Würzburg: Königshausen & Neumann 2012 – ISBN 978–3–8260–4878–4 – 19,80 €
Das Feld der Feuilletonforschung behandelt sowohl den in Tageszeitungen abgedruckten chronikartigen gesellschaftlichen Kommentar als auch den Feuilletonroman. Obwohl jede dieser Untergattungen die Gegenwart auf sehr unterschiedliche Weise zu behandeln scheint – Erstere als subjektive Stellungnahme zur Aktualität und Letztere als unterhaltsame Geschichte – lässt Norbert Bachleitners Studie auf eine enge Verschränkung der beiden Textsorten schließen, indem er auf die Realitätsbezogenheit von Zeitungsromanen Bezug nimmt. Bachleitners Untersuchung des Feuilletonromans in Europa bietet eine chronologische Erscheinungsgeschichte dieser literarischen Form u.a. in Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien, Spanien, England und Russland, die, darüber hinaus, den direkten Zusammenhang zwischen Journalismus und Fiktion hervorhebt. Somit erfüllt sie die von Georg Jäger, dem Pionier der Feuilletonforschung, in den 1980er Jahren gestellte Forderung nach einer Kooperation von Literatur- und Publizistikwissenschaft. Obwohl ein Roman, anders als der feuilletonistische Kommentar, gute Möglichkeiten zur Abgrenzung vom Zeitungsinhalt bietet, macht Bachleitner den Erstkontext der von ihm untersuchten Werke mit zum Gegenstand seiner Analyse, indem er die Beziehung des Romans zur Nachricht erörtert.
Wie aus dem Titel des Bandes bereits hervorgeht, stellt Bachleitner die rigorose Trennung von faktischer Nachricht und Fiktion in Frage. Er argumentiert, dass der Roman in der Zeitung »als eine Form der Nachricht« (7) erscheint, und keineswegs als ihr Gegenteil. Seit den Anfängen von Zeitungen und Zeitschriften im 17. bzw. 18. Jahrhundert veröffentlichten sie sowohl ›Seriöses‹ als auch Erfundenes. Bachleitner historisiert die Verbindung von publizierten Facts und Fiction, wenn er darauf hinweist, dass im 17. Jahrhundert die Gattungsbezeichnung Novella nicht etwa dem Roman galt, sondern der Zeitung. Er schließt sich somit Reinhart Meyer an, der die »fiktionale Prosa, und insbesondere die Novelle, als Derivat der Nachricht« (17) ansieht. Während sich die Kategorisierung von Faktischem und Erfundenem im 19. Jahrhundert mit der Einführung des Feuilletonstrichs zu verschärfen scheint, ist es Bachleitners Anliegen aufzuzeigen, dass die Belletristik im abgetrennten unteren Drittel der Zeitung nicht weniger politisch motiviert war als die offiziellen Faits divers im oberen, da sie versucht habe »analog zu journalistischen Leitartikeln und Nachrichten das Lesepublikum für eine bestimmte Sicht der Dinge zu gewinnen« (7). Der Autor veranschaulicht überzeugend, dass dieser Strich keineswegs eine Trennung von zwei radikal unterschiedlichen Realitätsbezügen vollzieht, sondern dass die Präsenz des Romans in der Zeitung »Wechselwirkungen zwischen Nachrichten und Romanfiktionen« (10) hervorbringt. In der Einleitung bezieht er sich auf die Theorien von Lukas Neuman zu den Massenmedien als Kommunikationssystem, um hervorzuheben, dass die ›Illusionsbildung‹ im Feuilletonroman »durch Ähnlichkeiten und Querverbindungen zwischen Nachrichten und Fiktionen, ferner durch Verweise auf pragmatische Texte, z.B. auf historische Dokumente«. gefördert wird (13).
Fiktive Nachrichten bietet einen Einblick in die historische Entstehung des Feuilletonromans in Europa, seine literarischen Strategien sowie die ökonomischen Hintergründe seiner Verbreitung etwa durch Agenturen, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts »literarische Produkte […] komplett und oft schon fertig gesetzt« (9) anboten. Gleichzeitig macht Bachleitner deutlich, dass Balzacs La vieille fille von 1836, der erste Roman, den die französische Tagespresse abdruckte, weder die »Geburt des populären Romans« bedeutete noch einen »neuen Publikationsmodus« einleitete. Er rät davon ab, den Feuilletonroman »isoliert von den anderen Sektoren des literarischen Lebens« zu betrachten, und plädiert dafür, ihn »über den Publikationsort und -modus als Roman, der im Medium der politischen Tageszeitung in Fortsetzungen veröffentlicht wird« zu definieren (10). Die gattungstheoretische Einordnung des Feuilletonromans vermittelt einen profunden Überblick über den Forschungsstand, wichtige historische Fakten und verschiedene Definitionsmöglichkeiten.
Dank detaillierter Besprechungen von ausgewählten europäischen Feuilletonromanen – wie die von Eduard Breier, Karl Gutzkow, Georg Weerth (Deutschland), Charles Dickens (England), Gaston Leroux, Eugène Sue und Emile Zola (Frankreich) – zeigt Bachleitners Studie auf, dass diese Textsorte ein »transnationales Phänomen« (21) darstellt, das sich im 19. Jahrhundert in ganz Europa verbreitete. Sues Werk fand besonders großen Anklang und wurde vielfach übersetzt und imitiert, vor allem seine Mystères de Paris (1842/43), eine wahrhaftige »Enzyklopädie der um die Mitte des 19. Jahrhunderts kursierenden sozialen Ideen« (27), und Le juif errant (1844). In Deutschland zum Beispiel zeigte insbesondere Gutzkow Interesse an Sues Themen und Handlungsabläufen, wie Bachleitner anhand seiner Analyse von Die Ritter vom Geiste (1850–1852) darlegt. In Italien »schlug Sues [Werk] groß ein« (69) und wurde in zahlreichen Adaptationen imitiert, u.a. in Bernado Del Vecchios Misteri di Roma contemporanea (1853/54). Auch in Spanien hatte das französische Modell großen Erfolg. Überall war der Feuilletonroman, oftmals wegen sozialistischer Tendenzen, konservativen Entscheidungsträgern suspekt, so dass im Frankreich des Second Empire sogar kurzzeitig eine Romansteuer eingeführt wurde, um die Dynamik des Genres einzudämmen. Bachleitners eingehender Vergleich der Presseorgane, -steuern und -gesetze, Journalisten-Schriftsteller, Alphabetisierungsraten sowie der Themen, stilistischen Strategien und gesellschaftlichen Rezeption von Feuilletonromanen in den oben genannten europäischen Ländern gibt einen ausgezeichneten, äußerst informativen Überblick über die Anfänge und Entwicklungen der Unterhaltungsindustrie. Sie liefert einen wesentlichen Beitrag zum tieferen Verständnis des Zusammenspiels von transnationalen und -kulturellen literarischen und politischen Interaktionen.
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