Ariadnes Faden*

Liliane Weissberg

Du träumst davon, ein Geflecht oder ein Gewebe herzustellen, einen Kett- oder Schussfaden, aber ohne sicher zu sein, welche Textilie es werden soll, wenn es eine sein sollte, ob irgendetwas übrig bleibt und nicht wissend, was bleiben wird, das noch den Namen eines Textes verdient, besonders dann, wenn es ein Text in der Form einer Textilie sein soll.

Jacques Derrida, Ein Seidenwurm (SEINER SELBST)

Sophie Freud beschreibt in ihren Memoiren Meine drei Mütter und andere Leidenschaften den Besuch bei ihrer Tante Anna, einer passionierten Strickerin, zugleich die Schneiderin ihrer eigenen Kleider. »Du nähst dir alle deine Kleider selbst mit der Hand?«, sollte Sophie ihre Tante fragen, als sie überrascht in deren Kleiderschrank blickte. Anna Freud wiederum konnte über die Frage ihrer Nichte nur staunen. »›Natürlich‹«, antwortete diese endlich – und recht ungeduldig: »[I]ch kann mich schließlich nicht an die Nähmaschine setzen, wenn ich mit meinen Patienten spreche.« (Freud 1989, 74)

Viele Psychoanalytikerinnen heute folgen dem Beispiel der jüngsten Tochter Sigmund Freuds und stricken oder nähen während der therapeutischen Konsultationen. Meine Fragen heute sind hierbei zunächst recht einfach. Ist ihre Beschäftigung mit der Herstellung von Textilien zufällig gewählt, oder ist sie dem freudschen Werk verwandt, in diesem vielleicht sogar bereits eingeschrieben? Könnte eine solche Praxis oder deren Geschichte das psychoanalytische Denken und die psychoanalytische Theorie beeinflusst haben? Und trägt sie möglicherweise auch einen Bezug auf den Lebenslauf Sigmund Freuds in sich, und auf seine eigene, osteuropäisch-jüdische Familiengeschichte?

1. Handarbeit

Vergessen wir einen Augenblick lang die Modeschöpfer von Paris oder Mailand und selbst die vielen Nähstuben im Wien oder New York des frühen 20. Jahrhunderts. Für Freud wie für viele seiner Zeitgenossen war die tatsächliche Herstellung von Stoff und Handarbeiten – Spinnen, Stricken, Sticken, Nähen, Weben – vor allem eine weibliche Beschäftigung. Darüber hinaus sollte sich Freud in seinen Hinweisen auf die Herstellung von Stoff und Kleidung besonders auf die nicht professionell arbeitenden Frauen konzentrieren. Tatsächlich scheint Freud in seinem Werk weniger an den Berufen einer Weberin oder Näherin interessiert als an individuellen häuslichen Tätigkeiten oder Freizeitbeschäftigungen. Er betont oft die Freiwilligkeit jedes dieser Unternehmen.

Dies entspricht natürlich nur bedingt der historischen Wirklichkeit seiner Zeit. Um die Jahrhundertwende gab es in Wien bereits zahllose Nähstuben und während diese sicherlich mit Arbeiterinnen – und nicht nur Arthur Schnitzlers ›süßen Mädeln‹ – bevölkert waren, so gab es auch männliche Schneider und vor allem Männer, die in den städtischen Manufakturen die Frauen beaufsichtigen sollten. Und innerhalb der einzelnen Beschäftigungen gab es Unterschiede. Die Arbeiten des Spinnens oder Strickens werden überwiegend im Kontext der Frauengeschichte behandelt, aber gerade das Handwerk des Webens hatte auch eine männliche Tradition.1 Doch Freud war weniger an der Geschichte der individuellen Textilherstellungen interessiert. Er beobachtete die Arbeiten der Frauen seiner näheren Umgebung, etwa seine konstant strickende Schwägerin Minna Bernays, und sah die Handarbeiten seiner vielen Wiener Patientinnen.

In der Folge fortdauernder Urbanisierung wuchs im späten 19. Jahrhundert die Anzahl der Frauen, deren Leben – mehr oder weniger – auf das Haus beschränkt war. Häuslichkeit wurde für sie das vorherrschende und bald idealisierte Modell. Männer sollten den Lebensunterhalt für die Familie verdienen, während es zur Aufgabe der Frauen wurde, die Kinder aufzuziehen, für die Mahlzeiten zu sorgen und das Haus in Ordnung zu halten. Freuds Patienten waren vor allem Töchter dieser bürgerlichen Familien – man denke nur an »Dora« oder »Anna O.« – und es waren Frauen, die ihren eigenen Ort in dieser Welt finden wollten. Dies hieß u.a. auch einen gewissen Grad an Unabhängigkeit innerhalb und außerhalb des Hauses. In den gutbürgerlichen Familien der Wiener gehobenen Mittelklasse schien dabei die Hysterie als Krankheit zu florieren, zweifellos wurde ihr Aufkommen durch spezifische Familienkonstellationen unterstützt wie auch dem unterdrückten Wunsch der Frauen, sich gegen die strikten und einschränkenden Geschlechterrollen zu wehren.2 So beschwerte sich »Dora« etwa über die konstanten Bemühungen ihrer Mutter, die Wohnung sauber zu halten, und dies wurde von Freud lakonisch und widerspruchslos als bekannte »Hausfrauenneurose« kommentiert. »Dora« war eine der wenigen Mädchen und Frauen, die an Handarbeiten weniger Interesse zeigten, ihre Beschäftigung wurde das Bridge-Spiel, das sie als junge Frau bis zur Meisterschaft beherrschte.

Aber das späte 19. Jahrhundert war nicht nur die Zeit der Konsolidierung der Mittelklasse, die Geschlechterrollen im und außerhalb des Hauses bestätigte; es war auch die Zeit der Industrialisierung und des Aufstiegs der Arbeiterklasse. Eine immer größer werdende Anzahl von Fabriken war für die tatsächliche Produktion von Stoffen verantwortlich, und diese wurden vor allem in den östlichen Gebieten der österreichisch-ungarischen Monarchie errichtet. Das Schneidern und Verbessern von Kleidung waren zwar Beschäftigungen, die für Wiener bürgerliche Frauen akzeptabel waren. Aber das Schneidern war auch eine Tätigkeit, die durch neue Technologien erleichtert wurde.

Abbildung 1: Die Näherin (Daguerreotype, ca. 1853). Eines der frühesten amerikanischen Bilder einer Frau mit einer Nähmaschine, hier einer industriellen Nähmaschine von Grover & Baker.

1830 wurde die Nähmaschine von Barthelemy Thimonnier erfunden und in den folgenden Jahrzehnten von Elias Howe und Isaac Singer weiterentwickelt. So entstanden maschinenbestückte Nähstuben und das Nähen als häusliche Handarbeit rückte in die Kategorie einer Luxusbeschäftigung. Genau wie das ornamentale Sticken, das einst zu einer Tätigkeit aristokratischer Frauen zählte, war nun das Stricken und das Nähen mit der Hand nicht einfach eine Beschäftigung für Frauen, sondern eine Freizeitbeschäftigung für jene Frauen, die es sich leisten konnten, Freizeit zu haben. Die Nähmaschine als Erfindung des industriellen Zeitalters machte das Nähen leichter, aber sie konnte nun auch bald einer bestimmten Unterscheidung dienen: der zwischen der arbeitenden Näherin und der Frau, die deren Produkte tragen sollte. Indem Anna Freud ihre Kleider noch mit der Hand nähte, wählte sie nicht nur eine ›stille‹ Beschäftigung, die ihre Patienten und Patientinnen nicht stören sollte. Sie wies die Maschine zurück und zog die nun zum Luxus gewordene Handarbeit vor.

Eine der frühesten Fotografien einer amerikanischen Frau mit ihrer Nähmaschine – ein Doppelporträt, das um 1853 aufgenommen wurde – betont aber auch die frühe Ambivalenz dieser Entwicklung (vgl. Abb. 1). In einer vergoldeten Einrahmung zeigt sich hier gemäldegleich das Paar: eine ernst aussehende Frau mit ihrer neuen Errungenschaft. Doch trotz der Aufmachung des Bildes und trotz des vielleicht hohen Preises der Maschine ist eine Näherin dieser Art jedoch schon nicht mehr Teil einer Galerie nähender Bürgerfrauen. Sie ist bereits eine Arbeiterin im Nähgewerbe.

Freuds Hinweise auf die Textilproduktion waren jedoch nicht nur auf die Frauen seines Familienkreises, auf Freunde oder Patientinnen beschränkt. Über die Erfahrung der Freizeit- und häuslichen Beschäftigung hinaus verwies er immer wieder auf die griechische Mythologie und Quellen römischer Tradition. Diese waren natürlich auch den Herstellern der frühen Nähmaschinen bekannt, die in ihren Werbeanzeigen reichlich auf sie verwiesen und Näherinnen als Göttinnen der Nähmaschinen zeigen wollten (Wosk 2001, 32). Freud, dessen Interessen die Studien der klassischen Literatur und Archäologie beinhalten sollte, war sich der höheren Wesen wohl bewusst, die bereits einen frühen Nexus schufen zwischen Frauen und der Tradition der Textilherstellung.

Abbildung 2: John Strudwick: A Golden Thread (Öl auf Leinwand, 1885), Tate Gallery, London

Da gab es in der antiken Tradition zum Beispiel das Spinnen, das hier keine einfache Tätigkeit war, sondern Kunst. Die Moiren – Klotho, Lachesis und Atropos – waren drei Schwestern und die Töchter von Zeus. Ihnen war es überlassen, die Lebensspanne eines Menschen zu bestimmen, indem sie dessen ›Schicksalsfaden‹ (Lebensdauer) sponnen, bemaßen und abschnitten (vgl. Abb. 2). Die klassische Mythologie berichtet auch von Ariadne auf Kreta, die sich in Theseus verliebte und ihm einen Faden anbot, mit Hilfe dessen er seinen Weg aus dem Labyrinth des Minotaurus finden konnte. Damit konnte der Faden für das Leben stehen, aber auch das Leben retten. Philomela wiederum war eine entführte Frau, die gefangen gehalten wurde, sich aber entschloss, in ihrem Gefängnis einen Teppich zu weben, der ihre Geschichte erzählen sollte. »Was soll tun Philomela?«, fragt Ovid in seinen Metamorphosen:

Die Flucht ist durch Wache gesperret;

Mächtig starrt des Gehegs aus Felsen erhöhete Mauer;

Stumm verweigert der Mund ihr der Tat Anzeige: doch sinnreich

Ist im Schmerz der Verstand, und Erfindungen lehret das Elend.

Aufzug spannte die Schlaue herab am barbarischen Webstuhl,

Und dem weißen Gespinst durchwebte sie purpurne Zeichen,

Rüge des schnöden Verrats. Das Vollendete reichte sie einem,

Flehend mit Wink, es zu bringen der Herrscherin. Jener bestellet,

Was sie gefleht, an Prokne; und weiß nicht, was er ihr bringe.

Jetzo entrollt das Gewand des grausamen Königes Gattin,

Wo sie die Schrift der Schwester, die jammernswürdige, lieset;

Und (wie war’s doch möglich?) sie schweigt. Schmerz hemmte den Mund ihr;

Und es gebrach der Zung’ an genug unwilligen Worten. (Ovid, Met. VI, 35-64)

Anders als die Moiren war Philomela nicht für das Schicksal einer Person verantwortlich, aber sie konnte ihre Geschichte ›erzählen‹. Webende Frauen wurden Geschichtenerzählerinnen, denn auch Arachne steht in einem Wettbewerb mit der Göttin Athena hinsichtlich der Arbeit des Webens:

Ohne Verzug nun stellen sie beid’ an gesonderten Orten,

Und mit zartem Gespinste bespannen sie jede den Webstuhl.

Fest am Baum ist die Web’, und der Rohrkamm scheidet den Aufzug;

Mitten hindurch wird geschossen mit spitzigem Schifflein der Einschlag,

Aus der entwickelnden Hand; und gestreckt nun zwischen die Faden,

Drängen ihn dicht mit dem Stoß die gereiheten Stäbe des Kammes.

Jegliche Kämpferin eilt; die Gewand’ um den Busen gegürtet,

Regen sie kundige Arm’, und die Lust macht leichter die Arbeit.

Und berichtet mit »belebender Kunst und Gestaltung«, wie Ovid schreibt, alte Geschichten (ebd., VI, 69).

Aber Ovid ist nicht der einzige Dichter, der die Erzählungen von Fäden und Texturen weiterspinnt. Der blinde Homer singt ebenso von Frauen, die mit Fäden schreiben. Penelope tut dies zum Beispiel in der Odyssee. Was möglicherweise als eine Freizeitbeschäftigung erscheinen könnte, wird für sie zum Instrument des Widerstands. Von Odysseus verlassen, möchte Penelope keinen neuen Bewerber anhören. Also lässt sie verkünden, dass sie erst nach der Fertigstellung des Leichentuches für Odysseus’ Vater Laertes an eine neue Verbindung denken kann. Aber Penelope spinnt am Tage und löst den Stoff bei Nacht wieder auf; einer zweiten Scheherezade gleich erkauft sie sich damit Zeit. Sie bleibt damit das Eigentum des Odysseus, seine Gemahlin, und weist die Männer zurück, die sich um sie bewerben (Homer, Die Odyssee, II, 22). Ihre Verweigerung trägt zu einer allgemeinen Erfahrung bei, zu einem sich deutlicher abzeichnenden Muster. Männliche Dichter mögen singen, aber weibliche Geschichtenerzählerinnen weben. Ihre Geschichten haben eine materielle Präsenz, die dechiffriert werden muss; ihre Geschichten werden nicht einfach in Worten berichtet, sondern ebenso in Bildern. Und während Gewänder und Teppiche Geschichten von Macht und Machtergreifung erzählen können, sind sie auch selbst Zeichen der Macht. »Da es so lange dauerte, Stoffe zu produzieren, waren sie in der antiken Welt sehr wertvoll«, schreibt Kathryn Sullivan Kruger. »Ob sie dazu dienten, Fußböden, Wände oder Körper zu bedecken, Stoffe wurden mit einer Aufmerksamkeit hinsichtlich der Intention gewebt, sie vermittelten kulturelle Bedeutung, gaben (oder bewahrten) aber auch (politische) Macht« (Kruger 2001, 11).

Im antiken Griechenland arbeiteten Frauen am Webstuhl, und der Webstuhl befand sich im Haus, genauer gesagt, in den Privatgemächern der Frau oder dem Gynaikonitis (›Frauenentrakt‹, der meist im Obergeschoss des Hauses lag). Es mag daher nicht überraschend sein, wenn Freud – obwohl nur indirekt – auf diese Privatgemächer verweist, wenn er in seiner neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (XXXIII. Vorlesung) von 1933 den Begriff der ›Weiblichkeit‹ bestimmen möchte (Freud, »Die Weiblichkeit«, XV, 119-145). Freuds Überlegungen folgen hier seinen älteren Aufsätzen zu Einige[n] psychische[n] Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds (1925) und Über die weibliche Sexualität (1931). Wie auch in diesen Arbeiten beschäftigt sich Freud mit dem Bestimmung von ›Weiblichkeit‹ – einem ›Rätsel‹, über das auch die Männer im Publikum ›grübeln‹ sollten, nicht die Frauen, natürlich, waren sie doch das Rätsel selbst (ebd., 120). Und hier wagt Freud es nun den Gynaikonitis zu betreten, nicht nur um den privatesten, intimsten Raum der Frau zu beschreiben – ihren Körper – sondern auch den Beitrag der Frau für die Kultur und menschliche Zivilisation. »Man meint, daß die Frauen zu den Entdeckungen und Erfindungen der Kulturgeschichte wenig Beiträge geleistet haben, aber vielleicht haben sie doch eine Technik erfunden, die des Flechtens und Webens«, schreibt Freud:

Wenn dem so ist, so wäre man versucht, das unbewußte Motiv dieser Leistung zu erraten. Die Natur selbst hätte das Vorbild für diese Nachahmung gegeben, indem sie mit der Geschlechtsreife die Genitalbehaarung wachsen ließ, die das Genitale verhüllt. Der Schritt, der dann noch zu tun war, bestand darin, die Fasern aneinander haften zu machen, die am Körper in der Haut staken und nur miteinander verfilzt waren. Wenn Sie diesen Einfall als phantastisch zurückweisen und mir den Einfluss des Penismangels auf die Gestaltung der Weiblichkeit als eine fixe Idee anrechnen, bin ich natürlich wehrlos. (Ebd., 142)

Somit erhält das Weben und die Produktion von Textilien eine Erklärung, die nicht nur die geschlechtsspezifische Tradition dieser Tätigkeit betrifft, sondern auch die Notwendigkeit und sogar den Grund ihrer Erfindung. Nicht nur der Faden ist hier von Relevanz, sondern das Textil als Produkt. Und ebenso wie die Produktion von Stoffen die Tatsache eines anatomischen Mangels verdecken sollen, so wird das fertige Material – der Stoff, das Kleid – zum Text, zu einem Kind, zu einem Organ, das sowohl verdecken kann wie simuliert wird. Es wird zum Zeichen für die Unvollständigkeit der Frau.

Dabei muss dieser Stoff für den Mann nach Freud eine andere Bedeutung annehmen. Er erhält einen priviligierten Ort in dessen Diskussion über den Fetisch. Denn dieser kann nur vom Mann begehrt werden, nicht von der Frau, wie Freud erklärt, denn »der Fetisch ist ein Penisersatz«. Freud erläutert in seinem Aufsatz zum Fetischismus weiter: »Um es klarer zu sagen, der Fetisch ist der Ersatz für den Phallus des Weibes (der Mutter), an den das Knäblein geglaubt hat und auf den es – wir wissen warum – nicht verzichten will.« (Freud, »Fetischismus«, 312) Hier, in seinem Aufsatz über den Fetischismus, betont Freud wiederum die Bedeutung des Stoffes und fügt eine genauere Beschreibung dessen an, das hoch auf der Liste des Begehrten steht: »Pelz und Samt« – »wie längst vermutet wurde«, schreibt Freud, fixieren

den Anblick der Genitalbehaarung, auf den der ersehnte des weiblichen Gliedes hätte folgen sollen; die so häufig zum Fetisch erkorenen Wäschestücke halten den Moment der Entkleidung fest, den letzten, in dem man das Weib noch für phallisch halten durfte. Ich will aber nicht behaupten, dass man die Determinierung des Fetisch jedesmal mit Sicherheit durchschaut. (Ebd., 314f.)

2. Fabriken

Aber wie würde man Freuds eigenen privaten Raum erreichen?

Freud wurde 1856 als Sigismund Schlomo Freud in Freiberg (Příbor) geboren, wo seine Eltern – Kalmann Jakob Freud und seine junge Frau Amalia Nathanson – eine kleine Einzimmerwohnung, die über einer Schmiede gelegen war, bewohnten.

Jakobs erste Frau Sally war früh verstorben und möglicherweise war er kurz ein zweites Mal verheiratet, mit einer Frau namens Rebekka, über die nichts weiter bekannt ist. Sigmund Freud war das erste Kind aus Jakobs Ehe mit Amalia, und andere Kinder sollten bald folgen: Der Sohn Julius, der bereits als kleines Kind starb, und die Tochter Anna kamen ebenfalls in Freiberg zur Welt. Oben im Haus des Schmieds gab es für eine Familie von zwei oder drei und dann vier Personen kaum Möglichkeit für irgendeinen individuellen Privatbereich.

Jakob Freud zog in diese kleine mährische Stadt inmitten von Feldern und Wäldern kurz vor seiner Heirat mit Amalia, und aus geschäftlichen Gründen. Er war in einer anderen Kleinstadt, Tysmenitz (Tysmenice) in Galizien, geboren, die Familie seiner jungen Frau stammte aus Wien, der Hauptstadt des Habsburgischen Reiches. Jakob Freud kannte Freiburg durch seine Reisen mit seinem Großvater und war vor seinem Umzug dort öfter zu Besuch.

Abraham Siskind Hoffmann, der Großvater Jakob Freuds, stammte auch aus Tysmenitz; er war ein Handelsreisender, der die kleinen und kleinsten Orte der Gegen bereiste, um seine Waren feilzubieten: vor allem Wolle und Wollstoffe, aber auch »Talg, Honig, Anis, Felle, Salz und ähnliche Rohprodukte« (Gicklhorn 1969, 38).3 Hoffmann war, kurz gesagt, einer der vielen galizischen Juden, die im Woll- und Kleiderhandel ihr Auskommen suchten. Und bis zum Ende der Habsburger Monarchie, ja bis zum Zweiten Weltkrieg war diese Gegend nicht nur ein Zentrum des Woll- und Stoffhandels, sondern auch Ort vieler Stoff- und Textilfabriken, die besonders im südlichen Galizien und Mähren errichtet wurden. Einige der gesellschaftlich etablierten Väter der Patientinnen Freuds, etwa »Doras« Vater, Philipp Bauer, besaßen Textilfabriken.

Hoffmann war jedoch nur ein armer Händler, der Wolle in galizischen Städten und Dörfern kaufte und sie im Süden des Reiches wieder verkaufte. Bereits 1844 schrieb er einen Brief an den Magistrat von Freiberg mit der Bitte, sich mit seinem Enkel Koloman Jakob Freud an diesem Ort niederlassen zu dürfen. »Ich möchte in Freiberg wohnhaft warden«, heißt es in seinem Antrag,

Da die Stadt für mich mehrere Vorteile für meinen Handel bedeutet: 1. liegt sie an einer breiten Strasse, 2. Textil ist ihre Hauptindustrie, 3. Freiberg liegt im Zentrum des Stoff produzierenden Distriktes und seine Lage fördert den Handel in diesem Bereich.

Ich kaufe Wollmaterial in Freiberg und den Nachbarregionen und lasse es dort färben und fertigstellen, dann sende ich die Handelsware nach Galizien. Andererseits importiere ich Güter aus Galizien wie Wolle, Honig, Hanf und Talg. Ich verkaufe dieses Produkte in Geschäften, die ich hier anmiete, und selbst fremde Händler kommen, um von mir zu kaufen. (Gicklhorn 1969, 39)

Sein Enkel Jakob Freud war 29 Jahre alt, als er sich zunächst in einem Dorf außerhalb von Freiberg niederließ; seine erste Frau und seine Kinder verblieben zu dieser Zeit noch in Tysminitz. Erst 1848, als die strengen Gesetze, welche den Aufenthalt von Juden in mährischen Ortschaften neu regelten, konnte Jakob Freud nach Freiberg ziehen. Er war einer der jüdischen Händler, von denen der Freiberger Stadtrat folgendermaßen berichtete:

Wollprodukte, die in Freiberg hergestellt werden, haben einen doppelten Markt: die jüdischen Händler kommen hier von Galizien, um Stoffe zu kaufen, sie lassen sie hier färben und fertigstellen, dann senden sie sie nach Galizien. Unsere Stofffabrikanten verkaufen ihre Ware auch nach Ungarn. Die Juden haben keinen Anteil an diesem Handel. (Ebd., 40)

Im Jahre 1852 zogen auch Freuds ältere Söhne aus erster Ehe, Emmanuel und Philipp, von Tysminitz nach Freiberg und in die Nähe ihres inzwischen verwitweten Vaters. Die Wirtschaftslage der Familie in dieser Zeit ist durch die damals neu etablierten Steuerlisten eruierbar, denn es gab nun Dokumente, in denen das Gewicht der Wolle, die in Freiberg gehandelt wurde, eingetragen wurde.

So scheint es, dass 1852 auch das erfolgreichste Geschäftsjahr war für Jakob Freud. 1852 kaufte und verkaufte er 1309 Zentner (also 143 990 preußische Pfund) Wolle (ebd., 40). Dies war eine relative große Menge, die einen guten Gewinn bringen musste. Aber in den folgenden Jahren ging sein Geschäft zurück. 1855 heiratete Jakob Freud Amalia Nathanson und nur drei Jahre später entschloss sich die neue Familie, Freiberg wieder zu verlassen – um zunächst nach Leipzig zu ziehen, der internationalen Messestadt, dann aber nach Wien, der Heimatstadt der Nathansons.

Jakob überließ den Wollhandel seinem ältesten Sohn Emmanuel, aber dieser entschied sich ebenfalls bald darauf, sein Glück anderswo zu versuchen. Für Emmanuel, dessen Frau Maria und deren Kinder John (Johannes), dem Spielgefährten Sigmund Freuds, und Paulina sowie dem noch unverheirateten Philipp Freud kamen jedoch weder Leipzig noch Wien in Frage. Stattdessen entschieden sie sich, in die Hauptstadt des Textilhandels zu ziehen. Etwa um die Zeit, in der sich Jakob Freud und seine Familie in Wien zu etablieren suchten, zogen Emmanuel und dessen Familie sowie der jüngere Philipp nach England – und zwar nach Manchester.

Zu dieser Zeit, Mitte des 19. Jahrhunderts, war die britische Stadt ein Zentrum der industriellen Revolution und das Zentrum der europäischen Textilindustrie. Es befand sich nahe ausgezeichneter Hafenanlagen und war daher nicht nur für den Handel mit Wolle und Seide und Leinen günstig gelegen, sondern vor allem für den mit Baumwolle. Manchester wurde bald als »Cottonopolis« bekannt.

Abbildung 3: Manchester im 19. Jahrhundert Old Church and Bridge from Blackfriars

»Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich Manchester sah«, schreibt ein Reisender, William Cooke Taylor, 1842. »Ich sah einen Wald von Kaminen, die Wolken von Dampf und Rauch abgaben; der wiederum ein tintenhaftes Dach bildete, das den ganzen Ort beherrschte und dem man nicht entrinnen konnte.« (Taylor 21842) Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Manchester tatsächlich von einer kleinen Küstenstadt des Westens Großbritanniens zu einer geschäftigen Industriestadt voller Fabriken und Textilunternehmen. Große Teile der Stadt waren von Warenlagern und Arbeiterhäusern geprägt und die Arbeiter lebten nahe der Fabriken – oft unter unsäglich schwierigen Bedingungen.

Eine Karte aus dem Jahr 1849 zeigt die Baumwollfabriken und die Arbeitersiedlungen für britische und irische Immigranten, die nach Manchester kamen, um dort Arbeit zu finden. Sie wohnten dicht beieinander zwischen einem Flussbogen und der neuen Eisenbahnlinie, die den Transport der Waren sichern konnte. Gegenden wie »Little Ireland« im Süden der Stadt entwickelten sich bald zu großen Slums. Tatsächlich sollte sich Friedrich Engels auch in seiner Studie zur britischen Arbeiterklasse, in der diese Karte in späteren Auflagen beigefügt ist, vor allem auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen in Manchester konzentrieren und auf die dortige Textilindustrie. Sie wurde zum Markstein des neuen Kapitalismus.4 Viele Mitglieder der wachsenden jüdischen Gemeinde von Manchester – die Sepharden, die aus den Niederlanden gekommen waren, aber neuerlich auch Immigranten aus Osteuropa umfasste – hatten an dieser Textilindustrie teil, oft jedoch im Einzelhandel.5

Und hier gilt es vielleicht, das gängige Bild von Sigmund Freuds ein wenig zu korrigieren. Freud war sicherlich anglophil. Er bewunderte die englische Kultur, nannte seinen Sohn Oliver nach Oliver Cromwell, studierte die Werke von Charles Darwin und zitierte oft Shakespeare. Aber wir müssen uns daran erinnern, dass Freud zunächst nicht die heute bekannte Hochkultur Englands und die herrschaftliche Architektur Londons kennen lernte, sondern die Arbeiterviertel und die palastartigen Warenlager Manchesters, das er als ersten Ort in England besuchte.

Abbildung 4: Anzeige Barlow & Jones Ltd, Manchester Bilder des Büros und Warenlagers (März 1907)

Bereits im August 1875 reiste Freud von Wien aus nach Manchester, um seine älteren Brüder und auch seinen einstigen Freiberger Spielkameraden und Neffen John zu besuchen. Dort musste Freud nicht nur die Textilfabriken kennen gelernt, sondern auch die vielen Arbeiterfrauen gesehen haben, die in ihnen arbeiteten, die Nachfahren von Philomena oder Penelope: Frauen am Webstock.

Freuds Bruder Philipp arbeitete in Manchester als Händler, heiratete eine Frau aus der benachbarten Industriestadt Birmingham und lebte später in Manchester als Rentier. Der älteste Bruder Emmanuel war geschäftlich erfolgreicher und konnte sich in den 1890er Jahren ein großes Haus leisten, das als Familiensitz und Baumwolllager diente. Seine Geschäfte sind zum Teil in den Archiven Manchesters dokumentiert, so auch ein kleinerer Rechtsstreit, der zu seinem Gunsten entschieden wurde. Eine Angestellte, Mary Callighan, wurde des Diebstahls von zwölf Pfund Baumwollzwirn überführt.

Abbildung 5: Arbeiterin in einer Fabrik in Manchester (um 1900)

Dies ist jedoch nicht der einzige Rechtsfall, in den die Freud-Familie in diesen Jahren verwickelt war. In seinem 1899 erschienen und mit 1900 datierten Jahrhundertwerk über die Traumdeutung, erwähnt Sigmund Freud seinen Onkel Josef, den jüngeren Bruder seines Vaters Jakob (Anzieu 1986, 214-218). Josef sei mit einer falschen Rubelnote gefasst und als Falschgeldhändler verurteilt worden, heißt es dort. Die Gerichtsakten in Wien geben jedoch genauere Auskunft über diesen Fall. Onkel Josef handelte danach in Wien wie auch in Leipzig und anderswo mit falschen Rubelnoten, und er war nicht der einzige der freudschen Familie, der des Betruges überführt wurde. Ein Cousin Freuds in Czernowitz wurde gleichfalls verhaftet, sowie andere Juden aus dem Habsburger Osten, die mit dem Onkel kooperierten. Im Wiener Polizeibericht findet sich nun eine Aussage Josefs, in der er behauptete, die Geldscheine von seinen beiden Neffen in Manchester erhalten zu haben.

Die Polizei hatte angeblich ebenfalls Einsicht in einen Brief, der erklärte, dass Emmanuel Freud »Geld wie Sand am Meer« hätte. Es ist daher möglich, dass Onkel Josef die falschen Rubel von den Brüdern Freuds bei deren Besuchen in Wien erhielt; es ist ebenfalls möglich, dass diese Scheine zwischen Baumwollballen nach dem Kontinent geschickt wurden. Auch Freuds Vater wurde im Zuge der Untersuchungen vor den Augen des neunjährigen Sohnes Sigmund von der Polizei durchsucht. Emmanuel und Philipp Freud wurde kein Prozess gemacht, allerdings ist es hier vielleicht notwendig, auch dies festzustellen: Geldscheine bestanden zum Teil ebenfalls aus Baumwolle und Großbritannien war im 19. Jahrhundert auch Zentrum der Falschgeldindustrie. Auch Geldscheine waren ein »Textil« der Zeit.

Abbildung 6: Wohnhaus und Baumwollwarenlager, ehemals Wohnsitz von Emmanuel Freud und seiner Familie in Manchester
Abbildung 7: Unterlagen des Rechtsfalls Emmanuel Freud vs. Mary Callighan wegen Diebstahls von zwölf Pfund Baumwollgarn
Abbildung 8: Jacob und Amalia Freud mit ihrer Familie (Wien, ca. 1878)

Die neue Familie von Jakob Freud, mittlerweile in Wien wohnhaft, bemühte sich inzwischen um sozialen Aufstieg. Ein Familienporträt, in Wien aufgenommen, zeigt Jakob Freud mit seiner Frau und seinen Kindern als etablierten Patriarchen. Das Bild, in einem Studio aufgenommen, verrät jedoch wenig von der finanziellen Hilfe, die der Vater von seinen Söhnen in Manchester regelmäßig erwartete und erhielt.

Wie zuvor in Freiberg, so lebten die weiteren Familienmitglieder – die Freuds, die Nathansons – auch in Wien zunächst nahe beieinander. Die jüdischen Einwanderer aus dem Osten wohnten vor allem in der Leopoldstadt, einem Bezirk Wiens, in dem sich Juden aus Mähren, Böhmen, Galizien und Ungarn nach den verschiedenen Einwandererwellen wiederfanden.6 Freud und seine Familie zogen ebenso in die Leopoldtstadt, die bald den Spitznamen »Die Matzeinsel« trug.

Wien veränderte sich in diesen Jahren rasch und radikal. Die Stadtmauer wurde abgetragen und an ihrer Stelle eine elegante Ringstraße geplant, an der wiederum ein neues Rathaus, eine Oper, ein neues Theater und die Universität gebaut wurden, sowie große Apartmenthäuser und Stadtpalais für die Reichen und die Aristokratie. Die Leopoldstadt befand sich außerhalb des Rings. Und viele der jüdischen Einwanderer, die ihre Händlererfahrungen mitbrachten, handelten dort, wie Jakob Freud, mit Wolle und Kleidung. Tatsächlich hieß ein Teil des Rings – nahe der Leopoldstadt – in der Umgangssprache der »Textilring« und im Zentrum der Stadt gab es auch Straßen, die an diesen Handel und Beruf erinnerten, wie die »Wollzeile«. Bilder der Taborstraße, nahe dem frühen Wohnhaus der Familie Freud, dokumentieren die ›Verstädterung‹ des Textilhandels, der nach wie vor ein ›jüdischer‹ Geschäftszweig blieb. So sehen wir zum Beispiel die Reklame für »Kleider Magazine«.

In Wien versuchte Jakob Freud wiederum mit Wolle und Kleidern zu handeln, aber er hatte Schwierigkeiten, ein geregeltes Auskommen zu finden. Geld war rar. Sigmund Freud begann sein Medizinstudium nach einem Besuch in Manchester nach seiner Matura. Er wandte sich damit gegen das Familiengeschäft, aber seine Wahl war dennoch auch typisch. Medizin entsprach nicht nur seinen wissenschaftlichen Interessen, es war auch ein oft gewähltes Fach, das soziale Mobilität versprach, gerade bei jüdischen Studenten. Da die medizinische Fakultät als einzige traditionell nicht der theologischen unterstellt war, war diese schon früh als einzige jüdischen Studenten offen gewesen. Um die Jahrhundertwende wirkte sich der Zudrang an die medizinische Fakultät dann besonders dramatisch aus – über zwei Drittel aller Ärzte in Städten wie Wien oder Berlin waren jüdischer Herkunft.

Aber indem Freud nicht nur Medizin studierte, sondern Neurologie und in Ernst Brückes Laboratorium zu arbeiten begann, wandte er sich nicht einfach gegen die Familientradition. Er ersetzte lediglich den Handel einer Faser mit dem Studium einer anderern. So bot das Nervensystem eine ihm eigene Textur, die Freud fleißig in seinen Zeichnungen wiederzugeben trachtete.

Abbildung 9: Sigmund Freuds frühe wissenschaftliche Zeichnung der Neuronen und Stränge unter dem Mikroskop

Hinsichtlich Freuds analytischem Werk sollten die Metaphern der Textilherstellung – Weben, Spinnen, Trennen – darüber hinaus zu dominierenden Bildern werden. Der Text der Träume – etwa »Doras« in ihrer Fallstudie – war immer auch eine Textur, die sie als Patientin durch ihre Erzählung webte und in der einzelne Bilder – wie zum Beispiel das des ›Schmuckkästchens‹ – eingebettet waren. Als Analytiker sollte Freud sich nun damit beschäftigen, der Herstellung dieses ›Textes‹ zu folgen und diesen wieder aufzulösen (Freud, »Bruchstück einer Hysterieanalyse«, V. 225-255). Und interessanterweise ist es nicht Ariadnes Faden, sondern eine Garnspule, die sich in der Hand des kleinen Jungens – Freuds Enkel – befindet, als dieser die Abwesenheit seiner Mutter in Jenseits des Lustprinzips (1927) verarbeiten möchte (Rooney 2000, 265).

3. Teppiche

Aber wie fassen wir selbst die Fäden dieser komplexen Erzählung zusammen? Die Bilder vom Spinnen und Weben, die Anekdoten von Wolle und Faden, führen verschiedene Geschichten zusammen. Welche ist dabei dominant, welcher sollte man folgen? Auf der einen Seite zeigen sie auf den Bereich der Bildung, auf das Land der griechischen Göttinnen und Heldinnen, die den Faden zogen und mit ihrer Arbeit des Spinnens oder Webens das Schicksal beeinflussen konnten. Auf der anderen Seite befindet sich der Woll- und Kleiderhandel der galizischen und mährischen Juden. Die Geschichte der europäischen Textilindustrie des 19. Jahrhunderts vereint darüber hinaus die männlichen fahrenden jüdischen Händler mit den unterprivilegierten Fabrikarbeiterinnen. Da gibt es Frauen, die spinnen und weben – und Männer, die mit Wolle handeln und Kleider verkaufen. Die Welt der Antike und die Welt West- und Osteuropas des 19. Jahrhunderts, die der Göttinnen und der Juden, die der Frauen und der Männer treffen sich hier. Wo sollte man Freud ansiedeln, der mit so großer Leichtigkeit sowohl den Geschlechterunterschied wie auch die Kulturarbeit mit Hilfe eines Webstuhls definieren konnte? Kann Freud, der Erzähler, sich überhaupt von seinen webenden Frauen entfernen? Oder folgt er eher einer männlichen Tradition, dem einfachen Handel von Wolle und Kleidung?

Abbildung 10: Freuds Couch (1939)

Vielleicht sollen wir nicht vergessen, dass uns Freud mit der Erfindung der Psychoanalyse und der Etablierung der psychoanalytischen Therapie seine eigene Geschichte der Philomena offeriert. Als umtriebiger Sammler von antiken Objekten interessierte sich Freud keineswegs nur für ägyptische, griechische oder römische Statuen, die auf seinem Schreibtisch oder in Glasschränken aufbewahrt wurden. Er liebte auch Webprodukte, besonders Teppiche. Einer seiner meistgeschätzten Besitztümer war eine Textilie aus Persien: ein Qashqai-Serkarlu-Wollteppich, der mit Blumen und diamantförmigen Medaillons übersät war.

Freud kaufte diesen Teppich 1891, also vor der Abfassung seiner Traumdeutung, zu einer Zeit, als solche Teppiche in Wien leichter erhältlich und sogar modisch wurden. Tatsächlich wurde Wien in den 1890er Jahren zu einem Zentrum des neuen Handels mit Orientteppichen (Burke 2006, 134f.).

Für Freud war dieser Teppich besonders wertvoll, zu wertvoll vielleicht, um ihn einfach auf den Boden zu legen. Er hing ihn auch nicht an die Wand, sondern er fand bald einen anderen, ganz besonderen Platz für ihn. Er legte den Teppich auf einen Diwan; auf eine Couch, auf dem seine Patienten während ihrer/seiner Sprechstunden ruhen konnte. Somit wurde dieser Teppich nicht nur zu einem seiner meistgeschätzten Besitztümer, sondern auch zu einem besonderen Objekt: ganz wörtlich zu der Grundlage seiner psychoanalytischen Therapie.

Anmerkungen

* Das Zitat von Jacques Derrida stammt aus: Hélène Cixous/Jacques Derrida: Voiles: Schleier und Segel. Hg. v. Peter Engelmann u. übers. v. Marcus Sedlaczek. Wien 2007. Der Titel des Essays von Derrida in diesem Buch bezieht sich gleichermaßen auf Wilhelm von Humboldts Bildungsbegriff. Die Übersetzungen aus dem Englischen/Amerikanischen stammen, wenn nicht anders vermerkt, vom Verf.

1 Siehe die Web-Traditionen in einigen afrikanischen Gebieten, z.B. Beispiel Peggy Stoltz Gilfoy: Patterns of Life: West African Strip-Weaving Traditions. Washington (D.C.) 1987.

2 Siehe z.B. Elisabeth Malleier: Jüdische Frauen in Wien 1816-1938: Wohlfahrt, Mädchenbildung, Frauenarbeit. Wien 2003.

3 Siehe auch Krüll 1986, 71-180.

4 Vgl. Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen. Leipzig 1845. Siehe auch Steven Marcus: Engels, Manchester, and the Working Class. New York 1974.

5 Vgl. Bill Williams: The Making of Manchester Jewry: 1740-1875. Manchester 1976. Siehe auch Gartner 1999, 117-133.

6 Siehe Marsha Rozenblit: The Jews of Vienna, 1867-1914: Assimilation and Identity. Albany (NY) 1983, und Klaus Hödl: Als Bettler in die Leopoldstadt: Galizische Juden auf dem Weg nach Wien. Wien 1994.

Literatur

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Gartner, Lloyd P. (1999): »East European Jewish Migration: Germany and Britain«. In: Michael Brenner/Rainer Liedtke/David Rechter (Hg.): Two Nations: British and German Jews in Comparative Perspective. Tübingen, S. 117-133

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Wosk, Julie (2001): Women and the Machine: Representations from the Spinning Wheel to the Electronic Age. Baltimore

Bildnachweis

Die Verfasserin dankt Michael Molnar (Freud Museum and Archives, London) für die Erlaubnis, das Foto aus der Sammlung des Freud Museums hier abbilden zu dürfen.

Abb. 1: Prints and Photographs Division, Library of Congress, Washington (D.C.); Digital IP: cph 3c06400 – Abb. 2: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Strudwick-_A_Golden_Thread.JPG – Abb. 3, 4 u. 5: Spinning the Web: The Story of Manchester’s Cotton Industry. Manchester City Council. Http://www.spinningtheweb.org.uk – Abb. 6 u. 7: Manchester City Archives; Fotografie von Pilar Caballero-Alias – Abb. 8: Freud Museum and Archives, London – Abb. 9: The New York Academy of Medicine; siehe auch: Lynn Gamwell/Mark Solms: From Neurology to Psychoanalysis: Freud’s Neurological Drawings and Diagrams of the Mind, New York: New York Academy of Medicine, 2006 (http://artmuseum.binghamton.edu/freudbook) – Abb. 10: Edmund Engelman: Berggasse 19: Sigmund Freud’s Wiener Domizil. Stuttgart: Belser 1976, Abb. 13; Fotografie von Edmund Engelman (1939)