Bielefeld: Aisthesis 2012 – ISBN 978–3–89528–969–9 – 45,00 €
Die längst überfällige große Monografie über den bedeutenden Erzähler Joseph Zoderer ist dieses Buch nicht. Kruse hat einige seiner Aufsätze (vgl. 355) erweitert und gebündelt; sie stehen, unter dem Etikett »Südtirolromane«, als Kapitel über Das Glück beim Händewaschen von 1976 (35–185), Die Walsche von 1982 (186–249) und Der Schmerz der Gewöhnung von 2002 (250–351) relativ unverbunden in einem Band nebeneinander. Eine Synthese oder einen Ausblick auf die Südtirol-Thematik im Gesamtwerk bietet der Verfasser nicht, trotz dem gewichtigen verallgemeinernden letzten Absatz.
Die Einleitung beschäftigt sich mit dem Begriff der Nation im Lichte der Thesen von Benedict Andersons Imagined Communities (dt. Die Erfindung der Nation). Im Weiteren wird aber zwischen ›Nation‹ und ›Nationalismus‹ nicht scharf genug getrennt (vgl. z.B. 69, wo die Schweizer Briefmarke nicht als nationales, sondern als »nationalistisches Symbol« bezeichnet wird). Keine Frage, dass im Glück beim Händewaschen der Schweizer ›Nationalismus‹, das Schweiz-Bewusstsein ein wichtiges Motiv ist, von der Almhüttenszene im Schmerz der Gewöhnung gar nicht zu reden. Aber ob die dumpfe Italienerfeindlichkeit der Figuren in der Walschen mit dieser Kategorie erfasst werden kann, bezweifle ich.
Zu allen drei Büchern bietet Kruse viele interessante Beobachtungen, etwa zum Glück beim Händewaschen, wo er vielen (vielleicht sogar zu vielen) Details bei der Darstellung des Internats Bedeutung zuschreibt. Besonders anregend die Überlegung, dass die Bewohner von Olgas Heimatdorf (Die Walsche) sozial überhaupt nur durch den Kitt der Abneigung gegen die Italiener zusammengehalten werden, dass es ›das Dorf‹ als soziale Einheit nur deshalb noch gibt.
Eine Grundfrage bleibt in der Einleitung wie im ganzen Buch unerörtert. Kruse schreibt zwar richtig (und mehrfach: vgl. auch 28, 188, 253 u. 329), dass sich Zoderers Werke »am Hauptthema der Fremdheit« abarbeiten (32); dieses Thema geht aber weit sowohl über die Südtirol-Thematik als auch über das Thema des Nationalismus hinaus. Selbstverständlich ist Südtirol der Erfahrungshorizont, vor dem Zoderer über ›Fremdheit‹ schreibt, selbstverständlich verankert er dieses Thema in einer ihm genau vertrauten Realität. Doch Fremdheitserfahrung lässt sich nicht auf einen regionalen ethnisch-kulturellen Konflikt eingrenzen; in den von Kruse beiseite gelassenen anderen Romanen Zoderers ist sie auf andere Weise sehr präsent. Aber auch Olgas Vater, der ›Fremdheitsspezialist‹, erfährt Fremdheit gerade nicht im Gegensatz zu den Anderssprachigen, sondern zur ›Dorfgemeinschaft‹, die wie er selbst Deutsch spricht. Die immerhin erwähnte positive Faszination Juls durch die ›fremde‹ mediterrane Welt im Schmerz der Gewöhnung wäre für dieses zentrale Thema Zoderers ebenfalls wichtig.
Insofern hat Kruse sogar prinzipiell Recht, wenn er auf Details der Realität in Südtirol nicht näher eingeht – nur dürfte er dann die Bücher eben nicht als ›Südtirolromane‹ behandeln. Deshalb macht es sich störend bemerkbar, dass er über dieses Land recht wenig weiß, was insofern noch mehr stört, als Zoderers Romane, was hier kaum je erwähnt, geschweige denn in der Analyse berücksichtigt wird, viele autobiografische Züge aufweisen (insbesondere Das Glück beim Händewaschen, aber auch Der Schmerz der Gewöhnung). Nur einige Beispiele für diese Ungenauigkeit: Kruse will in einer (aus anderen Gründen wahrscheinlich tatsächlich nationalistisch gefärbten) Statistik über die Bevölkerung Südtirols aus dem 19. Jahrhundert Nationalismus erkennen, weil der Verfasser von Deutschen und Italienern schreibt statt von Österreichern und Italienern (12, Anm. 3) – hat also keine Ahnung von der Geschichte dieses Raums; denn in der zisleithanischen Reichshälfte wurden selbstverständlich ›Deutschsprachige‹ als ›Deutsche‹ bezeichnet, ›Tschechischsprachige‹ als ›Böhmen‹ oder ›Tschechen‹ usw.; ›Österreicher‹ waren sie in den Augen des Staates alle, unabhängig von ihrer Muttersprache. In Zusammenhang mit der Walschen schreibt Kruse ähnlich ahnungslos:
eben nicht etwa [von] italienisch- und deutschsprachigen Südtirolern italienischer Staatsbürgerschaft oder italienischen Staatsbürgern in Südtirol, die entweder einer deutschsprachigen oder italienischsprachigen ethnisch-kulturellen Tradition verbunden sind, ist die Rede, sondern eben von Deutschen und Italienern. (186)
Im Alltag Südtirols wird aber, ganz sachlich, ohne nationale Emotionen, zwischen ›Deutschen‹ und ›Italienern‹ unterschieden. Für das Südtiroler Verständnis der eigenen Geschichte stehen Jul und Mara zu Maras Vater nicht so sehr im Gegensatz, weil sie Antifaschisten sind und er »hoher faschistischer Spitzenfunktionär« war (305), sondern Maras Vater steht im Roman in erster Linie für die italienische Politik der Entnationalisierung der deutschsprachigen Südtiroler, also nur für einen, engagierte Antifaschisten eher weniger interessierenden Aspekt der faschistischen Politik (vgl. zum Faschismus auch 318–321). Und schon gar nicht dürfte man ein Grundbuch der traditionellen Südtiroler Kultur, den kirchlich geprägten Reimmichlkalender, falsch schreiben: »Rimmichlkalender« (163).
Ganz unverständlich ist, dass Kruse das offen autobiografische Wir gingen, Zoderers Optionserzählung, eine wirkliche Südtirol-Geschichte, von Zoderer symbolisch auch in einer zweisprachigen Sonderausgabe in Bozen veröffentlicht, mit vielen Berührungspunkten insbesondere zum Glück beim Händewaschen, nur erwähnt und nicht wirklich behandelt.
Rein handwerklich ist gegen das Buch Kruses neben den mangelnden Kenntnissen von Geschichte, Politik und Alltag der behandelten Region die Gewichtung der Analysen einzuwenden: Fast die Hälfte der Untersuchung nimmt, ohne Begründung, die Interpretation des Glücks beim Händewaschen ein, was insofern noch mehr befremdet, als dieser Roman hier, dem Ansatz Kruses nicht ganz entsprechend, dann doch weitgehend als Internatsroman vorgestellt wird, freilich mit Ausblicken auf die Identitätsfindung der Hauptfigur durch die Rückkehr nach Südtirol (29f.).
Die bisherige Forschung zu Zoderer – mit Ausnahme des text+kritik-Bands, an dem er mitgearbeitet hat – hat Kruse nicht zur Kenntnis genommen. Von etwa 40 leicht ermittelbaren Arbeiten über Zoderer werden im Literaturverzeichnis gerade drei angeführt (nicht einmal der alte KLG-Artikel von Christoph König), aber selbst auf diese geht der Text kaum ein. Von einem Buch dieses Umfangs und dieses Anspruchs wäre zu erwarten, dass der Verfasser sogar ungedruckte akademische Abschlussarbeiten einsieht. Die für Kruses Thema besonders relevante Rezeption wird zur Gänze übergangen; dabei zeigen gerade die Rezensionen, ob und wo Zoderers Bücher als ›Südtirol-Romane‹ verstanden worden sind. Besondere Aufmerksamkeit würden dabei italienische Stimmen zu den Büchern verdienen, selbstverständlich auch die Skandalisierung der Walschen in Südtirol.
Liest man Kruses Studie (eigentlich: Studien) als textimmanente Interpretationen – was sie aber gerade nicht sein wollen –, kann man ihnen viele Einsichten abgewinnen, oft zu Themen, die mit ›Nationalismus‹ nichts oder nur indirekt zu tun haben (wie z.B. über den durch urbane Modernität gebrochenen Zugang zur ›Heimat‹ im Schmerz der Gewöhnung [299]). Dessen ungeachtet kann ich einige Einwände gegen Kruses methodischen Zugang nicht verschweigen: Gerade wegen des teilweise autobiografischen Erzählens bei Zoderer bin ich skeptisch gegenüber der Neigung des Verfassers, jedes Detail symbolisch zu überfrachten, etwa den Namen Jul auf das germanische Julfest zu beziehen (340); Zoderer erzählt auch um des Erzählens willen. Zu oft lässt sich die Untersuchung auf psychologische Spekulationen über Gründe für das Verhalten der Figuren ein. Zu oft werden Passagen und Motive der Romane auf Abstraktionen festgelegt. Nicht ausreichend beachtet wird manchmal Zoderers Kunst des Erzählens, obwohl Kruse explizit von der »kompositorischen Struktur« (39) des Glücks beim Händewaschen spricht und sie an einigen Beispielen nachweist, wie er auch die bedeutungstragende Verflechtung und Kontrastierung von Agrigento und dem Pustertal im Schmerz der Gewöhnung sehr überzeugend herausarbeitet und originell als »Umerziehung der Sinne« (308) deutet.
Und vor allem: Kruse entwickelt seine Überlegungen zu Zoderers Schreiben gegen den Nationalismus nicht aus den Texten, sondern er geht von seiner Hypothese aus und sucht in ihnen nach Beweisen für sie. Selbstverständlich trifft die Grundthese zu: Zoderer schreibt gegen jedweden Nationalismus und ist fasziniert von der Begegnung der Kulturen (in Südtirol, aber auch in Mexiko!). Selbstverständlich ist er von seinen Erfahrungen in der Kontaktzone zweier Sprachen und zweier Kulturräume geprägt. Aber in seinen Romanen kann man eben viel mehr finden als dieses Thema. Der ›Fremdheitsspezialist‹ Zoderer lässt sich nicht auf Antinationalismus und nicht auf Südtirol reduzieren.
Die vielen Abschweifungen in seinen Analysen zeigen, dass Kruse das auch gespürt hat – und dass die untersuchten Bücher Zoderers weit mehr als ›Südtirolromane‹ sind.