Es muss Ende der 1950er Jahre gewesen sein, ich war 15 oder 16, las Hemingway im Original und wollte Schriftsteller werden. Von meinem in den Ferien verdienten Geld kaufte ich mir eine Meerschaumpfeife, weil alle Autoren, deren Fotos bei Bouvier im Schaufenster hingen, Pfeife rauchten, dazu das von dem Magazin Twen empfohlene Buch »Die Kunst, Pfeife zu rauchen« und Tabak der Marke Erinmore. In den Texten von Hemingway, die ich begeistert verschlang, war von Krieg, Hochseeangeln und Großwildjagd die Rede, aber der letzte Krieg war noch nicht lange genug her, um Sehnsucht nach einem neuen zu wecken; in der Umgebung von Bonn gab es keine Nashörner und im Rhein weder Schwertfische noch Barrakudas – nur ein Wal tauchte einmal dort auf. Ich besorgte mir eine Angelrute mit Blinker und fuhr mit dem Fahrrad zu einem Flüsschen in der Eifel, wo es angeblich von Forellen wimmelte. Da ich Campingplätze verachtete, kampierte ich auf einer Wiese, und weil es meist regnete, lag ich Pfeife rauchend im Zelt und las Kurzgeschichten von Hemingway, in denen von kristallklaren Bächen und armdicken Forellen die Rede war – typisches Jägerlatein.
Als der Regen nachließ, ging ich mit meiner Angelrute zum Fluss und warf den Blinker aus. Doch die Angelschnur verhakte sich an einem Stein und ich musste ins Wasser waten, beäugt von einer Regenbogenforelle, die schräg in der Strömung stand und mich neugierig musterte, ohne Scheu, aber auch ohne Furcht. Beim zweiten Mal hatte ich mehr Glück, die Angelschnur beschrieb den von Hemingway geschilderten Bogen in der Luft, untrügliches Zeichen eines guten Wurfs, aber der Radius war zu groß, und der Blinker verhedderte sich an einem überhängenden Ast. Ich kletterte auf den am Ufer stehenden Baum und verlor meine Pfeife, die glucksend ins Wasser fiel und flussabwärts trieb, ehe sie, eine Rauchwolke ausstoßend, versank. Statt die Flucht zu ergreifen, blieb die Forelle, wo sie war – den Ausdruck von Schadenfreude in ihren Augen vergesse ich nie. Um mich zu rächen, kaufte ich im Supermarkt zwei tiefgekühlte Forellen, die ich meiner Mutter mit Angelhaken im Maul übergab. So festigte ich meinen Ruf als Forellenfänger, obwohl ich auf diesem Gebiet ebenso gescheitert war wie als Pfeifenraucher und Literat.
Sieben Jahre später erschien mein erstes Buch bei Suhrkamp, der Erzählband Unerhörte Begebenheiten, in dessen Titelgeschichte die Armee des Generals Pontoppidan im Sumpf versinkt, ohne Feindeinwirkung und ohne Krieg. Nachdem der Sumpf das Heer mit Mann und Maus verschlungen hat, taucht eine Meerschaumpfeife aus dem Boden auf, die, wie der Erzähler behauptet, noch geraucht haben soll.
Das ist 45 Jahre her, und seitdem habe ich über 40 Bücher publiziert, Romane, Erzählungen, Essays und Reportagen. Aber fragen Sie mich nicht, wie und warum – vielleicht gilt hier der von meinem verstorbenen Freund Reinhard Lettau formulierte Satz: »Ein Schriftsteller ist eine Person, die sich der Illusion hingibt, es werde eine weiteres Buch von ihr erwartet« … Nur eins weiß ich mit Bestimmtheit: Dass die deutsche Literaturkritik meine Arbeit nicht gefördert hat, im Gegenteil – sie ließ nichts unversucht, um mir das Weiterschreiben zu verleiden und mich vom Kurs abzubringen. Man könnte von Mobbing sprechen, ein damals noch unbekanntes Wort, das allzu schrill und bösartig klingt, weil es immer auch Gegenstimmen gab. Doch selbst positive Rezensionen sind oft nicht imstande, das Anliegen oder den Inhalt eines Buches adäquat wiederzugeben, und verstoßen damit gegen eine von Herder aufgestellte Grundregel der Kritik:
Arbeiten des Fleißes wollen eine treue Bestimmung dessen, was der Fleißige geleistet; ihre Rezension setzt eine genaue Kenntnis dessen voraus, was vor ihm geleistet worden. Wer diese Kenntnis nicht hat, oder die fleißige Arbeit genau durchzugehen nicht Zeit, nicht Lust hat, ist kein Rezensent.
Die Literaturkritik wollte mich immer anders haben, als ich bin: Ihr Unverständnis raschelt von 1966 bis heute durch den Blätterwald und schreibt sich ganz von allein fort. Auch Goethe, den wir uns zu Unrecht als vom Erfolg verwöhnt vorstellen, hat diese Erfahrung gemacht und an versteckter Stelle, in den Noten zum Westöstlichen Diwan, benannt:
Mich nach- und umzubilden, mißzubilden
Versuchen sie seit vollen fünfzig Jahren
Ich dächte doch, da konntest du erfahren,
Was an dir sei in Vaterlandsgefilden.
Hierfür ein paar Beispiele: Im Herbst 1963 las ich, eingeladen von Hans Werner Richter, auf der Tagung der Gruppe 47 in Saulgau. Ich war 19 Jahre alt, und die tonangebenden Kritiker Walter Jens und Marcel Reich-Ranicki rauften sich ihr damals noch volles Haar vor Entsetzen über meinen Text, die Schilderung einer archäologischen Ausgrabung, die nichts zutage fördert und buchstäblich im Sande verläuft. Der von Leipzig nach Tübingen übergesiedelte Philosoph Ernst Bloch sah in mir ein Relikt spätbürgerlicher Dekadenz und wollte mich auf den Müllhaufen der Geschichte befördern – mit eisernem Besen, wie er sagte. Doch wo Gefahr droht, wächst das Rettende: Günter Grass und Hans Magnus Enzensberger sprangen mir bei, und Walter Höllerer lud mich ins neu eröffnete Literarische Colloquium nach Berlin ein.
1966, bei Erscheinen der Unerhörten Begebenheiten, bemängelte die Kritik mein fehlendes politisches Engagement, und als ich mich unter dem Einfluss der Studentenrevolte von 1968 dem Marxismus zuwandte, drehte sie den Spieß um: Früher habe H.C. Buch schöne Geschichten erzählt, hieß es, jetzt nerve er die Leser mit kritischen Essays und marxistischer Theorie. Dass ich vorübergehend der Belletristik entsagte, hatte einen tieferen Grund: Ich war Student an der Freien Universität, und das Germanistikstudium, verschärft durch die Kunstfeindlichkeit der neuen Linken, hatte mir den Spaß am Erzählen vergällt. Trotzdem habe ich den Ausflug in die marxistische Literaturtheorie nie bereut: Ich studierte bei Peter Szondi, las Hegel und Lukács, lauschte Adorno und Marcuse, und die vertiefte Aneignung der Materie machte mich immun gegen den Vulgärmarxismus, der sich wie ein Grippevirus rasend schnell verbreitete. Im Rückblick scheint mir, ich hätte ebenso gut Kirchengeschichte studieren können, um zu lernen, wie Dogmen sich vervielfältigen und irgendwann umschlagen ins diametrale Gegenteil – Dialektik nannten wir das.
In den 1970er Jahren plädierte ich für die so genannte neue Sensibilität, besser gesagt für eine Verbindung historisch-politischer Kompetenz mit subjektiver Wahrnehmung, die Wünsche und Ängste der Individuen, einschließlich des erotischen Begehrens, nicht ausblendet, sondern sichtbar macht – ein Programm, das ich vorerst nur theoretisch einfordern, aber nicht literarisch umsetzen konnte. Bisher war H.C. Buch ein politischer Aufklärer, so lautete jetzt der unisono angestimmte Refrain, nun läuft er mit fliegenden Fahnen über ins Lager der Reaktion. Dass das so nicht stimmt, ersieht man schon daran, dass der Philosoph Herbert Marcuse, ein Vordenker der Studentenrevolte, mich damals als Gastdozent nach Kalifornien einlud.
Mitte der 1980er Jahre verließ ich meinen Schreibtisch, um Erfahrungen zu machen, die man in den eigenen vier Wänden nicht machen kann, sondern nur, indem man sein Arbeitszimmer verlässt. 1986 war ich in Haiti beim Sturz des Diktators Jean-Claude Duvalier, genannt »Baby Doc«. Ich fuhr mit dem Mietauto quer durchs Land, vorbei an brennenden Barrikaden und singenden, tanzenden Menschen, die Lynchjustiz übten an den verhassten Tonton Macoutes, und schrieb meine erste Reportage, die in der Süddeutschen Zeitung erschien. Im November 1987 erlebte ich die Rache der Tonton Macoutes, die sich jetzt »Attachés« nannten und Haitis erste freie Wahlen nach dem Ende der Diktatur sabotierten, nicht durch Manipulation des Wahlergebnisses, sondern indem sie die Wähler massakrierten. Ich stand in einem Schulhof, umgeben von Toten und Sterbenden, und nur meiner Hautfarbe verdanke ich es, dass ich noch am Leben bin – ein Kameramann aus der Dominikanischen Republik wurde vor meinen Augen erschossen. Später erlebte ich Aufstieg und Fall des Priester-Präsidenten Aristide, der sich als Scharlatan erwies, und nach dem Motto, dass, wer sich in Haiti zurechtfindet, auch in Afrika klar kommt, schickte eine Hamburger Wochenzeitung mich nach Liberia. Dort tobte seit Jahren ein Bürgerkrieg, der schwer zu verstehen und noch schwerer zu erklären war, weil nicht bloß zwei, sondern Dutzende ethnischer Milizen einander in wechselnden Allianzen bekämpften. Später, in Ruanda, erlebte ich ein Massaker in einem Flüchtlingslager mit Tausenden von Toten, vergleichbar dem Massenmord von Srebrenica, und im gleichen Jahr, 1995, besuchte ich Bosnien und Tschetschenien, gefolgt von Algerien, Sierra Leone, Südsudan, Osttimor und Kambodscha. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich dazu trieb, entlegene Kriegsschauplätze aufzusuchen, die in den Medien nicht oder nur am Rande vorkamen – vielleicht eine unbewusste Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, in dem ich geboren bin.
Das Erschreckende war, wie schnell man sich an Extremsituationen gewöhnt und innerlich wie äußerlich verroht. Als ich mich dabei ertappte, dass ich enttäuscht war, wenn kein Blut floss, beschloss ich, an meinen Schreibtisch zurückzukehren, doch das war leichter gesagt als getan, weil die Gewalt einen Sog erzeugt, der sich zur Sucht verfestigen kann. Erst als ich im Kosovo-Krieg nur durch Glück einer Sprengfalle entging und in Nairobi die US-Botschaft einstürzen sah, wo ich an diesem Morgen verabredet war – ein mit Semtex gefüllter LKW hatte das Gebäude in die Luft gejagt – hing ich den Reporter-Job an den Nagel. Unter dem Titel Blut im Schuh gab ich meine Kriegsberichte gesammelt heraus und schrieb dazu, angespornt von Hans Magnus Enzensberger, einen hundertseitigen Essay. Doch ich musste feststellen, dass die Literaturkritik meine Arbeit nicht zur Kenntnis nahm und als Journalismus abhakte, obwohl oder weil es sich um ein literarisches Experiment gehandelt hatte, um einen Selbstversuch mit dem Ziel, etwas herauszufinden über den Zustand der Welt und über mich selbst, das ich nicht schon vorher wusste – ganz abgesehen davon, dass die Reportage eine Kunstform ist.
Überflüssig zu sagen, dass ich auf Kopfschütteln stieß, als ich wieder Romane zu schreiben begann: Wäre H.C. Buch doch bei seinem Leisten geblieben, rief jetzt der Kritikerchor, und hätte Reportagen verfasst, statt uns mit Romanen zu behelligen, die nicht in Deutschland, sondern in Afrika oder Haiti spielen! Solche Töne war ich gewohnt. »Wieviel müssen wir zahlen, damit Sie endlich aufhören, über Tahiti zu schreiben«, fragte mich mein Verleger Siegfried Unseld einmal: »Oder handelt es sich um Hawaii?« Und der Nobelpreisträger V.S. Naipaul drückte es noch drastischer aus: »Stop writing about Africa – it doesn’t sell!«
Was hat das alles mit Christian Friedrich Daniel Schubart zu tun? Sehr viel, weil Schubart nicht nur den Verkauf zwangsrekrutierter Soldaten nach Nordamerika, sondern auch den Sklavenhandel und das Kolonialsystem kritisierte. Im deutschen Duodezfürstenwesen des 18. Jahrhunderts stand er damit allein. Was mich an Schubart fasziniert, ist gerade das, was die Germanisten zur Verzweiflung bringt: Er passt in keine Schublade, denn er war nicht nur ein hochbegabter Dichter und Sänger, Musiker und Komponist, sondern auch ein wortmächtiger Publizist, der politische und soziale Missstände geißelte und sich mit der Kirche ebenso anlegte wie mit dem Staat. Schubart nahm kein Blatt vor den Mund und büßte dafür mit zehn Jahren Festungshaft, was ich von mir nicht behaupten kann – der Hohe Asperg blieb mir erspart. Anders als Schiller, dessen Idealismus etwas Weltfremdes, ja Pubertäres hat, war Schubart kein Gutmensch, sondern ein Mensch in seinem Widerspruch, schwankend zwischen Euphorie und Depression, Auflehnung und Anpassung, Revolte und Resignation. Das gilt auch für seinen Stil, der alles andere als abgeklärt ist oder aus einem Guss und der grobe Sinnlichkeit mit erhabenem Pathos mischt – hybrid heißt das Modewort dafür. Was mir bei Schubart imponiert, ist, dass er seine Überzeugungen an der Wirklichkeit überprüft und notfalls geändert hat: Was ihn nicht daran hinderte, am Ende seines Lebens die Französische Revolution zu begrüßen als Hervorgehen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Damit war der Sturm auf die Bastille gemeint, nicht der Terror der Jakobiner, und in diesem Sinn begrüße ich das Aufbegehren der arabischen Welt, deren um ihre Chancen betrogene Jugend politische Teilhabe, Menschenrechte und Menschenwürde fordert, als demokratischen Aufbruch, der Respekt und Unterstützung verdient, statt Schreckbilder von Flüchtlingsströmen und überschwappenden Ölpreisen an die Wand zu malen, wie dies die Politiker tun.
Am Schluss kehre ich noch einmal zum Anfang zurück. Hätte ich damals, Ende der 50er Jahre, nicht Hemingway ad acta gelegt und Kafka zum Vorbild erkoren, wäre ich vielleicht auf den folgenden Text gestoßen, in dem Hemingway einem angehenden Autor nützliche Ratschläge gibt. Darin benennt er genau das, was ich hier zu artikulieren versuche, vom Unverständnis der Kritik bis zur Einsamkeit des Langstreckenläufers, der in jedem Romancier steckt. »Bereiten Sie sich darauf vor, dass Ihre Arbeit auf keinen Beifall rechnen kann«, schreibt Hemingway:
Alle Kritiker, die sich nicht den Ruhm erwerben konnten, Sie entdeckt zu haben, halten sich jetzt schadlos, indem sie mitteilen, Sie seien auf dem besten Weg zu Misserfolg und Impotenz… Keiner wird Ihnen Glück wünschen oder hoffen, dass Sie weiterschreiben – außer Sie haben einflussreiche Beziehungen. Aber Sie kommen auch ohne Beziehungen aus, und irgendwann werden Sie Ihr Buch hervorkramen, hineinsehen und zu Ihrer Frau sagen: »Ich versteh gar nicht – das Ding ist glänzend…« Dann sagt sie: »Das hab ich immer schon gesagt.«
Es kann aber auch sein, dass sie Sie nicht verstanden hat und fragt: »Hast du etwas gesagt?«
Hans Christoph Buch, Jahrgang 1944, veröffentlichte zuletzt den Roman Apokalypse Afrika oder Schiffbruch mit Zuschauern in der Anderen Bibliothek des Eichborn Verlags.