Man denkt gewiss nicht zuerst an die deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters, wenn es darum geht, die Gegenstände der Germanistik in einer interkulturellen Perspektive zu sehen. Und dennoch wird es kein Zufall sein, dass an der Entwicklung des Konzepts ›Interkulturelle Germanistik‹ auch germanistische Mediävisten von Anfang an beteiligt waren (Müller 2003). Legt doch der reflektierte Umgang mit mittelalterlichen Textzeugnissen ein spezielles Beziehungsgeflecht zwischen dem ›Eigenen‹ und dem ›Fremden‹ offen und erfordert (und fördert!) somit interkulturelle Kompetenz (vgl. Kasten u.a. 1997). Dies meint nicht nur die Erkenntnis, dass aufgrund der lateinisch geprägten Bildungssituation Alteuropas und der Prägung der höfischen Dichtung durch romanische Vorbilder die ›deutsche‹ Literatur des Mittelalters nie isoliert nationalphilologisch betrachtet werden kann, weshalb Mediävistik immer auch Komparatistik sein muss (vgl. Schumacher 2001). Es bezieht sich vor allem auf die Erfahrung, dass Texte aus einer weit zurückliegenden Epoche allein schon durch ihren zeitlichen Abstand zur Gegenwart in inhaltlicher, formaler und sprachlicher Hinsicht ›fremd‹ geworden sind, wenngleich sie durchaus kulturell als ›eigene‹ erkennbar bleiben. Dieser besondere Fall des ›eigenen Fremden‹, bei dem die ›Alterität‹ (vgl. Jauß 1977, 9-47; Strohschneider 1997) mit Kontinuität verbunden (und damit gleichsam gemildert) ist, gilt freilich nur für muttersprachige Studierende der deutschen Philologie. Wo hingegen Deutsch als Fremdsprache gelehrt und gelernt wird, kommt zur zeitlich-vertikalen Differenz die räumlich-horizontale hinzu: Für nicht deutschsprachige Rezipienten ist die deutsche Literatur des Mittelalters ›doppelt fremd‹. Dies erschwert, wie die Erfahrung oft zeigt, die mediävistische Lehre in Auslandsgermanistik und DaF-/DaZ-Studium. Zugleich aber erlaubt eine solche zweifache, oder doch zumindest verschärfte Alterität einen distanzierenden Blick auf mittelalterliche Texte, auf den die germanistische Mediävistik nicht verzichten sollte. Das gilt besonders für Werke, die den Kulturkontakt mit Menschen nichtchristlicher Religionen thematisieren. Wollte man etwa die Kreuzzugsdichtung allein aus europäisch-christlicher Perspektive betrachten, dann zollte man dem intoleranten Geist der Kreuzzüge nachträglich Tribut. Sinnvoller ist es herauszuarbeiten, was tolerantes Verhalten zwischen Religionen und Kulturen auf beiden Seiten verhindert hat (vgl. Schumacher 2007). Und als noch lohnender erscheint es, das Gelingen friedlicher interkultureller Kommunikation in mittelalterlichen Texten zu untersuchen. Das soll hier am Beispiel des Guoten Gêrharts des Rudolf von Ems geschehen.1
Obwohl der urkundlich nicht bezeugte Rudolf von Ems als ein sehr erfolgreicher Autor aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts gilt (vgl. Walliczek 1992), ist seine Verserzählung von der Kaufmannsfahrt des guten Gerhard in den Orient nur in zwei Handschriften überliefert, wozu noch eine späte Prosa-version (Bentzinger u.a. 2001) hinzuzurechnen ist. Die schwache zeitgenössische Rezeption2 entspricht nicht der Bedeutung, die diesem Werk heute in der Germanistik (vor allem seit Sengle 1950) zugemessen wird. Dort wurde zuletzt die Frage diskutiert, in wieweit die seit dem 12. Jahrhundert in Europa virulent gewordene Problematik individueller Gewissensentscheidungen hier narrativ ausgestaltet wird (Kartschoke 1995; Störmer-Caysa 1998, 162-164; Zöller 2001). Dass der Protagonist ein Kaufmann ist (vgl. u.a. Brennig 1993), spricht für diese tendenziell ›moderne‹ Fragestellung, konnte sich doch kaufmännischer Unternehmergeist im Mittelalter nicht primär am Regelwerk kirchlich festgelegter Moral orientieren, die für viele Entscheidungssituationen der Ökonomie keine oder nur grundsätzlich ablehnende Lösungen vorsah. Ein Geschäftsmann, der sein Seelenheil nicht aufs Spiel setzen wollte, musste sich deshalb auf seine eigene internalisierte Urteilsinstanz verlassen, mit der er selbstständig abwägen konnte, was gutes und was schlechtes Handeln ist. Dies mochte vonseiten traditioneller Theologie skeptisch betrachtet werden – die legendenhafte Rahmenerzählung des Guoten Gêrharts jedoch, die aus dem Werk eine Art von Exempelroman macht,3 zeigt genau dieses Verhalten als Inbegriff von Heiligkeit auf. Sie knüpft zunächst an die alte Metaphorik der christlichen Spendefreudigkeit (des ›Almosens‹) als einem transzendenten ›Geschäft‹ an (vgl. Oberste 2001), das seit den Kirchenvätern oft positiv dem (abgelehnten) nichtmetaphorischen Kommerz gegenübergestellt wird. So sieht sich ein Kaiser Otto (vgl. Neudeck 2003), der mit der Stiftung eines ganzen Erzbistums (vgl. von Merveldt 2000) ein wirklich kaiserliches Almosen (vgl. v. 203) gegeben hat, in dieser Bildlichkeit als ein erfolgreicher ›Kaufmann‹: »Mit mînem guote ich koufet hân / ze himel wernde stætekeit« (V. 262f.; ›Ich habe mir mit meinem Besitz ewiges Glück im Himmel erworben‹). Zugleich zeigt sich die Tücke dieser Metaphorik für das Almosen, da sie zu geistlichem Hochmut verleitet: Otto ist sich seines Heils gewiss und kann es kaum erwarten, den erworbenen ›Lohn‹ im Himmel schon einmal in Augenschein zu nehmen. Doch anstelle der Vision, die er von Gott in einem wortreichen Gebet erfleht, erhält er eine Audition, die Stimme eines Engels, die dem Kaiser ins Gewissen redet, indem sie – in fast genauer Umkehrung der patristischen Argumentation – dem metaphorischen Kaufmannsgeist der selbstgefälligen Werkgerechtigkeit (der Sünde der ›vana gloria‹) einen wirklichen Kaufmann konfrontiert, der in seiner Demut gottwohlgefällig sei. Zu diesem Kaufmann, den man den ›guten Gerhard‹ nenne, nach Köln zu reisen, gibt der Engel Otto als Buße auf. Und was Gerhard auf mehrfaches drängendes Nachfragen hin dann dem Kaiser erzählt, das ist die Binnengeschichte, die Erzählung in der Erzählung (vgl. A. Schulz 1999), die wohl älteste Ich-Erzählung der deutschen Literaturgeschichte überhaupt.
Gerhard, ein reicher, aber nicht adeliger Kaufmann aus Köln, zieht in die Welt hinaus – nicht aufgrund eines Aventiure-Gesprächs oder einer Provokation, wie man es in epischer Literatur des Mittelalters erwarten könnte, sondern weil sein Sohn inzwischen erwachsen geworden ist: Um einen Generationenkonflikt in der Leitung des eigenen Handelsunternehmens zu vermeiden, zahlt er seinem Sohn das Erbe aus und begibt sich selbst auf eine Fernhandelsreise in die »heidenschaft« (V. 1180 u.ö.). Der Begriff der ›Heiden‹ (vgl. u.a. Koselleck 1979, 229-244; Hödl 1989), von Zeitgenossen oft auf die Muslime reduziert, dient hier zunächst als unspezifische Sammelbezeichnung für die Anhänger nichtchristlicher Religionen. Das Problem, in ihren Gebieten seinen religiösen Pflichten nicht nachkommen zu können, löst Gerhard vorbeugend, indem er auf seinem Schiff neben dem Proviant für drei Jahre auch einen klerikalen »schrîber« (V. 1187) mitnimmt, der außer für die Buchführung auch für die Liturgie zuständig ist. Mit seinem Kaplan führt Gerhard die christliche Kirche gleichsam portabel mit zu den Heiden, in deren Ländern er reiche Gewinne macht. Die Reiseroute ist für eine Schiffspassage recht fantastisch. Über Russland und das Baltikum geht es zu der südpersischen Stadt Sarand (auf welche die Welt zuletzt im Jahr 2005 durch ein verheerendes Erdbeben aufmerksam wurde), und von dort nach Damaskus und Mesopotamien,4 worauf dasjenige eintritt, was seit dem antiken Liebes- und Reiseroman immer dazu dient, den Helden und den Lesenden eine unbekannte Welt zu erschließen: Ein großer Seesturm wirft das Schiff an eine fremde Küste. Was macht man in einer solchen Situation, um sich zu orientieren? Man schickt einen der Seeleute an Land. Der Kundschafter steigt auf den nächsten Berg, lässt seinen Blick umherschweifen, und was er dabei erblickt, entspricht ganz und gar nicht den Vorstellungen, wie man sie sich später in der europäischen Neuzeit von exotischen Völkern machte, die man kolonisieren wollte. Der Kundschafter sieht keinen Urwald und keine Wüste, er sieht keine einfachen Hütten von Eingeborenen in einem vorzivilisatorischen Zustand. Er sieht erst recht keine Kannibalen. Er erblickt vielmehr eine höchst zivilisierte Ideallandschaft. In einer weiten Ebene vor den Bergen liegt eine große Stadt mit einem Meereshafen. Sie ist mit Türmen und Gräben gut gegen Feinde bewehrt und hat vier Tore, von denen eines zum Hafen führt, die drei andern zu drei Straßen, die ins Umland reichen. Menschen und Waren sind – außer auf Schiffen – auf Kamelen unterwegs, auf Maultieren, Pferden und Wagen. Bis auf die Kamele könnte das auch zuhause in Köln so sein, nur ist es hier alles viel größer und prächtiger. Niemals, so der Kundschafter, habe er eine so große Menge von Menschen gesehen. Es äußert sich hier die Erkenntnis, dass außerhalb von Europa der Handel offenbar weiter entwickelt ist als im christlichen Abendland. Und zugleich wird deutlich, dass Ökonomie etwas mit Mobilität zu tun hat, weshalb eine entsprechende Infrastruktur notwendig ist: Straßen, Häfen, Tore, Transportmittel usw. Dies alles ist offenbar in der ›Heidenschaft‹ in Fülle vorhanden. Nach der ersten Irritation über die Überlegenheit der Fremden in wirtschaftlicher Hinsicht folgt eine zweite Irritation im Kulturkontakt: Ängstlich verlässt nun auch Gerhard sein Schiff und begibt sich in die große Stadt. Doch seine Sorge, es könnte ihm jemand etwas zuleide tun, erweist sich als unbegründet; im Gegenteil: »die burger wâren heiden / und doch sô wol bescheiden / daz sî mich wol gruozten« (V. 1321-1323; ›Obwohl Heiden, waren die Bürger doch so hervorragend gebildet, dass sie mich freundlich grüßten‹). Jeder Lesende kann und muss sich vorstellen, wie ein Orientale angestarrt worden wäre, der sich in eine mittelalterliche Stadt Europas verirrt hätte. Hier in der Fremde geht man hingegen recht gelassen mit Fremden um: Man starrt sie nicht an oder schaut nicht verlegen weg, man grüßt sie einfach höflich. Auch in den Umgangsformen erweisen sich die Heiden den Christen als kulturell überlegen. Und noch eine dritte interkulturelle Irritation kommt hinzu: die der sprachlichen Verständigung. Wo immer europäische Entdecker später in andere Welten kamen, stellten sie erstaunt fest, dass man dort ihre Sprache nicht beherrschte. Noch als James Cook im April 1770 in Botany-Bay an der australischen Ostküste eine Landpartie wagte, was als wichtiger Schritt bei der Entdeckung Australiens gilt, und seine Versuche, mit den Ureinwohnern in sprachlichen Kontakt zu treten, scheiterten, kommentierte Cook lapidar: »Wir […] verstanden kein Wort von dem, was sie sagten.« (Price 1971, 97) Dass die Aborigines den britischen Captain vermutlich auch nicht verstanden, wird ihm nicht zum Problem. Gegenüber diesem kolonialistisch eingeengten Blick reflektiert die mittelalterliche Erzählung die sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten beim Kulturkontakt auf beiden Seiten. Und wiederum wird hier die Überlegenheit der Heiden deutlich. Gerhard wendet sich an einen sehr vornehmen Herrn mit großem Gefolge: »Der edel werde wîgant / begund grüezen mich zehant / in heidensch, als er mich gesach« (V. 1343-1345; ›Der hochadelige Ritter begrüßte mich, sobald er mich erblickt hatte, in heidnischer Sprache‹). Dass ein Heide ›heidnisch‹ spricht, ist wohl kein Scherz (vergleichbar unserem »Sprechen Sie ausländisch?«). Auch von der gelehrten Cundrîe heißt es bei Wolfram, sie sei polyglott gewesen: »alle sprâche si wol sprach, / latîn, heidensch, franzoys« (Parzival, V. 312,20f.; Nellmann 2006, 518). Es wäre sicher nicht falsch, an solchen Stellen mhd. »heidensch« als ›arabisch‹ zu übersetzen (vgl. auch Parzival V. 453,13; Nellmann 2006, 750: »in heidenischer schrifte«), doch ginge dabei das Unspezifische, das dieser Benennung des Fremden anhaftet, verloren. Entscheidend ist, dass die Lösung dieses Kommunikationsproblems vom Heiden ausgeht: »doch dûhte in des, er sach vil wol, / sam die wîsen dicke tuont, / daz ich die sprâche niht verstuont« (V. 1348-1350; ›Er erkannte, wie das bei weisen Menschen der Fall ist, dass ich die Sprache nicht verstand‹). Und er schlägt Französisch zur Verständigung vor: »dô sprach der fürste kurtoys: / ›saget an, verstât ir franzoys?‹ / ›jâ, herre, mir ist wol erkant / beidiu sprâch und ouch daz lant.‹ / ›sô sint gesalûiert mir‹.« (V. 1352-1355; »Da sagte der Fürst höflich: ›Versteht Ihr vielleicht Französisch?‹ ›Ja, mein Herr, ich kenne sowohl die Sprache als auch das Land.‹ ›Dann sage ich Euch hiermit: salut!‹«) Während der deutsche Kaufmann gar nicht erst auf die Idee gekommen war, sich für eine Handelsreise in nichteuropäische Länder sprachlich vorzubereiten, vielmehr auf den unwahrscheinlichen Fall angewiesen ist, dass man dort Französisch als Fremdsprache beherrscht,5 beschämt der einheimische Mann, der sein Land gar nicht verlässt, den Christen mit der Kenntnis eben dieser europäischen Sprache. Nun parliert man weiter in ›französelndem‹ Mittelhochdeutsch. Sie stellen sich wechselseitig vor – Gerhard als ein christlicher Kaufmann, der nichts anderes im Sinn hat, als die Märkte des Heidentums zu erschließen; und der vornehme und gebildete Heide erweist sich als der örtliche Burggraf, ein Lehnsmann des Königs von Marokko, mit dem schönen Fantasienamen Stranmûr von Castelgunt (vgl. V. 1897). Die beiden Männer freunden sich an, wechseln bald vom Siezen zum Duzen (V. 1480), und Gerhard zeigt Stranmûr seinen ganzen Kaufmannsschatz. Stranmûr ist begeistert und bietet ihm ein Geschäft an: Er will das ganze Sortiment komplett gegen eine Ware tauschen, die sich auch Gerhard genau anschauen dürfe.
An dieser Stelle scheint das sorgfältig aufgebaute Bild vom ›edeln Heiden‹ zu zerbrechen. Denn die Schatzkammer, in die Gerhard geführt zu werden glaubt, erweist sich als ein Gefängnis, in dem christliche Reisende seit einem Jahr mit schweren Fesseln gefangen liegen. Eine wunderschöne junge Dame ist offensichtlich ihre Herrin. Sie gefangen zu sehen, ruft das besondere Mitleid Gerhards hervor. Stranmûr bietet ihm die Gefangenen zum Kauf an und preist dies als ein lohnenswertes Geschäft. Zu diesem Zweck erzählt er die Geschichte der Gefangenen: Es handele sich bei den Männern um Adlige aus England, die gemeinsam mit ihrem jungen König Willehalm, William, in Norwegen waren, von wo der König seine Braut, die Tochter des Königs Reinmund von Norwegen, mitsamt ihrem weiblichem Gefolge nach England heimholen wollte. Und wie in dieser Art von Literatur üblich, war es wieder ein Seesturm, der die geplante Reiseroute buchstäblich durcheinander wirbelte. Der Bräutigam ist nun verschollen, aber die königliche Braut sitzt mit ihren Damen nun ebenfalls als menschliches Strandgut in Stranmûrs Gewahrsam. Er rechtfertigt dies übrigens formalrechtlich: Da ihm sein Lehnsherr das vollständige Strandrecht zugesichert habe, seien auch gestrandete Schiffbrüchige, nicht nur deren Besitz, sein persönliches Eigentum. Da es noch kein Völkerrecht gibt, kann man seine Freiheit verlieren, nur weil man sich aus dem sicheren Schutz der Verwandten und Lehnsleute (»mâge und man«) fortbegeben hat. Stranmûr sagt nüchtern: »des wilden wâges ünde / und diu vil grôz unkünde / hât in mînen banden sie / verborgen von ir mâgen hie« (V. 1781-1784; ›Das ungestüme Meer und eine große Unkenntnis hält sie hier in meinen Fesseln vor ihren Verwandten verborgen‹). Dies wäre das einzige Risiko, dass die Verwandten herausbekommen, wo die Gefangenen sind, und dann sein Land kriegerisch angreifen, um die Gefangenen zu befreien; doch dieses Risiko hält Stranmûr für gering. Der freundliche und weltgewandte Heide hat offenbar die Ritter und Damen im Gefängnis als menschliche Ware zwischengelagert, um sie bei passender Gelegenheit günstig veräußern zu können. Gerhards riesiger Kaufmannsschatz scheint ihm nun ein angemessener Preis dafür zu sein. Der deutsche Kaufmann solle die Gefangenen dem englischen König Willehalm oder dem norwegischen König Reinmund zum Auslösen anbieten, die ihm bestimmt das Doppelte des Kaufpreises ersetzen würden. Ist das nun die Kehrseite der fortgeschrittenen Ökonomie, dass sie vor nichts halt macht, nicht einmal vor Menschenhandel? Oder stehen hier Berichte von arabischen Sklavenhändlern im Hintergrund, die ins Abendland gedrungen waren und das Bild des Orients lange mitbestimmten? Zudem sind Fälle von Gefangennahme zum Zweck der Lösegelderpressung im Mittelalter auf muslimischer wie auf christlicher Seite vielfach nachweisbar (Zöller 1993, 299). Doch weit wichtiger ist diese Konstellation als extreme Herausforderung für die Gewissensentscheidung Gerhards, wie er sich verhalten solle, denn klare Regeln gibt es dafür nicht. Er muss abwägen. Trotz der Gewinn verheißenden Worte Stranmûrs erscheint es ihm als zu großes Risiko, sein ganzes Vermögen hinzugeben auf die bloße Vermutung hin, er könne dafür jemals wieder etwas zurückbekommen (»daz ich gæbe sô grôz guot / niht wan umb ein blôzen wân«; V. 1796f.). Als Geschäft ist das für ihn inakzeptabel. Aber es könnte sein, dass Gott einen Loskauf als gutes Werk von ihm verlange, als Almosen (»ob ich lôste sî durch got, / ob das wære sîn gebot«, V. 1815f.). Gerhard bittet sich eine Nacht Bedenkzeit aus, eine Nacht des Betens, in der ihm – als Spiegelung der Rahmengeschichte von Kaiser Otto – ebenfalls ein Engel erscheint, der ihm entsprechende Belehrung über gute Werke gibt. Daraufhin entscheidet er sich: Er opfert seinen Besitz, um die Gefangenen zu befreien. Nun kann er sich mit den Freigekauften auf den Nachhauseweg machen, nach zwölf Tagen trennen sich beide Schiffe. Auf dem fremden werden die Engländer in ihre Heimat geschickt. Auf seinem eigenen Schiff nimmt Gerhard die Königstochter und ihre Damen mit nach Köln. Die weitere Handlung ist anrührend, wenn auch für die Frage nach dem Kulturkontakt mit Heiden nicht weiter von Belang: Auf der Feier der Hochzeit der Königstocher mit Gerhards Sohn taucht kurz vor Beginn der Brautnacht, also im allerletzten Augenblick, der verschollen geglaubte William von England wieder auf. Nun hat die Prinzessin zwei Bräutigame. Gerhard stellt erneut das Attribut, der ›gute‹ zu sein, unter Beweis, indem er seinen Sohn dazu bringt, auf die Braut zu verzichten. So kann das neue Königspaar von England nach vielen Komplikationen dennoch glücklich zusammen finden.
Das Bild der Heiden und der Heidenschaft im Guoten Gerhart des Rudolf von Ems ist erstaunlich differenziert. Selbstverständlich handelt es sich um einen Fantasie-Orient, was sich schon an den geografischen Unmöglichkeiten der Reiseroute zeigt. Es geht nicht darum, anderen Ländern, Kulturen und Religionen gerecht zu werden oder realistisches Wissen über sie zu vermitteln. Es wird vielmehr eine über weite Strecken spannende und auch rührende Geschichte erzählt, in welche Versatzstücke aus dem Wissen über die islamische Welt der Zeit ebenso eingebaut sind wie solche aus der Gattung des Minne- und Aventiure-Romans. Dabei fällt aber doch eine prinzipiell positive Bewertung der ›Heiden‹ auf. In mindestens drei interkulturellen Irritationen – hinsichtlich der Wirtschaft, der Umgangsformen und der sprachlichen Weltläufigkeit – erweisen sie sich als den Christen überlegen und sind für sie vorbildhaft. Nur im Blick auf die ethische Begrenzung des ökonomischen Kalküls fehlt mit der christlichen Botschaft ein religiöses Korrektiv. Damit steht der Vorrang des Christentums vor dem Islam außer Frage. Von ›Toleranz‹ sollte man deshalb nicht im strengen Sinne der Aufklärung sprechen, und Parallelisierungen vom gutem Gerhard Rudolfs mit dem weisen Nathan Lessings (vgl. Kozo 2008) stoßen hier an ihre Grenzen. Und dennoch kann man es nicht deutlich genug sagen: Mitten im Zeitalter der Kreuzzüge und ihrer Aggressivität gegen das religiös und kulturell Andere macht Rudolfs Protagonist nicht die leiseste Andeutung einer Missionierungsabsicht. Das hängt gewiss zusammen mit dem von der christlichen Theologie so heftig bekämpften Kaufmannsgeist, in dem Menschen vor allem als Kunden und Geschäftspartner wahrgenommen werden. Die Konsequenz davon ist: Heiden dürfen Heiden bleiben. Und das Fremde wird als bereichernde Ergänzung zum Eigenen akzeptiert, nicht prinzipiell als Bedrohung abgelehnt. Gott bestätigt dies durch seinen Engel, indem er den Kaufmann Gerhard zu den Heiligen zählt. Damit zeigt der Guote Gêrhart am Beispiel des Fernhandels Modelle interkultureller Begegnung auf, die mittelalterliche Christen in ihrem Verhältnis zum Islam und zu den Muslimen aufgeschlossener und damit letztlich doch toleranter machen konnten. Leider haben sich nur relativ wenige Zeitgenossen Rudolfs darauf eingelassen. Das könnte und sollte heute anders sein.
1 Verszitate im Text nach Asher 1989.
2 Zum Vergleich: Rudolfs berühmte »Weltchronik« ist in weit mehr als 100 Handschriften aus dem Mittelalter und vielen späteren Textzeugen aus der frühen Neuzeit erhalten.
3 Zur schwierigen Gattungsfrage vgl. zuletzt Speckenbach 2005. Zu möglichen Anregungen aus der jüdischen und aus der christlichen Exempelliteratur vgl. Ertzdorff 1967,160-192.
4 Vgl. V. 1194-1199: »mit mînem guote ich kêrte / hin über mer gên Riuzen, / ze Liflant und ze Priuzen, / dâ ich vil manigen zobel vant. / von dannen fuor ich gên Sarant, / ze Damascô, ze Ninivê.« Dazu Zöller 1993, 285-298.
5 Nach Glück (2002, 71) ist es »kaum anzunehmen, daß im islamischen Machtbereich zu Beginn des 13. Jh. in nennenswertem Umfang Französisch gelernt worden ist.« Er vermutet, dass »Rudolf von Ems hier eine europäische Erfahrung in die exotische islamische Umgebung projiziert: In Westeuropa war das Französische in dieser Zeit im Adel in gewissem Umfang als Verständigungssprache brauchbar, anstelle des Lateinischen, das die Kleriker als lingua franca verwendeten.«
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