Christine Regus: Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Ästhetik – Politik – Postkolonialismus

(Bielefeld: transcript 2010, ISBN 978-3-837610-55-0, 29,80 Euro)

Nô? Kabuki? Kathakali, Kutiyattam, bugaku? Allein die Nennung dieser Begriffe führt dem Unbedarften die ganze Wirkungskraft einer umfassenden Fremdheitserfahrung vor Augen. Dass diese Wörter Spielformen aus der asiatischen Theatertradition bezeichnen, wird manchem Lesern unbekannt sein. Auch mit dem indischen nacha-Theater, mit Bunraku oder dem natra-Theater können selbst nur wenige Theaterfachleute etwas anfangen. Dass die genannten Begriffe in Christine Regus’ Buch zum interkulturellen Theater eine tragende Rolle spielen, weist auf ein grundlegendes Verdienst der Studie hin, das nicht hoch genug eingeschätzt werden kann: Die Untersuchung wendet sich in der Überzeugung, dass sich

vielfältige andere Formen interkulturellen Theaters denken [lassen], als die, denen sich die theaterwissenschaftliche Forschung bisher gewidmet hat (41),

neuen Gegenständen zu und trägt somit zu einer Reflexion der bisherigen Abgrenzung des Bereichs bei, die letztendlich zu einer Erweiterung des Verständnisses führen könnte. Indem nämlich Interkulturalität anders gedacht wird, macht der Band die offensichtlich stillschweigend konturierten Grenzen und Konventionen interkultureller Forschung sichtbar. Wurde interkulturelles Theater beispielsweise bis zum heutigen Stand in der Forschung gemeinhin als westliches Theater mit einer tendenziellen Orientierung an anderen Theatertraditionen verstanden, so ist Christine Regus’ Studie um eine Akzentverschiebung bemüht. Dass die Bemühung insgesamt gelungen ist, liegt zum einen wohl daran, dass die Verfasserin als Pressesprecherin des Goethe-Instituts einen persönlichen Zugang zum interkulturellen Kulturleben hat, zum anderen aber – und das ist ein nennenswerter Vorzug – auch daran, dass dem Analyseteil theoretische Überlegungen vorausgehen, die verschiedene Rahmenbedingungen der interkulturellen Forschung aufzeigen. In diesem Zuge finden sich zahlreiche kluge Gedanken, die wichtige Impulse für die interkulturelle Theoriebildung liefern könnten.

Den Ausgangspunkt nimmt die theoretische Reflexion in der Beschreibung einer konkreten Theatererfahrung. Im Berliner Schillertheater wurde im Sommer 1999 die Inszenierung Lear des aus Singapur stammenden Regisseurs Ong Keng Sen gegeben, die nach der Premiere 1997 in Tokio auf Welttournee ging. Im Rahmen des Festivals Theater der Welt lieferte sie dem Berliner Publikum eine Erfahrung zwischen Fremdheit und Vertrautheit, zwischen Eindeutigkeit und Vieldeutigkeit. Regus beschreibt die Inszenierung im Anschluss an Elisabeth Bronfen als »ein hybrides Gefüge« (S. 12), da sie aus »einer Vermischung von Traditionslinien oder von Signifikantenketten« (Bronfen u.a., 14) hervorgehe und als distinkt wahrgenommene Diskurse und Technologien verknüpfe (vgl. ebd.), wobei die einzelnen Zeichen »stets eine Kombination von Elementen unterschiedlicher kultureller Provenienz« (21) gewesen seien. Gerade die asiatischen Elemente mussten für Verstörung im Theatron sorgen, wie diese kurze Beschreibung veranschaulichen sollte:

Der informierte Zuschauer hätte vielleicht das für das Nô-Theater charakteristische rhythmische Gestaltungsprinzip jo-ha-kyû erkannt: Langsamer Bewegungsaufbau, Steigerung der Geschwindigkeit, abruptes Einfrieren im Moment der größten Spannung (vgl. Hashi 1995: 58f). Shakespeares tragischer König wird in Ong Keng Sens Aufführung Lear […] von Naohiko Umewaka aus Japan verkörpert […]. Er gibt in der Aufführung nicht viel Hörbares von sich, wenn, dann ist es ein knarrender Sprechgesang, der tief aus der Kehle zu kommen scheint. Im Nô-Theater sind realistische Darstellungsformen bis zum Äußersten zurückgenommen und an ihre Stelle hochstilisierte Bewegungen gesetzt. (17)

Indem die Studie die Beschreibung eines interkulturellen Theaterabends an den Anfang setzt, führt sie deutlich vor Augen, worin auch insgesamt die Vorzüge des Buches liegen: Die theoretischen Überlegungen zum interkulturellen Theater dienen der Erhellung eines unausgeleuchteten Forschungsfelds mit hoher Praxisrelevanz und die Verfasserin ist in besonderer Weise dazu im Stande, ihre Leser mit theatralen Zeichen verschiedenster kultureller Herkunft vertraut zu machen.

So ist z.B. die Darstellung des Forschungsstands zur Interkulturalität sehr lehrreich. Unter Berücksichtigung zentraler Schriften werden drei Tendenzen der theoretischen Auseinandersetzung mit interkulturellem Theater voneinander unterschieden. Zum einen wird eine ästhetizistische Strategie nachgezeichnet, nach welcher das Performative als das Andere erkannt wird, dem man nicht mit den Mitteln eines dichotomischen Denkens nachspüren kann.

Daneben wendet sich die Darstellung Bestrebungen zu, die das Theater als Suche nach einer universalen Sprache ansehen. Im theoretischen Anschluss an die Ritualtheorie (Arnold van Gennep/Victor Turner) und Performancetheorie (Fischer-Lichte) werden die Werke einschlägiger Dramatiker und Regisseure wie Antonin Artaud, Jerzy Grotowski, Eugenio Barba, Richard Schechner, Robert Wilson, Ariane Mnouchkine, Peter Brook oder Tadashi Suzuki gestreift.

Schließlich stellt die Untersuchung das als interkulturell bezeichnete Theater in einen dritten theoretischen Kontext: den der Postcolonial Studies. Von dieser theoretischen Warte aus betrachtet Regus interkulturelles Theater als Ware auf dem globalen Theatermarkt. Kritisch wird in diesem Zuge auf ein Manko hingewiesen, das bisher kaum in den Blickpunkt genommen worden ist. Warentausch dieser Ausprägung findet zumeist zwischen ›westlichen‹ Theatern und solchen aus sogenannten Dritte-Welt-Ländern statt. Der Austausch der Länder

der südlichen Hemisphäre untereinander [ist] relativ selten; wenn er stattfindet, dann oft durch den Westen bzw. Norden vermittelt und finanziert (69).

Daher geht aus der Verbindung von Theatertheorie und Postkolonialismuskritik auch eine konsequente Ablehnung

interkulturellen Theaters [hervor], weil indigene oder ›Dritte-Welt‹-Kulturen vor Ausbeutung oder Verwestlichung ›geschützt‹ werden müssten (82).

Über die Distanz, welche über der synchronen Betrachtung des Phänomens aus verschiedenen Theoriewinkeln gewonnen wird, gelangt die Studie zu bedeutenden Erkenntnissen. Interkulturelles Theater wird nicht nur punktuell im Verbund des globalisierten Theatermarktes gesehen, dessen Herrschaftslogik noch immer dem Primat der Produktionsmittel folgt, das bereits Brecht so massiv angeprangert hat. Insgesamt wird auch ein grundlegender Irrtum der Theaterwissenschaften offenbar. So weist Regus an einer Stelle darauf hin, dass problematischer Weise »nahezu alle einschlägigen Theoretiker mit der ›West-Rest‹-Dichotomie arbeiten« (79). Es zeichnet Regus’ Buch aus, dass es diese stillschweigend getroffene Vereinbarung unter Berücksichtigung der Postcolonial Studies als Reflexionsmoment markiert, indem es die Konstruiertheit des ›Westens‹ jenseits ursprünglicher geografischer Bedeutungen aufzeigt. So sehen die besonders wertvollen Gedanken aus, die – wie bereits weiter oben erwähnt – der Interkulturalitätsforschung nach Ansicht des Rezensenten ein enormes Potenzial eröffnen können und die neben dem zentralen Verdienst, den bislang nur marginal thematisierten Zusammenhang von Performancetheorie und postkolonialer Kritik explizit darzustellen, zu den großen Vorzügen der Studie gehören. Zu diesen Gedanken zählen außerdem:

– Die aus der kritischen Distanz gewonnene Grundlagenerkenntnis, dass die verschiedenen Theorien alle davon ausgehen, dass sich das Eigene und das Fremde klar unterscheiden lassen (vgl. 82f; allerdings schließt sich Regus trotz der berechtigten Einwände dieser Überzeugung an, wenn sie umfassend dafür plädiert, interkulturelles Theater

heuristisch als Theater zu verstehen, das sich durch eine bewusste Vermischung von Elementen verschiedener kultureller Herkunft verstehen lässt und diverse Ästhetiken entwickeln kann. [12])

– Die Hervorhebung der Tatsache, dass interkulturelle Transferprozesse auf dem Theater stets von wirtschaftlichen Machtverhältnissen irgendeiner Form beeinträchtigt werden. Interkulturelles Theater bedeutet fast ausschließlich den Import als fremd wahrgenommener Elemente in westliche Theaterformen. In diesem Zusammenhang verweist Regus darauf, dass umgekehrte Fälle kaum bekannt seien,

etwa dass ein nigerianischer Theaterregisseur Material über oberbayerische Folklore sammelt, um diese dann in einem eigenen Theaterstück zu verarbeiten (45).

– Sowie schließlich die daraus abgeleitete Erkenntnis, dass dem interkulturellen Theater durch die Mechanismen des Kulturaustauschs auf dem globalisierten Theatermarkt ein Warencharakter zukommt (69f).

Theoretisch reflektiert und methodisch an Erika Fischer-Lichtes Performativitätstheorie orientiert, liefert Regus dann im zweiten Teil ihrer Untersuchung drei Aufführungsanalysen ab, die überzeugend vor Augen führen, welche Konsequenzen sich für die Analyse interkulturellen Theaters ergeben, wenn sich die Forschung von einem dichotomischen Denken trennt und eine pragmatisch ausgerichtete Vorgehensweise wählt, die anstelle des ›Entweder-oder‹ ein ›Sowohl-als-auch‹ setzt. Bei den drei um die Themenfelder

(a) Performativität von Identität, (b) Geschichte, Erinnerung und kulturelles Gedächtnis sowie (c) Übersetzung und Fremdverstehen (93)

angesiedelten Inszenierungen handelt sich um Searching for Home (2003) von Ralph Lemon, Beyond the Killing Fields (2002) von Ong Keng Sen und El automóvil gris (2002) von Claudio Valdés Kuri.

Christian Steltz