Das fremde Werk

Thorsten Krämer

Für Andrea Conrad

I

In gleich zwei Erzählungen stellt Howard Phillips Lovecraft (1890–1937) die Frage nach der künstlerischen Inspiration in den Mittelpunkt. Die Musik des Erich Zann (1921/22) handelt von einem Geiger, dessen Kunst den Erzähler, der im selben Haus wie Zann lebt und ihn daher nachts spielen hört, gleichermaßen fasziniert wie verschreckt. Er sucht den Kontakt mit dem alten Musiker, doch als dieser ihm etwas vorspielt, hat diese Kostprobe seines Könnens nicht die besondere Qualität, die er aus dem nächtlichen Spiel kennt. Als er Zann darauf anspricht, reagiert dieser irritiert und geht seinem Bewunderer in der Folge aus dem Weg. Dem Erzähler bleibt nichts anderes übrig, als wieder die Rolle des heimlichen Zuhörers einzunehmen:

Dort, in dem engen Vorraum, stand ich an der verriegelten, schlüssellochverhangenen Tür und lauschte den Klängen, die mich manchmal mit einer bizarren, unerklärlichen Furcht durchdrangen – mit einer Furcht aus nebelhaften Wundern und brütenden Geheimnissen. Nicht, daß die Musik an sich furchterregend gewesen wäre, das kann man wirklich nicht behaupten – aber irgend etwas lag in ihren Schwingungen, das nicht aus dieser Welt sein konnte. Ja, hin und wieder erreichte das Spiel symphonische Qualität, von der man sich nur schwer vorstellen konnte, daß sie von einem einzigen Musiker hervorgebracht wurde. (Lovecraft 1987: 133)

Eines Nachts erreicht die Musik eine neue Intensität, der Erzähler hört Zann schreien und klopft besorgt an seine Tür. Der Geiger bittet ihn herein, und so wird der Erzähler Zeuge, wie Zann sich in den Tod spielt – ja, seine Violine spielt sogar noch weiter, nachdem die Hände, die sie halten, bereits kein Leben mehr enthalten. Der Erzähler flieht, dem Wahnsinn nahe, nach draußen in die nächtliche Stadt …

Während in dieser Erzählung das unheimliche Grauen, das Erich Zann inspiriert, nur zu hören ist, geht Lovecraft in Pickmans Modell (1927) noch einen Schritt weiter. Diesmal ist es ein Maler, von der etablierten Kunstwelt wegen seines Bildes »Ghoule beim Fraß« verstoßen, der die besondere Aufmerksamkeit des Erzählers auf sich zieht. Es sind vor allem Pickmans Porträts, die ihn faszinieren, gerade weil die abscheulichen Motive, die er sich wählt, mit einer solchen Perfektion ausgeführt werden, dass der Erzähler sich dazu hinreißen lässt, den Maler als Realisten zu bezeichnen. Damit ist, der Leser ahnt es längst, auch schon die Pointe der Erzählung vorweggenommen: Als er sich zu Hause einige Fotografien anschaut, die er impulsiv aus dem Atelier des Künstlers entwendet hat, muss der Erzähler mit Grausen feststellen, dass auf diesen eines jener Monster zu sehen ist, die Pickman porträtiert hat.

Im Werk Lovecrafts, das fast schon stereotyp von der Begegnung mit solchen Wesen und Geschöpfen handelt, finden sich zwar immer wieder Begriffe wie »höllisch«, die auf einen christlichen Hintergrund und einen Dualismus von Gut und Böse verweisen, aber diese Einordnung verdankt sich dem beschränkten Weltbild seiner Erzähler; tatsächlich aber, und darauf wird stets mit Nachdruck verwiesen, übersteigt sein Kosmos solche der menschlichen Begrenztheit geschuldeten Etikettierungen. Seine Erfindungen sind vor allem eines: fremd.

Wie aber lässt sich beschreiben, was alle Kategorien sprengt? Es wird oft darüber gelästert, dass Lovecraft genau in diesem Punkt scheitert, dass seine Prosa sich an den entscheidenden Stellen in Gemeinplätze rettet, und allein die Stichprobe anhand der beiden genannten Texte liefert für jeden den Beweis, dass zumindest der Befund nicht von der Hand zu weisen ist:

Es wäre ein vergebliches Unterfangen, das Spiel Erich Zanns in jener schrecklichen Nacht beschreiben zu wollen. (Lovecraft 1987: 135)

Es wäre zwecklos, wenn ich dir jetzt die Gestalten auf seinen Bildern beschriebe […]. (Ebd.: 118)

Wie wäre es aber, wenn diese Zitate nicht ein Zeichen unzulänglicher erzählerischer Mittel wären, sondern vielmehr Ausdruck einer konsequenten ästhetischen Haltung? Es ist der Autor Lovecraft, der seine Erzähler scheitern lässt, denn alles andere liefe auf eine Domestizierung dessen hinaus, was von vorneherein jeder Domestizierung entzogen ist. Das Fremde seiner Texte lässt sich nicht kolonisieren, was in gleichem Maße für die inhaltliche wie die Werkebene gilt. Man ist schnell geneigt, in den beiden Erzählungen über die Künstler Zann und Pickman Selbstporträts zu sehen; aber einen nachhaltigeren Sinn ergibt es, sie als Allegorien seines Schreibens zu sehen. Denn der Autor ist es ja, der den Leser inspiriert wie das Grauen vor dem Fenster die Musik des Erich Zann. »Cthulhu, das bin ich« –, das hat Lovecraft zwar nicht gesagt, aber es hätte gestimmt.

II

Vor einigen Tagen hörte ich meine Frau einen Satz äußern, von dem ich sofort wusste, dass er in diesen Text hier gehört. Sie war gerade damit beschäftigt, unserem jüngeren Sohn bei den Hausaufgaben zu helfen, und beschwerte sich dabei über seine undeutliche Schrift. Er solle sich in Zukunft vorstellen, schlug sie ihm vor, dass er für andere schreibe, dass andere das von ihm Geschriebene lesen würden, denn, so erklärte sie mit Nachdruck: »Schreiben dient der Kommunikation.«

Ich wollte ihr zunächst innerlich beistimmen, aber dann fiel mir eine andere, vergleichbare Szene ein, in der ich der Schüler gewesen war. Auf dem Gymnasium hatte ich ab der neunten Klasse Altgriechisch, und als ich einmal mehrere Tage krank gewesen war, lieh ich mir das Heft eines Mitschülers aus, um das Versäumte nachzuholen. Ich saß also am Tisch und übertrug in mein eigenes Heft, was mir wichtig erschien. Zwischendurch warf meine Mutter einen Blick auf mein Tun, dabei fiel ihr die Schrift des Mitschülers auf. Dieser war Linkshänder, er hatte daher das Problem, dass er mit der Hand sehr leicht das gerade eben Geschriebene verwischte, weswegen er sich eine Schreibtechnik zugelegt hatte, bei der er das Heft um annähernd 90 Grad drehte und auf diese Weise mehr von unten nach oben als von links nach rechts schrieb. Nun verwischte er die Tinte zwar nicht mehr, dafür litt die Lesbarkeit erheblich. Er galt in unserer Klasse daher allgemein als der Schüler mit der schlimmsten ›Klaue‹. Meine Mutter, die auch die Lesbarkeit meiner Schrift immer wieder bemängelte, besah sich nun also einige Zeilen, die der Mitschüler geschrieben hatte, und sagte mir, ich solle mir ihn als Vorbild nehmen, weil er doch so eine schöne Schrift habe. Ich war nicht nur überrascht, sondern geradezu empört, und bat sie, mir doch einmal vorzulesen, was da stand. »Das kann ich nicht«, gab sie zur Antwort, »ich kann doch kein Griechisch.« Sie hatte die unleserliche deutsche Schrift in aller Unschuld tatsächlich für eine andere Sprache gehalten!

Wenn ich heute darüber nachdenke, dann verblüfft mich die in dieser Kindheitsszene deutlich werdende Bereitschaft meiner Mutter, etwas ihr Fremdes und Unverständliches als »schön« zu bezeichnen. Der Komponist und Musiker Anthony Braxton verwendet den Ausdruck Friendly experiencer anstelle von Zuhörer, um die Haltung zu beschreiben, mit der seine Werke am besten rezipiert werden sollte. Eine Freundlichkeit gegenüber dem Fremden – das ist beachtenswert, da gemeinhin davon ausgegangen wird, dass Angst, Unsicherheit und Vorsicht die angemessenen, da biologisch begründbaren Reaktionen auf das Unbekannte seien: Das Überleben kann nur sichern, wer in neuen Situationen auf der Hut ist. Aber offenbar geht es auch anders.

Die auf einem schlichten Missverständnis fußende Epoché meiner Mutter, die sie alle Bedeutung ausklammern ließ, eröffnete ihr eine Wahrnehmung der Schrift, deren Ergebnis ein ästhetisches Genießen war. Im Umgang mit Literatur findet sich nur allzu häufig das gegenteilige Missverständnis: Die Suche nach Bedeutung verstellt den Blick auf das Werk als Werk. Denn das literarische Schreiben ist gerade das Schreiben, das nicht der Kommunikation dient. Die Literatur hat das Problem, dass sie zwar das Medium mit anderen Formen teilt, gleichzeitig aber genau deren Gegenteil bildet. Das macht es so schwer, Literatur zu erkennen – und noch schwerer, sie zu schreiben. Dabei wäre im Grunde alles ganz einfach. Man müsste sich nur darüber klar werden, dass immer dann Literatur entsteht, wenn jemand exakt das schreibt, was außer ihm niemand schreiben könnte. Da die Texte, die allgemein als Literatur anerkannt werden, inhaltlich alles Mögliche abdecken, hat man den Schluss gezogen, dass die literarische Qualität eines Textes nicht durch den Inhalt, sondern durch die Form bestimmt werde – bzw. durch ein adäquates Verhältnis von Form und Inhalt. Aber wie schon Gottfried Benn erkannt hat: Wenn der Mann nicht danach ist, nützt auch die schönste Form nichts. Wobei Geniekult natürlich auch keine Lösung darstellt. Mein Vorschlag lautet vielmehr: Es ist die Aufgabe des literarischen Schreibens, das jeweilige So-Sein des Schreibenden auf bestmögliche Weise zum Ausdruck zu bringen. Nicht das Medium, sondern der Autor ist die Botschaft. Alles andere ist Unterhaltung.

III

»Nur das absolut Fremde kann uns unterweisen«, schreibt Emmanuel Lévinas in Totalität und Unendlichkeit und scheint damit bereits ein Beispiel für das zu liefern, was dieser Satz meinen könnte (Lévinas 1987: 100). Denn auf den ersten Blick mutet die Aussage selbst fremd und unverständlich an – hat nicht Unterweisen gewöhnlich etwas mit Vermitteln zu tun? Wie soll aber etwas vermittelt werden, das keinerlei Berührungspunkte mit dem hat, was wir bereits wissen? Es ist so, als wollte man eine fremde Sprache lernen, deren Grammatik und gesamtes Vokabular auf Dinge und Konzepte verweisen, die uns nicht bekannt sind. Wie soll das gehen?

Da das Fremde, insbesondere das absolut Fremde, sich der Interpretation entzieht, kann der Schüssel zum Verständnis dieses Satzes nur im Unterweisen liegen. Der etwas altertümliche Ausdruck weist den Weg in eine Tradition des Lernens, die weniger mit Inhalten und mehr mit Haltungen zu tun hat. Versteht man die Literatur als eine Lebensschule, erhellt sich vieles. Sie ist dann nicht darauf aus, uns Wissen zu vermitteln, sondern operiert auf einer anderen pädagogischen Ebene, indem sie uns den Umgang mit etwas vorführt, diesen aber nicht thematisiert, sondern praktiziert. Dieses Unterweisen vollzieht sich in der Zeit; es genügt nicht der rationale Nachvollzug, sondern der Lernende muss seine eigenen Erfahrungen machen, sein Lernen ist ein Adaptieren, ein Anpassen der Lektion an seine eigene Existenz. Die Differenz ist gleichermaßen Motor und Ziel dieses Lernens.

Gerade weil es sich einer inhaltlichen Vermittlung entzieht, wirft das Fremde uns auf uns selbst zurück; es ist das Rätsel, das nicht gelöst werden kann und deshalb den Ratenden zum Handeln zwingt. Die Literatur ist daher das Fremde der Schrift, sie ist die Schrift, die nicht kommuniziert und damit den Leser in die Position dessen bringt, der sich dazu verhalten muss. Sie ist im Medium der Schrift dieselbe Zumutung wie das Angesicht des Fremden für die menschliche Existenz, eben weil sie ein Ausdruck des Fremden ist.

Eine der großen Enttäuschungen, denen jeder Schreibende irgendwann begegnet, besteht in der Erfahrung, dass das eigene Werk einen kalt lässt. Wer als Leser die Situationen erlebt hat, in denen die Lektüre einen auf existenzielle Weise anrührt, der hofft anfangs, diesen Moment auch anhand eigener Texte nachstellen zu können. Aber leider ist das unmöglich. So wie man sich nicht selbst kitzeln kann, so bleibt man für die eigene Literatur unempfänglich. Das zeigt, dass die besondere Qualität von Literatur in der durch das Lesen möglich werdenden Begegnung mit einem anderen Menschen liegt. Eine Begegnung, die umso intensiver ist, je mehr von dem anderen Menschen ich gezeigt bekomme. Deshalb stimmt es nicht, dass die Literatur uns den Spiegel vorhält, vielmehr ist sie das Fenster, durch das hindurch der Autor uns ansieht. Das, was uns angesichts des Fremden auf uns selbst zurückwirft, ist nicht die Erkenntnis unserer selbst, sondern die Präsenz eines undurchdringlichen Anderen. Das Gefühl des Mea res agitur, das sich bei der Lektüre im besten Falle einstellt, hat seinen Grund nicht in einer mehr oder weniger zufälligen Übereinstimmung zwischen Themen, die den Autor und uns gleichermaßen beschäftigen, sondern in der Dringlichkeit, mit der sich der Autor durch das Werk zumutet. Wenn der Text mich überwältigen will, ich mich seiner Verführungskraft kaum entziehen kann oder seine provozierende Teilnahmslosigkeit meinen Widerspruch weckt, dann geht es wirklich um mich.

So wie für Lévinas das Von-Angesicht-zu-Angesicht die ethische Situation überhaupt darstellt, so spielt das Ethische auch in die Literatur hinein, die damit eine Form der gelebten Beziehung darstellt – was jeder wirkliche Leser sofort bestätigen kann.

IV

Der Autor ist die Botschaft: Ohne solchen Größenwahn kann keine Literatur entstehen. Denn warum sollte sich jemand die Mühe machen, etwas zu schreiben, wenn er nicht davon überzeugt wäre, dass er damit einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Menschheit leistet? Man kann seine Zeit sehr leicht mit angenehmeren Dingen als Schreiben verbringen. Um aber die produktive Form des Größenwahns von seiner infantilen Variante zu unterscheiden, muss abschließend noch ein verbreitetes Missverständnis ausgeräumt werden: Originalität und Obskurantismus sind keine Werte an sich. Zwar ist jeder Mensch einzigartig, aber nicht jeder Mensch ist in jeder Hinsicht einzigartig – daraus folgt, dass auch ein Werk, das Ausdruck eines einzigartigen Menschen ist, nicht in jeder Hinsicht einzigartig sein muss.

Ezra Pounds Forderung »Make it new!« (1934) ist an dieser Stelle zwiespältig, da sie leicht als Innovationsimperativ verstanden werden kann. Zwar hat Pound immer auch die historische Entwicklung der Dichtung im Blick gehabt, aber als Kenner des Taoismus hätte er sicher einer leicht veränderten Lesart nicht widersprochen: Mach’ es aufs Neue. So verstanden, wird aus der poetischen eine Lebensmaxime, die sich sehr gut mit dem hier vorgeschlagenen Weg vereinbaren lässt. Wenn das Werk der Ausdruck des jeweiligen So-Seins des Autors ist, dann ist es in genau dem Maße lebendig, in dem auch sein Schöpfer lebendig ist – und damit in der Lage, noch einmal neu anzufangen. Was aus der Perspektive anderer dann originell ist, ergibt sich ganz von alleine als Nebenprodukt dieser Haltung. Wird die Originalität dagegen gesucht, verpufft sie schnell als bloßes Gimmick – außer freilich in den Fällen, in denen gerade das zwanghafte Suchen nach Originalität selbst wieder zum Wesensmerkmal eines Werkes werden kann.

Gleiches gilt für den Obskurantismus: Das Inkommensurable der Literatur zu bejahen heißt nicht, eine absichtliche Verdunklung zu verfolgen. Es ist nicht nötig, einfache Dinge kompliziert auszudrücken – es sei denn, es geht nicht anders. Denn auch die Mängel gehören zum Werk, und so muss der Leser stets auf alles gefasst sein.

Literatur

Lévinas, Emmanuel (1987): Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg i.Br./München.

Lovecraft H[oward] P[hillips] (1987): Lesebuch. Hg. v. Franz Rottensteiner. Frankfurt a.M.

Pound, Ezra (1934): Make it New. London.