Plädoyer für eine interkulturelle Mediävistik

Heinz Sieburg

Abstract

Although the connection between interculturalism and Germanic Medieval Studies is particularly obvious, explicit and reflected utilization of the intercultural concept in regard to the research of historical literature and language has just begun. This article seeks to identify the different conditions and possibilities of this relation. The language problem in the Middle Ages is used as an example of the complexity of cultural relations in this period.

Die geistes- und kulturwissenschaftliche Forschung der letzten Jahrzehnte hat dem Begriff der Interkulturalität maßgebliche Impulse zu verdanken. Aber obwohl, wie Müller (2003, 457) feststellt, die Mediävistik »ganz im Sinne des heutigen Begriffs von Interkulturalität […] eine mehrfache interkulturelle Komponente« besitzt, hat dessen explizite und reflektierte Nutzbarmachung für das Feld der historischen Literatur- und Sprachforschung gerade erst begonnen.

Folgt man Schöning (2008, 247) resultiert die verbreitete Nichtbeachtung interkultureller Fragestellungen mit Blick auf das Mittelalter aus fragwürdigen methodologischen Voraussetzungen, nämlich der Fortwirkung eines dem 19. Jahrhundert entstammenden, dem Begriff der Nation verpflichteten Kulturmodells:

Der nationale Standpunkt aber begünstigte eine teleologisch-organologische Betrachtung der Literatur und damit eine diachrone, nach Originalität und Fortschritt sortierende produktionsästhetische Perspektive. Literaturgeschichtlich ausgeblendet wurde zwangsläufig, was nicht originell und fortschrittlich war, und das betraf im Grunde den gesamten Komplex der literarischen Interkulturalität.

Dem könnte entgegengehalten werden, dass die Mediävistik schon aufgrund der prinzipiellen kulturhistorischen ›Alterität‹ ihrer Forschungs- und Vermittlungsgegenstände immer schon, wenn auch nicht dem Begriff, so doch der Sache nach, mit Fragen der Interkulturalität befasst war und sich eine entsprechende konzeptionelle Neuausrichtung hier schlichtweg erübrige. Eine solche Denkweise schiene mir indes aus mehreren Gründen unangemessen:

Denn erstens könnte eine mediävistische Forschung unter dem Leitbegriff der Interkulturalität dazu anhalten, bereits gewonnene Erkenntnisse und Forschungsresultate neu zu bündeln, schärfer zu konturieren und darüber zu neuen Antworten und Fragen zu gelangen. Und zweitens könnte so ein Weg beschritten werden, die Mediävistik aus einem Nischendasein, gleichsam dem toten Winkel aktueller Fragestellungen, wieder stärker in das Zentrum literatur- und kulturwissenschaftlicher Forschung (und Lehre) zu rücken.

Man wird kaum fehlgehen, wenn man behauptet, die Mediävistik befinde sich in einem Selbstfindungsprozess. Überkommene Inhalte, Formen und Vermittlungswege stehen auf dem Prüfstand bzw. sind vor dem Hintergrund der veränderten Geltung der Geisteswissenschaften ausgemustert worden. Man denke nur daran, dass die Mediävistik nicht zuletzt auch aufgrund der Umsetzung der Bologna-Vorgaben an etlichen etablierten Universitätsstandorten immer mehr an Inhalten aufgeben musste. Die Geschichte der Mediävistik als Verlustgeschichte zu schreiben, wäre dennoch verfehlt. Ganz im Gegenteil gibt es auch eine Seite des Gewinns, die mittel- und langfristig zu einer Stärkung der germanistischen Mittelalterwissenschaft führen kann. Von Bedeutung scheinen mir dabei die folgenden Aspekte:

  1. Die Mediävistik garantiert die Einheitlichkeit der Germanistik im Sinne einer ›Gelenkstelle‹ zwischen Literatur- und Sprachwissenschaft, »denn sie hat Teil an beiden Fächern und kann als Klammer des Gesamtfaches verstanden werden« (Schiewer 2006, 56).
  2. Die Mediävistik ist prädestiniert, das Interkulturalitätsparadigma für sich fruchtbar zu machen und so eine Kernaufgabe aktueller kulturwissenschaftlich orientierter Literatur- und Sprachforschung zu leisten. Die damit notwendig verbundene Einbeziehung anderer Disziplinen wie Theologie, Philosophie, Romanistik, Altphilologie, Geschichtswissenschaft, Kunstgeschichte und Rechtsgeschichte hilft auch hier, Abschottungen zu durchbrechen und die vielfach erhobene Forderung nach Interdisziplinarität sinnvoll einzulösen.
  3. Die Mediävistik könnte den anhaltenden Mittelalterboom nutzen, um Schwellenängste abzubauen und damit die Attraktivität des Faches steigern. Die unübersehbare Fülle von allerlei Mittelalterevents wie Burgenfeste, Ritterspiele und Märkte gewinnt ihre Popularität in großen Teilen sicher »aus antimodernistischen Vorbehalten gegenüber der Jetztzeit«, der das Mittelalter als (vermeintlich) »einfache, verstehbare und klar strukturierte ›entschleunigte‹ Kontrastwelt« (Sieburg 2010, 211) gegenübersteht. Unter mediävistisch-interkultureller Perspektive bietet sich hier ein ausgezeichneter Ansatz zur vertieften und kritischen Auseinandersetzung mit solchen Sichtweisen, insbesondere in der Lehre.

Der Begriff der Interkulturalität umreißt dabei zunächst ein Arbeitsfeld. Er ist als eine Grundkategorie aufzufassen, dessen definitorische Spannweite Begriffe wie Transkulturalität oder Multikulturalität einbindet, was freilich nicht der Notwendigkeit enthebt, den definitorischen Rahmen einer interkulturellen Mediävistik abzustecken. Dazu gehört eine Perspektive auf Literaturprodukte, die diese als kulturelle Artefakte begreift, nach deren ›Sitz im Leben‹ fragt und so immer auch den Zeugniswert literarischer Quellen für den sie umgebenden kulturellen Kontext berücksichtigt. Dazu gehört weiterhin und notwendigerweise das Moment einer Wechselseitigkeit als Voraussetzung des Vergleichs, sei es in Hinsicht auf Relationen des Kontrastes, des Konflikts oder auch der Komplementarität. Ausdruck findet diese in Dichotomien wie ›Alterität und Modernität‹ (Jauß 1977) ›Das Fremde und das Eigene‹ (Wierlacher 1985) oder auch in durchaus dialektisch zu denkenden Gegensatzpaaren wie ›innen und außen‹, – mitunter auch erweitert um Perspektiven der Reziprozität, indem nämlich die eigene Sichtweise in der des anderen gespiegelt wird.1 Konstitutiv ist demnach ein Spannungsmoment, das dem betrachtenden Subjekt eine Fremderfahrung auferlegt. Übersetzt auf den Gegenstandsbereich der Mediävistik wird man drei kategoriell verschiedene Differenzverhältnisse zu konstatieren haben:

  1. diachron – im Sinne der zeitlich-vertikalen Differenz. So werden mittelalterliche Literaturinhalte, -konzepte und -formen schon aufgrund ihrer zeitlichen Distanziertheit als fremdkulturell wahrgenommen, wozu nicht zuletzt auch der fremde Sprachstand beiträgt. Von Interesse im Sinne einer diachronen Gegenüberstellung sind etwa Fragen nach den Funktionen von Literatur im Mittelalter, ihren Produktions- und Rezeptionsbedingungen, ihrer medialen Verfasstheit; daneben – und gleichzeitig verbunden damit – aber auch Fragen nach der Etablierung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen, Mentalitätsausprägungen, Wertekanons und Rollenzuweisungen und ihren Niederschlägen oder Widerspiegelungen in der mittelalterlichen Literatur.
  2. historisch-synchron – im Sinne interkultureller Konstellationen im Mittelalter selbst. Mittelalterliche deutsche Literatur entwickelt sich unter maßgeblicher fremdkultureller Einflussnahme bzw. Orientierung, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Nämlich (a.) in Bezug auf die Begegnung mit anderen Kulturen, ihren Grundlagen und Errungenschaften. Zu denken wäre hier an die Konfrontation zwischen Okzident und Orient und deren Niederschlag in der Kreuzzugsdichtung, aber auch in der Fachliteratur der Zeit.2 In den Blick kommt hier weiterhin die Vorbildfunktion der altfranzösischen für die mittelhochdeutsche Literatur, ein Horizont, der sich noch dadurch weiten ließe, dass die Kultureinträge in die französische Literatur und die Übernahme der deutschsprachigen Werke in andere Sprachen und Kulturzusammenhänge berücksichtigt würden. Beispiel hierfür wäre die Entwicklung der Artusepik mit Vorläuferschritten in der lateinischen Historiografie und Bezügen zum britannisch-keltischen Kulturraum auf der einen Seite und etwa der Übertragung des mittelhochdeutschen Artusromans Wigalois, bzw. dessen Prosaauflösung, ins Dänische und Isländische auf der anderen. Darüber hinaus stellt sich (b.) die Frage der Integration vormittelalterlicher Quellen oder Narrative in die Literatur, wodurch sich die diachrone Perspektive in das Konstellationsverhältnis des Mittelalters zur Antike bzw. zum germanisch-archaischen Heidentum verlagert. Hierbei rücken beispielsweise antikisierende Stoffe ins Blickfeld oder auch die deutsch-germanische Heldendichtung, die auf Ereignisse und Erzähltraditionen der Völkerwanderungszeit zurückverweist. Und schließlich (c.) zeigt sich als eine interkulturelle Konstellation auch das zeitlich parallele Verhältnis der überwiegend lateinischen Schriftkultur gegenüber der Entwicklung der Volkssprache und volkssprachigen Literatur. So ist die Entstehung einer volkssprachig deutschen Literatur in ihren Anfängen zu weiten Teilen als Übersetzungs-, dabei aber gleichzeitig auch als Sprachentwicklungsleistung gegenüber der klerikalen Bildungssprache Latein zu erklären. Latein fungiert daneben aber auch als Sprache, in die aus dem Deutschen übersetzt werden kann (Waltharius)3 oder die eine ›Relaisfunktion‹ im Verhältnis des Französischen und Deutschen einnimmt (Rolandslied des Pfaffen Konrad).
  3. historisch-diachron – im Sinne einer doppelten Relationierung. So stellt sich als reizvolle Aufgabe, mittelalterliche Interkulturalitätskonstellationen mit gegenwärtigen zu vergleichen, – etwa in Bezug auf Fragen der Toleranz gegenüber Andersgläubigen. Ein lohnendes Untersuchungsobjekt hierbei ist etwa das Rolandslied des Pfaffen Konrad, das eine wahrscheinlich zeittypisch realistische Frontstellung gegenüber dem Islam – in der Diktion des christlichen Mittelalters – dem Heidentum, einnimmt, zumal im Vergleich mit dem Willehalm Wolframs von Eschenbach, worin eine sehr viel tolerantere Haltung vertreten wird.4 Eine weitere Sichtachse gewinnt dieses Verhältnis natürlich dann, wenn entsprechende deutsche Texte des Mittelalters im Rahmen des DaF-Unterrichts von nicht-deutschsprachigen Rezipienten und mit Bezug auf deren kulturellen Hintergrund gelesen und interpretiert werden.

Eine interkulturell orientierte Mediävistik wird kaum umhin kommen, sich mit dem Begriff (und Konzept) der Alterität auseinanderzusetzen, zumal sich hierüber auch Fragen hermeneutischer Zielsetzungen wie auch die zugrundeliegenden Epochenbegriffe verhandeln lassen.

Die Konjunktur des Begriffs Alterität verbindet sich eng mit dem Werk des Romanisten Hans Robert Jauß, insbesondere dem 1977 publizierten (Sammel-)Band ›Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur‹. Jauß’ Intention zielt hierin auf eine dezidierte Neuorientierung des Forschungs- und Bildungsinteresses an mittelalterlicher Literatur, und zwar im Sinne einer spezifischen hermeneutischen Aneignung der fremden Stoffwelten. Über die Bewusstmachung der »Andersheit einer abgeschiedenen Vergangenheit« soll mittelbar, nämlich »im Durchgang durch die Befremdung der Andersheit« eine ›Horizontverschmelzung‹ gelingen (Jauß 1977, 10). Hierbei soll das Fremde im Bekannten, respektive die Alterität in der Modernität aufgehen. Als Hermeneutik der verstehenden Aneignung hat das Konzept der Alterität im Rahmen postmoderner Forderungen nach uneingeschränkter Anerkennung jeglicher kultureller Fremdheit den Generalverdacht des Kolonialismus auf sich gezogen.5 Aber auch abgesehen von einer solchen Extremposition hat der Begriff der Alterität unterschiedliche Kritik erfahren, ohne dass dabei übersehen werden darf, dass das Konzept schon aufgrund seiner Plausibilität eine enorme Resonanz erfahren und der mediävistischen Forschung wesentliche neue Impulse verliehen hat. Gerade dieser Erfolg lässt manchem Kritiker den Alteritätsbegriff inzwischen als abgegriffen erscheinen. Andere sehen eine Mediävistik unter dem Vorzeichen der Alterität in der Gefahr der allzu plakativen Formulierung von Gegensätzlichkeiten bzw. der Aufmerksamkeitslenkung und -reduzierung auf das »Bizarre, Kuriose und Exotische«.6

Zu den frühen Kritikern am Alteritätskonzept von Jauß ist auch Alois Wierlacher in seinen ›Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik‹ (Wierlacher 1985) zu zählen. In dezidierter Abgrenzung zu Jauß, dem er im Kern einen auf Vereinnahmung ausgerichteten Verstehensbegriff attestiert, entwickelt Wierlacher darin ein alternatives Konzept von Alterität, welches er als »Hermeneutik komplementärer Optik« (1985a, 19) verstanden wissen will. Der Leitbegriff der Alterität soll so, basierend auf dem Grundverständnis des symbolischen Interaktionismus, »nicht mehr nur ein Gegenstands-, sondern auch ein Wahrnehmungsbegriff« (Wierlacher 1985, S. 18) sein. Wierlacher entwickelt seine Hermeneutik mit Blick auf die Anforderungen einer seinerzeit noch jungen DaF-Ausrichtung. Als Grundkonstellation gilt ihm dabei die Sicht auf literarische Texte aus kulturbedingt unterschiedlichen Perspektiven.

Grunddifferenz zwischen beiden Ansätzen ist die Annahme eines Kontinuitätsrahmens identischer Kultur dort und die Interdependenz inner- und außenkultureller Betrachtungsweisen hier. Wierlacher geht in seiner Konzeption so letztlich von einer (dialogischen) Simultanität kulturell unterschiedlicher Sichtachsen bzw. Interpreten aus, eine Bedingung die für mediävistische Zugriffe prinzipiell nicht einlösbar ist. Er entwickelt so zwar ein auf interkulturelle Belange hin orientiertes Alteritätskonzept, da dieses aber gerade in Abhebung eines mediävistisch orientierten Alteritätsbegriffs geschieht, so könnte argumentiert werden, verbietet sich schon von daher eine Rückübersetzung seines Modells auf die Belange einer interkulturellen Mediävistik.

Ist also das Gründungsdokument einer interkulturellen Germanistik als Verdikt gegen eine interkulturelle Mediävistik zu lesen? Intentional ist dies sicher nicht so, zumal die Abgrenzung gegenüber dem jaußschen Alteritätsbegriff weniger darauf gerichtet ist, diesen zu diskreditieren, als vielmehr, diesen als Kontrastfolie zur schärferen Konturierung des eigenen Verständnisses zu nutzen. Zudem wendet sich die Kritik nicht gegen die Mediävistik als solche, sondern gegen unterstellte Vereinnahmungstendenzen im Sinne der Horizontverschmelzung.7 Zu kurz kommt dabei freilich die Beachtung der Eigengesetzlichkeit mediävistischer Herangehensweise, die aufgrund der zeitlichen Distanz zu ihren Objekten diesen gegenüber eben nicht in einen unmittelbaren Dialog eintreten kann. Eine Mediävistik unter dem Vorzeichen der Interkulturalität wird darum aber umso mehr bemüht sein, die von ihr untersuchten Gegenstände zunächst als solche des eigenen Rechts und damit aus ihrer Historizität heraus zu verstehen. Gleichzeitig kann durchaus ein berechtigter Eigennutz für den neuzeitlichen Rezipienten verbunden sein, gerade bezogen auf den schulischen oder akademischen Unterricht. Bei Formulierungen von Zwecken wie denen nach einer ›Selbstvergewisserung in der eigenen Gegenwart‹8 oder des ›Erkennens der Geschichtlichkeit des eigenen Standorts am Gegenbild‹9 geht es nicht um eine kolonisatorische Vereinnahmung des Mittelalters, sondern um dessen Wertschätzung vor dem Hintergrund moderner Orientierung. Gleichzeitig dienen derlei Zweckformulierungen natürlich auch der legitimen Aufmerksamkeitslenkung auf ansonsten völlig zu Unrecht bereits vielfach totgesagte Stoffe.

Dass unter genealogischem Vorzeichen im Verhältnis von Mittelalter und Moderne tatsächlich von einem Kontinuitätsrahmen gesprochen werden kann, steht außer Zweifel. Ebenso unbestritten ist, dass die Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Kultur eine Begegnung mit der Fremde, die aber gleichzeitig die »eigene Fremde und Geschichte« (Müller 2003, 457) ist, darstellt. Damit ist aber noch keine Antwort auf die Frage gegeben, wie starr die Grenzen zwischen beiden Epochen und mithin das Ausmaß der kulturellen Differenz aufzufassen sei. »Für uns ist der mittelalterliche Mensch ein Exot«, heißt es bei Le Goff bündig. Gegenüber uns Heutigen vom mittelalterlichen Menschen sprechen zu können, ist dadurch zu begründen,

dass das ideologische und kulturelle System, in dem er gefangen ist, das Weltbild, in dem er zuhause ist, die Mehrheit der Männer (und Frauen) dieser Jahrhunderte, seien sie nun Kleriker oder Laien, Reiche oder Arme, Mächtige oder Schwache, unter gemeinsame geistige Strukturen, ähnliche Objekte des Glaubens, der Einbildung, der Obsessionen zwingt (Le Goff 2004, 36).

Auch Peter Czerwinski legt das Mittelalter auf eine radikale Andersartigkeit und eine besondere Art des Zeichengebrauchs fest. Demnach unterscheidet sich der mittelalterliche Mensch etwa in Hinblick auf eine spezifisch zyklische Zeitwahrnehmung und eben durch eine nicht-kausale, nicht-sukzessive, nicht-systematische Logik in fundamentaler Weise von modernen Auffassungen.

Demgegenüber stehen Sichtweisen, die die Fortschrittsleistungen des Mittelalters als Wegbereiter der Moderne in Wissenschaft und Technik herausstellen, etwa mit Blick auf die Universitätsgründungen oder auch in Hinsicht auf die Entwicklungen in Bergbau und Landwirtschaft. Auch die für das Mittelalter typische Semioralität eröffnet Anschlussmöglichkeiten an die gegenwärtig vielfach beobachtbaren Phänomene einer Reoralisierung.10 Zumal unter diesem Blickwinkel ist eine starre Differenzierung nach Epochen, und umso mehr, wenn diese als monolithisch aufgefasst werden, kritisch zu betrachten. Die Vorstellung des europäischen Mittelalters als einer in sich geschlossenen und nach außen klar abgegrenzten Einheit ist nur unter der Voraussetzung weitreichender Abstraktion möglich und nur in Hinsicht auf die Perspektivierung besonderer Fragestellungen sinnvoll. Bei näherer Betrachtung kommen dagegen die vielfältigen kulturellen Verschiebungen, Überlagerungen und Beeinflussungen in den Blick, die ja gerade Voraussetzung für eine interkulturelle (historisch-synchrone) Perspektive sind. Hinzuweisen ist auch hier auf das Beispiel des literarischen Kulturtransfers zwischen Frankreich und Deutschland, vor allem in der Zeit um 1200. Nicht minder trifft dies für Phänomene der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹ zu, so etwa in Bezug auf die Durchdringung und Überlagerung christlicher und archaisch-heidnischer Vorstellungswelten, wie sie beispielsweise bezogen auf die althochdeutschen Zauber- und Segenssprüche oder das Neben- und Ineinander von höfischer und heldenepischer Literatur sichtbar werden. Dass auch die Neuzeit nur ein Behelfsbegriff ist und sich unter der vermeintlichen Homogenität vielfältigste Heterogenitäten, Brüche, Progressionen und Regressionen zeigen, muss eigentlich nicht eigens erwähnt werden.

Im Folgenden soll versucht werden, ein Beobachtungsfeld interkultureller Mediävistik näher zu beleuchten, nämlich das der Fremdsprachenproblematik, auch, weil sich hiermit die Thematisierung der bereits mehrfach genannten deutsch-französischen Kulturbeziehungen verbinden lässt.11 Unterstrichen werden soll mit diesem Beispiel aber auch, dass interkulturelle Zugriffe keineswegs auf Literaturanalysen im engeren Sinne beschränkt sein müssen, sondern die historische Sprachforschung einen unverzichtbaren Beitrag beizusteuern in der Lage ist.

So ist die historische Sprachwissenschaft, flankiert durch die gegenwartssprachliche Linguistik, prädestiniert, Sprache als ein ›interkulturelles Konstrukt‹ kenntlich zu machen.12 Eine solche Sichtweise hätte sich ideologisch unvoreingenommen mit den historisch unabweisbaren kulturdifferenten Einflussgrößen auf Werden und Entwicklung der deutschen Sprache auseinanderzusetzen. Erwartbar ist dabei eine frei von jeglichem Alarmismus vorgetragene Position zu allen Fragen im Kontext der verbreiteten Anglizismusdebatte wie auch zu Fragen des Sprachpurismus insgesamt. Dabei kann es freilich nicht darum gehen, sich jeglicher Sprachkritik zu enthalten, nur wird das Urteil vor dem Hintergrund der immer schon bestehenden Integration (und Bereicherung) der deutschen Sprache durch andere Sprachen sicher ausgewogener ausfallen müssen. Man denke nur an die Einflüsse des Lateinischen in der Experimentalzeit der sich allmählich als vollwertige Literatursprache herausbildenden althochdeutschen Volkssprache wie auch die unterschiedlichen ›Entlehnungswellen‹ italienischer, französischer und (nun) anglo-amerikanischer Provenienz. Zu berücksichtigen ist daneben auch, dass Entlehnungsbahnen keinesfalls eine Einbahnstraße sind, und auch das Deutsche nicht nur Nehmer-, sondern auch Gebersprache ist.

Die Begegnung mit dem Fremden in der Sprache spielt sich aber nicht nur in Form von Entlehnungsprozessen bezogen auf das Sprachsystem ab, sondern auf kommunikativ-pragmatischer Ebene auch in Hinblick auf die Fremdsprachen als solche und in der Konfrontation mit fremdkulturellen Sprachgemeinschaften oder Individuen. Schreibt man das Feld Deutsch-als-Fremdsprache in die Vergangenheit des Mittelalters fort, rücken notwendigerweise die französisch-deutschen Sprach-, Literatur- und Kulturbeziehungen in den Fokus. In den Blick fällt dabei zunächst schon das auffällige Neben- und Miteinander frühester altfranzösischer und althochdeutscher Texte, so beim Überlieferungsverbund der altfranzösischen Eulaliasequenz mit dem althochdeutschen Ludwigslied (etwa 880) – in einer ansonsten lateinischen Handschrift. Auch die Straßburger Eide des Jahres 842 überliefern das Mit- und Nebeneinander früher deutscher und französischer Sprache, wiederum eingebettet in einen ansonsten lateinischen Kontext. Hintergrund der Eide ist das Bündnis der Erben Karls des Großen, nämlich Ludwigs des Deutschen und Karls des Kahlen gegen ihren Bruder Lothar. Die Straßburger Eide bieten einen interessanten Einblick in die Problematik und soziale Schichtung von Ein- und Mehrsprachigkeit im frühen Mittelalter. So beeiden die offensichtlich bilingualen Könige in der Sprache des jeweiligen Nachbarn: Lodhuuicus romana, Karolus uero teudisca lingua iurauerunt, (Ludwig der Deutsche also auf Altfranzösisch, Karl der Kahle auf Althochdeutsch; zit. n. Schlosser 2004, 72), die offensichtlich monolingualen Heere aber jeweils in ihrer eigenen Sprache.

Auch sonst finden sich in der Zeit Zeugnisse und Belege für die Beherrschung des Altfranzösischen (Romanischen) durch den deutschen Adel (etwa bezogen auf Otto den Großen), verbreiteter waren wohl aber Kompetenzen des Althochdeutschen in der adligen Führungsschicht des westlich-romanischen Teils des (ehemaligen) Karolingerreiches.13 So wurden beispielsweise auf der Ingelheimer Synode von 948 für den westfränkischen König Ludwig IV. und Otto den Großen, da diese des Lateinischen nicht mächtig waren, die lateinischen Dokumente ins Althochdeutsche übersetzt. Im 9. Jahrhundert betonte überdies Abt Lupus von Ferrières »die Bedeutung des Studiums der Lingua germanica für die romanisch-sprechende westfränkische Oberschicht« (Haubrichs 1995, 157). Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang auch mehrere ›Gesprächsbüchlein‹, die einen zwar nur rudimentären, gleichwohl aber lebendigen Eindruck in die auf die Volkssprache bezogene Spracherwerbspraxis vermitteln. Sowohl im Pariser wie auch im Kasseler Gesprächsbüchlein finden sich Eintragungen althochdeutscher Wörter und Phrasen, die offensichtlich als Konversationsübung für Reisende aus dem westfränkisch-französischen ins östlich angrenzende althochdeutsche Sprachgebiet dienten. Zweck war offensichtlich die Überwindung der französisch-deutschen Sprachbarriere. Gleichzeitig können die Gesprächsbüchlein als frühe Dokumente im Bereich Deutsch als Fremdsprache betrachtet werden.

Dass interkulturelle und selbst nachbarschaftliche Kontakte auch im Mittelalter nicht immer konfliktfrei abliefen und wechselseitige spöttische bis verunglimpfende Äußerungen ebenfalls zur sozialen Realität des Mittelalters gehörten, ist zwar bedauerlich, aber wenig überraschend und braucht keinesfalls verschwiegen zu werden. Ziel einer interkulturellen Perspektive kann eben nicht eine harmoniesüchtige und auf oberflächliche Einebnung von Konfliktfeldern abzielende Untersuchungspraxis und auch nicht die Postulierung von Idyllen durch wissenschaftliche Gutmenschen sein. Insofern trifft die von Helmut Glück (2002, 68) mit Blick auf das Kasseler Gesprächsbüchlein etwas launisch vorgetragene, zumindest implizite Kritik nicht: »Die Kasseler Glossen enthalten eine textlinguistisch bemerkenswerte und für ›interkulturelle Germanisten‹ deprimierende Stelle:

Stulti sunt Romani, sapienti sunt Paioari, modica est sapienti[a] in Romana plus habent stultitia quam sapientia. Tolesint uualha, spahesint Peigira; luzic ist spahi inuualhum, merahapent tolaheiti dennespahi.

[Die Römer (Romanen) sind dumm, die Baiern sind gescheit. Bei den Römern ist die Klugheit wenig entwickelt, sie besitzen mehr Dummheit als Klugheit.]14

Es sind aber insbesondere die Arbeiten Glücks (2002 u. 2002a), die den Blick der mediävistischen Forschung auf Fragen der Volkssprachen als Fremdsprachen gelenkt haben, ein Feld, das – zumal unter einer interkulturellen Perspektive – von besonderem Interesse sein muss. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang, dass Reisen nicht nur eine praktische Notwendigkeit der mittelalterlichen Alltagspraxis war und dabei mit vielerlei (auch dialektalen) Sprachbarrieren konfrontierte. Das Reisen ist auch ein vielfach sich wiederholendes Motiv in der Literatur des Mittelalters. So ist etwa der prototypische Held des Artusromans, der Ritter, stets ein Reisender, der sich auf seinen Aventiurefahrten mancherlei ›Alteritätserfahrungen‹ ausgesetzt sieht, wobei mit Drachen, Zwergen, Riesen oder auch allerlei Zaubersalben und unsichtbar machenden Ringen die Sphäre einer Anderwelt aufscheint. Im Wigalois des Wirnt von Grafenberg begegnet der Titelheld einer Frau, die dem gültigen Geschlechterkode zuwiderhandelt, indem sie ihn kraftvoll angreift, ihn dadurch in einen Rollenkonflikt und als Folge dessen in eine lebensbedrohliche Situation bringt.15 Bedeutend abenteuerlicher noch geht es in der mittelalterlichen Reiseliteratur zu, insbesondere da, wo von den Monstern am südlichen Rand der Erde in lebhaften Schilderungen berichtet wird. Aber nicht nur in der fiktionalen Dichtung, sondern auch da, wo die Literatur realhistorische Ereignisse zum Ausgangspunkt hat, ist das Reisen konstitutiv. Zu denken ist hier an die Kreuzzugsdichtung wie auch die Heldenepik. Zwar ist das Reisen keine notwendige Voraussetzung für kulturelle Fremderfahrungen, wohl aber eine oft gegebene. Aus der Perspektive einer interkulturellen Mediävistik stellt sich dabei die Frage nach der spezifischen Darstellungsweise der unterschiedlichen Kultur-Begegnungen, ihrer Funktion im Textzusammenhang und ihrem Bezug zu den historischen Realitäten bzw. Intentionen (religiös, ideologisch, politisch).

Um aber bei dem Thema Fremdsprachen zu bleiben, ist zu konstatieren, dass es in der Mehrzahl der Fälle, – so wie wir das heute auch aus entsprechenden Filmen gewohnt sind, dabei sicherlich weniger einem mangelnden Reflexionsvermögen der Autoren als vielmehr der unverstellten Rezipierbarkeit geschuldet, – keinerlei Sprachprobleme gibt: »die Franzosen, Italiener, Slaven, Mauren usw. sprechen normalerweise flüssig Mittelhochdeutsch. Das entsprach natürlich nicht den Fakten«, heißt es entsprechend bei Glück (2002, 70). Dagegen stehen aber Dichtungen, in denen beim Kontakt mit fremden Kulturen die Frage des passenden Verständigungsmittels thematisiert wird bzw. erst ausgehandelt werden muss. Beispielhaft hierfür steht Der guote Gêrhart,16 eine um 1220 entstandene Verserzählung von Rudolf von Ems. Aufschlussreich ist darin die Begegnung des Kölner Kaufmanns Gêrhart auf seinen Reisen im Morgenland mit einem arabischen Adligen:

Der edel werde wîgant

begund grüezen mich zehant

in heidensch, als er mich gesach.

dô er gruozes mir verjach,

ich neig im, sam man gruoze sol.

doch dûhte in des, er sach vil wol,

sam die wîsen dicke tuont,

daz ich die sprâche niht verstuont.

dô sprach der fürste kurtoys:

»sagent an, verstât ir franzoys?«

»jâ, herre, mir ist ist wol erkant

beidiu sprâch und ouch daz lant.«

»sô sint gesalûieret mir.«

ich sprach: »gramarzî bêâ sir«

von herzen vrœlîche.

dô sprach der fürste rîche:

»lieber herre gast, nû saget,

waz hât iuch in ditz lant verjaget?

sint ir ein Franzoys oder wer?

von welchem lande koment ir her?«

dô seit ich im ze mære

daz ich ein koufman wære

von tiutschen landen verre.17

Der adlige und vortreffliche Kämpfer begrüßte mich sogleich in heidnischer Sprache (arabisch).18 Daraufhin verneigte ich mich, wie es sich beim Grüßen gehört. Da wurde ihm klar, – wie es bei weisen Leuten oft der Fall ist –, dass ich die Sprache nicht verstand. Da sagte der Fürst in höflicher Manier: »Sprecht nur, versteht ihr Französisch?« »Ja, Herr, mir sind Sprache und Land wohl bekannt.« »Dann seid mir mit salut gegrüßt.« Ich sprach: »Grand merci beaucoup, Monsieur.« Mit frohem Herzen sprach da der mächtige Fürst: »Lieber Gast, sagt mir, was hat euch in dieses Land verschlagen? Seid ihr ein Franzose oder was sonst? Aus welchem Land kommt ihr?« Da teilte ich ihm mit, dass ich ein Kaufmann aus dem fernen Deutschland wäre.

Die Szene verweist auf die besondere Bedeutung des Französischen. Dabei ist kaum anzunehmen, dass die französische Sprache bereits im Mittelalter im arabischen Raum weit verbreitet gewesen sein dürfte. Ableitbar ist aber indirekt die besondere Rolle der französischen Literatur für die deutsche Dichtung des Hochmittelalters. Insbesondere für die Blütezeit des Mittelhochdeutschen um 1200 ist die Rezeption französischer Werke geradezu konstitutiv. Im Gegensatz zur Periode des Althochdeutschen, in der man wohl von einem gewissen Übergewicht der ›deutschen Seite‹ im deutsch-französischen Beziehungsgeflecht auszugehen hat, haben sich die Gewichte im Hochmittelalter völlig verschoben. Die Zeit um 1200 war für die Sprach- und Literaturbeziehungen zwischen Frankreich und Deutschland einer der prägendsten Abschnitte. Dies gilt für den höfischen Roman und das darin vermittelte christlich geprägte Modell des Ritters als eines sittlich verfeinerten Kämpfers für Ehre und Gerechtigkeit. Nicht minder gilt dies aber auch für die Minnelyrik und die darin vertretene Auffassung einer höfisch-zeremoniellen Liebe (amour courtois).

Für die deutschen Dichter stellte sich als Aufgabe, die neuen Stoffe nicht nur übersetzungstechnisch zu bewältigen, sondern auch inhaltlich dem veränderten Publikum in Deutschland anzupassen und sich formell die strengere metrische Form des französischen Vorbilds anzueignen. Wenngleich das Rolandslied des Pfaffen Konrad nicht den Texten der mittelhochdeutschen Blütezeit zuzurechnen ist, basiert es auf französischer Vorlage, nämlich der Chanson de Roland. Eher kurios mutet heute an, wenn Konrad Einblicke in seine Übersetzungspraxis gewährt. Im Epilog gibt er nämlich an, sein Werk nicht direkt ins Deutsche übersetzt zu haben, sondern mittelbar über den Umweg des Lateinischen:

Ob iu daz liet geualle,

so gedencket ir min alle:

ich haize der pfaffe Chunrat.

also iz an dem bůche gescribin stat

in franczischer zungen,

so han ich iz in die latine bedwngin,

danne in di tutiske gekeret (V. 9076ff.).19

Überhaupt ist ungeklärt, inwieweit die mittelhochdeutschen Autoren, die nach französischen Vorlagen gearbeitet haben, die altfranzösische Sprache beherrschten bzw. ob Dolmetscher zwischengeschaltet wurden. Wolfram von Eschenbach äußert sich im Willehalm ungewöhnlich direkt (237, 3ff.):

Herbergen ist loyschiern genant.

so vil han ich der sprache erkant.

ein ungevüeger Schampaneys

kunde vil baz franzeys

dann ich, swie ich franzoys spreche

Lagern heißt auf französisch ›logieren‹, soviel kenne ich von dieser Sprache. Aber ein Bauer in der Champagne könnte dennoch viel besser Französisch als ich, so gut ich selbst französisch spreche.20

Bei lateinisch gebildeten Dichtern wie Heinrich von Veldeke, Hartmann von Aue oder Gottfried von Straßburg haben wohl auch die Lateinkenntnisse das Verständnis der französischen Quellen erleichtert.

Vorbereitet war der Erfolg der französischen Literatur bereits durch die ab dem 11. Jahrhundert aufkommende Vorliebe für französische Kleidung, Waffentechnik, Turnierwesen und Gesellschaftsformen. Wenig überraschend ist daher auch die Übernahme altfranzösischen Lehnwortguts: prîs (›Preis‹), turn (›Turm‹), tanzen, bûhurt (›Reiterspiel‹), tjost (›ritterlicher Zweikampf mit dem Speer‹), buckel (›Schildbelag‹) fallen hierunter. Nach Baum (2000, 1108) beläuft sich der Umfang auf »fast 350 Fremdwörter, Ableitungen und Zusammensetzungen mit frz. Bestandteilen im 12. Jh., rund 700 im 13. Jh. und insgesamt etwa 2000 im 14. Jh.«

Französische Einsprengsel in der mittelhochdeutschen Literatur sind ein Beleg für die Funktion des Französischen als Prestigesprache bei Hofe. Ein Beispiel hierfür findet sich im Tristan Gottfrieds von Straßburg. Am englischen Königshof kommt es zu einer in dieser Hinsicht bemerkenswerten Begegnung des Titelhelden mit König Marke (V. 3351ff.21):

Marke sach Tristanden an:

»vriunt«, sprach er »heizestû Tristan?«

»jâ hêrre, Tristan; dêu sal!«

»dêu sal, bêâs vassal!«

»mercî«, sprach der »gentil rois,

edeler künic curnewalois,

ir und iur gesinde

ir sît von gotes kinde

iemer gebenedîet!«

dô wart gemerzîet

wunder von der hovediet.

si triben niwan daz eine liet:

»Tristan, Tristan li Parmenois

cum est bêâs et cum cûrtois!”

Marke sah Tristan an und sprach: »Mein Freund, heißt du Tristan?« »Ja, Herr, Tristan. Gott schütze Euch.« »Gott schütze dich, schöner Jüngling!« »Danke, vornehmer König«, erwiderte er, »Edler König von Cornwall, Ihr und Euer Gefolge mögt von Gottes Sohn auf ewig gesegnet sein!« Da bedankten sich vielmals die Angehörigen des Hofs. Sie sangen nur diesen einen Vers: »Tristan, Tristan aus Parmenien, wie schön und höfisch ist er!«

Als sicher kann gelten, dass Französischkenntnisse bei deutschen Adeligen im Hochmittelalter weiter verbreitet waren als umgekehrt Deutschkenntnisse an französischen Höfen. Anzunehmen ist dabei eine vergleichsweise ausgeprägte Sprachkompetenz im Altfranzösischen bei den adligen Damen.

Bereits im Verlauf des frühen 13. Jahrhunderts lockerten sich die Kontakte zur französischen Literatur wieder. Aber obwohl nach 1220 nur noch relativ wenige Werke aus dem Französischen übernommen wurden, bleibt das französische Muster dadurch indirekt weiterhin bestimmend, dass die nachklassischen Dichter die Autoren der Blütezeit zum Vorbild nahmen.

Unter interkultureller Perspektive erweist sich der deutsch-französische Kulturtransfer als eine enorme Bereicherung, insbesondere für die deutsche Seite. Dabei ist die Sprache des anderen einerseits Herausforderung zur Bewältigung alltagskommunikativer Bedürfnisse. Auf der anderen Seite, und dies gilt insbesondere für das Französische, erweist sich Sprache aber auch als Sozialsymbol zur Herstellung sozialer Integration, ist aber durchaus auch Distinktionsmerkmal. So fremd den modernen Lesern die mittelalterlichen Texte bisweilen auch anmuten mögen, in diesem Punkt – und nicht nur in diesem – begegnen sie der vertrauten Fremde.

Anmerkungen

1 Ein schönes Beispiel hierfür liefert der Kölner (oder Niederrheinische) Orientbericht, ein um 1350 in Köln verfasster Reisebericht, der unter anderem von abenteuerlichen Begegnungen mit vielerlei fantastischen, gleichwohl menschähnlichen Kreaturen berichtet. An einer Stelle heißt es da bezogen auf die Bewohner des südlichen Erdrands in ripuarisch geprägtem Mittelhochdeutsch (Röhricht/Meisner [1887], 13): »ind diese lude dunckent uns as seltzen as wir sy« (›und diesen Leute kommen wir ebenso seltsam vor wie sie uns‹).

2 Vgl. hierzu: Thomas Bein: Konrads von Megenberg Buch der Natur als germanistisch-mediävistisches Paradigma für einen innovativen, interkulturellen Unterricht. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 1 (2010), H. 2, S. 26–47.

3 Der »Waltharius« ist eine im 10. Jahrhundert entstandene lateinische Heldendichtung, die aller Wahrscheinlichkeit nach auf der Grundlage volkssprachig-deutscher Quellen basiert.

4 Hierzu empfehlenswert etwa Barbara Sabel: Toleranzdenken in mittelhochdeutscher Literatur. Wiesbaden 2003.

5 Vgl. Peter Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen der Reflexivität im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung I. Frankfurt a.M./New York. Ders.: Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und zyklische Zeiten. Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung II. München 1993. Kritisch dazu Peter Strohschneider: Die Zeichen der Mediävistik. Ein Diskussionsbeitrag zum Mittelalter-Entwurf von Peter Czerwinskis ›Gegenwärtigkeit‹. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) 20 (1995), S. 173–191.

6 So etwa Manuel Braun im Einladungsschreiben des Brackweiler Arbeitskreises zur CFP-Tagung 2008 unter der Themenstellung »Alterität des Mittelalters? Aufforderung zur Revision eines Forschungsprogramms«.

7 Hinzuweisen ist auch darauf, dass Wierlacher im selben Band auch einen mediävistischen Beitrag zur ›Sprachgeschichte als Kulturgeschichte‹ (Reichmann 1985) publiziert.

8 Vgl. die Internetseite der Abteilung Ältere deutsche Literaturgeschichte der Universität Mainz (http://www.germanistik.uni-mainz.de/142.php [15.05.2011]).

9 Vgl. das Nachwort zu: Das Nibelungenlied 1. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. Hg., übers. u. mit einem Anh. vers. von Helmut Brackert. Frankfurt a.M. 282003, S. 263.

10 Hierbei ist nicht nur an die ubiquitäre Ausbreitung der Mobil- und Netz-Telefonie zu denken oder an den zunehmenden Erfolg von Hörbüchern; auch die schriftliche Kommunikation orientiert sich in wesentlichen Feldern durchaus stark an gesprochener Sprache (SMS, E-Mail).

11 Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf Ingrid Kasten/Werner Paravicini/René Pérennec (Hg.): Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Sigmaringen 1998.

12 Vgl. hierzu d. Verf.: Die deutsche Sprache als interkulturelles Konstrukt. In: Dieter Heimböckel u.a.: Zwischen Provokation und Usurpation. Interkulturalität als (un-)vollendetes Projekt der Literatur- und Sprachwissenschaften. München 2010, S. 349–358.

13 »Als Sprache der Könige ist die lingua theodisca auch noch bis um die Mitte des 10. Jahrhunderts im Westen bezeugt.« Haubrichs 2004, 3337.

14 Zit. n. Glück 2002, 68.

15 Gemeint ist die Begegnung mit dem bösen Waldweib Ruel; vgl. Z. 6372–6377. Überhaupt ließen sich Geschlechterkonstellationen des Mittelalters natürlich auch unter interkultureller Perspektive mit Gewinn untersuchen. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang etwa Ingrid Bennewitz/Ingrid Kasten (Hg.): Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. Münster/Heidelberg/London 2002.

16 Vgl. unter dem Aspekt der interkulturellen Mediävistik auch die Interpretation von Schumacher 2010.

17 Rudolf von Ems: Der guote Gêrhart. Hg. von John A. Asher. 3., durchges. Aufl. Tübingen 1989, V. 1344–1365.

18 Schumacher 2010, der die Erzählung und auch diese Szene zwar unter einer anders gelagerten Fragestellung, aber ebenfalls unter interkultureller Perspektive untersucht, weist zurecht darauf hin, dass der Begriff des Heiden in der mittelhochdeutschen Literatur einerseits »als unspezifische Sammelbezeichnung für die Anhänger nichtchristlicher Religionen« (51) verwandt wird, andererseits aber auch auf Muslime reduziert wurde und dass im gegebenen Zusammenhang die Übersetzung »heidensch« als »arabisch« »sicher nicht falsch« (53) wäre. Entsprechend übersetzt auch Glück 2002, S. 71.

19 Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Hg. von Carl Wesle. 3., durchges. Aufl. besorgt von Peter Wapnewski. Tübingen 1985.

20 Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Text von Werner Schröder. Übers., Vorw. und Reg. von Dieter Kartschoke. 3., durchges. Ausg. Berlin/New York 2003.

21 Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkomm. und einem Nachw. von Rüdiger Krohn. Bd. 1. Stuttgart 112006.

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