Sprachreise zum Ich

Mehrsprachigkeit in den Autobiografien von Ilma Rakusa und Elias Canetti

Katrin Schneider-Özbek

Abstract:

Ilma Rakusa’s autobiography Mehr Meer published in 2009 and Elias Canetti’s first part of his three-volume autobiography Die gerettete Zunge published in 1977, both portray the multilingual language development of a German-speaking author, since both authors do not write in their first language. Concerning the topic of becoming an author both texts have numerous points of contact, such as the staged utilization of foreign language words. However, the texts differ from each other regarding two completely divers cultural concepts the texts operate with: While Elias Canetti follows a monolingual, national language concept, Ilma Rakusa tries to write in a translingal manner, in order to establish a unity out of a language-fragmentation mosaic.

Mehrsprachige Schreibweisen spielen in Autobiografien mehrsprachiger Autorinnen und Autoren eine wichtige Rolle. Einerseits spiegeln sie die Mehrsprachigkeit des Verfassers wider, von dessen Identität mit dem Erzähler der Leser dem autobiografischen Pakt von Philippe Lejeune zufolge ausgeht. Andererseits entwickelt die Verwendung mehrerer Sprachen im Text eine ästhetische Qualität, indem Mehrsprachigkeit inszeniert und poetologisch reflektiert wird. Gerade dann überwindet das mehrsprachige poetische Verfahren die subalterne Stellung des Anderen, mithin die Zersplitterung und Asymmetrie der Kulturen, was in deutschsprachigen Minderheitenliteraturen – ein Begriff, den Karl Esselborn (2009) geprägt hat – ein Problem darstellt. Gleichzeitig haftet einer Kategorisierung der interkulturellen Autobiografie als Minderheitenliteratur das Problem der Stigmatisierung und Stereotypisierung an. Dieser Sonderstatus einer »irgendwie anderen« deutschsprachigen Literatur hat mit Blick auf den demografischen Wandel keine unhinterfragbare Position, worauf etwa Mark Terkessidis mit der Begriffsschöpfung »Interkultur« (2010: 125ff.) verweist. Vielmehr gilt es, deutschsprachige Literatur im Sinne einer »Literatur ohne festen Wohnsitz« zu verstehen (Ette 2005: 184), die einerseits die engen Grenzen einer nationalsprachlich gebundenen Literatur aufzubrechen vermag, andererseits in genau jenem »translingualen Zwischen-verschiedenen-Zungen-Schreiben« nach Ottmar Ette die Zukunft der Literatur bildet (ebd.: 203).

Der analytische Zugang zur Mehrsprachigkeit in der interkulturellen Autobiografie speist sich vor allem aus drei eng miteinander verbundenen Quellen: So lässt sich zweifelsohne zunächst linguistisch erfassen, wie Mehrsprachigkeit in einem Text überhaupt vorkommt und in welcher Beziehung die literarische Mehrsprachigkeit zur Sprachkompetenz des Autors der Autobiografie steht. Diese Fragestellung folgt als besonders autorzentriert Lejeunes autobiografischem Pakt. In einer zweiten Linie kann man rein werkimmanent erzählanalytisch fragen, welche ästhetische Qualität der Mehrsprachigkeit zukommt. Wird etwa durch fehlende Übersetzung eine bestimmte Rätselstruktur im Text aufgebaut oder funktionieren Fremdsprachen wie Chiffren, die entschlüsselt werden wollen? Und schließlich stellt sich die kulturwissenschaftliche Frage nach dem Verweis der Mehrsprachigkeit aus dem Text heraus. So kann etwa ein mehrsprachiges Erzählverfahren die Stereotypisierung von Minderheitenliteratur überwinden und dem Autor eine eigene Sprache verleihen. Yüksel Pazarkaya bringt dies auf den Punkt, wenn er betont, dass die zweisprachige Literatur »dem Autor den Selbstheilungsprozeß […] [der] ihn bedrückenden Identitäten« erspart, da sie bereits im Ich, also gewissermaßen von innen, wieder eine Einheit herzustellen vermag (2004: 89) – das Sprechen über den Anderen wird damit obsolet. Speziell autobiografische Texte, die die Konstruktion von Identität per se reflektieren, eignen sich besonders, das Entwerfen von Subjektivität »in ästhetischer Problemhandlung zur Disposition zu stellen.« (Holdenried 2000: 56) Parallel zur Mehrsprachigkeit ist schließlich häufig auch die Mehrkulturalität in der interkulturellen Autobiografie von zentraler Bedeutung, pendelt sich das schreibende Ich doch erzählend zwischen mehreren Herkünften ein und konstruiert sich eine Identität im Spannungsfeld mehrerer, meist nationalstaatlicher Kulturen (vgl. Kuschel 2006: 67). Auf diese Weise wird ein transkultureller Raum geöffnet, dessen wichtiges Merkmal das Ineinanderfließen verschiedener Sprachen ist. Das hat wiederum zur Folge, dass das autobiografisch sich rekonstruierende Subjekt diesen mäandernden Pfaden der Sprachen folgt und, sich stetig entwickelnd, neue Haltungen und Grenzen ausprobiert, die unterschiedlichen Sprachen korrespondieren und letztlich zu einem Idiom führen lässt, das sich aus mehreren Sprachen bedient (vgl. ebd.: 61). Solch ein Ringen um ein eigenes Idiom zeigt sich in Ilma Rakusas Autobiografie Mehr Meer. Daneben steht in ihrer Autobiografie auf einer weiteren Textebene die Reflexion über Mehrsprachigkeit als Verfahren, um die Welt zu begreifen, oder als poetisches Verfahren, das dem Dichter als Zuhörer genuin sei. Gerade die Entscheidung mehrsprachiger Autoren und Autorinnen in einer bestimmten Sprache zu schreiben, die möglicherweise nicht die Erstsprache ist, führt auch auf literarischem Feld zu einer verstärkten Begründung und Erläuterung dieser Entscheidung. Besonders auffällig ist das bei Elias Canetti der Fall, der seit der Exilzeit in London über seine Sprachwahl auch literarisch nachdenkt und sich Deutsch als die »Sprache meines Geistes« von den Nationalsozialisten nicht stehlen lassen (Canetti 2004: 76), sondern ein sprachliches und kulturelles Erbe bewahren helfen will. Es ist kaum verwunderlich, dass sich in seinen Aufzeichnungen – im ersten Teil Die gerettete Zunge seiner dreibändigen Autobiografie und im Reisebericht Stimmen von Marrakesch – zwar kaum längere mehrsprachige Passagen finden, dafür aber der Einsatz anderssprachiger Wörter, deren Übersetzung meist mitgeliefert wird, markant ist. Bei Canetti steht die Reflexion der poetischen Mehr- und Fremdsprachigkeit stärker im Vordergrund als ihre Umsetzung als poetische Schreibweise. Allerdings kommt sowohl in Rakusas wie in Canettis Autobiografie der Mehrsprachigkeit eine wichtige Funktion für das Nachdenken über sich selbst zu. Fremde und damit unverständliche Wörter werden von beiden Autoren als Zauberwörter beschrieben, Sprachen nach ihrem Zuständigkeitsbereich getrennt; beide Autoren versuchen über Wörter eine Relation zur sinnlichen Welt zu finden. Letztendlich teilen beide auch eine ähnliche Sprachgeschichte, indem sie über das Erlernen dreier anderer Sprachen zu Deutsch – und bei beiden auch Schweizerdeutsch – als literarischer Schriftsprache gefunden haben. Auch wenn die Lebensläufe der beiden Autoren als Exilant und als Migrantin unter völlig verschiedenen Sternen stehen, so bildet doch gerade der erste Teil von Canettis Autobiografie, der weit vor der Vertreibung aus Österreich durch die Nationalsozialisten endet und vielmehr die freiwillige Migration der Eltern durch Europa beschreibt, eine Verbindung zu Rakusas Autobiografie, in der ebenfalls das Kind den Wanderungen der Eltern durch Europa folgt. Dennoch liegen zwischen beiden Texten knapp 40 Jahre, so dass sich in ihnen auch unterschiedliche Kulturkonzepte wiederfinden lassen. Ist es bei Canetti die Beschwörung einer als von der Mutter übernommenen stilisierten Sprachreinheit, die seine Entwicklung hin zu einem deutschsprachigen Schriftsteller reflektiert und die fundamental mit monolingualen und nationalstaatlichen Konzepten verbunden ist, so findet sich bei Rakusa das postmoderne Prinzip des translingualen Raums. Bei aller Unterschiedlichkeit dieser Konzepte, die auch die kulturwissenschaftliche Wende der Literaturwissenschaft spiegelt, kann man jedoch analog zur Feststellung von Miriam Gebauer zum Schreiben Yoko Tawadas auch für die Autobiografien von Canetti und Rakusa feststellten, dass die Verwendung von Mehrsprachigkeit allein »die Erfahrung des Sprachmigranten aufnehmen kann« (Gebauer 2009: 124). Im Folgenden werde ich unter systematischer Perspektive exemplarisch zeigen, wie beide Autoren mit Mehrsprachigkeit als poetischem Schreibverfahren umgehen.

Zauberwörter und Autorschaft

Die Unmittelbarkeit von Sprache schafft nach Walter Benjamin ihr »Urproblem«, nämlich die Magie und ihre Unendlichkeit: »[J]ede Sprache teilt sich selbst mit« (1991: 143). Über die Benennung der Gegenstände wird eine »metaphysische Erkenntnis« eingeschlossen (ebd.: 145), die Benjamin in der Urform der »paradiesische[n] Sprache« begründet sieht, die dem babylonischen Stimmengewirr vorausgegangen und »die [eine] vollkommen erkennende [Sprache] gewesen sein« muss (ebd.: 152). Entsprechend erhält die Sprache eine »symbolische Funktion« (ebd.: 156), die auf das »Nicht-Mitteilbare« (ebd.) verweist. Genau jenes sprachphilosophische Problem ist es, das Autoren wie Canetti und Rakusa im Umgang mit der Mehrsprachigkeit fasziniert: Es ist der Zugang zur Welt über die Sprache und der sich verändernde Zugang zur Welt über eine andere Sprache. Auch der Germanist und Autor Yüksül Pazarkaya denkt mit Benjamin über den Spracherwerb und die sich verändernde Wirklichkeit nach, wenn etwa die Vertreibung aus dem paradiesischen Zustand der Muttersprache den Sprecher in einen Kosmos der Übersetzung wirft (vgl. Pazarkaya 2004: 23). Je nach Wortstamm bildeten Wörter in verschiedenen Sprachen ein unterschiedliches Bezugssystem, so Pazarkaya. Mit diesem Faktum spielt letztlich Rakusa in ihrer 2009 erschienenen Autobiografie Mehr Meer. Dort erfüllen anderssprachige Wörter im deutschsprachigen Fließtext die Funktion eines Schibboleths. Die Mehrsprachigkeit des Textes wird bei ihr zur Chiffre, die entschlüsselt werden muss, da Rakusa die Übersetzung nicht mitliefert. Sie wird zum intellektuellen Spiel zwischen Text und Leser.

Canetti wiederum verbindet mit Benjamin die »Erlösungserwartung«, wie Greiner (1993: 306f.) betont. Es ist jene »messianische Öffnung durch den Schreibakt selbst«, die zum Antrieb des Schreibens wird. So ist das Thema des Spracherwerbs bei Canetti eng mit der Schrift verwoben. Aber anders als bei Rakusa, die slowenische und ungarische Wörter inszeniert, ist für Canetti die Zaubersprache das unverständliche Hebräisch, das zunächst am Seder-Abend in Rutschuk zum Einsatz kommt (vgl. Canetti 1979: 32ff.) und das er in der Talmud-Thora-Schule in Wien lesen (vgl. ebd.: 107), aber nicht verstehen lernt. Die Bedeutung der Wörter bleibt im Verborgenen. Genau die gleiche Funktion erfüllt Deutsch, als es noch die »Zaubersprache« (ebd.: 32) zwischen den Eltern ist und er als Nicht-Verstehender von ihrem Gespräch ausgeschlossen bleibt. Das führt dazu, dass dem Kind Deutsch als eine magische Sprache erscheint, »daß es sich um wunderbare Dinge handeln müsse, die man nur in dieser Sprache sagen könne« (ebd.: 34). Schließlich übt er einzelne Sätze »wie Zauberformeln« (ebd.), um endlich die »geheime Sprache« (ebd.: 35) der Eltern zu verstehen. Nach dem Tod des Vaters bringt die Mutter ihrem Sohn in einem dreimonatigen Terrorakt (vgl. ebd.: 88) die ersehnte Sprache endlich bei, und sie wird zur Sprache der Liebe zwischen Mutter und Sohn (vgl. ebd.: 90), gleichzeitig aber auch entzaubert. Dieses frühe Nicht-Verstehen der Sprache, die nur den Zugang zum Klangkörper, nicht aber zum Bezeichneten liefert, macht gerade die Zauberqualität der Fremdsprache aus. In den Stimmen von Marrakesch (vgl. Gellen 2007: 33) betont Canetti ganz bewusst dieses Verfahren, dass er auch im poetologischen Konzept der akustischen Maske verwendet. Es ist jenes punktgenaue Zuhören, das die Sprachbesonderheiten eines Menschen zum Vorschein bringt (vgl. hierzu Canetti 2005: 298ff.). Gellen betont, dass der Klang einer fremden Sprache für Canetti das entscheidende Merkmal ist, das gerade den Sinn für das Andere erst schärfe: »[W]hen we ignore the sounds of language we lose the sense for the foreign that helps us hear the strangeness of our own tongues.« (2007: 38) Die fremde Sprache wird damit zum Reflektor der eigenen, die eigene vor dem Hintergrund des unverständlichen Klanges erst in ihrer ganzen poetischen Tragkraft erfahrbar.

Diese Auseinandersetzung mit Sprachen stilisieren beide Autoren als Ausgangspunkt für ihr literarisches Schaffen. Gerade die Autobiografie, der in dieser Selbstberichterstattung natürlich nicht getraut werden darf, entfaltet, wenn man sie poetologisch liest, das schriftstellerische Programm beider Autoren. An diesem Punkt von Inszenierung von Mehrsprachigkeit und kulturellen Zitaten überschreitet die Autobiografie die Grenze zur Autofiktion. Nach Wagner-Egelhaaf verliert der Text dann seinen »Zeugnischarakter« (2006: 358) und muss sich nicht länger an der »Grenze abarbeiten, die vermeintlich zwischen fiktionaler und autobiographischer Dichtung besteht« (ebd.: 368). Rakusa etwa betont, dass sie im »Grenzverkehr zwischen den Sprachen« ihren »künstlerischen Stimulus« (Rakusa 2006: 10) gefunden habe. Für sie ist Mehrsprachigkeit ein Schlüssel zu einer Welt, in der man über-setzen kann, wohin es einen zieht – sie ist als Rakusas »leichtes Sprachgepäck« (ebd.: 7), ihr poetisches Programm, das als feines Instrument zwischen Bekanntem und Fremdem unterscheidet. In der Geretteten Zunge wiederum betont Canetti, dass für ihn der entscheidende Schritt in der Verbindung von Sprache und Schrift bestand. Er spielt also zwar einerseits mit seinem Konzept der akustischen Maske und des Hörens eines Sprachklangs, andererseits machen ihn erst die Schrift und die ausgedehnte Lektüre von Kindesbeinen an zum Schriftsteller. Bereits als seine Cousine Laurica vor ihm eingeschult wird, erwecken die neuen Zeichen in ihm eine »unstillbare Sehnsucht nach Buchstaben« (Canetti 1979: 38). Als Laurica ihn nicht einweihen will, versucht er sie sogar zu töten – der Schrift wegen: »Ich glaube, man begriff, daß es mir um die Schrift zu tun war, es waren Juden, und die ›Schrift‹ bedeutete ihnen viel« (ebd.: 42) – womit Canetti auf die talmudische Schrifttradition und die Heiligkeit der Schrift im Judentum überhaupt verweist (vgl. Bollacher 1984: 51f.). All diese Kindheitserinnerungen verschmelzen für den älteren Canetti zu einer Erinnerung in deutscher Sprache. Seine Sprachbiografie beschreibt er zwar als mehrsprachig: Auch wenn die Eltern immer deutsch miteinander gesprochen haben, so hat er von ihnen doch zunächst nur Ladino, das Spanisch der sepharischen Juden, gelernt und nie verlernt (vgl. hierzu auch Riecke 2007: 57ff.). Von dem Rumänisch und Bulgarisch, das er in Rutschuk durch die Umgebung erworben hatte (Canetti 1979: 17), genau wie von dem Rutschiker Sprachengewirr, von dem »jeder […] etwas« verstand (ebd.: 38), bleibt ihm als Erwachsener nichts übrig und seine Erinnerung wird monolingual: »Nur besonders dramatische Vorgänge […] sind mir in ihrem spanischen Wortlaut geblieben, aber diese sehr genau und unzerstörbar. Alles andere, also das meiste, […] trage ich deutsch im Kopf.« (Ebd.: 17) Es ist also nicht wie bei Rakusa gerade das transkulturelle Element, also das Sprach- und Kulturräume überschreitende, Grenzen auflösende narrative Verfahren, das bei Canetti den Text trägt, sondern die Entwicklung hin zu einer ganz bestimmten Sprache – die Entwicklung hin zu einem deutschsprachigen Autor. Dies erklärt auch den ausgeprägten Einsatz von »Redewendungen und formelhaften Ausdrücken«, derer sich Canetti vor allem bedient (Riecke 2007: 63). Rakusa dagegen betont gerade jenes Fluidum zwischen den Sprachen, das die Inszenierung des babylonischen Stimmengewirrs ihres Textes ausmacht. Ohne die Mehrsprachigkeit zu entziffern, mit der im Falle von Rakusas Erzählen auch Mehrkulturalität einhergeht, ist ein Teil des Bedeutungsgehaltes des Textes kaum zu lesen. Sie schafft damit nicht allein Authentizität und Glaubwürdigkeit, sondern lässt die Sprache zwischen Inszenierung und einer rakusaschen Poetologie oszillieren. Damit reiht sie sich in die Reihe postmoderner Sprachspielerinnen und -spieler wie Oskar Pastior und Yoko Tawada ein, über die sie auch wissenschaftlich arbeitet. Problemlos lässt sich die These von Ottmar Ette zum translingualen Schreiben Tawadas auch auf Rakusa anwenden: »Im Prozeß eigenen Fremdschreibens wird durch das Ineinanderblenden verschiedener Sprachen, die nicht inter-, sondern translingual erzeugte Offenheit der Ich-Figur potenziert.« (2005: 187) Letztlich ist es damit aber auch wieder die von Pazarkaya mit Benjamin geforderte Einswerdung des mehrsprachigen Ichs, die auch Ette hier aufgreift. Rakusas Autobiografie zeichnet sich gerade durch die postmoderne Offenheit aus, indem sie jenes translinguale Element neben das der Transkulturalität nach Wolfgang Welsch stellt – ohne sich natürlich direkt auf ihn zu beziehen. Sie unterscheidet sich damit jedoch grundlegend von jener teleologischen, auf den Erwerb des Deutschen ausgerichtete Sprachbiografie, wie Elias Canetti sie schildert.

Dennoch ist beiden Autoren das Erzählmuster einer Sprachbildungsreise, die als Reise zu sich selbst stilisiert wird, gemeinsam. Ilma Rakusa beschreibt vorrangig ihre Migrationsreise in die Schweiz – sie schreibt von der Reise ihrer Kindheit, die an wechselnde Sprachen und Landschaften gebunden war und die dennoch eine wichtige Ausdrucksform fürs Leben geworden ist. Die (Migra­tions-)Bewegung wird zur »Losung« (Rakusa 2009: 75), sie selbst zum »Unter­wegskind« (ebd.: 76), dem alles verhandelbar wird, das keinen festen Punkt mehr ausmacht: »Entdeckte das Jetzt, und wie es sich auflöst.« (Ebd.: 76) Die Reise, auf die sich die Erzählerin begibt, wird zum verwirrenden »Schaukelzauber« (ebd.: 126). Eine poetische Verzauberung der Welt hat auch die Literaturkritik dem Roman attestiert. Martina Meister (2010: 49) spricht von einer »poetischen Autobiographie«. Gefeiert wird aber auch der »[p]oetische Zauber« des Romans, der »die Welt mit Poesie« erfülle (Lötscher 2009: 29) und das »poetische Temperament« der Autorin sowie deren fast körperliche Sprachintensität (Ebel 2009: 37). Die Erzählerin versteht das »Leben als eine Art Spiel­anordnung« (Rakusa 2009: 143), überall entdeckt sie Zauberhaftes. So wird der Schlafraum, in dem sie streng überwacht Mittagsruhe halten soll, zur »Wunderkammer« (ebd.: 61), in der der »Jalousienzauber« (ebd.: 135) die Welt durch Licht und Schatten zum Sprechen bringt. In der Korrelation von Zauber und Sprache siedelt sich letztlich die Lyrizität des Romans an. Denn die Sprachmagie, mit der Rakusa Bilder, Farben und Gerüche heraufbeschwört, erinnert selbst an einen Zauber (vgl. ebd.: 44ff.). Martina Meister unterstreicht, dass »die Erinnerungspassagen […] wie Poesie [funktionieren], weil sie deren Bauprinzipien von Auslassung und Verdichtung folgen.« (2010: 49) Seinen Zugang zur Welt findet der Roman genau auch über jenes der Lyrik eigene Verfahren der Verdichtung und Überstrukturiertheit, die sich vor allem in der Mehrdimensionalität der verschiedenen Sprachen zeigt.

In Canettis Die gerettete Zunge ist es neben dem Thema der Sprache ebenfalls die »Lebensgeschichte des Ich […] [die] als Sprachgeschichte, Ich-Bildung als Aneignung von Sprache und Schrift vorgestellt« wird (Greiner 1993: 306). Interessanterweise ist es auch genau jene Zauberwelt, in der der junge Canetti als Erzähler debütiert. Im Londoner Kinderzimmer belebt er die Wand mit den »Tapetenleuten« (Canetti 1979: 51), die seine Sprachübungen begleiten, so dass auch hier die Grenze zu einer Art magischem Realismus überschritten wird, wie man es wesentlich stärker aus zeitgenössischen interkulturellen Autobiografien, etwa bei Emine S. Özdamar, kennt (vgl. Ette 2000: 188ff.).

Auch auffällig an beiden Autobiografien ist, dass für beide Literaten eine ausgedehnte (Kanon-)Lektüre von Kindesbeinen an zum Autorwerden dazu zählt, d.h. Mehrsprachigkeit nicht allein als kulturelles oder akustisches Zitat im Text auftaucht, sondern auch als intertextueller Verweis auf Länderlitera­turen. Ilma Rakusa betont das Verschwimmen der Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion: So wird etwa nach einer intensiven Lektüre von Dostojewskis Schuld und Sühne die Figur Sonja zur »Kopfmusik«, die der kindlichen Erzählerin Anweisungen zum richtigen Verhalten erteilt (Rakusa 2009: 164). Rakusas belebte »Innenwelt« (ebd.: 165), die immer wieder Elemente des Fantastischen trägt, macht die Reise ihres kindlichen Ichs zu einem Spagat zwischen »imaginierte[r] Vergangenheit und triste[r] Realität« (ebd.: 122). Es gelingt ihr, mit der Sprache eine Verbindung zwischen den Welten, der realen und der fiktiven, herzustellen. In der Poetik-Vorlesung an der Universität Graz betont Rakusa, welch’ große Rolle das Märchenhafte in Schuld und Sühne für sie als elfjährige Leserin gespielt hat: Sie liebt die Romanfiguren mit kindlicher Inbrunst und »wartete insgeheim, daß sie mir im Leben begegneten. Was war der fade Alltag im Vergleich zu Dostojewskis Romanen« (Rakusa 1994: 8). Der (Fremd-)Spracherwerb des jungen Canetti beginnt mit der Einschulung in England ebenfalls mit der Lektüre englischer Kinderbücher, die ihm der Vater kauft (vgl. Canetti 1979: 82) – der für sich selbst eine Englischlehrerin engagiert, also mündlich lernt (vgl. ebd.: 53). Neben der englischen Gouvernante und der Grundschullehrerin führt der Vater nun allerdings auch ausgedehnte Gespräche mit seinem Sohn, natürlich vor allem über die Lektüre der Woche: »Meine Berichte über die Bücher, die ich las, mochte er nur englisch hören. Ich denke, daß ich durch diese Lektüre sehr rasche Fortschritte machte.« (Ebd.: 54) Ganz anders als beim Terror-Deutsch­unterricht durch die Mutter, der zunächst ausschließlich mündlich stattfand (vgl. ebd.: 88), bleibt ihm von diesem Sprachtraining mit dem Vater nur »eine feierliche Erinnerung« (ebd.: 54). Diesen Kontrast betont – oder vielmehr inszeniert – der Vielleser Canetti ausführlich und konstatiert die Weigerung der Mutter, ihm ein Buch zur Verfügung zu stellen, als »erbarmungslos« (ebd.: 88).

Miriam Gebauer betont, dass gerade in dieser »ontologischen Zweiteilung« in Leben und Fiktion ein elementarer Bestandteil der transkulturellen Autobiografie bestehe, da es sich mit dem »binären Repräsentationsmodell der Sprache und dem mimetischen Charakter der Literatur« verbinde (Gebauer 2009: 114). In Bezug auf Canetti kann man dieser These sicher zustimmen, überschreitet der Text doch an kaum einer Stelle diese Grenze ernsthaft. Gerade darin zeigt sich, dass die 1977 erschienene Autobiografie noch nicht dem Muster einer translingualen, transkulturellen und mithin postmodernen Erzählweise folgt.

Umgang mit Mehrsprachigkeit

Gerade der Umgang mit Sprachen und die in den Erzählfluss eingebauten Reflexionen über die Sprachwahl und den Umgang mit der Sprache sind immer wiederkehrende Handlungselemente, mit denen in beiden Texten versucht wird, die Migrationsgeschichte zu fassen. Schließlich ist nach Holdenried der »Rekurs auf Sprache […] das alle Lebenserzählungen verbindende gemeinsame Prinzip.« (2000: 55) Dem Rückgriff folgend nimmt der Spracherwerb einen großen Raum in Rakusas Autobiografie ein, denn das immer neue Eintauchen in unbekannte Sprachen macht einen wichtigen Teil der Identitätskonstruktion aus: »Ich bewegte mich zwischen fremden Gegenständen«, schreibt Rakusa, »umgeben von einer fremden Sprache. Die Gegenstände blieben, was sie waren, der Sprache näherte ich mich langsam.« (Rakusa 2009: 45) Sie spricht mit ihrem »ans Ungarische gewöhnten« Pelzhandschuh Kesztye (ebd.: 45ff.), was übersetzt Handschuh heißt – übrigens eine Übersetzung, die der Text nicht liefert –, slowenisch und erschließt sich auf diese Weise neue Beziehungen zwischen den Gegenständen, etwa durch den Gleichklang von Garten und Tod im Slowenischen. Retrospektiv gehört Kesztye, dessen Bezeichnetes zu seinem Eigennamen wird, als Stellvertreter für das verzauberte Land der Kindheit irgendwann zum »unwiederbringlich [V]erlorenen« (ebd.: 304). Der Spracherwerb geht jedoch pausenlos weiter, so dass Rakusa Schriftdeutsch als vierte Sprache lernt, die für sie zum privaten »Fluchtpunkt und Refugium« wird (ebd.: 106). Den Sprachen ordnet das Kind unbewusst verschiedene Zuständigkeitsbereiche zu. So bleibt Ungarisch für Gefühle, Tiere und Kleinkinder, Zärtlichkeit und Affekte (vgl. ebd.: 106), das Hochdeutsche als Schriftsprache ist die Sprache ihrer geheimen »Kopfreise« (ebd.: 120). Die Mehrsprachigkeit überwindet in diesem Konzept die Fremdheit, ist dabei Mittel der Verfremdung, nicht jedoch der Exotik (vgl. ebd.: 8). Rakusa entzieht sich so geschickt einer Zuordnung zur Migrationsliteratur, stattdessen betont sie das Alltägliche ihres Sprachspiels: Fremde hieß, die Sprache nicht zu verstehen. Darin lag eine Herausforderung.«(Ebd.: 10) Grenzen werden in diesem Verständnis »relativ« (ebd.).

Canetti thematisiert das Nicht-Verstehen des Kindes als Ur-Szene: »Mit der Erfahrung Kannitverstans, als die Eltern in einer mir unbekannten Sprache zueinander redeten, hatte mein Leben begonnen.« (Canetti 1979: 285) Genau wie bei Rakusa also ist es zunächst das unterbrochene Verhältnis zur Umgebung, das sich in der unterbrochenen Kommunikation zeigt. Wie hoch der Roman Vielsprachigkeit bewertet, wird an der Figur des Großvaters deutlich, der angeblich 17 oder 19 Sprachen spricht – was den jungen Canetti beeindruckt, seine Mutter allerdings bezweifelt: »›Dann kann man keine!‹« (Ebd.: 109) Worauf mit diesem Zitat angespielt wird, ist erneut das Konzept der Sprachreinheit. Denn der Großvater hat eine »fehlerhafte Aussprache«, sein Enkel »schämte sich dieser Szenen […], denn was er da von sich gab, war so fehlerhaft, daß er selbst in meiner Volksschule […] damit durchgefallen wäre« (ebd.). Canetti gibt auch ein eindrucksvolles Beispiel dieser falschen Aussprache: Das Leibgericht des Großvaters ist der »›Kalibsbraten‹. Gehäufte Konsonanten bereiteten seiner spanischen Zunge Schwierigkeiten, und aus ›Kalb‹ wurde notgedrungen ›Kalib‹.« (Ebd.: 105) Der Spracherwerb, der von Fehlern begleitet wird, wird folglich ganz anders als in den zaghaften Sprachversuchen Rakusas von Canetti negativ bewertet. In diesem Kontext ist auch der Spracherwerb des Französischen zu werten, für dessen englisch gefärbte Aussprache Canetti als Sechsjähriger den Spott vor allem seiner Mutter über sich ergehen lassen muss, den er als demütigend beschreibt: Sie fordert ihn immer wieder auch vor Gästen auf, eine auswendig gelernte französische Geschichte aufzusagen (vgl. ebd.: 67f.). Erst als Erwachsener erkennt er in diesem Spott »die Umkehrung ihrer eigenen Schwäche« (ebd.: 68). Die Sprachen bleiben aber dennoch isoliert nebeneinander stehen, und Sprachspiele wie in Rakusas Versuch, den ersten Schweizer Schnee zu begreifen (vgl. Rakusa 2009: 91), finden sich in der Geretteten Zunge nicht. Für Rakusa funktionieren Bezeichnungen als Namen. Sie schafft damit ein geheimes Losungswort, das mehrsprachig in die Erzählung eingebettet wird (vgl. ebd.: 139, 200 u. 246). Es dient dann dazu, auf Erzählebene eine Gemeinschaft von Verbündeten herzustellen, die das Schibboleth verstehen. Auf diese Weise wird die Mehrsprachigkeit des Textes zur Chiffre, die entschlüsselt werden muss. Es entstehen intensive Beziehungen zwischen dem Erzähler-Ich und den anderen Figuren. Rakusa fügt beides ebenso in ihrem Nachdenken über den Wind zusammen: »Wind, vent, veter, szèl, im Grunde muß er einsilbig sein, der Wind, wie der Schnee, nicht wie die Wolke, die Formen annimmt« (ebd.: 218). Über Sprachgemeinsamkeiten versucht sie eine Verbindung mit der Welt herzustellen und sie zu begreifen. Dieses aus den ersten Tagen des Spracherwerbs stammende Verfahren der Erzählerin wird zum Prinzip erhoben. Ihre ersten Sprachversuche mit dem Pelzhandschuh sind gleicher Natur: »Den Pelzhandschuh ans Gesicht gedrückt spitzte ich die Ohren. VRT. Garten. SMRT. Tod. Ich lernte NOČ, VLAK, DAN, KRUH. Ich lernte stumm, ich sammelte die Welt. […] was hatte der Garten mit den Tod zu tun?« (Ebd.: 45f.)

Ein einziges ähnliches Wortspiel findet sich in der Geretteten Zunge in der Geschichte um die Kreuzottern, die der Vater Canettis als Junge für zwei Kreuzer gefangen hat – eine Episode, die über das Homonym des Kreuzes/Kreuzers versucht, die kindliche Welt zu erklären (Canetti 1979: 37). Da dies allerdings die einzige solche Passage in dieser Autobiografie darstellt, kann nicht von einem prinzipiellen Erzählverfahren ausgegangen werden, das einem Rätselcharakter folgt, wie es bei Ilma Rakusa der Fall ist.

Kulturkonzepte

Zu diesen Wertungen, die Mehrsprachigkeit auf ästhetischer Ebene einzusetzen, findet sich in beiden Autobiografien das Nachdenken über Mehrsprachigkeit und über ihre Rolle für das Selbst-Bild des Schreibenden. Sowohl Ilma Rakusa als auch Elias Canetti folgen durch die Inszenierung der eigenen Mehrsprachigkeit dem Muster einer Selbst-Ethnisierung. Obwohl Canetti zunächst türkischer Staatsbürger war, so hat er doch in seiner Sozialisation wenig Türkisch gelernt. Dennoch konstatiert er: »Mir war immer zumute, als käme ich aus der Türkei, der Großvater war dort aufgewachsen, der Vater noch dort geboren. In meiner Heimatstadt gab es viele Türken, alle zu Hause verstanden und redeten ihre Sprache.« (Canetti 1979: 284) Auch wenn Canetti nach eigenem Dafürhalten nie ernsthaft Türkisch gelernt hatte, so waren doch Wortfetzen in seinem Gedächtnis geblieben (vgl. ebd.: 285), die ihm alles Osmanisch-Türkische als eine »Art von Heimat« (ebd.) vertraut erscheinen lassen. So ist etwa der Name der Züricher Villa »Yalta« ihm gleich »vertraut, weil er etwas Türkisches hatte« (ebd.: 221). In Canettis Autobiografie spielen Sprachgemeinschaften aber lediglich als Literatursprachen eine zentrale Rolle. Nach dem Umzug der Brüder und Mutter in die Schweiz lernt Canetti heimlich Schweizerdeutsch: »[D]ie Mutter, die über die Reinheit unserer Sprache wachte und nur Sprachen mit Literaturen gelten ließ, war besorgt, daß ich mein ›reines‹ Deutsch verderben könnte« (ebd.: 170). Erst mit der Entdeckung Gotthelfs, den er nur aufgrund seiner Kenntnis des »Zürichdeutschen« (ebd.: 171) verstanden habe, schafft Canetti es einige Jahre später, den Disput mit der Mutter zu führen, die das Schweizerdeutsche als »Dialekt« (ebd.: 313) und Gotthelf als »Dialekt-Sünder« (ebd.: 314) nicht gelten lassen will. Eine Lösung des Konflikts bietet Canetti seinen Lesern nicht an. Einzig der Standpunkt der Mutter bleibt stehen, die im Schweizerischen eine Bedrohung des Standards sieht. Auf Textebene findet sich allerdings ein einziges Beispiel für schweizerdeutschen Standard, den Canetti, anders als bei anderen Sprachwechseln, völlig unkommentiert lässt. Es geht um neue Lehrer an seiner Schule, von denen es heißt: »Sie sagten uns ›Sie‹.« (Ebd.: 288) Dies allein kann als Hinweis verstanden werden, dass die Grenzen zwischen den Landes- und Literatur-Sprachen – vielleicht auch dank Gotthelf – aufgeweicht werden können, wenn auch das kulturelle Zugehörigkeitsgefühl zu einem Sprachraum vorhanden ist. Insofern wäre das ein einziger, früher Versuch eines translingualen Schreibens auch schon bei Canetti.

Ganz ähnlich wendet Rakusa die Sprache als Mittel der Abgrenzung einer Sprechergemeinschaft an. Gerade nach ihrer Migration in die Schweiz werden die Sprachbereiche säuberlich voneinander getrennt: Lesen findet auch bei ihr in Hochdeutsch statt, Ungarisch ist die Familiensprache, die Umgebung spricht Schwyzerdütsch: »Das bedeutete Abgrenzung.« (Rakusa 2009: 106) Dies erscheint umso deutlicher, als Rakusa das rückblickend betrachtet: »Das Kind wusste nichts von Abgrenzung.« (Ebd.: 100) Vielmehr tauchen in der Autobiografie das Wandern und Grenzüberschreitungen des reflektierenden Ichs und damit korrelierende statische nationalstereotype (Fremd-)Zuschreibungsmuster auf. Der Gegensatz Ost/West ist omnipräsent. Den »Osten« schleppt die Familie als Gepäck mit sich herum. »Mit Braunkohle und Ängsten und Dampfloks und sukzessiven Fluchten. […] Die Regime waren eines, die Topographien ein anderes. Die Sprachen, die Speisen, die Gesten. Gefühlsalphabete.« (Ebd.: 14) Damit hat der Text eine Sicht auf Kultur, die Köstlins Diktum der »Kultur als Inventar zur Selbstethnisierung« entspricht (2000: 374). Migrationserfahrung kann zu einer Re-Ethnisierung führen. Köstlin macht das am Beispiel von in Koffern mitgebrachter Kultur deutlich: »Oft hat das in diesem Gepäck Enthaltene mit dem zuhause Eingepackten nicht mehr viel zu tun: Es hat sich in der Fremde, als in einem anderen Kontext, neu formiert.« (Ebd.: 386) So werden auch Ostler und Westler zu Rollen, die man spielen kann und die Rakusa ausprobiert (vgl. Rakusa 2009: 140). Bestimmte ausgewählte Elemente wie die Backpflaumen oder der Geruch der Braunkohle werden zu Markern einer als (Gefühls-)Heimat definierten Region. Während der Zugreise nach Russland kehrt sich das Verhältnis schließlich um und wird so als Zuschreibung und Willkür entlarvt. Der Osten wird zur Steigerung von Fremdheit, der im »Zug mit seinen abgewetzten Plüschpolstern« als »noch ostiger« kulminiert (ebd.: 216). Fremdes und Vertrautes laufen in den Bildern jenseits des Eisernen Vorhangs, wo lockend das »Herkunftsland« wartet (ebd.: 206), das aber nach dem Mauerfall kein Sehnsuchtsort mehr ist (ebd.: 212). Ebenso durcheinander geraten diese Grenzen aber auch bei Reisen durch den Orient, als sich die Fremdheit ablöst durch Vertrautheit, als in den Gesichtern der »Isfahaner Männer« plötzlich das Gesicht des Vaters auftaucht und die Erzählerin durch »ein bißchen mehr Mimikry« als »ihresgleichen durchgeh[t]« (ebd.: 309). Auf diese Weise verfängt sich die Erzählung in bildhaften Antinomien, die auf die durcheinander gespannten Fäden der Identitätskonstruktion verweisen. Der Text unterläuft Stereotype, indem er sie dekonstruiert und ihnen ihr Gegenteil gegenüberstellt.

Solche Selbstzuschreibungen wie etwa die Charakterisierung als türkisch finden sich bei Canetti allein mit Blick auf das Sephardische. Dass etwa Spanisch seine Muttersprache sei, die alle anderen weiter durchdringe und beeinflusse (vgl. Canetti 1979: 252 u. 287), betont Canetti genauso, wie er es durch den Einsatz ladinischer Wörter auch inszeniert. Hinzu tritt dann allerdings eine Orientalisierung von außen, vor allem durch Lehrer und Mitschüler. Nachdem er sich in der Grundschule in eine Mitschülerin verliebt hat, ist seine Lehrerin erheblich irritiert: »Eine so heftige Passion hatte sie noch nie in ihrer Schule erlebt, sie war ein wenig verwirrt und fragte sich, ob es damit zusammenhängen könne, daß ›orientalische‹ Kinder viel früher reif werden als englische.« (Ebd.: 60) Was im Roman unkommentiert bleibt, entlarvt die Nachwehen des Orientalismus, der einen erotisierten Orient entwirft (vgl. Braun 2007: 112). Das Kind wird schließlich von der Lehrerin orientalisiert, der erwachsene Erzähler versucht sich mit den auffallend »roten Backen« des Mädchens (Canetti 1979: 60) zu rechtfertigen, die ihn an ein spanisches Kinderlied samt Fingerspiel erinnert hätten, das »ein weibliches Wesen« immer mit ihm gespielt habe (vgl. ebd.: 61). Immerhin umfasst diese Rechtfertigung die erstaunliche Länge von einer Seite. Ähnlich rechtfertigend beschreibt er eine Szene, als er sich in der Züricher Schule zu stark engagiert hatte und damit den anderen Kindern eine antisemitische Handlung fast aufgezwungen habe (vgl. ebd.: 252–264). Diese ebenso merkwürdige Rechtfertigung umfasst über ein Kapitel der Autobiografie. Auch hier handelt es sich um ein oktroyiertes Verhalten, das dem Objekt solch rassistischer Zuschreibungen eine Mitschuld zuschreibt. Terkessides betont in Interkultur, dass genau diese von außen an Kinder und Jugendliche herangetragene negative Differenzerfahrung ein Gefühl der Unvollständigkeit erzeugen würde (vgl. Terkessides 2010: 77), die schließlich zu einer Re-Ethnisierung führen könne (vgl. ebd.: 79). Das Ringen Elias Canettis um seine Anerkennung als deutscher Schriftsteller kann letzten Endes in diesem Licht gelesen werden – sich nämlich angesichts von Fremdzuschreibungen eine eigene Rolle zu erfinden.

Konstruktion einer interkulturellen Identität und transkulturelles Erzählverfahren

Elias Canettis Gerettete Zunge beginnt mit einer Episode, in der er als Zweijähriger vom Geliebten des Dienstmädchen bedroht wurde. Dieser würde ihm die Zunge herausschneiden – in diesem Fall die leibliche (vgl. Canetti 1979: 9). Natürlich ist diese Episode aber der Aufhänger für die Rettung der Zunge und damit für die Rettung der eigenen Sprachgewalt, die er auf den kommenden über 300 Seiten schildert. Canetti beschreibt seine Entwicklung zu einem deutschsprachigen Autor; ein Weg, der ihn über zahlreiche Sprachen und Nationalliteraturen hin zur deutschen Sprache als Literatursprache geführt hat. Diese scharfe Trennung zwischen den Sprachen ist nicht nur der Sprachreinheit zu verdanken, die ihm die Mutter systematisch antrainiert hat (vgl. ebd.: 170) – sie ist auch ein strukturelles Element, das sich in Aphorismen wiederfindet: »Ein Land, in dem die Sprache alle zehn Jahre wechselt. Sprach-Wechselstuben.« (Canetti 2005: 378) Das Nebeneinander von Sprachen und ihr Ineinanderfließen ist hierbei nicht vorgesehen. Vielmehr gilt es, Sprachen eindeutig zu trennen. Dieses Konzept setzt Canetti in der Geretteten Zunge auch um, indem der Anteil der Fremdsprachen zum Ende hin deutlich abnimmt, bis er ganz verebbt. Die Entwicklung ist schließlich abgeschlossen, das erste Werk verfasst (vgl. Canetti 1979: 240ff.), die Vertreibung aus dem Paradies der Kindheit steht an (vgl. ebd.: 330), die mit dem klassischen Topos der Migrationsliteratur von der Vertreibung Adam und Evas aus dem Paradies symbolisiert wird.

Ganz anders liegt der Fall bei Ilma Rakusa: Das Ordnungssystem von Mehr Meer ist für ein transkulturelles wie translinguales Erzählverfahren typisch. Der Erzählstrang verläuft nicht linear, ist jedoch teilweise chronologisch und folgt Erzählmustern der postmodernen Literatur. Das nichtlineare Erzählen des Romans findet sich vor allem in seiner thematischen Ordnungsstruktur. Dieses demontierende Erzählverfahren eignet sich in besonderem Maße, eine nationalkulturell nicht verortbare Identität als mosaikhaft nachzuzeichnen und damit die festen Schranken von Nationalkulturen zu unterlaufen. Vielmehr zeichnet die Autobiografie das Bild einer in sich Grenzen aufnehmenden und – im dreifachen, dialektischen Wortsinn Hegels – aufhebenden Persönlichkeitsstruktur, die sich beständig sucht, obwohl sie sich gefunden hat. In Rakusas Autobiografie fungieren Sprachmagie und Zauberhaftigkeit der Welt als narrative Erzählstrategien, um die Aspiration einer interkulturellen Identität sprachlich überhaupt fassen zu können. Es sind im poetologischen Verständnis Rakusas »Sprach- und Identitätsspiele«, die vor unterschiedlichen Hallräumen – das meint Erinnerungsräumen – spielen (vgl. Rakusa 2006: 30). Entsprechend bewusst ist ihr Umgang mit Sprache: »Nimm von allem das Beste, darunter die einzigartigen (unübersetzbaren) Noms propres, und schaff dir dein eigenes, multilingual changierendes Idiom.« (Ebd.: 31) Der Reiz des Fremdenseins wird aufgelöst, indem die Grenze zum neuen Referenzpunkt erhoben wird, also genau jene Membran zwischen nationalstaatlichen Kulturen. Es geht um das Überschreiten von Grenzen. Der Unverortbarkeit in äußeren Topografien wird eine versuchte Verortung in Gefühls- und Seelenlandschaften gegenübergestellt, die Erinnerung wird damit zur Selbstethnisierung. Autobiografisches und kollektives Gedächtnis sind scharf voneinander getrennt (vgl. Wagner-Egelhaaf 2000: 88). Die kulturelle Verortung findet über eine Abgrenzung zur deutschen Erinnerungskultur statt, so dass die nationalkulturelle Prägung nicht greift und das Individuum aus dem Kollektiv ausschließt. Die Autobiografie verrät in ihren letzten Sätzen auch, wie sie diese Spaltung zu überwinden versucht: Rakusa »[s]taun[t] und vertrau[t]« (Rakusa 2009: 321) – und belegt durch das Sprachspiel ihre »Grunderfahrung: daß es nichts Selbstverständliches gibt« (Rakusa 2006: 31), Dichtung aber doch das »Paradox« schafft, »mein Fremdsein so umzuwandeln, daß es heimisch wird.« (Rakusa 2006: 42) Sprache gilt es dabei so einzusetzen, dass sie als »eigenes, multilingual changierendes Idiom« (ebd.: 31) der Spiegel eines interkulturellen Ichs wird.

Literatur

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