Culture and Belonging
Keywords:multiculturalism; diversity; sociology; difference; organization
In diesem Aufsatz thematisiere ich begriffliche Strategien, Kulturbegriffe mit Konzepten sozialer Zugehörigkeit in Verbindung zu bringen, und beziehe dies auf Möglichkeiten eines an Zugehörigkeit orientierten Begriffs von Kultur. Der Kulturbegriff selbst wurde in der Kulturtheorie nicht oft dazu genutzt, die Frage nach Zugehörigkeit explizit zu stellen. Es ging eher um Identität oder, im Gegenteil, Differenz als Wesen des Kulturellen. Das lag erstens daran, dass essenzialistische Verständnisse von Kultur die Frage nach den Regeln von Zugehörigkeit selbst zu einem Knockout-Kriterium selbiger machten. Ein identitäres Je me souviens (Québec – aber woran?) oder Mir san mir (Bayern – aber wer/was?) mag Zugehörigkeit ins Werk setzen, stellt sich jedoch stur, wenn es um Fragen konkreter Teilhabe geht. Verwundern kann dies den phänomenologisch aufgeklärten Beobachter nicht: Wie bereits Alfred Schütz (1944) feststellte, gehört es zum Wesen der sozialen Zugehörigkeit zur »in-group«, zu deren kulturellen Wesen keine Fragen aufzuwerfen und auf der Grundlage genau dieser Tugend die Widersprüche des Kulturellen auszuhandeln, um nicht zu sagen auszusitzen. Konstruktivistische Zugänge mühten sich, zweitens und umgekehrt, damit ab, jene Aporien und Paradoxa in den Regeln der Zugehörigkeit einzig auf die Frage nach dem (Nicht-)Wesen der Kultur zu projizieren, d.h. sie behandelten Zugehörigkeit als Residualkategorie, deren soziale Regeln nicht wirklich empirisch interessierten, gerade weil man wie selbstverständlich davon ausging, dass sie kulturelle Regeln durcheinanderbrächten.1 Diese der Gesellschaftswissenschaft auf den ersten Blick schmeichelnde, aber empirisch meist eher uninformierte Anrufung des Sozialen, um das Kulturelle zu irritieren, genügte großen Teilen des identitäts- und kulturkonstruktivistischen Programms.
Im vorliegenden Aufsatz steht hingegen eine Diskussion darüber an, wie sich Konzepte von Kultur mit solchen sozialer Zugehörigkeit verbinden (lassen). Damit wird keineswegs Neuland betreten, wie ein Rückblick auf einige der bekanntesten diesbezüglichen Versuche in der Soziologie zeigt. Ein Beispiel hierfür bildet Talcott Parsons’ (1966) Konzept der Societal community als eines normativ relativ eindeutig geregelten Sets von Erwartungen an legitime Mitglieder einer Gemeinschaft, die Pflichten wie Rechte umfassen. ›Kultur‹ hingegen fungierte bei Parsons als ein Sektor des Handlungssystems, der aus sich selbst heraus keinerlei Mitgliedschaftsregeln zu generieren imstande war, gerade weil er sich auf Sinnbestände bezog, die nicht durch soziale Normen, sondern durch eine semantische Binnenstrukturierung integriert wurden, paradigmatisch im Bereich der Religion, der Wissenschaft und der Kunst (Parsons 1951). Wohl aber gibt es Parsons zufolge Institutionen, die die abstrakten Wertverallgemeinerungen der Kultur in Normen – und das heißt, in Zugehörigkeitsregeln – übersetzen. Kultur dient hier also nicht als Generator von Mitgliedschaft, sondern als Generator von Sinn (Parsons/Platt 1973). Dem entsprechend lautet die Unterscheidung in der berühmt gewordenen Übereinkunft zwischen Talcott Parsons und Alfred Kroeber zur Arbeitsteilung zwischen Soziologie und Anthropologie, dass der Referenzbegriff ersterer die ›Gesellschaft‹ und der der letzteren ›Kultur‹ sei, wobei Kultur sich großenteils auf die semantische Organisation von Symbolsystemen beziehen sollte (Kroeber/Parsons 1958). Einen solchen Kulturbegriff konnte Parsons in sein Modell der differenzierten Gesellschaft einordnen, dem zufolge Kultur aus einem Set von ›latenten Mustern‹ besteht, dessen Pflege bestimmten Institutionen und Professionen obliegt und das die Gesellschaft mit Letztbegründungen (»ultimate reality«) versorgt, die der moralischen Aufladung und Verankerung von Normsystemen dient, welche wiederum Zugehörigkeit organisieren (Parsons 1966).
Parsons bildet dabei nur ein besonders ausgearbeitetes Exempel für eine allgemeinere Tendenz der Soziologie, die Unabweislichkeit eines Begriffs von Sinn, und damit Kultur, einzugestehen und dies zugleich in die Frage nach den sozialen Strukturierungseffekten dieses Sinns bzw. seinen sozialstrukturellen Manifestationen zu überführen. Bei Max Weber etwa findet sich diese doppelte Schwerpunktsetzung in der Religionssoziologie und gerade auch in ihrer Ouvertüre der »Protestantischen Ethik« (Weber 1988a) – allerdings nur dann, wenn man nicht nur diesen Aufsatz, sondern auch (zumindest) denjenigen über die protestantischen Sekten in Nordamerika liest (1988b). Denn dann zeigt sich, dass das zumeist mit der »Ethik« verbundene Argument – nämlich dass bestimmte Glaubenssätze sich in eine ›Lebensführung‹ übersetzten, die bestimmte Wirtschaftspraktiken zwingend nahelegten und auf lange Sicht zu einer Ausbreitung des Profitkapitalismus führten – nur die halbe Miete zahlt. Denn man muss, wie Weber es tut, mit berücksichtigen, dass jene Ethik erst in Verbindung mit bestimmten Praktiken sozialer Öffnung und Schließung – vertrauensvolle wirtschaftliche Öffnung gegenüber Glaubensgeschwistern, ökonomische Abschottung gegenüber Andersgläubigen – sich zu einer systemischen Aufstufung kapitalistischer Zirkulation steigern konnte. Mit anderen Worten: Kultur lieferte die Letztbegründungen der Profitwirtschaft, aber damit diese schließlich zu einer Weltkultur werden konnte, musste Kultur mit Kodierungen sozialer Zugehörigkeit kurzgeschlossen werden, damit sich Zellen des Kapitalismus in Form der protestantische Sekten und ihrer strikten Inklusions- und Exklusionspraktiken überhaupt entwickeln und schließlich systemische Wirkung entfalten konnten.
Parsons’ Strukturfunktionalismus wie auch Webers Einbettung der Soziologie in eine ›Kulturwissenschaft‹ (Weber 1988c: 180) bildeten somit Versuche, die konzeptionelle Beziehung zwischen einerseits dem Kulturbegriff und seiner Betonung des Eigenlebens von Sinnsystemen und andererseits dem Gesellschaftsbegriff und seiner Herausstellung der Dimension sozialer Bindungen einer Klärung zuzuführen. Indes wurde in diesen Versuchen der Kulturbegriff zumindest implizit als ein selbstidentischer aufgefasst. Weber wie Parsons interessierte vor allem die Kohärenz, Stringenz, Systemhaftigkeit und inhaltliche Logik von Kultur – ein Interesse, das dann ab den 1950er Jahren den Strukturalismus auch gerade in der Ethnologie groß werden ließ. Die heutigen Debatten operieren hingegen, wie man weiß, mit Kulturbegriffen, die Differenz in den Mittelpunkt rücken. Dem soziologischen ›Kultur-Interessierten‹ heute stellt sich somit die Frage, auf welche Weise die Verknüpfung von Kulturkonzepten mit Zugehörigkeitsmodi unter Berücksichtigung des Umstands erfolgen kann, dass für Kultur mittlerweile eher Differenz als Identität einsteht.
Um das Rad nicht neu zu erfinden, erscheint es dabei sinnvoll, die Verbindung zwischen Konzepten von kultureller Differenz und solchen von Zugehörigkeit zunächst wissenschaftssoziologisch dort zu beobachten, wo es sie bereits gibt, und dann zu sehen, was sich daraus ergibt. Im folgenden Abschnitt versuche ich mich daher an einer Einordnung zweier Konzepte nebst zugehörigen Auseinandersetzungen, die diese Verbindung zuwege brachten: der Debatte über Multikulturalismus und der über Diversity. Beide Debatten rücken Differenz als Zentralachse von Kultur in den Mittelpunkt und adressieren zugleich Problematiken der Zugehörigkeit. Nach diesem Ausflug in das wissenschaftliche, soziale und politische Leben des Differenzbegriffs komme ich dann zum Kernanliegen der ZiG-Rubrik zurück, in der der vorliegende Text erscheint, nämlich: Was ergibt sich aus diesen Erörterungen für eine Konzeption von ›Kultur‹?
Dass die Frage nach der Weise, wie sich Idiome des Kulturellen – einerlei ob als Identität oder Differenz verhandelt – mit Regeln oder Modi von Zugehörigkeiten verbinden, kann gut anhand einer Diskussion dargestellt werden, die zwei verschiedene Idiome kultureller Identität und Differenz einander gegenüberstellt: Multikulturalismus und Diversity. Der Begriff des »Idioms« wird hier in dem Sinne gebraucht, dass er eine im Voranalytischen angesiedelte Verbindung zwischen dem Analyseinstrumentarium und dem Ort, an dem sich die Analyse artikuliert und zur Analyse wird, umschreibt (vgl. Langenohl 2012). Konkret wird es darum gehen nachzuzeichnen, wie »Multikulturalität« und »Diversity« ihre spezifischen Blicke auf kulturelle Identität und Differenz anhand einer je spezifischen Gebrauchsweise gewannen, welche sie in Verbindung mit unterschiedlichen Modi sozialer Zugehörigkeit brachte. Beides sind Verarbeitungsweisen gesellschaftlicher Differenz, und beide operieren vor dem gesetzten Hintergrund differenzierter Gesellschaften mit formalen Mitgliedschaftsregeln – aber sie entfalten unterschiedliche Paradigmata von Zugehörigkeit. Deren Gegenüberstellung gilt, den fraglosen Querverbindungen zwischen den beiden Begriffen zum Trotz, hier das Interesse.
Der Vergleich der beiden Debatten erfolgt auf folgenden Ebenen. Während im Zentrum und daher am Ende die Frage nach dem jeweils angezielten Paradigma von sozialer Zugehörigkeit steht, das durch die beiden Konzepte von Multikulturalismus und Diversität jeweils aufgerufen wird, beruhen die beiden Konzeptionen samt ihrer Zugehörigkeitsparadigmata auf unterschiedlichen inhaltlichen Ausprägungen entlang vierer Dimensionen:
Die Debatten über Multikulturalismus und Diversität entspannen sich in gesellschaftlichen und politischen Kontexten und waren insofern Teil von Krisenbeschreibungen. Die Multikulturalismus-Debatte, die ihren Ursprung auf dem nordamerikanischen Kontinent und insbesondere in Kanada hatte, wurde zwar in erster Linie von Sozialphilosophen und politischen Theoretikern geführt (vgl. die Beiträge in Gutman 1994), hatte aber ein sehr unmittelbares gesellschaftspolitisches Korrelat, nämlich die Frage, ob und unter welchen Umständen den Mitgliedern einzelner, als ›kulturell‹ bestimmter Gruppen innerhalb der kanadischen Gesellschaft besondere Rechte, die über die allgemeinen Bürgerrechte hinausgingen, zugestanden werden sollten. Die Befürworter – am prominentesten Charles Taylor (in Gutman 1994) – argumentierten, dass dies unter der Bedingung nicht nur möglich, sondern geboten sei, dass sich eine Kultur am Rande der Auflösung oder Zerstörung befände. Multikulturalistische Politiken sollten demnach dazu dienen, die Pluralität von Kulturen innerhalb einer Gesellschaft aufrechtzuerhalten und zu stärken. Das paradigmatische Beispiel Taylors waren dabei nicht etwa indigene Gruppen, sondern die französischsprachigen Kanadier vor allem in Québec, was deutlich machte, dass Taylor faktisch ›Kulturen‹ mit ›Nationalitäten‹ gleichsetzte. Zum normativen Fluchtpunkt eines gelingenden Multikulturalismus als Umgang mit kultureller Differenz wurde somit die Anerkennung partikularer kollektiver Rechte auf der Grundlage und zum Schutz kultureller Besonderheiten, welche in Kanada seit dem Canadian Multiculturalism Act von 1988 auch politisch-institutionell verankert ist.
Die Gegner dieses Ansatzes argumentierten hingegen liberal-individualistisch, beispielsweise Jürgen Habermas (in Gutman 1994), demzufolge die Vergabe von Rechten nicht an Gruppen, sondern an Individuen erfolge und es auch Individuen und nicht Gruppen als solche seien, die Rechte ausübten. Ergo dürfe die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, rechtsphilosophisch gesehen, keinen Grund zur Gewährung und Ausübung von Sonderrechten darstellen. Andere Kritiker des Ansatzes hoben hervor, dass Multikulturalismus zwingend in eine identity politics einmünden müsse, d.h. einen politischen Auseinandersetzungsstil, in dem das Beharren auf unverhandelbaren kulturellen Wesenheiten der eigenen Gruppe politisch gratifiziert werde. Multikulturalismus erzeuge somit unabwendbar ein Interesse an der Essenzialisierung von Kultur (vgl. die Zusammenfassung der Debatte bei Scott 1992).
Indes markiert diese Kritik, die sich durchaus mit einem poststrukturalistisch und postkolonial belehrten Konstruktivismus trifft (vgl. Brah 1996), weniger den Untergang des Multikulturalismus als eher den Formationsort eines Schaltpunktes, der die Verhandlung kultureller Differenz vom multikulturalistischen in das Diversity-Idiom überwechseln ließ. Denn eine mögliche Reaktion auf Habermas’ Argument war es ja, dass, wenn die Zugehörigkeit zu einer bestimmten, etwa als minderheitlich markierten, kulturellen Gruppe keinen Anlass zur Gewährung und Ausübung von Rechten bieten könne, sie auch keinen Anlass zur Ausübung oder Rechtfertigung von rechtlichen oder sonstigen Diskriminierungen darstellen dürfe. Dieses Argument ließ sich relativ umstandslos mit bereits früher formierten Positionen innerhalb der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung vereinen, denen zufolge die gesellschaftlich zugeschriebene Angehörigkeit zu einer Gruppe – etwa den Schwarzen – einem Individuum nicht zum Nachteil gereichen dürfe (vgl. Vedder 2006, Schür 2013: 87–95), bewirkte allerdings zugleich dessen Transformation. Denn nun, nach der liberal-individualistischen und poststrukturalistischen Kritik des Multikulturalismus, konnte es nicht mehr darum gehen, auf gruppenspezifische Diskriminierung mit gruppenspezifischer Vorteilsbehandlung wie Affirmative action oder kulturellen Sonderrechten zu reagieren (auch wenn diese politisch in einigen Staaten wie etwa Kanada fortleben), sondern mittels einer Verschiebung des Ortes kultureller Differenz von der Gruppe auf das Individuum. Anders gesagt: War für die Bürgerrechtsbewegung der 1960er und 70er Jahre das Problem die inhaltliche Zuschreibung negativer Merkmale auf bestimmte gesellschaftliche und kulturelle Gruppen, der man sich durch eine inhaltliche Aufwertung und Auszeichnung zu erwehren versuchte, legte unterhalb dieser Ebene von Fremd- und Selbstzuschreibung die Kritik des Multikulturalismus die strukturelle und epistemologische Problematik der Eingemeindung des Individuums in das kulturell bestimmte Kollektiv frei.
Das Konzept der Diversity stellte daher, als Resultat von Lernprozessen aus Entwicklungen der Bürgerrechtsbewegungen wie auch der Kritik des Multikulturalismus, nicht die Gewährung und Ausübung kollektiver, kulturell begründeter Rechte ins Zentrum, sondern gerade im Gegenteil die Anerkennung der Nichtreduzierbarkeit des Individuums auf nur eine Differenzachse. Individuen gelten daher – eigentlich ganz im Sinne Simmels (1992) – als einzigartig, insofern sie »Schnittpunkte sozialer Kreise« bzw. von Differenzen darstellen. Sie impliziert eine konstruktivistische Perspektive, insofern »Diversität das Resultat von Differenzierungen, von Differenzhandlungen« ist (Fuchs 2007: 17).
Damit ist bereits angesprochen, worin sich die Schauplätze kultureller Differenz gemäß Multikulturalismus und Diversity unterscheiden. Die Schauplätze des Multikulturalismus sind öffentliche. Man kennt sie auch heute noch in ihrem Fortleben jenseits der weitgehenden Verabschiedung des Konzepts als solchen: Stadtteilfeste, Prozessionen und Umzüge, Tage Offener Türen, interkulturelle Begegnungsabende etc. Die Subjektivität, die sich bei diesen Gelegenheiten formiert, ist stets im Plural, ist eine des ›Wir‹. Darin unterscheiden sich diese öffentlichen Manifestationen auch von Zirkusveranstaltungen, die zwar ebenfalls öffentlich sind, jedoch auf die Einzigartigkeit und Unnachahmlichkeit der Darbietenden abzielen – und darin dem Konzept der Diversity näher stehen. Allerdings nicht so nahe, dass dadurch übersehen werden könnte, dass die Schauplätze von kultureller Differenz, verstanden als Diversity, nicht-öffentliche sind. Diversität bringt sich eher unauffällig und gleichsam nebenbei zur Geltung. Gerade weil sich gemäß dem Konzept der Diversität Differenz nicht auf eine einzige Achse festlegen lässt, kann eine solche Achse auch nicht theatralisiert und inszeniert werden. Differenz im Sinne von Diversität versteht sich immer als ein Add-on, niemals als Hauptsache. Daher auch verträgt sich das Konzept hervorragend mit Mitgliedschaften in Organisationen: Niemandem wird allein aufgrund seiner kulturellen Besonderheiten Zugang zu einer Organisation gewährt, aber immer mehr Organisationen wissen es zu schätzen, wenn ein Quentchen Diversität mit von der Partie ist. Der Diversitätsbegriff kommt insofern einer Kulturalisierung im Sinne von Konstruktionseinsicht (vgl. Kleeberg/Langenohl 2011), von Differenz per se gleich, als er davon ausgeht, dass Differenzen von den Individuen in konkreten sozialen Situationen aktualisierbar und gestaltbar sind, so dass auch solche Unterschiede, die man in der Soziologie als klassisch sozialstrukturelle interpretieren würde wie etwa Schichtzugehörigkeit, in erster Linie in Bezug darauf interessieren, ob und wie sie in ihren jeweiligen partikularen Mischungen mit anderen Differenzen zur Geltung gebracht werden (können). Unter solchen Bedingungen eines ›Differenzvoluntarismus‹ besteht allerdings, so Kritiker, auch die Gefahr, dass alle Differenzen – etwa bezüglich Ethnizität, Gender, sexueller Orientierung, körperlicher, psychischer und mentaler Herausforderungslagen, sozialer Schichtung – über einen Kamm geschoren werden und unkenntlich wird, dass eine Differenzachse die anderen überdeterminieren kann; und grundlegender, dass Individuen, je nach Situation, bei der Aufrufung ›ihrer‹ Differenzkombinationen nicht immer selbst die Zügel in der Hand haben (MacCall 2005).
Dies leitet zu der Frage über, unter welchen Bedingungen Multikulturalismus und Diversität als gelungene Bearbeitungsformen von Differenz in der Gesellschaft gelten. Für den originären Multikulturalismus, dies wurde bereits erwähnt, besteht ein gelingender Umgang mit kultureller Differenz in der Anerkennung gruppenspezifischer, aus kulturellen Besonderheiten hergeleiteter kollektiver Rechte. Deswegen lag ein besonderes Augenmerk auf der Authentizität kultureller Differenz; dies erklärt die Zähigkeit der Debatte darüber, welche Kulturen als Kulturen im Sinne des Multikulturalismus, also als schützenswert, zu gelten hätten. Allerdings ist das nicht alles. Denn die Multikulturalismus-Debatte war in ihrem Entstehungs- und Wirkungskontext zugleich auf den Erhalt gesellschaftlicher Kohäsion und zuletzt staatlicher Integration bezogen. Die Frage nach der Gangbarkeit kulturell begründeter Gruppenrechte wurde vor dem Hintergrund eines Szenarios gestellt, das die Integrität des kanadischen Staates auf politisch sehr durchdringende Weise in Frage stellte: nämlich einerseits die in den 1980er und 90er Jahren fortdauernden Debatten über einen Austritt Québecs aus dem kanadischen Bundesstaat, andererseits die lauter werdenden Forderungen nach Anerkennung auf Seiten derjenigen Gruppen, die in dem Gegensatz zwischen britischen und französischen Wurzeln nicht vorkamen. Der Multikulturalismus-Debatte lag somit eine epistemologisch-politische Konstellation zugrunde, in der über gesellschaftlichen und staatlichen Zusammenhalt und Zerfall auf verfassungs- und bürgerrechtlicher Ebene in einem Idiom kultureller Differenz gesprochen wurde.
Dies machte den Multikulturalismus überaus angreifbar, und zwar nicht so sehr, weil Desintegrationstendenzen, einerlei ob tatsächliche oder behauptete, in stringenter und nachprüfbarer Weise auf ein Scheitern multikulturalistischer Politiken zurückzuführen gewesen wären, sondern grundlegender, weil sich der Multikulturalismus auf eine Augenhöhe mit der Frage gesamtgesellschaftlicher Integration begeben hatte. Dies setzte ihn selbst dort massiver Kritik aus, wo es ihn nur in Ansätzen gegeben hatte, wie etwa in Deutschland oder (abgeschwächter) in Großbritannien (vgl. Vertovec/Wessendorf 2010). Das Verdienst der multikulturalistischen Debatte, nämlich ›Kultur‹ als Bestandteil der Rechtsverfassung von Staat und Gesellschaft in die Explizität geholt und zu einer Generalfrage gemacht zu haben, besiegelte zugleich ihr Schicksal (außerhalb Kanadas). In einer Lage, in der gesellschaftliche, politische und internationale Konflikte primär auf kulturelle (zunehmend religiöse) Impulse zugeschrieben werden, wie es seit den 1990er Jahren zunehmend der Fall gewesen ist, bestätigte sich zwar das epistemologische Grundanliegen des Multikulturalismus, dass Kultur eine Größe von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung sei; sein politisches Anliegen, dass es ein Recht auf kollektiv-kulturelle Differenz gebe, das verteidigt werden müsse, wurde hingegen zur Hauptursache aller Culture troubles erklärt. Über Bord ging damit auch die Bewährungsprobe kultureller Authentizität, ja sie verkehrte sich ins Gegenteil: Wo kulturelle Differenz aus minderheitlicher Perspektive mit großer Überzeugung formuliert wurde, war nun nicht länger die multikulturalistische Gesellschaft verhießen – vielmehr drohte die ›Parallelgesellschaft‹. Authentizität geriet so in den Ruch des Fundamentalismus, während kulturelle Reflexivität und Selbstdistanz zu schützenswerten Gütern (und ganz nebenbei zu Errungenschaften der ›westlichen Moderne‹) proklamiert wurden.
Die Bewährungsproben von Diversity sind gänzlich anderer Art, zumindest heutzutage. Betrachtet man den Ursprung des Konzepts, würde es naheliegen anzunehmen, dass die zentrale Bewährungsprobe eines gelingenden Umgangs mit kultureller Differenz aus Sicht des Diversity-Konzepts in einer Verhinderung von Diskriminierung bestehe, die aus Fremdfestschreibungen von Individuen auf Gruppen und deren kulturelle und sonstige Besonderheiten resultiert. So will es etwa das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz in Deutschland. Die Zielformulierung der Antidiskriminierung ist auch das normative Programm von Studien, die mit dem Begriff der Intersektionalität arbeiten, welcher, in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung vorformuliert, Individuen als Schnittpunkte unterschiedlicher, und unterschiedlich wirkungsvoller, hierarchischer Unterscheidungslinien entwirft (MacCall 2005, Knapp 2005). Es handelt sich dabei um einen ungleichheitstheoretischen Ansatz, der nach den je spezifischen Effekten unterschiedlicher Hierarchisierungsachsen fragt – klassisch Race, Class und Gender, neuerdings aber auch Sexuality im Sinne sexueller Orientierung, Age sowie Disability. Mit Blick auf die Gebrauchsweisen des Konzepts der Diversity ist jedoch, und im Gegensatz zu intersektionalistischen Ansätzen zu beobachten, dass gelingende Differenzbearbeitung nicht so sehr als Vermeidung von Diskriminierung, sondern eher als eine effektive Selbstaktualisierung und ›Einbringung‹ von Individuen in soziale Situationen und Organisationen formuliert wird. Dies gilt zuallererst für Managementdiskurse, denn »[i]n Mode gekommen – allerdings auch zugleich ins Gerede – ist Diversity […] erst durch Diversity Management« (Krell u.a. 2007: 9). So heißt es in der Charta der Vielfalt, einer Initiative deutscher Unternehmen:
Wir können wirtschaftlich nur erfolgreich sein, wenn wir die vorhandene Vielfalt erkennen und nutzen. Das betrifft die Vielfalt in unserer Belegschaft und die vielfältigen Bedürfnisse unserer Kundinnen und Kunden sowie unserer Geschäftspartner. […] Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen Wertschätzung erfahren – unabhängig von Geschlecht, Nationalität, ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexueller Orientierung und Identität. Die Anerkennung und Förderung dieser vielfältigen Potenziale schafft wirtschaftliche Vorteile für unsere Organisation.2
Individuen sollen durch geeignete institutionelle Arrangements in die Lage versetzt werden, ihre aus unterschiedlichen Differenzkonstellationen erwachsenden je einzigartigen Erfahrungen, Perspektiven und Herangehensweisen zur Geltung und mit anderen Perspektiven in Dialog zu bringen.
Der entscheidende Unterschied zur Multikulturalismus-Debatte ergibt sich also aus den im letzten Abschnitt diskutierten Strukturmerkmalen der Bühne, auf der Diversity in Anschlag gebracht wird, denn es geht hier weniger um makrosoziale Öffentlichkeiten der Massenmedien, der Festivals oder der Straße, in denen Forderungen nach Anerkennung eines Rechts auf kulturelle Differenz gestellt werden, sondern zuallererst um mikrosoziale Kontexte (typischerweise Unternehmen, vgl. kritisch hierzu Schönwälder 2007), in denen Differenz in kulturellen Praktiken durch die Individuen produktiv und anschlussfähig gemacht werden muss. Es geht, mit anderen Worten, bei Diversität nicht um kulturelle Differenz sans phrase, sondern um die kulturelle Bearbeitbarkeit je spezifischer Differenzen. Nicht die Differenz an sich ist von Wert und zu hegen, sondern das, was Individuen aus ihr ›machen‹, d.h., wie sie sie kommunizieren, inszenieren und zur kollektiven Verfügung stellen.
Das ›Kulturelle‹ der Diversity-relevanten Differenzen beschließt sich somit auch nicht in ihrer Einlagerung in traditionsreiche Sinn- und Wertsysteme, sondern in ihrem performativen Charakter. Hieraus entsteht wiederum eine konzeptionelle Nähe zu den erwähnten intersektionalistischen Studien, welche ebenfalls durch einen performativen Kulturbegriff gekennzeichnet sind, indem sie argumentieren, dass hierarchisch organisierte Differenzlinien in Bezug auf race, class, gender etc. nicht aufgrund essenzieller Unterschiede Wirkmächtigkeit entfalten, sondern durch Zuschreibungs-, Visibilisierungs- und Dramatisierungsstrategien zustandekommen, deren Natur eine performative ist (s. hierfür exemplarisch Dören 2007). Auf diese Weise machen sich Intersektionalitätsstudien gegenüber poststrukturalistischen Einwänden bezüglich einer drohenden Essenzialisierung von Differenz wesentlich weniger angreifbar als der Multikulturalismus, denn ihnen ist eine konstruktivistische Lesart, die ›Kultur‹ als Ontologiezuschreibung verneint und sie demgegenüber als Performativität kultureller Praktiken der Differenzaktualisierung auffasst, von Beginn an eingeschrieben. Und hiervon profitiert auch das Konzept der Diversity, auch wenn sein performativer Kulturbegriff weniger auf die Beseitigung gesellschaftlicher Diskriminierungen als auf die Aktualisierung individueller Potenziale abzielt. Es handelt sich hierbei somit um ein Beispiel für einen Vorgang, in dem kulturtheoretische und durchaus auch kritisch intendierte Erwägungen unter die Leute kommen und Effekte zeitigen, die von der Kulturtheorie so nicht intendiert waren.
Dass also der poststrukturalistischen Kritik durch die performative Wende des Kulturbegriffs weitgehend die Spitze genommen wird, bedeutet nicht, dass Differenz à la Diversity gesellschaftlich, politisch und epistemologisch unproblematisch wäre; es bedeutet lediglich, dass Kritik, so man sie beabsichtigt, an einem anderen Punkt als dem der Essenzialisierung anzusetzen hätte.
In den bisherigen Erörterungen ist bereits angeklungen, dass Multikulturalismus und Diversity aus idealtypischer Sicht, und ungeachtet ihrer Kreuzungs- und Schaltpunkte, sehr unterschiedliche Entwürfe des Verhältnisses zwischen Individuum und kulturell bestimmter Gruppe vorlegen. Diese Entwürfe sind nicht nur inhaltlich sehr verschieden, sondern bewegen sich auch innerhalb unterschiedlicher Ontologien des Kulturellen. Denn während der Multikulturalismus von Kultur ›mit großem K‹ und Differenz ›mit großem D‹ ausgeht und damit die Debatte über den Kultur-Differenz-Essenzialismus und die Identity politics auf den Plan ruft, residiert im Falle des Konzepts der Diversity das Kulturelle in Praktiken der Differenzaktualisierung, und zwar insbesondere in Kontexten, die Gegenwartsgesellschaften für besonders wichtig halten, nämlich organisationalen (siehe hierzu den nächsten Abschnitt). Dies bedingt auch unterschiedliche Konzeptionen des Verhältnisses zwischen Individuum und Kultur. Im Multikulturalismus wird das Individuum mehr oder weniger als Exemplar ›seiner‹ Kultur angesehen. Dies geht zwingend aus dem Argument kollektiver, kulturell begründeter Rechte hervor. Individuen fungieren somit als Authentifikatoren oder Indikatoren von Kultur, indem sie beispielsweise ›ihre‹ Kultur auf öffentlichen Veranstaltungen, aber auch in der alltäglichen Öffentlichkeit, etwa der Bekleidungswahl, zur Schau stellen. Im Falle von Diversity hingegen, wie bereits angeklungen, fungiert das Individuum eher als Schnittpunkt unterschiedlichster Differenzlinien, die ›kulturell‹ darin sind, als sie erst durch kulturelle Praktiken aktualisiert, in Kommunikation überführt und damit als bedeutsam gesetzt werden. Dies impliziert eine gegenüber dem Multikulturalismus verschiedene konstitutionslogische Anordnung von Kultur und Individuum. Während im Multikulturalismus die kulturelle Spezifik dem Individuum vorgängig ist und es somit in entscheidenden Aspekten seiner Identität prägt (eigentlich ein durkheimsches Argument), bleibt sie gemäß dem Diversity-Konzept solange in der Latenz und Virtualität, wie sie unangerufen bleibt (das entspricht eher einer garfinkelschen oder goffmanschen Soziologie). Differenz ist gemäß dieser Auffassung somit eine Frage von (Selbst-)Adressierung, über die letztlich situativ, nicht ontologisch, entschieden wird. Anders gesagt: Während im Multikulturalismus ›Kultur‹ zu einer situationsübergreifenden Größe wird, die ja gerade spezifizieren soll, welche besonderen Rechte und Pflichten kulturell definierte Individuen über Situationsgrenzen hinweg haben, ist es im Falle der Diversity die Situation, die darüber entscheidet, inwieweit Differenz durch kulturelle Praktiken aufgerufen werden darf, sollte oder muss. Differenz und Spezifik, einerlei um welche es sich dabei handelt, kann so in der einen Situation als wichtig erscheinen, etwa wenn es darum geht, spezifische Zielgruppen gezielt über deren Differenz anzusprechen, und in einer anderen Situation vollkommen ausgeblendet werden. Polizisten, die einer ethnischen Minderheit angehören, fahren Streife in ethnischen Stadtvierteln, und Ikea stellt gezielt Verkäufer ein, die minderheitliche Sprachen sprechen; aber diese ethnisch kodierten Differenzmarker enden in ihrer Bedeutsamkeit an der Grenze der jeweiligen Situationen, beispielsweise am Übergang zum Besprechungs- oder Pausenraum.
Aus dem bisher Gesagten kann nun eine Generalisierung hinsichtlich der unterschiedlichen Paradigmata von Zugehörigkeit der Diskurse des Multikulturalismus und der Diversity erfolgen. Der Multikulturalismus bewegt sich innerhalb des Paradigmas von Citizenship, d.h. er fordert gruppenspezifische, kulturell begründete Rechte auf der Grundlage der formalen, und vorgängigen, Angehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen. Multikulturelle Politiken sollen so gleichsam die abstrakte Staatsangehörigkeit und die damit einhergehenden Rechte kulturell differenzieren und spezifizieren (und meist erweitern). Im Gegensatz dazu ist das Zugehörigkeitsparadigma von Diversity das der Mitgliedschaft in einer Organisation, innerhalb der bestimmte Organisationsrollen erfüllt werden müssen, mit Blick auf welche es zuweilen, jedoch nicht immer, sinnvoll erscheinen mag, Differenzen in kulturell spezifischen Praktiken zu aktualisieren. Wenngleich es zuerst Unternehmen waren, die Diversity als Aspekt der Personalsteuerung für sich nutzbar machten, entdecken zunehmend auch öffentliche Verwaltungen, Bildungseinrichtungen und Vereine, die mit Unternehmen das Kriterium formaler Mitgliedschaft aufgrund einer inhaltlich definierten Mitgliedschaftsrolle gemein haben, Diversity als steuerungsrelevante Kategorie.3
Aus diesen Unterschieden ergibt sich allerdings auch eine Gemeinsamkeit hinsichtlich des Verhältnisses zwischen kultureller Differenz und Zugehörigkeit. Denn kulturelle Differenz hat in beiden Diskursen die Qualität von etwas Hinzutretendem, das das jeweilige Inklusions- und Exklusionsparadigma zwar modifiziert, aber grundsätzlich unangetastet lässt. Im Falle des Multikulturalismus ist es die Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen, die gegeben sein muss, um gruppenspezifische kulturelle Rechte einzuklagen. Dies gilt auch unter Bedingungen von mittlerweile hochdifferenzierten Zugehörigkeitsabstufungen, die qua ›Aufenthaltsstatus‹ definiert sind und, am Beispiel Deutschlands, von voller Staatsangehörigkeit bis hin zur Duldung reichen, denn je valider und permanenter ein Aufenthaltsstatus ist, desto gewichtiger erscheint die Forderung nach rechtlicher Anerkennung kulturell spezifischer Rechte und desto eher gelangen Individuen in den Genuss bereits gewährter gruppenspezifischer Rechte. Im Falle von Diversity gewähren, wie bereits bemerkt, noch so einzigartige Differenzüberkreuzungen nicht aus sich selbst heraus Mitgliedschaft in Organisationen, was damit zu tun hat, dass formale Organisationen über auf das Organisationsziel inhaltlich bezogene Mitgliedschaftsrollen definiert sind. Diversität ist also nur dann eine Ressource bei der Erlangung von Mitgliedschaft, wenn die Organisation sie zuvor als ihre Ziele befördernd definiert hat, beispielsweise als eine wichtige ›Kompetenz‹, die einen Vorteil gegenüber Mitbewerbern darstellt.
Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den Zugehörigkeitsparadigmen von Multikulturalismus und Diversity besteht somit darin, dass beide ihre Virulenz in formalen Kontexten sozialer In- und Exklusion entwickeln. Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen wie Organisationsmitgliedschaft sind eminent formale Angelegenheiten, die strikten administrativen Regeln und Prozeduren unterliegen. Außerhalb solcher formaler Kontexte, d.h. in Bezug auf nichtformalisierte soziale Gebilde wie etwa Familien oder Freundeskreise,4 finden beide Konzepte daher auch nur selten Gebrauch. Ausdrücke wie ›multikulturelle Familien‹ oder ›Freundeskreise mit hoher Diversität‹ sind ausgesprochen rar und muten seltsam an. Stattdessen – und dies bringt mich auf die Zielgerade dieses Artikels – ist häufiger von ›interkulturellen Familien‹ und ›interkulturellen Freundschaften‹ die Rede. Dies kann, im Umkehrschluss, als ein indirekter Hinweis darauf angesehen werden, dass Interkulturalität (und damit Kultur) bislang wenig oder gar nicht in Begriffen formeller Zugehörigkeit, oder gar von Zugehörigkeit überhaupt, gedacht wurde. Daraus ergeben sich zwei Anschlussfragen: Was kann die Kategorie der Kultur aus Diskursen wie denjenigen zu Multikulturalismus und Diversität lernen, in denen sie, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise, mit der Kategorie der Zugehörigkeit verschaltet wurde? Und anders gewendet: Besteht die Chance, den Nexus von Kultur und Zugehörigkeit auch auf dem Gebiet informaler Zugehörigkeit zu thematisieren und dabei vielleicht die Schwierigkeiten zu umgehen, die die Konzepte des Multikulturalismus und der Diversity im Bereich formaler Mitgliedschaft, nämlich citizenship und Organisationsmitgliedschaft, jeweils mit sich gebracht haben?
Als Szene der folgenden Darstellung dient mir die Schule als Organisation und das Klassenzimmer als der Ort, in dem die Organisationsziele erreicht werden sollen. Dies geschieht aus mehreren Gründen. Erstens ist die Schule in den letzten Jahren immer wieder Gegenstand kulturessenzialistischer Deutungen kultureller Differenz gewesen, von denen die sogenannte Sarrazin-Debatte nur ein besonders penetrantes Beispiel war. Dies wiederum hängt, zweitens, damit zusammen, dass Schulen als ein neuralgischer Punkt gesellschaftspolitischer Integrationsbemühungen – und damit auch der Differenzbearbeitung – zu sehen sind, da hier maßgebliche Weichen für die Erlangung von Lebenschancen gestellt werden. Drittens – und dies ist aus konzeptioneller Sicht der wichtigste Punkt – ist die Schule, und wiederum insbesondere das Klassenzimmer, aus soziologischer Sicht ein Ort ausgesprochen hybrider und einander widersprechender Zugehörigkeitsstrukturen, was wiederum auf dem Gebiet des Umgangs mit kultureller Differenz wichtige Konsequenzen zeitigt.
Die Hybridität der Zugehörigkeitsstrukturen des Klassenzimmers hat damit zu tun, dass die in ihm Versammelten sich nicht alle aus denselben Gründen dort wiederfinden.5 Während das Lehrpersonal auf freiwilliger Grundlage in die Schule eingetreten (man müsste eigentlich sagen: zurückgekehrt) ist, werden Schüler per Gesetz gezwungen, die Schule zu besuchen (zumindest in den ersten neun Jahren). Daraus erwachsen unterschiedliche Rollenstrukturen. Lehrer sind Angehörige von Organisationen und damit auf die Ziele der Organisation verpflichtet, was im Extremfall von Nichterfüllung ihrer Rolle dazu führen kann, dass sie aus der Schule ausgeschlossen, d.h. vom Dienst suspendiert werden. Schüler hingegen sind ›Insassen‹ (»inmates«) im Sinne Erving Goffmans (1971), d.h. sie sind zwangsinstitutionalisiert. Daraus resultiert, nur scheinbar paradoxerweise, auf Seiten der Schüler ein niedrigerer Grad an Verpflichtung auf die Organisationsziele. Wenn Schüler nicht an der Erreichung des Organisationsziels mitarbeiten, d.h. an ihrer eigenen Weiterqualifizierung, werden sie nicht etwa aus der Organisation ausgeschlossen, sondern schlecht benotet. Mit anderen Worten: Schülern steht im Vergleich zu Lehrern ein weitaus größerer Spielraum bei der Nichterfüllung der für sie entworfenen Rollen zur Verfügung, gerade weil es sich nicht um Organisationsrollen handelt, die freiwillig eingegangen worden wären, sondern um Anstaltsrollen. Zugespitzt formuliert, verläuft die Grenze zwischen der Organisation Schule und der Anstalt Schule mitten durchs Klassenzimmer.
Die ungleiche Weise, wie im Klassenzimmer Rollen formiert und Zugehörigkeiten installiert werden, wirkt sich auch auf die Interaktion zwischen Lehrenden und Beschulten, d.h. ihre jeweilige Inklusion in die Unterrichtssituation aus. Die Professionssoziologie hat darauf aufmerksam gemacht, dass die pädagogisch-didaktische Beziehung zwischen Lehrenden und Beschulten nicht nur, wie immer wieder kritisiert, asymmetrisch ist, weil die Zensurmacht beim Lehrer liegt, sondern dilemmatisch strukturiert, weil der Lehrer beim Lernenden eine Rolle voraussetzen muss, die der Lernende aufgrund der Spezifik seiner Anstaltsrolle nicht zwingend einzunehmen hat (vgl. Schmidt 2008). Konkret: Während der Lehrer den Schüler aus Sicht seiner eigenen Professionalität als ›Klienten‹ behandeln müsste, d.h. als einen Akteur, der ein Handlungsproblem hat, das er selbst nicht lösen kann und daher motiviert ist, mit einem Experten (dem Lehrer) zusammenzuarbeiten, herrscht bei Schülern zumeist die Einstellung vor, sie bekämen ihre Probleme erst im Klassenzimmer, also genau in derjenigen Situation, die aus professionstheoretischer Sicht eigentlich das Problem lösen sollte. Dementsprechend mangelt es häufig an Bereitschaft zur Kooperation. Zudem nehmen Beschulte ihre Position im Klassenzimmer nicht nur in Bezug auf den Lehrer, sondern auch in Bezug auf die Mitbeschulten wahr – und diese Beziehungen folgen dem Muster von Freundschaft und Feindschaft, nicht dem individueller Zielerreichung.
Was hat dies nun mit Kultur zu tun? Versuchen wir zunächst, die Situation im Klassenzimmer innerhalb der diskursiven Logiken von Multikulturalismus und Diversity zu rekonstruieren, um darauf aufbauend dann die mögliche Spezifik eines alternativen Zugangs zu jener hybriden und in sich widersprüchlichen Zugehörigkeitsstruktur herauszuarbeiten.
Der Multikulturalismus-Diskurs würde die Schule vermutlich als eine öffentliche Arena begreifen, in der kulturelle Besonderheiten und Abweichungen vom Mainstream artikuliert und darauf aufbauende besondere Rechte eingefordert werden. In dieser Hinsicht gibt es ›Multikulturalismus‹ – darauf haben Vertovec und Wessendorf (2010) hingewiesen – durchaus auf lokaler Ebene, d.h. in Organisationen und unterhalb des Rechts- und Citizenship-Diskurses. Man mag hier etwa an Befreiungen vom Leibesübungsunterricht für muslimische Schülerinnen oder an die Befreiung vom Biologieunterricht für Schüler aus Familien mit fundamentalistisch-protestantischer Konfession denken. Es ergibt sich so der Eindruck, dass multikulturalistische Weisen der Differenzbearbeitung in der Schule weniger auf der Ebene des Klassenzimmers ansetzen als eher auf der Ebene der Schulleitung bzw. -verwaltung – und in der Regel dazu führen, dass Beschulte von bestimmten Lehrprogrammen, und damit von einem Teil ihrer rechtlich verankerten Schulpflicht, entbunden werden. Umgekehrt ist der Multikulturalismus daher für die komplexen Dynamiken im Klassenzimmer – und vermutlich generell auf der situativen Ebene – unempfänglich, weil seine Hauptintervention darin besteht, bestimmte Situationen zu verhindern. Das oben für den Multikulturalismus festgehaltene, typische Anordnungsverhältnis von vorgängiger Kultur und nachgeordnetem Individuum zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die Differenzbearbeitung dazu führt, dass Individuen aus Situationen, die als mit ›ihrer‹ Kultur unvereinbar gehalten werden, verschwinden.
Dies ist beim Diversity-Paradigma gerade umgekehrt. Wie oben ausgeführt, beruht es darauf, Individuen in ihrer Verschiedenartigkeit zum Erscheinen zu bringen, d.h. sie zu kulturellen Praktiken zu veranlassen, die ihre je spezifische Differenzkonstellation kommunikativ anschließbar und zu einer kollektiv verfügbaren Ressource machen. Vieles von dem, was derzeit in der Erziehungswissenschaft unter ›interkulturelle Pädagogik‹ firmiert, folgt offensichtlich diesem Ansatz (vgl. Müller 2012). Es geht hier darum, im Unterricht die je spezifischen Differenzfigurationen von Schülern zur Anschauung zu bringen, und zwar gerade auch durch sie selbst. Dies entspricht einem allgemeineren, derzeit prominenten pädagogisch-didaktischen Prinzip, nämlich dem der ›Differenzierung‹, demzufolge die Schüler einer Lerngruppe keine uniforme Masse darstellen, sondern mit je spezifischen Herausforderungslagen konfrontiert sind, die fallspezifisch angegangen werden müssen. Die (Selbst-)Aktualisierung als ›verschieden‹ seitens der Beschulten soll hierzu beitragen. Allerdings wird hierdurch noch nicht das vorausliegende Problem der ungleichen Rollenstrukturen (Organisations- versus Anstaltsrolle) im Klassenzimmer gelöst. Denn das Diversity-Paradigma geht ja davon aus, dass (kulturelle) Differenz nur dann aktualisiert wird, wenn es den Organisationszielen dienlich ist. Auf diese aber sind, wie oben festgestellt, Beschulte qua Zwangszugehörigkeit in weitaus geringerem Maße verpflichtet als Lehrende. ›Interkultureller‹ Unterricht dieser Art ist also ebenso in Gefahr des Scheiterns wie andere Ansätze, die bei der pädagogisch-didaktischen Aktivierung von Zwangsbeschulten ansetzen, deren Macht zum Boykott gerade dadurch steigt, dass sie mitarbeiten sollen.6
Festzuhalten bleibt somit, dass sowohl multikulturalistische wie Diversity-orientierte Bearbeitungsweisen kultureller Differenz die hybride Zugehörigkeitssituation im Klassenzimmer auf je spezifische Art verfehlen: der Multikulturalismus, weil er situative Konstellationen nur als Bühnen des Kulturellen begreift und damit nicht in Rechnung stellt, dass sie komplexe Interaktionsstrukturen bilden, in denen sich kulturelle Differenz und Zugehörigkeit verästeln; Diversity, weil dieses Konzept von einer voluntaristischen und zugleich instrumentalistischen Konzeption situativer Spezifik ausgeht, die die kulturelle Aktualisierung von Differenz stets einem Organisationsziel unterordnet und daher nicht darauf vorbereitet ist, dass es Situationen und Zugehörigkeitsstrukturen gibt, in denen Akteure weder den Wunsch haben noch den Druck verspüren, auf jenes Ziel hinzuarbeiten. Es bleibt also zu ergründen, ob es zu diesen Konzeptionen, die an der Komplexität situativer Zugehörigkeitsstrukturen scheitern, eine Alternative geben könnte – und ob eine solche Alternative darüber hinaus auch unser Verständnis von Kultur grosso modo informieren könnte. Wenn ich also beim Beispiel des Klassenzimmers bleibe, geschieht dies nicht aus pädagogischem Anspruch, sondern weil diese Situation in der Widersprüchlichkeit der sie prägenden Zugehörigkeitsstrukturen einen exzellenten Demonstrationsfall für die Widersprüche und Ambivalenzen der Verschränkung von Zugehörigkeit und kultureller Differenz bildet.7 Es geht also darum, ›interkulturellen‹ Unterricht in seiner Situations- und Zugehörigkeitsspezifik soziologisch zu rekonstruieren und dann nach Generalisierbarkeiten Ausschau zu halten.
Interkulturalität als Merkmal einer Situation stellt zunächst nicht mehr dar als eine Adressierungsweise, die kulturelle Differenzen zum Thema macht mit dem Ziel, sie miteinander ins Verhältnis zu setzen. Schon hier ist zu sehen, dass die Entscheidung, Differenz – auch: kulturelle Differenz – in die situative Bearbeitung von Differenz einzubeziehen, genau das darstellt: eine Entscheidung, oder anders gesagt, eine Kontingenz. Dieser Sachverhalt ist nur scheinbar trivial. Kürzliche Überlegungen zur Kategorie der Ähnlichkeit weisen darauf hin, dass Differenzbearbeitung nicht zwingend auf eine Anrufung von Differenz abzielen muss, sondern im Gegenteil auch Similaritäten zum Ausgangspunkt der Differenzbearbeitung machen können (Bhatti 2010). Damit ist weniger gemeint, das Gemeinsame (scheinbar) differenter Lebens- und Deutungszusammenhänge zu thematisieren, sondern eher, diese (scheinbaren) Differenzen in ihren wechselseitigen Kontiguitäten und Kontinuitäten zu verorten und genau dadurch – also eher an ihren Rändern als in ihrem Wesenskern – bearbeitbar zu machen. Das Konzept der Ähnlichkeit verweist somit darauf, dass Differenzbearbeitung nicht mit Differenzaktualisierung identisch ist. Interkulturalität als Situationsmerkmal ist somit in erster Linie kontingent, unwahrscheinlich und voraussetzungsvoll.
Dies wiederum bringt es mit sich, dass Interkulturalität niemals Merkmal der Situation als solcher ist, sondern stets ein Kommunikationsangebot darstellt, welches angenommen oder zurückgewiesen werden kann. Die Zugehörigkeitsstruktur der Schulklasse stellt dies überdeutlich aus: So wie hier, streng betrachtet, seitens der Schüler überhaupt kein Kommunikationsangebot angenommen werden muss, so gilt dies auch für ein solches, das kulturelle Differenz thematisiert und Differenzen miteinander in Verbindung bringen möchte. Aber selbst wenn interkulturelle Situativität hergestellt wird, d.h. wenn die Beteiligten darin übereinstimmen, dass es hier und jetzt (auch) um kulturelle Unterschiede geht, entscheidet dies noch nicht über den Ausgang, bzw. den ›Erfolg‹, einer solchen Interaktion, die allzu leicht ins Essenzialistische abgleiten kann – vor allem dann, wie die situative Kooperation scheitert und ihr Scheitern zirkulär auf eben jene ›kulturelle Differenz‹ zugeschrieben wird, die doch dem Erfolg hatte dienen sollen.
Ein solches Szenario wird auch dadurch wahrscheinlich, dass interkulturelle Kommunikation gerade nicht, wie zuweilen behauptet, eine holistische und den ganzen Menschen in seiner kulturellen Bedingtheit ansprechende Kommunikationsform ist, sondern, wie gesagt, eine Entscheidung für ein bestimmtes Idiom der Differenzbearbeitung darstellt und daher immer vereinseitigt, besonders dann, wenn spezifische Differenzen gleichsam herauspräpariert werden. Dies ist der Fall etwa bei Versuchen, im Unterricht die ›Herkunftskultur‹ der Beschulten zum Thema zu machen – und sie damit, eigentlich in multikulturalistischer Weise, zu Exemplaren ›ihrer‹ Kultur. Die normative Herausforderung besteht dann darin, im Rahmen der Aktualisierung der spezifischen Differenz die Möglichkeit der Aktualisierung anderer Differenzen offenzuhalten, also gleichsam einen intersektionalen Horizont auch in einer interkulturellen Kommunikation mitlaufen zu lassen, und daher auch darauf zu achten, dass die interkulturelle Kommunikation andere Differenzen, wie etwa die entlang der Gender- oder der Sexuality-Achse, nicht überdeterminiert (vgl. Müller 2012).8
Schließlich ist zu bedenken, dass sich die Bedeutung von Interkulturalität als Adressierung kultureller Differenz je mit der Situation ändern kann. Beschulte machen diese Erfahrung etwa dadurch, dass Interkulturalität in manchen Unterrichtsstunden eine Rolle spielt, in anderen hingegen überhaupt nicht – zum Beispiel nicht in Sportstunden, die durch multikulturalistische Politiken von vornherein kulturell vereinheitlicht wurden. Dies macht auf ein allgemeineres Merkmal von Interkulturalität aufmerksam: Sie kann gesellschaftlich, also situationsübergreifend, nicht überall gleichermaßen präsent sein, schon allein deshalb nicht, weil es nach wie vor zahllose soziale Kontexte gibt, die weitgehend monokulturell sind: Man denke hier an Vereine, Kirchengemeinden, aber auch Arbeitsplätze und nicht zuletzt Freundes- und Familienkreise. In solchen Kontexten wäre ein interkulturelles Kommunikationsangebot bezugslos.
Interkulturalität würde also eine genuin kulturelle Weise der Herstellung von Zugehörigkeit bezeichnen, d.h. eine solche, in der kulturelle Aspekte durch gesellschaftliche und situative Institutionalisierung zu dominanten Verhandlungsmitteln von Zugehörigkeit werden. Interkulturalität bezöge sich somit nicht ontologisch auf eine Kontaktfläche ›zwischen Kulturen‹, sondern auf einen Modus der Aushandlung sozialer Zugehörigkeit (Öffnung bzw. Schließung), der kulturelle Gesichtspunkte privilegiert, dessen Gangbarkeit weitestgehend von der jeweiligen Situation abhängt und der schließlich auf Wechselseitigkeit beruht, insofern er angenommen oder zurückgewiesen werden kann. Der dem zugrunde liegende Kulturbegriff wäre von einem multikulturalistischen Verständnis kultureller Differenz dadurch abgegrenzt, dass er die situationsspezifische Thematisierung kultureller Differenz überhaupt erst zuließe und die Individuen nicht hinter ›ihrer‹ Kultur zum Verschwinden brächte; von einer Diversity-Perspektive wäre er dadurch unterschieden, dass er die Möglichkeit seines Scheiterns (die von der Abweisung der kulturellen Adressierung bis zu einer Verfestigung kultureller Stereotype reichen kann) mit einkalkuliert. Kultur wäre, aus dieser Perspektive, also kein Ausgangspunkt zur Lösung gesellschaftlicher Probleme (der Integration, der Zugehörigkeit, der Anerkennung etc.), sondern, vorgelagert, die sehr voraussetzungsreiche Entscheidung, Probleme von Zugehörigkeit, die mit der Differenzierung von Zugehörigkeitsstrukturen zusammenhängen, aus einer Perspektive anzugehen, die die Bedeutsamkeit von Sinngebungsprozessen und Interpretationen in den Mittelpunkt rückt, und diese Entscheidung zugleich der Bewährungsprobe der Wechselseitigkeit und dem Risiko des Scheiterns auszusetzt.
1 | Dies trifft beispielsweise auf die früheren Arbeiten von Judith Butler (1991) zu, in denen sie die binäre Geschlechterkultur in ihrer Hergestelltheit und Kontingenz mit Verweis auf parodistische Praktiken angreift, die den Binarismus unterliefen, aber zu den Praktiken selbst und den Bedingungen, unter denen man sie legitimerweise ausüben kann, so gut wie nichts sagt. Denn auch ›subversive‹ Kulturen haben Zugehörigkeitsstrukturen. Garfinkels (1967) noch frühere Studien über Interaktionsstrategien, die dazu führen, dass eine Person als zu einer Geschlechterkategorie gehörig angesehen wird, machen dies zum Thema.
2 | Vgl. http://www.charta-der-vielfalt.de/charta-der-vielfalt/die-charta-im-wortlaut.html [Stand: 15.11.2013].
3 | Dies ist nicht zu verwechseln mit der Einrichtung von Gleichstellungs- und Schwerbehindertenbeauftragten oder Equal Opportunities Commitees, welche zum Ziel haben, Diskriminierungen in Organisationen abzubauen (wenngleich auch diese von den Organisationen strategisch genutzt werden können, um ihre gesellschaftliche Legitimität zu erhöhen), denn diese Einrichtungen basieren auf einer juristischen Idee, nämlich der des Rechts auf gleiche Behandlung ohne Ansehung von Unterschieden.
4 | Der Gegensatz zwischen nichtformalisiert und formalisiert, wie er hier verwendet wird, basiert auf der soziologischen Unterscheidung zwischen primären und sekundären Rollen bzw. Zugehörigkeiten: Während letztere Zugehörigkeit und Status an die Erfüllung bestimmter definierter Ziele binden (etwa Leistungsziele in Organisationen und Loyalitätsziele beim Erwerb von Staatsbürgerschaft), die das Individuum erreichen muss, erteilen erstere beides ohne eine explizite Zielvorgabe sowie auf der Grundlage von Zuschreibungstechniken, auf die die Leistungen des Individuums wenig bis keinen Einfluss haben, etwa Verwandtschaft oder Neigung.
5 | Vgl. zu den folgenden Ausführungen Langenohl (2008).
6 | Die Frustration mit ›interkulturellem‹, tatsächlich allerdings Diversity-orientierten Unterricht auf diese Fundament schulischer Zugehörigkeitsstrukturen zurückzuführen, bewahrt einen übrigens vor einer Haltung, die die Unwilligkeit zur Kooperation auf die ›Kultur‹ der Beschulten zuschreibt, der man ja doch entgegengekommen sei und die sich dennoch so renitent zeige. Es besteht eine gefährliche Nähe zwischen Diversity-Ansätzen und Kulturessenzialismus dann, wenn die Kooperation scheitert.
7 | Für einen nicht minder exzellenten Demonstrationsfall, nämlich die Deutsche Islam Konferenz, verweise ich auf Tezcan 2012.
8 | Im Falle der Diskussion über den Islam als ›Kultur‹ zeigt sich dies etwa im mehrheitsgesellschaftlichen Kurzschluss von muslimischer Männlichkeit und Homophobie einerseits und muslimischer Weiblichkeit und Servilität andererseits (s. kritisch hierzu Yilmaz-Günay 2010).
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