Unmittelbar nach der multiplen Katastrophe in Fukushima (»Glücksinsel«) im März 2011 (Tōhoku-Erdbeben, Tsunami, Daiichi-Reaktorunfälle) hatten die Organisatoren des in Kyōto geplanten Kolloquiums der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik (GiG) im Benehmen mit dem GiG-Vorstand beschlossen, das Treffen zeitlich zu verschieben. Ein Jahr nach der Katastrophe fand es jedoch in Zusammenarbeit mit der Forschungsgesellschaft für interkulturelle Phänomenologie und mit der Gesellschaft zur Förderung der Germanistik in Japan e.V., unterstützt von der Yanmar Co. Ltd. und vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), vom 12. bis 15. März 2012 an der renommierten Ritsumeikan-Universität zu Kyōto statt. Der international bekannte Goethe-Forscher (und Präsident der Japanischen Goethe-Gesellschaft, u.a. auch Mitglied des GiG-Vorstands) Yoshito Takahashi, tatkräftig unterstützt von seinem Assistenten, dem jungen Nachwuchswissenschaftler Yuho Hisayama, hatten eingeladen, sich aus der interkulturellen Perspektive verschiedener Teilfächer der Germanistik und ihrer Nachbardisziplinen Gedanken zu machen zum Thema Orient im Okzident, Okzident im Orient.
Wie es einem Goethe-Spezialisten geziemt, stellte der Initiator das Thema mit einem berühmten Zitat aus dem West-östlichen Divan (1819) vor: »Dieses Baumes Blatt, der von Osten / Meinem Garten anvertraut« – mit diesen Worten beginnt das Gedicht Gin(k)go Biloba, in dem es weiter heißt: »Giebt geheimen Sinn zu kosten, / Wie’s den Wissenden erbaut.«1 Das Ginkgo-Blatt dient dem Dichter hier als Symbol dafür, dass Orient und Okzident sowohl Universalität als auch Diversität gleichzeitig in sich tragen können, was im Gedicht dann auf folgende Weise verdeutlicht wird:
Ist es Ein lebendig Wesen
Das sich in sich selbst getrennt
Sind es zwey, die sich erlesen,
Daß man sie als Eines kennt […].
Einem heutigen Leser, dem die vielfach problematisierte Asymmetrie des historisch konstruierten ›Orientalismus‹ (Edward W. Said) und ›Okzidentalismus‹ (Buruma/Margalit) bekannt ist, mag die goethesche Vorstellung einer idealen Koexistenz zweier Kulturkreise, zumindest auf den ersten Blick, immer noch als wenig realistisch erscheinen.2 Die programmatische Gegenüberstellung von Orient und Okzident hat vor allem seit der ›Entdeckung des Ostens‹ im 17. und 18. Jahrhundert in der Ideengeschichte Europas sowohl kulturhistorisch als auch politisch und im Hinblick auf die Religion(en) eine bedeutsame Rolle gespielt und dabei jeweils ein mehr oder weniger unausgewogenes Fremdbild evoziert, in dem das Wort ›Okzident‹ fast immer als ein Synonym für ›den Westen‹ (oder für die europäischen Länder) figuriert, während das Wort ›Orient‹ zwar früher einmal durchaus ›den Osten‹ bezeichnete, sich in seiner heutigen Bedeutung aber eigentlich nur auf den ›Krisenbogen‹ der vorder- und mittelasiatischen Länder bezieht.
Hier jedoch war ›Orient‹ im weitesten, im ursprünglichen Sinne gemeint als der von Europa aus gesehen geografische und kulturelle ›Osten‹ überhaupt. Beispiele dafür gibt es zuhauf: Schon die Franziskaner und Jesuiten haben die ›östlichen Völker‹ des heidnischen Orients zu missionieren und ihnen das Christentum als einzig wahre Religion zu vermitteln versucht. Hegel war sich (in seiner Vorlesung über die Geschichte der Philosophie) mit Blick auf den Orient völlig sicher, dass dort »kein philosophisches Erkennen stattfinden« könne. Noch zugespitzter klingt Rudyard Kiplings berühmtes (und folgenreiches) Diktum: »East is East, and West is West, and never the twain shall meet« (1889). Goethe seinerseits hat dann das eingangs zitierte Gedicht bekanntlich so fortgesetzt:
Solche Frage zu erwidern
Fand ich wohl den rechten Sinn
Fühlst du nicht an meinen Liedern
Daß ich Eins und doppelt bin […].
Dieses ›doppelte Sein‹ ist hier eher als eine Hoffnung oder Herausforderung zu verstehen. In diesem Sinne sollte die Tagung in Kyōto die kulturgeschichtlich erwachsenen Differenzen und etablierten Differenzierungen zwischen Orient und Okzident thematisieren, problematisieren, diskutieren, d.h. im Sinne einer kritischen Xenologie die verschiedenen Erscheinungsformen von Fremdheit zwischen Ost und West untersuchen, wie sie sich im direkten oder technisch vermittelten sprachlichen Kontakt, in literarischen Texten, in audiovisuellen Medien wie Film oder Fernsehserien äußern. Es sollte z.B. geprüft werden, wie, wo genau und zu welchem Ende in den kulturell geprägten Formen der ›Repräsentation‹ von ›Orient‹ und ›Okzident‹ die Grenze zwischen ›Ost‹ und ›West‹ bzw. ›fremd‹ und ›eigen‹ markiert wird und welche Distanz, aber auch mutuelle Anerkennung zwischen beiden Kulturkreisen herrscht.
Während auf der einen Seite die westlichen den östlichen Kulturen entgegengesetzt, ihre Differenzen und Distanzen exponiert werden, wird zugleich beobachtet und beschrieben, wie die ›moderne Welt‹ durch die vom Westen soziokulturell inaugurierte und technologisch induzierte Globalisierung ihre kulturelle Mannigfaltigkeit verliert und immer uniformer wird. Schon im 19. Jahrhundert hatte die militärische, medizinische und technologische Überlegenheit des Westens dessen Hegemonialität begründet. In den letzten Jahrzehnten hat die rasante Entwicklung der Informatik und die technisch-ökonomische Vernetzung der ›Cyber-Welt‹ entscheidende Globalisierungsschübe bewirkt. Der von Hochtechnologie und Ökonomisierungsimperativen bestimmte Charakter unserer Zivilisation ist heute ein wesentlicher Impetus der Moderne – mit positiven wie negativen Folgen (siehe die Nuklear-Katastrophe in Fukushima).
Vor diesem ebenso historisch vertieften wie aktuellen Hintergrund entfaltete das GiG-Kolloquium in Kyōto sein Thema in drei Schwerpunkten: 1. Das Bild des Orients im Okzident. 2. Das Bild des Okzidents im Orient. 3. Die Folgen der wissenschaftlich-technologischen Entwicklung für die Objektbestimmung der Textwissenschaften.
Unter 1. sollten nach den Vorstellungen der Veranstalter z.B. nicht nur Texte wie die von dem persischen Dichter Hafis inspirierte Gedichtsammlung in
Goethes West-östlichem Divan behandelt werden, sondern auch das China-, Indien- oder Islam-Bild in der westlichen Literatur, die Entstehung der Weltatlanten, die Chinoiserien des 17. und 18. Jahrhunderts und der Japonismus im 19. Jahrhundert, der explizite und implizite ›Orientalismus‹ in der deutschsprachigen Literatur, die Rezeption arabischer und chinesischer Schriftzeichen und Reizwörter in Erzeugnissen der westlichen Kultur und vieles mehr.
Umgekehrt sollten unter 2. z.B. die Formen der Einführung ›westlicher‹ Kultur und Zivilisation in politische, wirtschaftliche, akademische oder medizinische Domänen innerhalb des ›östlichen‹ Kulturraumes thematisiert werden, die Rezeption von deutschsprachiger Literatur im arabischen und asiatischen Sprachraum, die Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Übersetzung aus dem Deutschen in die Sprachen des ›Ostens‹ und dergleichen.
Demgegenüber versprachen sich die Organisatoren unter 3. eine Auseinandersetzung etwa mit den utopisch-dystopischen Zukunftsbildern im Zeitalter der Technisierung und deren Versprachlichung (bzw. deren sprachliche Folgen), mit den durch die Entwicklung der modernen Technologie wesentlich veränderten Kriegs- bzw. Katastrophenszenarien in Texten und Filmen (Science Fiction), was z.T. auch in neuen Genres seinen Niederschlag gefunden hat wie der literarisch thematisierten bzw. problematisierten (Natur-)Wissenschaft (Science-in-fiction) oder in den mannigfachen Formen der kritische Aufnahme von Fragmenten ›okzidentalischer‹ Zivilisation in der ›orientalischen‹ modernen Geistesgeschichte. In der Tagungspraxis ließ sich diese saubere Gliederung dann leider nicht ganz verwirklichen, weshalb die Beiträge in zwei parallel geführten, aber nicht immer inhaltlich distinkten Strängen gereiht wurden (einige wenige Beiträge zur dritten Sektion schließen sich an die zweite an).
Nach der Begrüßung durch den Gastgeber Yoshito Takahashi und einem Grußwort des Dekans der Graduate School of Letters der Ritsumeikan-Universität Toru Tani sowie einem östlich einstimmenden Koto-Konzert (Koto ist ein traditionelles japanisches Saiteninstrument) eröffnete der Präsident der GiG Ernest W.B. Hess-Lüttich den wissenschaftlichen Teil der Tagung. Jeder Tag des Kolloquiums wurde mit einem Plenarvortrag eingeleitet: Der Ertrag dieser umfangreicheren Referate sei hier zunächst kurz resümiert, bevor den Beiträgen zu den beiden parallel tagenden Sektionen (in denen der Berichterstatter mangels der den Engeln vorbehaltenen Fähigkeit zur Bilokalität nicht gleichzeitig anwesend sein konnte) in leider nur summarischer Skizze wenigstens Erwähnung getan sei.3
BERND NEUMANN (Kyōto) würdigte in seinem Eröffnungsvortrag über Philipp Franz von Siebold als Mittler zwischen Japan und Deutschland die Verdienste dieses bayrischen Naturforschers (1796-1866), der als junger Mann in den 1820er Jahren als Arzt und Sammler lange in Japan gelebt hatte und bis heute nicht nur als bedeutender Zeuge der Edo-Zeit, sondern auch als früher Wegbereiter der Japanologie gilt (tatsächlich bot ihm die Universität Bonn den Lehrstuhl für dieses Fach in Europa an, aber Siebold schlug das Angebot aus, weil er von der Erlösen aus dem Verkauf seiner Sammlungen bequem leben konnte und sich lieber voll auf seine Forschung konzentrieren wollte).
Das Thema des zweiten Plenarvortrags von ELMAR HOLENSTEIN (Zürich/Yokohama) lautete Othering. Gegen die Reduktion von Anderen (Orientalen im Besonderen) auf ihre Andersheit (das Orientalische an ihnen). »Othering« ist heute ein in den Kulturwissenschaften geläufiger Ausdruck für stereotype Askriptionen von ›Andersheit‹ gegenüber Menschen mit einer fremden Kultur. Holenstein interessierten vor allem zwei Fragen: 1. Unter welchen Bedingungen wäre es möglich, dass Kulturen unvergleichbar voneinander verschieden sind? Sie wären es, meinte er, wenn die Fundamentalisten unter den holistischen Hermeneutikern zu Recht annähmen, dass sich jedes geschichtlich und geografisch einzigartige Faktum einer Kultur auf alles in ihr und die Kultur als Ganzes auswirken würde. Es gebe kulturelle Erfahrungen, speziell frühkindliche, die offenkundig die seelische Verfassung der Menschen für immer zu prägen vermögen, aber Ihr Wirkungsradius sei begrenzt und willentlich einzuschränken (überdies führten derlei Erfahrungen intrakulturell zu ebenso unüberbrückbaren Verständnisproblemen wie interkulturell). 2. Unter welchen Bedingungen bleibt die Reduktion von Menschen aus anderen Kulturen auf ihre Andersheit natürlicherweise aus?
Eine Antwort auf diese Frage suchte Holenstein nicht nur durch einen Blick in ausgewählte literarische Texte von Lord Kipling (für Südasien), von Saint-Exupéry (für Nordafrika), von Goethe (für den ›Nahen‹ und den ›Fernsten Osten‹), sondern auch in aktuelle Studien zur empirischen Psychologie, in denen sich die Ausrichtung auf die menschliche Fähigkeit zu Shared intentions als der Fixierung auf Alterität vieler interkulturell forschender Geisteswissenschaftler diametral entgegengesetzt erweise. Sein fulminanter Vortrag schloss mit einer komparativ-kontrastierenden Parallelisierung des (für das GiG-Kolloquium in Kyōto leitenden) Goethe-Gedichtes Gin(k)go biloba (s.o.) mit der Inschrift des Kaisers Qianlong zu seinem Doppelbildnis Shi yi shi er (»Einer und/oder zwei«).
Unter dem Titel Oskar Loerke und Emil Orlik. Orientalische Wege zum Universalismus suchte WALTER GEBHARD (Bayreuth) am Beispiel der befreundeten Künstler Ähnlichkeiten und Unterschiede der produktiven Aneignung von ›Orient‹ aufzuzeigen. Während Orliks Japanreise (1900/01) danach maßgeblich seine bildnerische Arbeit bestimme, setze sich Loerke ab 1903 dichterisch mit dem Buddhismus auseinander, der ihm in der Neu-Übersetzung des Pali-Kanons durch Karl Eugen Neumann zugänglich wurde. Gebhard erkennt in ihrer Arbeit den Versuch einer Integration von Fremd- und Eigenkultur, eine Abkehr vom Eurozentrismus und eine transnationale, gegenkulturalistische, überchristliche Wendung. Sein Interesse galt der Frage, wie sich die (naturphilosophisch begründeten) poetisch vermittelten Überschreitungen von Traditionen zu den bildnerischen Aktualisierungen verhalten, welche existenziellen Werte bei den Bewohnern des »Berliner Lebensapparates« (Orlik) in der »freien Wüste« des Südens (Loerke) gesucht werden? Gebhard sah die Anziehungskraft des ›Morgenlandes‹ auf ästhetischer wie ontologischer Ebene vor allem in der Qualität des raumgebenden Nebeneinanders, einer damit bewirkten Enträumlichung und kosmisch-visionären Entzeitlichung. Loerkes Gedankenwelt und Diktion fuße auf Herderschen und Goetheschen Vorgaben, aber seine anti-dogmatische und anti-aktivistische Einstellung sei durch eine Auseinandersetzung mit abstraktivem metropolitischen Expressionismus hindurchgegangen. Der ›Osten‹ imponiere eben dadurch, dass mit ihm geografische ›Orientierungen‹ überholt werden könnten mit der buddhistischen Kritik ›westlicher‹ Selbstbezogenheit (asmi-māna: Karl Eugen Neumanns »Ich-Dünkel«) eine Überwindung kultureller Engführungen und Einseitigkeiten möglich erscheine.
In seinem (inhaltlich der dritten Sektion zugerechneten) Schlussvortrag zum Thema Nach Fukushima und Durban. West-Ost und Nord-Süd als Herausforderung interkultureller Umwelt- und Entwicklungskommunikation entwarf ERNEST W.B. HESS-LÜTTICH (Bern/Stellenbosch) aus aktuellem Anlass der Umweltkatastrophe, die zur Verschiebung des Kolloquiums geführt hatte, und des kurz zuvor zu Ende gegangenen UNO-Umweltgipfels in Südafrika eine Art ökolinguistisches Programm zur Einführung in das noch junge Forschungsfeld im Bereich der sog. Environmental Discourse Studies (Umwelt- und Entwicklungskommunikation).4 Hierbei gehe es um die systematische Verbindung von Ergebnissen der Erforschung interkultureller, institutioneller und interpersoneller Kommunikation zum Zwecke der nachhaltigen Vermittlung technischen, umwelt- und gesundheitsrelevanten Wissens durch kontextspezifisch geeignete Medien. Organisationen wie Amnesty International oder Greenpeace, argumentierte der Referent, planten ihre Aufklärungskampagnen in den Medien heute supranational, aber das in den Industriestaaten damit für Fragen der Rechtssicherheit (als Bedingung wirtschaftlicher Investitionen) und nachhaltiger Ressourcenbewirtschaftung sensibilisierte öffentliche Bewusstsein nütze wenig, wenn es in Ländern der Dritten Welt aufgrund mangelnden interkulturellen Wissens nicht zu vermitteln sei. Er erinnerte daran, dass Krisen und Konflikte dort ihre Ursachen häufig in einem schwer zu entwirrenden Geflecht von Problemen ökologischer Interessen und interkultureller Verständigung haben, was mittlerweile Gegenstand interdisziplinär ausgreifender Forschung sei. In seinem engagierten Beitrag suchte der GiG-Präsident zum Abschluss der Tagung zu zeigen, wie im Zeichen globaler Umweltprobleme (China, Indien) der Nord-Süd-Dialog sich um einen (kontroversen) West-Ost-Dialog zu ergänzen beginne (Stichwort: Kyōto-Protokoll). Methodisch kombinierte er dabei Verfahren der Discourse Analysis und Cultural Studies und wandte sie an auf Instruktionsdiskurse in interkulturellen institutionellen Settings. Die Verbindung von Kommunikations- und Umweltwissenschaften, von Kultur- und Technikwissenschaften lasse bereits heute das Potential zumindest erahnen, das daraus (exemplarisch) für die motivierende Verbindung der Erkenntnisfelder Medienkommunikation und Interkulturelle Kommunikation auch im Rahmen der interkulturellen Germanistik (und des DaF-Unterrichts) erwachsen könne (nicht zuletzt im Hinblick auf die Bildung und Ausbildung künftiger Studentengenerationen).
Die erste Sektion, anfangs geleitet vom seinerzeitigen Präsidenten des Japanischen Germanistenverbandes Ryozo Maeda (Tokio), wurde eröffnet von NORBERT MECKLENBURG (Köln), der sich in seinem Referat unter dem Titel Goethes letzter, fernster, nächster Orient dessen Gedichtzyklus Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten und den Bearbeitungen chinesischer Gedichte in dem Aufsatz über Chinesisches (jeweils 1827) widmete und darin die These entwickelte, dass dieser fernste Orient in gewissem Sinne für Goethe zugleich der nächste war, denn während seine Erkundungen des islamischen und indischen Orients um das Spannungsfeld Religion/Dichtung kreisten, folgte diejenige Chinas der Intuition einer Verwandtschaft von chinesischem und eigenem Denken über Natur, mit dem sich der alte Goethe in der eigenen Kultur fremd fühlte. – Im Gegensatz zu Goethe (oder Voltaire) habe Karoline von Günderrode in ihrem Drama Mahomed, der Prophet von Mekka und in ihrem Gedicht Mahomets Traum in der Wüste ein vorteilhafteres Bild des Propheten skizziert, meinte ABDERRAZZAQ MSELLEK (Fes) und suchte auf dem Boden interkultureller Diskursanalyse die Strukturen und Repräsentationen des islamischen Orients in diesen beiden Texten herauszuarbeiten. – ARNE KLAWITTER (Kyōto) ging es in seinem Vortrag über Das Reizende und das Mannigfaltige um die Einführung des Konzepts des chinesischen Gartens in die deutsche Ästhetik und Literatur durch den Dichter und Kunstgelehrten Ludwig August Unzer, der mit seiner Abhandlung Über die chinesischen Gärten (1773) versuchte, die (in England bereits vor allem durch William Chambers verbreitete) Vorstellung chinesischer Gärten auch in Deutschland bekanntzumachen.
MICHAEL OSTHEIMER (Chemnitz) stellte unter dem Titel Die Fremde und der Tod zwei Beispiele des zeitgenössischen China-Romans vor, nämlich 1979 von Christian Kracht und Die fünf Farben Schwarz von Michael Roes, die er als interkulturelle Anti-Bildungsromane las. – THOMAS SCHWARZ (Berlin, vormals New Delhi) erinnerte an eine Rebellion im fernen Orient, indem er anhand von Romanen wie Klaus Modicks Das Grau der Karolinen (1986), Gerhard Grümmers Ponape im Aufstand (1991) und Die Missionarin von Sibylle Knauss (1997) die koloniale Mythologie der deutschen Strafexpedition gegen die Insel Ponape 1911 zu rekonstruieren suchte, mit der die okzidentale Kolonialmacht in den orientalistischen Berichten über den Aufstand ihre Überlegenheit gegenüber den ›unedlen, wilden Barbaren‹ der Südsee inszenierte, während in Wahrheit die staatsrassistische Biopolitik die in Europa geltenden Rechtsgrundsätze außer Kraft setzte. – Die sog. Sprachknaben schlugen für TURGUT GÜMÜŞOĞLU (Istanbul) »die wahre Brücke zwischen Orient und Okzident«, weil sie als Dolmetscher und Übersetzer – ausgebildet an der 1754 von Maria Theresia gegründeten »Kaiserlich-Königlichen Akademie für orientalische Sprachen« zu Wien, der »Ecole Speciale des Langues Orientales« in Paris (gegr. 1795) oder der »Deutschen Morgenländischen Gesellschaft« in Leipzig (gegr. 1845) – zugleich als multilinguale Vermittler und Kulturträger das wechselseitige Verständnis beförderten, wie der Referent am Beispiel des ›Sprachknaben‹ Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall (1774–1856) zu veranschaulichen wusste, der mit seinen Übersetzungen orientalischer Literatur heute als Begründer der wissenschaftlichen Osmanistik gilt.
ÖZLEM FIRTINA (Ankara) interpretierte Das Okzidentbild in Ilse Aichingers Hörspiel »Knöpfe« von 1953 mit besonderer Berücksichtigung der Funktion der englischen Eigennamen. – Am Beispiel von Ilija Trojanows Erzählung An den inneren Ufern Indiens (2003) fragte sich MEHER BHOOT (Mumbai), inwieweit das ›wahre Reisen‹ Fremde in Heimat zu verwandeln vermöge. – RIHAM TAHOUN (Kairo) verglich die Wahrnehmung von Orient und Okzident in den Romanen Die amerikanische Enkelin (2008) von Inaam Kachachi und Gott im Reiskorn (2010) von Mariam Kühsel-Hussaini mit dem Ziel, die darin von den selbst interkulturellen Autorinnen dargestellten Erscheinungsformen von Fremdheit bzw. Vertrautheit von Orient und Okzident einander gegenüber zu stellen.
KATE ROY (Liverpool) konnte mit ihrem Beitrag über Manipulation der Differenz oder ein ›versteinerter Verstand‹? daran anknüpfen, als sie die 1886 veröffentlichten Memoiren einer arabischen Prinzessin von Emily Ruete dem Familienroman Gott im Reiskorn von Mariam Kühsel-Hussaini gegenüberstellte und deren ganz unterschiedliche Schreibstile als Inversion der vertrauten Wahrnehmung von (sprachlicher) ›Verfremdung‹ und ›Vereinnahmung‹ untersuchte. – Der italienische Philosoph SALVATORE GIAMMUSSO (Neapel) rekonstruierte anhand des Begriffs ›Gelassenheit‹ die interkulturelle Phänomenologie der Subjektivität bei Otto F. Bollnow. – ULRICH H. LANGANKE (Budapest) und sein Team diskutierten Reziproke interkulturelle Dimensionen der Einführung, Implementierung und Adaptierung japanischer Modelle zu Unternehmensführung und Produktionsablauf (Lean-Management, 5S, Kaizen, KanBan, Mulda, TQM) in Produktionsunternehmen mit westlicher Unternehmenskultur.
STEFANIE OHNESORG (Knoxville, TN) betrachtete die Figur ›des Beduinen‹ als Projektionsfläche weiblicher Begierden und spürt den Männlichkeitsphantasien in Orient-Reiseberichten von Frauen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart nach, wobei sie sich insbesondere konzentrierte auf Ida von Hahn-Hahns Orientalische Briefe (1844), weil ihre Darstellung ›des Beduinen‹ sich dort markant von allen anderen Männlichkeitskonzepten, die in diesem Text entworfen werden, abzuheben scheine. Eine soziohistorisch-interkulturell interessierte Analyse sollte erschließen, inwiefern aus Ängsten, Wünschen und Begierden, die sich in ihrer Darstellung ›des Beduinen‹ spiegeln, Rückschlüsse auf Ida von Hahn-Hahns Selbstverständnis als Frau und Europäerin gezogen werden können, und inwieweit sich heute die fortschreitende touristische Vereinnahmung ›des Anderen‹ zeitübergreifend als Projektionsfläche für Begierden, Wünsche und Hoffnungen reisender Europäerinnen in Ländern wie Tunesien, Jordanien, Ägypten usw. mit der in diesem Kontext entstandenen Variante des modernen Sex-Tourismus anzubieten scheint. – Ergänzend dazu untersuchte ANJA KATHARINA SEILER (Knoxville) Verkörperungen des Orients im ›weiblichen Wort‹ und stellte »alteritäre Körper(de-)konstruktionen« an ausgewählten Beispielen der Frauenreiseliteratur dar. Vor dem Hintergrund der in der interkulturellen Germanistik diskutierten Frage nach einer spezifisch weiblichen kulturellen Fremderfahrung des Orients zeigte sie Strukturanalogien tradierter stereotyper Orientbilder in Frauenreiseberichten von Ida Hahn-Hahn, Annemarie Schwarzenbach, Alma Johanna König und Isabelle Eberhardt auf, die von männlich-kolonialkulturellen und sexuellen Machtverhältnissen begründet seien. Im Vordergrund der Analyse standen dabei Körperbegegnungen in ›Kontaktzonen‹ (Marie Louise Pratt) wie dem Harem und dem Sklavenmarkt bei Hahn-Hahn, im subversiven ›Cross-Dressing‹ und der Ehe mit einem algerischen Soldaten bei Isabelle Eberhardt sowie dem menschenleeren Wüstenraum als Projektionsfläche für eigene Körperwahrnehmungen in Texten von Schwarzenbach.
MANAR OMAR (Kairo) verglich Weibliche Romanfiguren mit Kopftuch in säkularem Kontext in Romanen wie Orhan Pamuks Schnee (2002), Barbara Frischmuths Der Sommer, in dem Anna verschwunden war (2004), Leila Aboulelas Minaret (2005) oder Sonallah Ibrahims Amrikanli (2003) und stellte dabei die Funktion des islamischen Kopftuchs (Hijab) als Zeichen religiöser Selbstbestimmung über den eigenen Körper und als Kleiderkode der Identitätsbildung dem Ausdruck männlicher und sozialer Frauenunterdrückung und Rückständigkeit gegenüber. – In satirischen Texten – wie z.B. Die Chinesische Mauer (1910) oder Harakiri und Feuilleton (2012) – verspottete Karl Kraus mit sprachkritisch-spitzer Feder das klischeehafte Verhältnis von Orient und Okzident in den Feuilletons und Leitartikeln der zeitgenössischen Tageszeitungen. HANNO BIBER (Wien) interessierte dabei besonders, wie Kraus den besonderen Tonfall der Zeitungsfeuilletons im Kontext von in der Presse behandelten, kulturellen und politischen Fragestellungen kritisierte und die Verlogenheit der bürgerlichen Moral der Zeit in der Presse öffentlich verhandelten Fällen von »Sittlichkeit und Kriminalität« bloßlegte.
›Mythenfreiheit‹ und ›Zehn Ochsen-Bilder‹ lautete das Thema von VOLKER BEEH (Düsseldorf). Die Zehn Ochsen-Bilder (十牛図, jû-gyû-zu) ist ein kurzer aus dem chinesischen Zen-Buddhismus stammender Text mit Illustrationen, der in japanischen Zen-Klöstern noch heute als Lehrtext in Gebrauch ist. Die im achten Bild geforderte vollständige Bild(er)losigkeit erinnerte Beeh prima facie an die jüdisch-christliche Tradition vom alttestamentlichen ›Bilderverbot‹ in der jüdischen Religion bis zur Vorstellung eines ›entmythologisierten‹ Christentums à la Rudolf Bultmann im 20. Jahrhundert. Die Sprache freilich habe nie diesem Verbot unterlegen. Vielmehr müsse man sie aus semiotischen Überlegungen zu den Bildern gesellen. Demgegenüber verlangten die Zehn Ochsen-Bilder eine Freiheit von Bildern aller Art, auch von sprachlichen (buddhistisch gesprochen: Leerheit, Skt. śûnyatâ, sino-jap. 空, kû). In diesem Zusammenhang zitierte Beeh das Wort von Nâgârjuna in seiner kleinen Schrift Vigraha-vyâvartanî (»Streitabwehr«): »Ich habe keine Behauptung« und ging der Frage nach, wie das zu verstehen sei und wie man diese Befreiung erreiche.
MITSUHIRO ONISHI (Kyōto) problematisierte den Ausdruck der ›nackten Wirklichkeit‹ im Lichte der Philosophie von Nishida Kitarō (西田 幾多郎, 1870-1945), derzufolge wir eben nicht in der ›nackten Wirklichkeit‹, sondern in einer Welt ideell konstituierter Sinneinheiten lebten, den Onishi den ›strukturellen Horizont‹ nennt. Das Wissen im Okzident habe den Prozess, aus der nackten Wirklichkeit den ideellen strukturellen Horizont zu konstituieren, hoch geschätzt und versuche, ihn weiterzubilden. Das Wissen im Orient sei umgekehrt darauf gerichtet zu erklären, wie man den schon konstituierten strukturellen Horizont unbenutzt lassen und zur nackten Wirklichkeit zurückkommen könne, wofür das Bunraku-Theater und das buddhistische Sutra The Awakening of Faith ein klassisches Modell biete. Dem okzidentalischen Wissen als dem Wissen um die Differenzierung des Paradigmas stehe das orientalische Wissen als das Wissen um die Initialisierung des Paradigmas gegenüber (Die zehn Ochsen-Bilder).
PORNSAN WATANANGURA (Bangkok) interessierte sich für die Rezeption des Buddhismus in der deutschen Literatur und Musik der Frühmoderne, insbesondere in den Werken von Karl Gjellerup, Richard Wagner, Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse, Bertolt Brecht, Thomas Mann und August Strindberg (dort vermittelt über Schopenhauer und Nietzsche) und stellte zur Diskussion, inwieweit die Repräsentation des ›Orients‹ durch den Buddhismus für das Verständnis Europas als ›Okzident‹ maßgeblich werde und welche Distanz bzw. Anerkennung zwischen beiden Kulturkreisen herrsche.
Den angemessenen Bogen zum Auftakt der Sektion schlug dazu passend der schöne Schlussvortrag des Gastgebers YOSHITO TAKAHASHI (Kyōto) über Goethe und das »absolute Nichts«, in dem er dem ›asiatischen‹ Charakter Goethes (Friedrich Heer) genauer nachzuspüren strebte. Dieser habe in seinem Leben mehrere Male jenes ›absolute Nichts‹ erlebt, ein Kernbegriff des Zen-Buddhismus und der Philosophie von Nishida Kitarō, also einen seelischen Zustand, in dem man von allen irdischen Begierden oder Kümmernissen befreit sei. Als Beispiele führte Takahashi Goethes Krise nach dem Tod seiner Schwester Cornelia an, der ihn in tiefe Trauer stürzte. In seinem Inneren blieb nur noch das ›Nichts‹. Aber alsbald konnte er darin »die Idee des Reinen« (Tagebuch) oder den »Geist der Reinheit« (Brief) finden, worin Takahashi eine Affinität zum buddhistischen ›Nichts‹ vermutete. Oder das namenlose Leid und die Suche nach seelischer Ruhe in dem Gedicht Wandrers Nachtlied, bis er einen von irdischen Sorgen und Kümmernissen befreiten Zustand des ›Nichts‹ erreicht. Diese innere Ruhe findet Goethe in Italien wieder, als er sich am Ende seines Aufenthalts in Rom unter dem klaren, heiteren Himmel befreit von allen Sorgen fühlt. Er erlebt ein ›Nichts‹, das ihm ein Gefühl des höchsten Glücks verleiht, als ob er zum ›Augenblick‹ sagen wolle: »Verweile doch, du bist so schön!« Ein Moment, der jenem Zustand des ›absoluten Nichts‹ entspreche, der, buddhistisch formuliert, eine vollkommene Leere sei, aber zugleich auch Befreiung und Erfüllung.
Die zweite Sektion, anfangs geleitet von KAZUHIKO TAMURA (Kobe), wurde eröffnet von KISHIK LEE (Seoul), der ein ›Verdrehtes‹ Bild über die deutsche Wiedervereinigung in den südkoreanischen Zeitungen kritisierte, deren rechtes Spektrum nur die Kosten der koreanischen Wiedervereinigung auf der Grundlage der deutschen Erfahrung kalkulierten, während die linke Presse die ›Annexion‹ Ostdeutschlands beanstande. – JOACHIM WARMBOLD (Tel Aviv) erinnerte in seinem berührenden Vortrag … weil mir senen orientalim [weil wir Orientalen sind] an das jüdische Ghetto in Shanghai, das er als »eine Sonderform vom Okzident im Orient« vorstellte und – anhand einer Analyse des Dokumentarfilms Shanghai Ghetto von Dana Janklowicz-Mann und Amir Mann sowie zeitgenössischer Dokumente – die komplexen sozialen und interkulturellen Strukturen, die das Ghettoleben erforderte und förderte, zu beschreiben und zu bewerten unternahm. – Auf der Suche nach einem wissenschaftlich angemessenen Umgang mit interkulturellen Phänomenen befasste sich BEATRICE HOELLER (Heidelberg) am Beispiel der japanischen Kunstgeschichte des 15. Jahrhunderts mit den folgenden Fragen: 1. Wie können unterschiedliche soziale Strukturen analysiert werden, die zwar teilweise in ähnlichen oder gleichen Phänomenen resultieren, jedoch nicht erfolgreich mit einem auf Ja-/Nein-Antworten begrenzten elementar-logischen Denken untersucht werden können? 2. Wie lässt sich ein Abstand zum Untersuchungsgegenstand finden, der weder übergriffig noch zu distanziert ist? 3. Auf welche Weise kann die eigene Positionierung in der wissenschaftlichen Forschungslandschaft sinnvoll reflektiert und verdeutlicht werden?
In ihrem Vortrag über Verfremdung des Orients. Orientalisierung der Verfremdung behandelte ZEHRA İPŞIROĞLU (Essen) die Brecht-Rezeption in der Türkei, die der Entwicklung des türkischen Theaters insofern wichtige Impulse gegeben hatte, als Regisseure, Dramaturgen und Autoren in dem Fremden das Eigene zu entdecken begannen: So versuchte Haldun Taner etwa eine Synthese zu bilden zwischen westlich orientiertem Reflexionstheater und der östlichen Tradition des Volkstheaters. – SWATI ACHARYA (Pune) warf einen kritischen Blick auf Orientalische Kurtisanenbilder in der westlichen Literatur seit dem 17. Jahrhundert, in der sich viele Autoren auch aus orientalischen literarischen Quellen entnommenen Darstellungen von Bajaderen, Devadasis, Tempeltänzerinnen und eben Kurtisanen inspirieren ließen. Dabei interessierte die Referentin vor allem die Darstellung der Begegnungen europäischer männlicher Protagonisten mit diesen orientalischen Frauen(-figuren), die sich als eine Form kolonialer Fantasie erweise, wie sich an zahlreichen Beispielen (Goethes Bajadere, Flauberts Kurtisane Kuchuk Hanem, Wedekinds Das Sonnenspektrum, Feuchtwangers Nachdichtung des altindischen Dramas Vasantasena, Hesses Kamala in Siddhartha, Trojanows Kundalini in Weltensammler) zeigen lasse, die belegten, dass es sich bei diesen literarischen Darstellungen um eine europäische Motivtypologie handle, in der der literarische Orient-Diskurs des 19. Jahrhunderts seine Fortsetzung bis in die Gegenwart finde. – Aus umgekehrter Perspektive arbeitete NAHLA HUSSEIN (Kairo) auf der Grundlage der aktuellen Okzidentalismus-Forschung,5 Erscheinungsformen des Okzidentalismus in Tajjib Salichs Roman Zeit der Nordwanderung heraus, in dem der Protagonist zwiespältige Erfahrungen im Westen macht.
AOUSSINE SEDDIKI (Oran) erörterte die alte Frage der Möglichkeit einer Koran-Übersetzung und empfahl eine Gegenüberstellung von Original und Übertragung (wie die von Murad Wilfried Hofmann), weil so der Koran vor Veränderungen geschützt werde, denn keine Übersetzung könne je dem Arabischen entsprechen. – Ausgehend vom Ansatz der Histoire croisée (Bénédicte Zimmermann/Michael Werner) plädierte LACINA YÉO (Cocody-Abidjan) in seiner Reflexion über die Dreiecksbeziehungen zwischen »Okzident – Orient – Afrika« und vor dem Hintergrund vergleichender Erfahrungen mit deutschem (Post-)kolonialismus in Afrika und Asien für eine multiperspektivisch-kontrastive Aufarbeitung der deutschen Kolonialherrschaft in Afrika und Asien und deren Auswirkungen auf die heutigen triangulären Beziehungen. – Zur Reflexion über Fremdbild und Kulturkontakt im Reisebuch des Evliya Çelebi lud MERAL OZAN (Bolu) ein. Das zehnbändige Reisebuch Seyahatname des osmanischen Gesandten (1611–1683) enthalte reichhaltige Informationen über Traditionen, Normen und Regelungen des gesellschaftlichen Alltags am jeweiligen Ort, wobei er auch auf Kontrast und Widerspruch stoße, etwa im Umgang zwischen Mann und Frau.6
In ähnlicher Absicht verglich HEBATALLAH FATHY (Kairo) Die Reisebeschreibungen von Adam Olearius »Vermehrte newe Beschreibung der muscowitischen und persischen Reyse« (1656) und Rifaa El-Tahtawi »Ein Muslim entdeckt Europa« (1849). Während Olearius (1599–1671) in seinem Bericht eine ausführliche Beschreibung der russischen respektive persischen Sitten und Gebräuche aus europäischer Perspektive bietet, beschreibt El-Tahtawi (1801–1873) die westliche Kultur in Paris aus der Sicht eines arabischen Moslems, der sich vom französischen Bildungssystem Reformen in Ägypten erhoffte. – Anlässlich des Tagungsortes hatte sich WALDEMAR GAKAN (Opole) die Werke des zeitgenössischen japanischen Künstlers Shoichi Hasegawa angeschaut und darin Wechselwirkungen europäischer und japanischer Kultur entdeckt, etwa in der Synthese von fernöstlicher Kalligrafie, traditionellem Symbolismus der Formen und Farben und neuen westlichen Ausdrucksweisen. – Eine frühe Rezeption der psychoanalytischen Theorie Freuds in der japanischen Psychiatrie erkannte AYUMI MATSUYAMA (Kyōto) bei Kiyoyasu Marui, Professor für Medizin an der Kaiserlichen Tohoku-Universität Sendai. Seine 1935 erschienene Abhandlung Über den Introjektionsvorgang bei Melancholie weiche indes in einem interessanten Punkt von Freud ab, wie der Psychiater Takeo Doi später ermittelt habe, nämlich in der Japaner gegenüber Menschen aus dem Westen auszeichnenden Nachsichtigkeit als einem Grund für den Entwicklungsmangel des Über-Ichs.
Den Abschluss der zweiten Sektion bildete wieder ein Block von Beiträgen, die in der einen oder anderen Form auf Goethe Bezug nahmen. So verwies ALEYA KHATTAB (Kairo) in ihrem Vortrag über Faust und das Schicksal der ägyptischen Fellachen auf unterschiedliche literarische Konzepte bei der Bearbeitung des Faust-Stoffes im Westen und im Osten und bot mit dem Einakter Auf ein besseres Leben (1953) des ägyptischen Schriftstellers Taufik Al-Hakim (1898-1987) das Beispiel einer produktiven Rezeption des Faust in der arabischen Literatur und dessen Einbettung in den modernen arabisch-islamischen Kontext. – YEON-SOO KIM (Seoul) berichtete in seinem Referat Goethe im fernen Orient – der Fall Korea über das koreanische Phänomen eines ›Goethe-Booms‹ in der Zeit der japanischen Besetzung, als koreanische Philologen in Japan eine ›Überseeliteratur-Gruppe‹ gründeten (1926), die Zeitschrift Überseeliteratur herausgaben und westliche Literatur übersetzten, womit sie intendierten, im Kontext von Modernisierung, Emanzipation, sozialer Aufklärung auch die koreanische Sprache und Literatur selbst zu modernisieren und der ›Weltliteratur‹ anzunähern. Hierbei orientierten sie sich insbesondere an einer anti-kolonialistisch verstandenen Goethe-Lektüre. Insofern ist von Interesse, inwiefern sich die koreanische Goethe-Rezeption von der gleichzeitigen japanischen unterschied, welches Goethe-Bild von den Koreanern bevorzugt wurde, welche Rolle sein Konzept der ›Weltliteratur‹ bei der Modernisierungsbewegung der koreanischen Literatur spielte und welche (interkulturellen) Übersetzungsprobleme sich dabei ergaben. – DJAMEL EDDINE LACHACHI (Oran) verglich den Prolog im Himmel mit der zweiten Sure des Korans (in der gesagt wird, wie Gott Adam als Khalifa schuf, also als ›Nachfolger‹ oder ›Stellvertreter‹) und plädierte damit für eine Ergänzung der bisherigen Goethe-Forschung, in der die Szene bislang nur mit dem Buche Hiob der Bibel verglichen worden sei.
YUHO HISAYAMA (Kyōto) stellte zum Abschluss sein Projekt Ki, pneuma und Geist vor, in dem er begriffsgeschichtlich herauszuarbeiten suchte, dass es zwischen dem sino-japanischen Ausdruck ki und dem altgriechischen Pneuma insofern Ähnlichkeiten gebe, als sie nicht nur eine ähnliche lexikalische Bedeutung hätten (Hauch, leiser Wind), sondern zum einen jenes ›Prinzip des Lebens‹ bezeichneten, das sich zwischen Individuen atmosphärisch (als Phänomene wie Licht, Klang oder Duft) verbreite, zum anderen auf ein Konstitutivum des Kosmos verwiesen, das zwischen der ›höheren‹ und ›niedrigeren‹ Welt vermittle. Diese ›pneumatische‹ Konnotation habe sich im Okzident in Begriffen wie »spiritus«, »spirit«, »esprit« (und in dem deutschen Wort »Geist«) erhalten, sei aber im 17. und 18. Jahrhundert infolge neuer Befunde der modernen Wissenschaft und der spekulativen Philosophie ersetzt worden durch die Aufspaltung in das physikalisch-chemisch verstandene Prinzip des Lebens und den ›Geist‹ als Subjekt des Denkens ›im Inneren der Seele‹. Deshalb könne man das Wort Ki kaum angemessen ins Deutsche übertragen. – Nur wenige Referenten waren der Einladung der Veranstalter gefolgt, einen Beitrag zur Thematik der dritten Sektion zu leisten, auf die sich auch der Schlussvortrag des GiG-Präsidenten bezog (s.o.). Diese sollen daher zum Schluss etwas genauer gewürdigt werden.
Who is afraid of humanoid robots?, fragte GESINE LENORE SCHIEWER (Bern/München) und verglich Kulturelle Variablen aktueller Innovationsparadigmen. Sie nahm ihren Ausgang von der Beobachtung, dass die Akzeptanz von Robotern in menschenähnlicher Gestalt kulturell variiere und insbesondere in Japan die sogenannten Humanoide, ›Androide‹ (bzw. ›Female robots‹) oder ›Gynoide‹ (›Gynecoids‹) positiv aufgenommen würden, während im Westen diese Vorstellung überwiegend Befremden hervorrufe, und verwies auf deren problematisierenden Spiegelungen in affinen und aversen Muster in Literatur, Film und darstellender Kunst (z.B. in The Stepford Wives. Something Strange Is Happening In The Town of Stepford von 1975). Längst seien heute aber auch die Informatik und die AI-Forschung (Artificial Intelligence) für kulturelle Unterschiede sensibilisiert. Deshalb sei es ein Versäumnis, wenn die Kulturwissenschaften nicht (ausreichend) wahrnähmen, dass in der Wissens- und Techniksoziologie längst andere Innovationsparadigmen diskutiert würden, in denen kulturelle und gesellschaftlich-soziale Faktoren nicht mehr nur unter dem reaktiven Aspekt betrachtet werden, sondern ihrerseits als Voraussetzung technischer Innovation. Dabei gehe es um Fragen wie die nach den Lebensstilen in einer Gesellschaft, nach der Interaktion der am Innovationsprozess beteiligten öffentlichen, politischen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Akteure oder nach den institutionellen Kontexten der politischen, staatlichen und wirtschaftlichen Einrichtungen. Soziale Innovation werde dort nicht mehr als ›kompensatorisches‹ Gegenstück zur technischen Innovation gedacht, sondern als aktive, treibende Komponente. Es verdiene daher unsere besondere kulturwissenschaftliche Aufmerksamkeit, dass gerade in so genannten Schwellenländern (wie insbesondere Indien) solche aktuellen Innovationsparadigmen bereits intensiv diskutiert würden, während in den westlichen Ländern weiterhin traditionelle technikgetriebene Paradigmen vorherherrschten.
Die Erdbeben und die Reaktorkatastrophe in Fukushima nahm MARIO KUMEKAWA (Tokyo) zum Anlass und Aufhänger für seinen Vortrag mit dem Titel Godzilla in Fukushima. Das Monsterbild und die Angst. Die schockierende Erfahrung, dass der Lebensraum und die Infrastruktur der Gesellschaft in einem Augenblick von Grund auf vernichtet werden können, erinnerte ihn an 1945. Die Katastrophe sei keine Vergangenheit, vielmehr eine Urlandschaft, die jederzeit Realität werden könne. Die Szene, in der das Monster Godzilla die Städte vernichtet, visualisiere einerseits die Erinnerung an die Kriegszeit, andererseits die Vorahnung einer möglichen Naturkatastrophe. Godzilla und die nachfolgenden Monsterfilme hätten zwei wichtige Motive gemeinsam: das Bild von der mit Japan identifizierten Südsee, das in der Kriegszeit paradiesische und politische Träume darstellte, und das Gefühl der Angst vor der Strahlungsexposition beim Atomtest, das ein neues Schicksal der Japaner in der Nachkriegszeit in sich trage. Für Kumekawa sind die japanischen Monsterfilme Gespenster, die Vergangenheit mit der Gegenwart verbinden und immer wieder neu die Frage nach der Bedeutung des Krieges und der Gefahr der Zerstörung aufwürfen.
Gefährdungen der Natur und Umwelt sind seit längerem auch ein Thema der Romanliteratur. BERBELI WANNING (Siegen) fragte sich nach den verheerenden Unglücken in Atomkraftwerken (Tschernobyl, Harrisburg, Fukushima) Weshalb Klimawandel (k)ein Thema für die Romanliteratur sei, obwohl das Thema als neues Paradigma des Umweltbewusstseins die Nachfolge der Atomdebatte angetreten habe. Weil es schwierig zu vermitteln sei, vermutet Wanning, es fehle ihm die ereignishafte Struktur; es gebe kein Vorher-Nachher-Muster, keinen spektakulären Anfang, kein Ende im Untergang. Aber wenn das Global Warming Natur und Zivilisation bedrohe, werde Literatur als Spiegel der Gesellschaft und als kluge Mahnung gebraucht. In zeitgenössischen Romanen sei das Thema Klimawandel deshalb zwar immer häufiger präsent, aber schwer dazustellen. Hergebrachte Erzählweisen stießen an ihre Grenzen, weil es kein punktuelles Ereignis ›Klimawandel‹ gebe, das zu datieren wäre und einem Roman ein zeiträumliches Grundmuster verleihen könnte. Die literarischen Figuren entwickelten oft eine ambivalente Beziehung zu dem Prozess, den sie eigentlich aufhalten sollten. Sie sind Klimaforscher wie in Solar von Ian McEwan (2010) oder Glaziologen wie in EisTau von Ilija Trojanow (2011) – Wissenschaftler, von denen die Gesellschaft die Lösung des Problems erwartet. Manchmal sind es auch Betroffene, ›normale‹ Menschen wie der Steuerfahnder in Tage der Flut von Frans Pollux (2011) oder Mutter und Tochter, deren Leben sich durch Klimawandel radikal ändert, in Falsche Himmel von Liane Dirks (2006). Stellvertreterstrategien wie Überschwemmungen oder Hitzeperioden sollen den schleichenden Prozess literarisch sichtbar machen. So leiste die erzählende Literatur mit ihren Mitteln einen Beitrag zu den entscheidenden Diskursen, die die Menschheit im 21. Jahrhundert führen müsse, um eine Entwicklung und deren mögliche Folgen vorwegzunehmen mit dem Ziel, diese nie Wirklichkeit werden zu lassen.
Auch KYOKO TSUCHIYA (Kyōto) nahm in ihrem Vortrag Das Feuer des Prometheus und E.T.A. Hoffmanns Erzählung »Der Sandmann« Bezug auf die Atomkatastrophe und erinnerte daran, dass die Kernenergie oft »das zweite Feuer des Prometheus« genannt wird, um die Ambivalenz von Nutzen und Desaster zu markieren. Im Mythos ermöglichte Prometheus den Menschen zwar den Beginn der Kultur, aber dafür sandten die strafenden Götter Pandora. In ironischer Wendung gegen das vernunftorientierte Prometheus-Bild der Aufklärung verbindet der Spätromantiker E.T.A. Hoffmann das Prometheus-Motiv mit dem des Teufels, dem Herrn der Katastrophe, der im Feuer lebt. In der Erzählung Der Sandmann (1816) steht das Feuer einerseits im Dienste der Naturwissenschaften (bzw. der Alchemie), andererseits wirkt es als magische Macht moderner Technologie: der Alchemist und Mechaniker Coppelius versucht wie Prometheus, Leben künstlich zu erschaffen, und hat zugleich teuflische Züge; der künstliche Mensch als Produkt der Physik und Maschinenbaukunst ist zugleich ein dämonisches Werkzeug, das Nathanael in den ›Feuerkreis‹ der Raserei stürzt. So könne man die Erzählung heute als aktuelle Warnung lesen, sich der Grenzen des technischen Fortschritts, ohne den wir nicht mehr leben zu können glauben, bewusst zu bleiben.
Zum Gelingen eines Kongresses tragen aber nicht nur die Vorträge bei, sondern auch die Möglichkeiten zu entspannterem Austausch und kulturellem Lernen. Dafür bot das von Yuho Hisayama perfekt organisierte und von einem hochmotivierten Team von Studenten um ihn herum ebenso liebenswürdig wie effizient begleitete Kolloquium inspirierende Gelegenheiten. Das Koto-Konzert zur Eröffnung wurde eingangs schon erwähnt, ein Empfang im York House stellte am ersten Abend die Gastfreundschaft der Veranstalter eindrucksvoll unter Beweis.
Teilnehmern aus dem Westen, die zum ersten Mal Japan besuchten, gewannen am zweiten Tag einen unvergesslichen Einblick in japanische Kultur durch ihre Teilnahme an einer von Yoshito Takahashi persönlich geleiteten (und von seiner Frau Atsuko in klassischem Kimono mit charmanter Anmut dirigierten) Teezeremonie (die leider kurzfristig vom nahegelegenen Tempel Tôji-in in der Räume der Ritsumeikan-Universität verlegt werden musste). Zur angemessenen Vorbereitung diente eine Einführung von Shoji Muramoto (Kobe) über Musô Soseki (1275-1351) als Stifter der japanischen Zen-Kultur.
Zum harmonischen Ausklang des Kolloquiums wurde eine Bustour durch das abendliche Kyōto geboten, die Stadt der 2000 Tempel, die ein Jahrtausend lang die Hauptstadt des Reiches war. Anschließend versammelte man sich zu einem üppigen Diner in einem der stilvollen Restaurants. Kultureller Höhepunkt war für die meisten Teilnehmer am letzten Tag aber zweifellos der Besuch der nahegelegenen alten Kaiserstadt Nara (Heijō-kyō) mit ihren zahllosen Sehenswürdigkeiten von historischem Rang, von denen eine kleine Auswahl auf dem Besichtigungsprogramm stand (darunter der Tôdai-ji-Tempel, der Kasuga-taisha-Schrein mit der Besichtigung eines traditionellen Reis-Festes, der Wakakusayama-Berg, das Nara-Nationalmuseum und der Horyû-ji-Tempel). Keiner, der nach diesem Besuch nicht den Wunsch gehegt hätte, es möge nicht der letzte gewesen sein.
1 Die folgenden Abschnitte, die das Thema im Detail vorstellen, orientieren sich an der Einleitung des gemeinsam von den Organisatoren und dem Berichterstatter erstellten Programmheftes zur Orientierung derer, die an dem Kolloquium nicht teilnehmen konnten, und zur Erinnerung derer, die mit Gewinn daran teilgenommen haben.
2 Edward W. Said: Orientalismus. Frankfurt a.M. 1981 (orig. 1978: Orientalism. New York); Ian Buruma/Avishai Margalit: Okzidentalismus – Der Westen in den Augen seiner Feinde. München 2005.
3 Abweichend vom Programm sei im Bestreben, inhaltlich so etwas wie einen ›roten Faden‹ auszumachen, zunächst die erste, dann die zweite Sektion (in beiden Sektionen waren jeweils meist drei Vorträge zu Sitzungen von je 90 Minuten zusammengeordnet) im Zusammenhang vorgestellt, wobei fairerweise zu den Vorträgen der jeweils anderen Sektion, in der der Berichterstatter nicht zugegen sein konnte, die Zusammenfassungen der Referenten herangezogen werden.
4 Vgl. Ernest W.B. Hess-Lüttich (Hg.): Eco-Semiotics: Umwelt- und Entwicklungskommunikation. Tübingen/Basel 2006.
5 Vgl. Buruma/Margalit, Okzidentalismus (Anm. 2); Hasan Hanafi: Einführung in die Wissenschaft der Okzidentalistik. Berlin 1998 [Islamkundliche Untersuchungen 212].
6 Evliya Çelebi: Günümüz Türkçesiyle Evliya Çelebi Seyahatnamesi 7. Kitap. Haz. Seyit Ali Kahraman. Istanbul 2011.