(Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr 2009, ISBN 978-3-940251-55-8, 29,90 Euro)
Wie die Herausgeberinnen im Vorwort anmerken, ist die Aufsatzsammlung aus einem Postgraduierten-Workshop hervorgegangen. Im Untertitel verspricht sie: Neue Perspektiven in der interkulturellen Literaturwissenschaft. Das Forschungsfeld, Literatur als Medium des Kulturkontakts, wird in der Einleitung skizziert:
Autoren mit heterogenem kulturellen Hintergrund schreiben Werke, deren Schauplätze, Figuren und Motive über die Gewohnheiten der Monokulturalität hinausweisen; die sich rapide ändernde Wirklichkeit und das sich parallel dazu wandelnde Menschenbild werden in der Literatur erörtert. Darüber hinaus wird die Literatur in eigener Gestalt als interkulturelles Verstehensobjekt problematisiert (7).
Dass es sich hier nicht nur um ein weites Feld, sondern um Latifundien handelt, demonstriert auch der Titel des Sammelbandes. Zu Recht sehen sich die Herausgeberinnen genötigt, ihn zu erläutern:
Der offen formulierte Titel Literatur – Kultur – Verstehen lässt verschiedene Assoziationen zu: »Literatur interkulturell verstehen«, »interkulturelles Verstehen in der Literatur« oder »interkulturelles Verstehen durch Literatur« (8).
Explizit wird auch auf die Vielfalt der Methoden und der Disziplinen verwiesen. In der Tat behandeln die Aufsätze so verschiedene Themen und sind von so unterschiedlicher Qualität, dass ihre Bündelung eher zufällig erscheint.
Die beiden ersten Beiträge präsentieren theoretische Überlegungen zur interkulturellen Germanistik. Olga Iljassova-Morger will »Grundkonzepte der interkulturellen Literaturwissenschaft« (9) vorstellen, so lautet ihre Ankündigung. Unter dem Titel Transkulturelle Herausforderungen der interkulturellen literarischen Hermeneutik: Von der Reduktion zur Entfaltung strebt die Autorin einen Forschungsüberblick an. Ihr Text ist jedoch durch Probleme belastet, die sie selbst offen anspricht. Zum einen die diffuse Verwendung der Bezeichnungen, denen sie sich annähern will:
Über eine »interkulturelle Hermeneutik« zu schreiben ist schon deswegen schwer, weil beide Wörter auf der einen Seite mehrdimensional, alles und nichts sagend und auf der anderen Seite stark mit öffentlichen Erwartungen beladen sind und oft eines inflationären Gebrauchs beschuldigt werden. (16)
Eine Menge der Abstrakta, mit denen Iljassova-Morger arbeitet, sind schon seit Jahrzehnten Ziel einer bekannten Sprachkritik von Uwe Pörksen. Er erstellte eine Liste von »Plastikwörtern«; mit diesem Namen bezeichnet er ursprünglich präzise definierte Termini, die als »Rückwanderer« aus der Wissenschaft nun die Umgangssprache prägen. Sie sind dort nach Pörksen bedeutungsarm, aber prestigeträchtig, mehrheitsfähig und frei kombinierbar. Der problematische Charakter dieser Wörter tritt auch in wissenschaftlichen Abhandlungen zutage, wenn die Bezeichnungen nicht mehr exakt definiert verwendet werden, sondern den ganzen Text überschwemmen. Iljassova-Morger neigt zu derartigen Häufungen, sie reiht Abstrakta in metaphorischer Verwendung aneinander. Dass sie dabei bisweilen selbst den Überblick verliert, zeigen vor allem Bildbrüche wie im folgenden Beispiel:
Ein Schlüsselmoment liegt darin, dass diese Horizonte eine komplexe Struktur bekommen und als Summe verschiedener Komponenten […] aufgefasst werden (25).
Ein weiteres Problem der Forschung zur interkulturellen Germanistik, so schreibt die Autorin selbst, sei:
der programmatische Charakter vieler Annäherungen, die nie genügend empirisch überprüft wurden, sowie die Unübersichtlichkeit verschiedener Ansätze und Vorschläge (21).
Nicht selten erliegt Iljassova-Morger jedoch genau diesen Gefahren selbst, zum Beispiel wenn sie schreibt: »Der ›Cultural turn‹ in den Geisteswissenschaften führte dann zur Durchsetzung des Kulturpluralismus« (15). Zwar kann die Darstellung grober Entwicklungslinien manchmal nützlich sein, Aussagen, die in ihrer Formulierung derartige Allgemeingültigkeit beanspruchen, geben jedoch Anlass zum Zweifel.
Auch im Beitrag von Aglaia Blioumi geht es um allgemeine Vorüberlegungen: Kulturtransferforschung. Zur interdisziplinären Öffnung aktueller Theorieansätze. Sie will in ihrer etwa siebenseitigen Abhandlung »Grundlagenwissen im Bereich der Kulturtransferforschung« (33) vorstellen. Ausgehend von der »Erörterung des Kulturbegriffs« soll ihrer Ankündigung nach »im Wirrwarr der theoretischen Ansätze ein roter Faden sichtbar werden« (ebd.). Es trägt allerdings nicht dazu bei, »die Geschichte des Begriffs ›Kultur‹« (34) zu erhellen, wenn die Autorin innerhalb weniger Zeilen die Namen Voltaire, Rousseau, Montaigne und Max Weber anführt. Vielmehr erscheint dieses Vorgehen als Namedropping. Das von Blioumi genannte Ziel: einen »hohen Abstraktionsgrad« innerhalb ihres Forschungsfeldes »durch weitgehend lebensnahe Beispiele aus dem Alltag zu reduzieren« (33), hätte sie gezielter verfolgen können. Die wenigen Beispiele, die sie anführt, sind eher blass.
Sehr anschaulich arbeiten hingegen einige Beiträge des Bandes, die interkulturell geprägte Literatur vorstellen und analytisch durchdringen. Elke Reinhardt-Becker schreibt über Pluralität und Differenz: Begegnungen von Kulturen in Sprache und literarischen Texten – die Autorin Emine Sevgi Özdamar im interkulturellen Deutschunterricht. Reinhardt-Becker gelingt es, durch gezielte Zitate die Sprachkraft Özdamars zu belegen, unter anderem mit Blick auf deren Thematisierungen von Sprachspiel und Spracherwerb. Hier wird das Erleben von Fremdheit vielseitig gezeigt. Die zentrale Figur des bekannten Romans Die Brücke vom Goldenen Horn ist eine emanzipierte junge Türkin, Gastarbeiterin im Berlin der 60er Jahre. Sie lebt den Bruch mit Konventionen. Unter anderem am Beispiel dieser Protagonistin vermag Reinhardt-Becker darzustellen, wie Özdamar stereotype Bilder deutsch-türkischer Lebensgeschichten verfremdet. Die Potentiale interkultureller Literatur werden hier deutlich. Ebenso erhellend beschreibt Reinhardt-Becker in einem zweiten Aufsatz Begegnungen mit dem Fremden in Ralf Rothmanns Großstadtroman »Hitze«. Von Hilfsköchen, Stadtstreichern, Polinnen und der Liebe. Ihre Analyse des Romans hat dabei Züge einer sorgfältigen Rezension.
Andrzej Denka beobachtet Interkulturelle Verwicklungen des Humors. Überlegungen anhand Siegfried Lenz’ »So zärtlich war Suleyken. Masurische Geschichten«. Er untersucht Probleme der Übersetzung und deren spezifische Herausforderungen, wenn Humor ins Spiel kommt. Der Aufsatz von Anne D. Peiter trägt den Titel: »… auf die Spitze getriebene Individuen in ihrer Geschiedenheit darstellen.« Interkulturelle Missverständnisse im Werk von Balzac und Canetti. Peiter behandelt auch das Thema Sprachskepsis und damit einen Bereich, der für die interkulturelle Germanistik immer größere Bedeutung gewinnt. Auf der anderen Seite sind Peiters Ausführungen nicht immer zielführend. Wenn sie in einigen Nebensätzen Adolf Eichmann zu charakterisieren sucht, so ist ein solches Vorgehen nicht nur heikel, es führt auch vom eigentlichen Thema des Aufsatzes weg.
Corinna Schlicht dagegen beschreibt sehr konzentriert und dicht düstere Erzählungen der aus Ungarn stammenden Berliner Autorin Terézia Mora: »Alle Orte sind gleich und fremd.« Heimatlose Grenzgänger im Werk Terézia Moras. Schlicht gelingt es, in die Szenen dörflicher Gewalt und Trostlosigkeit einzuführen und wichtige Motive und Konstanten der Erzählungen herauszuarbeiten. Als programmatisch für die Sprache der Autorin Mora verweist Schlicht auf folgende Textstelle einer Erzählung:
Sag es einfach. Wort für Wort. Leg kein Pathos hinein. Schluchze nicht. Schmelze nicht. Sag es einfach. Wort für Wort (83).
Diese Empfehlung bleibt beim Lesen des Sammelbandes nicht zufällig im Gedächtnis. Denn nicht wenige Abhandlungen hätte man von redundanten theoretischen Exkursen entlasten können. Dann kämen die reichen, sich selbst erklärenden Sprachanalysen besser zur Geltung. Dies gilt zum Beispiel für den Aufsatz von Chiara Cerri Das Modell der interkulturellen Lektüre am Beispiel der Zwischensprache von Gino Chiellino und Franco Biondi. Sie betrachtet die Sprache der deutsch schreibenden, aus Italien stammenden Schriftsteller auch mit Blick auf deren Lyrik, was sich als besonders lohnend erweist. Zum Beispiel erläutert Cerri Wortneuschöpfungen: »Niedergeschlagenheit macht ›trauerweidig‹« (126). Ebenso wie dieses Phänomen erfordern auch die Themen Gemischtsprachigkeit und Sprachspiel keinen umständlich begründeten Bezug zum Thema Interkulturalität, denn dieser ergibt sich aus den Gegenständen von selbst. Cerris Aufzählungen wie zum Beispiel der Satz: »1. die interkulturelle Literatur zeichnet sich durch eine anspruchsvolle Ästhetik aus« (126) können als »Zwischenbilanz« (126) eines so heterogenen Feldes nicht überzeugen. Bemüht wirkt stellenweise auch die Abhandlung von Natalia Jörg. Sie beschreibt eine »russische Diaspora« (96) unter dem Titel Grenzüberschreitungen und interkulturelle Begegnungen im Exil bei Vladimir Nabokov und Iosif Brodskij. Leider verordnet die Autorin ihrem ohnehin weiten Thema eine theoretische Einleitung, die sich zum Teil im Resümieren erschöpft, und auch in einigen langen Fußnoten erscheint das Nachzeichnen von Diskursen nicht durchweg sachdienlich.
Interkulturelles Verstehen sei »zu einem hoch brisanten Thema geworden« (7), bemerken die Herausgeberinnen in der Einleitung zu ihrem Sammelband. Die Brisanz des Themas wird auch an manchen Beiträgen deutlich: Michael Hofmann, Boris Previsic und Frank Becker haben deutlich politische Themen. Der Aufsatz von Boris Previsic setzt sich unter dem Titel Poetologie und Politik: Peter Handkes »Winterliche Reise« kritisch mit Handkes Serbienbild auseinander. Previsic geht es explizit um eine – dem Ansatz nach durchaus vielversprechende – rhetorische Analyse der Sprache Handkes. Es wäre jedoch zu wünschen, dass der Verfasser auf eine so bedenkliche Bezeichnung wie die der »ethnischen Säuberung« (121) verzichtet. Zum Abschluss seiner Textanalyse könnte er deutlicher zum Ausdruck bringen, was er, wenn dort mehrfach von »Problemen« (121) die Rede ist, darunter genau versteht.
Michael Hofmann wiederum behandelt unter kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten das Verhältnis einer deutschen »Mehrheitsgesellschaft« (44) zur islamisch geprägten Lebensweise türkischer Migranten unter dem Titel Klimaforschung im tropischen Deutschland. Interkulturelle Reflexionen zur Identität unserer Einwanderungsgesellschaft und zu deutsch-türkischen Konstellationen. Wenn Hofmann die Frage, »ob es opportun und wünschenswert sei, dass muslimische Frauen in der Öffentlichkeit einen Schleier tragen« als »sehr emotional besetzt« (54) wertet, so muss sich der Autor daran messen lassen, ob er in seiner Argumentation selbst durchweg eine notwendige emotionale Distanz wahrt. Zwar kann es nicht überraschen, dass Hofmann die Aufgeklärtheit der katholischen Kirche in Zweifel zieht, allerdings hätte er aktuellere Beispiele finden können als die Hinrichtung Giordano Brunos im Jahr 1600. Und zu Hofmanns Exempel der frühneuzeitlichen Hexenverfolgung ist anzumerken, dass die Rolle der Kirche hier – anders als es in emotionalen populären Diskursen immer wieder angenommen wird – in neueren Forschungen als ambivalent bewertet wurde und differenziert gesehen werden müsste.
Mit Blick auf Frank Beckers Beitrag Globalhistorische Perspektiven im fächerübergreifenden Geschichtsunterricht: Das Problem des interkulturellen Verstehens in Theodor Storms Novelle: »Von Jenseit des Meeres« steht die Frage der interkulturellen Verständigung im Raum. Im Zuge seiner zunächst inhaltlich ausgerichteten Abhandlung verweist Becker zwar auf die Nähe der Novelle zu rassistischen Diskursen des 19. Jahrhunderts und auf eine »Verfemung der Welt der ›Farbigen‹« (187f.), aber diese Gefahr diskutiert er nicht hinreichend. Vielmehr trennt er selbst die literarische Fiktion nicht immer klar von der historischen Wirklichkeit. Per se würde der Umgang mit Denkmustern des 19. Jahrhunderts, wollte man sie zur Ergründung historischer Umstände heranziehen, eine strenge Quellenkritik erfordern. Diese kommt in Beckers Text jedoch leider zu kurz.
Abschließend bleibt festzuhalten: Viele Autorinnen und Autoren zeigen sich in der Darstellung theoretischer Positionen ambitioniert, deren Bündelung und Straffung wäre aber an nicht wenigen Stellen wünschenswert gewesen. Manche politischen oder auf Geschichte bezogenen Äußerungen in den Beiträgen sind inhaltlich und in ihrer Formulierung nicht unproblematisch. Es handelt sich somit um ein durchwachsenes Buch. Die konkreten Literaturanalysen bieten hingegen ein reiches Spektrum, hier spricht der Wert des Forschungsthemas »interkulturelle Literatur« für sich selbst.