menschen heute weder in einer Großstadt noch durch Auswanderung seine Heimat finden: seine Verlorenheit wurzele in seiner Heimatlosigkeit.
Berlin und Istanbul stehen auch im Zentrum des Beitrags von Karin Yeşilada, in dem sie transkulturelle Aspekte in der Metropolenlyrik von Zafer Şenocac herausarbeitet; »Das andere Gesicht« einer Großstadt in Latife Tekins Istanbul ist das Thema von Faruk Yücel, während Müzeyyen Ege Istanbul als »unheimlichen Ort« und Schauplatz eines orientalischen Exotismus im Kriminalroman ausmacht; von Berlin ist auch bei Marja-Leena Hakkarainen die Rede, die Emine Sevgi Özdamars Der Hof im Spiegel (2001) und Wladimir Kaminers Schönhauser Allee (2003) vergleicht: während bei Özdamar Raumerfahrungen aus Berlin, Istanbul und Amsterdam mit transnationalen Beziehungen verbunden werden, konzentriert sich Kaminer auf Alltagserlebnisse im Stadtteil Prenzlauer Berg im ehemaligen Ost-Berlin. Astrid Starck lässt Berlin als westliche Kulturgroßstadt der 1920er Jahre aus der zeitgenössischen jiddischen Literatur erstehen; Rūta Eidukevičienė beschreibt die Wahrnehmung der Metropole aus nordischer Ferne und die Darstellung Berlins in der gegenwärtigen Literatur Litauens; Chung-Hi Park sieht in doppelter Optik die Formen der Fremdheit in Aras Örens Berliner Trilogie, der Chronik des Zusammenlebens von Deutschen und Türken in der Naunynstraße der 1970er Jahre, dem ›Klein Amerika‹ in Berlin Kreuzberg.
Während Walter Benjamin den Ursprung des Begriffs ›Masse‹ in Edgar Allan Poes The Man in the Crowd ausgemacht hat, findet Hinrich Seeba die ›Masse‹ als visuelles und narratives Problem bereits 20 Jahre vorher, 1822 bei Heinrich Heine in den Briefen aus Berlin und bei E.T.A. Hoffmann in Des Vetters Eckfenster; Gesa Singer vergleicht Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz mit Fernando Pessoas Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares und ihre Sicht auf die Metropolen Berlin und Lissabon, in denen das Individuum nur in äußerster Nervenanspannung, ja multipler Persönlichkeitsaufspaltung existieren könne. (Apropos Lissabon: Erdbeben als kulturgeschichtlich-literarisches Thema exponiert Yasemin Dayıoğlu-Yücel am Beispiel der Romane Deprem (›Erdbeben‹) von Zeyyat Selimoğlu und Das Beben von Martin Mosebach.) Regina Hartmann untersucht die literarische Gestaltung zweier ›Zeiten-Wenden‹: Berlin 1989 nach dem Fall der Mauer und Stettin 1945 (als nicht klar war, ob die Stadt deutsch bleiben oder polnisch werden würde), Stadtbilder in historischen Momenten, die Thomas Brussig und Artur Liskowacki in ihren Romanen Helden wie wir (1995) und Sonate für S. (2001) lebendig werden lassen.
Berlin ist natürlich nicht die einzige deutsche Großstadt, die zum literarischen Sujet wurde: Nuran Özyer und Zehra Gülmüş erinnern an Ahmet Haşims Frankfurter Reisebericht, der die Main-Metropole am Vorabend der NS-Diktatur aus der Sicht eines türkischen Dichters beschreibt; Kishik Lee zeichnet das Stadtbild im zeitgenössischen Leipzig-Krimi (Andreas Stammkötter, Henner Kotte) als Arrangement von »Verfall, Leere und Graffiti«; Karl Esselborn führt uns durch München als der Literaturstadt der Zugewanderten, Migranten und Asylanten; Norbert Honsza schildert unter dem Titel Dekonstruktion eines Mythos das Verhältnis von Günter Grass zu ›seinem‹ Danzig; Theo Elm spricht unter dem Titel Wüste und philadelphisches Reich über Nietzsches expressionistische Städte und interpretiert unter anderem auch Stadlers Gedicht Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht.
Zieht man den Kreis ein wenig weiter und schaut auf europäische Metropolen, so bietet die Tagung ebenfalls eine Fülle von Beispielen für deren literarische Wahrnehmung. Wien und Budapest figurieren für Monika Csereszynyak als Kulissenstädte für jüngere Autoren wie Thomas Glavinic oder Attila Bartis; Budapest entsteht bei Maria Balasko als Großstadt auf Plakaten; Stephan Krause lauscht der Vielstimmigkeit der Stadt und folgt Franz Fühmann auf seinen Wegen durch Budapest (Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens); Prag ist für Özlem Fırtına »Ein Ort der Isolation«, es geht um Kafkas Topo-Grafien; Prag ist »Die hybride Welt Franz Kafkas«, meint auch Takako Fujita; Artur Stopyra untersucht, wie Warschau in ausgewählten Werken deutschsprachiger Schriftsteller (aus den sog. DACHL-Ländern) wahrgenommen und beschrieben wird.
Weiter westlich entwirft Brigitta Almgren Die Stadt als Utopie und Dystopie und liest Hermann Kants In Stockholm als Stadt-Reportage im politischen Auftrag (der SED); Kate Roy interpretiert die Untergrundbahnen im London Yadé Karas Café Cyprus und im Paris Leïla Sebbars Métro: Instantanés als Metapher für ein »unterirdisches Babel« ethnischer Minderheiten; für die Wirkung öffentlicher Verkehrsmittel (auf zwischenmenschliche Beziehungen in Werken türkisch-deutscher Autoren) motiviert sich auch Nazire Akbulut; Withold Bonner folgt den Großstadtnomaden bei Emine Sevgi Özdamar und Yadé Kara; Bernd Marizzi interessiert die Frage, ob und wie Intellektuelle, die am spanischen Bürgerkrieg teilnahmen (z.B. Ludwig Renn, Gustav Regler oder Bodo Uhse), im Kontext der kriegerischen Auseinandersetzungen die Großstadt wahrnehmen konnten: als Kampfgebiet (Madrid) und Rückzugsgebiet (Barcelona, Sevilla).
Auch der islamisch-arabisch-nordafrikanische Raum kommt nicht zu kurz: Salwa Idrissi-Moujib vergleicht die Darstellung der marokkanischen Stadt Casablanca in Peter Härtlings Hubert oder die Rückkehr nach Casablanca und Elias Canettis Die Stimmen von Marrakesch; Hans-Christoph Graf von Nayhauss analysiert Mikrokosmos und Makrokosmos der Metropole Kairo im Werk von Nagib Mahfus (vor allem am Beispiel seiner Romane Sokaq al Midaq – Die Midaq-Gasse und Awlad haretna – Die Kinder unseres Viertels); Randa Elnashar befasst sich mit Christoph Brändles Der Unterschied zwischen einem Engel, eine ägyptische Novelle, in der der Autor seinen ersten Besuch in den ägyptischen Metropolen Kairo und Alexandria beschreibt; Aleya Khattab registriert eine »Kairomanie in deutschen Reisebeschreibungen«; die Darstellung von Sarah Fortman-Hijazi bezieht sich in erster Linie auf den von Sherko Fatah 2008 veröffentlichten Roman Das dunkle Schiff, in dem der irakische Protagonist im Labyrinth der Großstadt (Berlin) und seiner irakischen Heimat auf Identitätssuche ist; Anatolia Cassia beschreibt die Wahrnehmung der saudi-arabischen Städte Djiddah und Mekka (dessen Besuch nur Muslimen erlaubt ist) in deutschsprachigen Texten; Fatma Massoud bemüht sich um die Analyse und Rekonstruktion eines dynamisch verändernden Mekkabildes in frühen (von Maltzan 1865) und gegenwärtigen (Goyitisolo 2000, Trojanow 2004) Beispielen der Reiseliteratur zur Pilgerfahrt.
Aber auch die Metropolen anderer Kontinente kommen im Spiegel der Literatur zur Sprache. Vibha Surana erzählt, wie in Aravinda Adigas Der weiße Tiger (2008) Delhi, die politische Hauptstadt Indiens, und die IT-Hauptstadt Bangalore zur Bewährungsprobe für den unterprivilegierten Protagonisten werden; Manfred Durzak fragt am Beispiel von Suketu Mehtas Buch über Bombay danach, wie eine Metropole sich erzählen lasse; Amrit Mehta sieht in der Antipathie des Protagonisten gegen das Chaos des Großstadtlebens das gemeinsame Merkmal in der Darstellung von São Paulo, Paris oder Wien in Robert Menasses Romanen Schubumkehr und Don Juan de la Mancha; Chaos ist auch das Stichwort für Dieter Rall, wenn er anhand von Texten aus der Fremdperspektive deutschsprachiger Autoren des 20. und 21. Jahrhunderts (wie Hans-Christoph Buch, Doris Dörrie, Max Frisch, Hans-Jürgen Heise, Christoph Janacs, Monika Maron, Christoph Menke, Inge Merkel, Keto von Waberer) versucht, aus den vielen Details ein fragmentarisches literarisches Puzzle der Megastadt Mexiko zu skizzieren und es damit zu vergleichen, wie mexikanische Autoren ihre Hauptstadt sehen; Hala Farag untersucht die expressiven Komposita in der Darstellung des New Yorker Exils bei Oskar Maria Graf; Catarina Martins kartografiert die Metropole in Robert Müllers Manhattan; Carlotta von Maltzan untersucht am Beispiel ausgewählter deutscher und südafrikanischer Romane Wahrnehmungen sowie Beschreibungs- und Darstellungsmuster der südafrikanischen Großstädte Johannesburg und Kapstadt; Gunther Pakendorf sieht das Erlebnis der Großstadt als intertextuelles Verbindungsglied zwischen zwei Gedichten von Bertold Brecht und Breyten Breytenbach.
Eine Reihe von Beiträgen lässt sich topografisch nicht so ohne Weiteres einem spezifischen Ort zuordnen: Joachim Warmbold etwa zeigt an Hand ausgewählter Beispiele auf, wie von der deutschen Kolonialpropaganda gezielt Gegenwelten zur Großstadt (und deren angeblich ungesund-dekadenter Bevölkerung) entworfen wurden; Ulrich Langanke erinnert an das 1909 von F.T. Marinetti in Le Figaro publizierte Manifest des Futurismus; René Kegelmann rekonstruiert die Stadtkonzeption in Terezia Moras Roman Alle Tage; Sevil Onaran liest in der Erzählungen Die Stadt und Aus den Papieren eines Wärters von Friedrich Dürrenmatt die Stadt als Metapher der labyrinthischen Wirklichkeit; Peter Blickle analysiert die Tochter-Vater-Beziehung in Alissa Walsers Kurzgeschichte Geschenkt, in der die sexuelle Begegnung der Tochter in der Großstadt mit dem von ihr gekauften Jungen zum Vorwand für ein grausam aufrichtiges Spiel zwischen Tochter und Vater wird; Stefan Hermes findet das Phänomen scheinbar grundlos verübter Gewaltakte im urbanen Raum bereits in Hans Henny Jahnns 1931 veröffentlichtem Stück Straßenecke eindrücklich thematisiert, das sich von den anderen Großstadtdramen durch seine interkulturelle Figurenkonstellation unterscheide, insofern der Protagonist, ein ›Schwarzer‹ namens James, als Objekt eines exotistischen und sexuell aufgeladenen Begehrens herhalten muss und zugleich mit rassistisch motiviertem Hass konfrontiert wird.
Gattungstypologisch eher dem Theater sind ebenfalls einig Beiträge gewidmet, etwa Zehra İpşiroğlus Vergleich des Theaters in den urbanen Subkulturen Istanbuls und des Ruhrgebiets, Hasibe Kalkan-Kocabays Bericht über postmigrantisches Theater in Berlin oder Dora Takacs Würdigung des Schauspielers Tilo Werner als Wanderer zwischen den Experimentaltheatern Berlins und Budapests.
Der Plenarvortrag von Ernest W.B. Hess-Lüttich (s.o.) bildet zugleich den Auftakt zu einer dem filmischen Werk des deutsch-türkischen Regisseurs Fatih Akin aus Hamburg Altona gewidmeten Sektion, die Ortrud Gutjahr mit einem Bilderbogen aus ihrer Stadt eröffnet, während Yüksel Ekinci-Kocks Die Rolle der Metropole Istanbul für die deutsch-türkischen Migranten in seinem Werk vor allem im Hinblick auf dessen didaktische Verwertbarkeit im DaF-Unterricht erkundet. Swati Acharya sucht in ihrem Vortrag über Die Großstadt als Lebens-, Erlebens- und Überlebensraum in den Filmen Fatih Akins am Beispiel der Filme Kurz und Schmerzlos (1998), Gegen die Wand (2003) und Auf der anderen Seite (2006) den Blick auf die Großstädte Hamburg und Istanbul als interkulturelle Lebensräume zu werfen und zu zeigen, dass Akin die Geschichten der Menschen nicht nur als exklusive Migrantenschicksale darstellt, sondern zugleich den Inner City Blues als Motiv globaler Großstadtkrisen ›bildlich‹ erzählt, also mit den formalen Mitteln seiner ›cine‹-Sprache im Wortsinne ›vor Augen führt‹.
Daran schließen sich drei weitere Vorträge zum Großstadt-Film an: Ewald und Sandra Reuter bieten Ansichten von Helsinki in den Filmen von Aki Kaurismäki, Ihmku Kim entdeckt die ostasiatische Spiritualität in den Filmen von Doris Dörrie, Yeon-Soo Kim analysiert die Metropole im Medium literarischer und filmischer Narration und vergleicht Gesines New York bei Uwe Johnson und Margarethe von Trotta.
Die vielen Beiträge zu Literatur, Theater und Film machen zweifellos den Hauptteil der Tagung aus. Erheblich weniger Raum nehmen demgegenüber jene zur Sprache ein. Inken Keim berichtet am Beispiel von türkisch-stämmigen Migrantenjugendgruppen in Mannheim über die Herausbildung neuer Sprach- und Kommunikationsformen in multiethnischen städtischen Lebenswelten; Eva Neuland entwickelt eine Perspektive für die interkulturelle Sprachdidaktik mit besonderem Blick auf die Höflichkeit als »Sprache der Weltgesellschaft« (Macho 2002), die in Metropolen als Zentren zunehmender Sprachenvielfalt und Multikulturalität eine bedeutende Rolle spiele; Csaba Földes untersucht Kommunikation im Spannungsfeld zwischen zwei Sprachen und Kulturen; Peter Colliander und Özlem Tekin arbeiten die phonetischen Charakteristika des sog. Türkendeutsch in den Großstädten heraus; Andrea Bogner lauscht der Polyphonie in kommunikativen Räumen und stellt linguistische Betrachtungen zu Metropolen an; Hannes Scheutz sieht Städte als Ausgangspunkte sprachlichen Wandels; Daniel Rellstab analysiert transnationale Identitätskonstruktionen von ›Jugendlichen mit Migrationshintergrund‹ in einem deutsch-schweizerischen Chatroom; Gesine Lenore Schiewer diskutiert auf konflikttheoretischer Grundlage Perspektiven translationswissenschaftlicher Konfliktforschung für die interkulturelle Kommunikation im urbanen Umfeld.
Im Übergangsbereich zwischen Linguistik und Sprachvermittlungsforschung bzw. Sprachdidaktik waren weitere Beiträge angesiedelt. Yasemin Balcı interessiert sich für den Spracherwerb deutscher Frauen in Istanbul; Sprachpluralismus, Mehrsprachigkeit oder Multikulturalität in Großstädten sind das Thema von Djamel Edine Lachachi, Aoussine Seddiki (am Beispiel von Oran), Mathias Fritz (am Beispiel von Eriwan) und Esko Juhani Jortikka (am Beispiel von Viborg, Lemberg, Warschau, Prag). Carmen Schier stellt ein Seminarkonzept vor zur Erfahrung der Stadt als Schauplatz interkultureller Differenz- und Fremderfahrung; Anja Wildemann entwirft das Konzept einer transkulturellen Deutschdidaktik, die Kulturen der Großstadt als Ausgangspunkt dafür nimmt, sprachlich-kulturelle Diversität in Schule und Gesellschaft fruchtbar zu machen; Eleni Peleki stellt Fragen zur Sprache und zur schulischen Integration von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund an Grundschulen in der Metropole München.
Ein von den Teilnehmern dankbar wahrgenommenes Kulturprogramm – Autorenlesungen (Mario Levi, Petros Markaris, Yadé Kara), Stadtrundfahrt am Goldenen Horn entlang und mit dem Besuch einer Moschee und der Griechisch-Orthodoxen Patriarchatskirche sowie zum krönenden Abschluss eine Bootstour auf dem Bosporus mit üppigem Abendessen – rundet an den Abenden die konzentrierte und fassettenreiche Tagung ab, deren wichtigste Erträge der GiG-Präsident in der von ihm edierten Reihe Cross Cultural Communication gemeinsam mit den verantwortlichen Organisatoren der Tagung Nilüfer Kuruyazıcı, Mahmut Karakuş und Şeyda Ozil zeitnah herausbringen zu können hofft.