Hans Richard Brittnacher: Leben auf der Grenze. Klischee und Faszination des Zigeunerbildes in Literatur und Kunst

Göttingen: Wallstein 2012 – ISBN 978–3–8353–1047–6 – 29,90 €

Zuweilen kommt es vor, dass ein einzelnes Buch ein Thema so vehement besetzt, dass andere Bücher zu gleichen oder verwandten Themen es schwer haben, überhaupt wahrgenommen zu werden. Die Schlaglichter, die auf Klaus-Michael Bogdals 2011 erschienene Monografie Europa erfindet die Zigeuner, die überwiegend positiv bis begeistert aufgenommen (vgl. auch die positive Rezension von Stefan Börnchen in ZiG 4.1/2013, S. 216–223) und 2013 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet worden ist, fallen, stellen das vorliegende Buch von Hans Richard Brittnacher deutlich in den Schatten – der Sache nach unbegründet, denn während Bogdals Studie eine Diskursgeschichte von Abstoßung und Faszination darstellt, liefert diejenige Brittnachers eine »Phänomenologie des Motivs« des Zigeuners in (zum großen Teil: deutschsprachiger) Literatur und Kunst (26). Wie Bogdal auch, verzichtet Brittnacher auf die vermeintlich politisch korrekte Distanzierung vom Begriff durch Setzung von Anführungszeichen; geht es beiden Autoren doch eben um das Bild, das Phantasma, des Zigeuners und kaum – Bogdal noch am ehesten – um die Realität derjenigen, die diffamierend ›Zigeuner‹ genannt werden.

Den unterschiedlichen Erkenntnisinteressen entspricht dabei, naheliegender Weise, eine Differenz der Organisation des Dargestellten; geht Bogdal chronologisch vor, so präsentiert Brittnacher sein Material in einer systematischen Ordnung: Gegliedert ist die Studie in die Kapitel Natur und Zivilisation, Liebe und Schönheit, Leben und Sterben, Magie und Wissen sowie Musik und Poesie. Daran lässt sich bereits eine, vielleicht die wesentlichste Schwäche des Buches aufweisen: Seine Systematik ist längst nicht so zwingend wie oberflächlich suggestiv. Genau besehen machen nur die ersten drei der Kapiteltitel Gegensatzpaare aus (wobei der Antagonist zu »Natur« gewöhnlich mit »Kultur« benannt wird), in einem Falle (Magie und Wissen) kann man darüber lange streiten, im letzten schließlich liegt gar kein Gegensatz vor – im Gegenteil. Zudem ist dieses fünfte und letzte Kapitel das einzige, in das Beobachtungen nicht nur wegen der Inhalte des Beobachteten (also inhaltlicher Aspekten der behandelten Texte), sondern auch aus formalen Gründen aufgenommen sind – geht es hier doch um Musik als Inhalt der Poesie wie auch um Musik als Form: Einerseits wird »Zigeunermusik« als Thema thematisiert, andererseits der Zigeuner als Figur in Oper und Operette.

Deutlich schwerer als diese begriffslogischen Quisquilien wiegt womöglich der Einwand, dass den fünf Kapiteltiteln unmittelbar abzulesen ist, dass sie keine trennscharf abzugrenzenden Aspekte aufrufen. Vielmehr steht doch zu erwarten, dass es eine Unzahl von Texten gibt, in denen von Liebe und Schönheit und von Leben und Sterben die Rede ist (der größte Teil der Literatur aller Zeiten handelt schließlich von Eros und Thanatos). Das hat zur Folge, dass eine nicht geringe Zahl von literarischen Texten in der Studie an mehreren Orten behandelt wird, und, etwas unangenehmer, es führt zu Dopplungen und Redundanzen. Einerseits erfährt dies zwar nur derjenige, der das Buch komplett liest (was im Fall wissenschaftlicher Literatur wohl eher selten vorkommt); andererseits ist gerade der Quereinstieg stark erschwert, weil behandelte Texte kaum gezielt aufgefunden werden können (es sei denn, ihnen sind kurze Teilkapitel explizit, am Inhaltsverzeichnis ablesbar, gewidmet): Das Buch verfügt leider über kein Sach- oder Personenregister und die Texte haben im Zweifel mehrere systematische Orte. (Der chronologische Ort eines Textes dagegen ist meist eindeutig; Bogdals Buch hingegen verfügt über ein Personen- und ein Werkregister.)

Davon abgesehen präsentiert Brittnachers Studie eine Fülle von bemerkens- und bedenkenswerten Beobachtungen und Einsichten. Dies gilt bereits in hohem Maße für die Einleitung des Bandes, in der der Verfasser konstatiert, dass die Zigeuner in der kollektiven Wahrnehmung durch »nachgerade epiphanisches Erscheinen« charakterisiert sind: Sie erscheinen plötzlich, um ebenso plötzlich wieder spurlos zu verschwinden (16). In der Literatur fungieren sie fast stets als »seelenlose Objekte des poetischen Spiels«, die von ihren Autoren okkasionell zum Leben erweckt und oft skrupellos wieder fallengelassen werden (17). Alles andere als unübliche Lücken in der Motivierung solcher Figuren, zeigen dabei eine prototypische »Achtlosigkeit gegenüber dem Motiv« (18).

Konzeptuell stützt sich die theoretisch informierte, aber nicht aufdringlich theoretisierende Studie auf Homi K. Bhabhas postkolonialistische Begriffsbildungen – und vor allem auf solche Konzeptionen von Fremdheit, die anders als Julia Kristeva im Fremden nicht (nur) das bekämpfte Eigene sehen, sondern auch das »unverfügbar Fremde« anerkennen (19). Und tatsächlich ist nur so die merkwürdige Dialektik von Denunziation und Verführung, von Darstellungen abstoßender Hässlichkeit und atemberaubender Schönheit, zu erklären, die, meist strikt gegendert und/oder nach Alter differenziert, die Zigeuner kennzeichnet: Es handelt sich eben meist nicht nur um einen »Ausdruck abgespaltener, als dämonisch diffamierter Anteile des eigenen Selbst«, sondern durchaus auch um »prachtvolle Inszenierungen der Wunschwelt eines modernen Bewusstseins, das gute Gründe hat, seine emotionale Verödung zu befürchten« (24).

Das erste Kapitel fragt »nach dem Ort des Zigeuners in der Phantasieproduktion der Alterität« (27), leistet dabei aber auch längst notwendige Abgrenzungsarbeit, vor allem in der Unterscheidung von Antiziganismus und Antisemitismus – aber auch, was den Konnex beider Alteritäten betrifft: etwa im Falle der Verschränkung von Antisemitismus und Ziganophilie in Achim von Arnims Isabella von Ägypten (1812), wo das Moment des Messianismus auf die Zigeuner transferiert, antiziganistische Topoi jedoch »jüdisch umcodiert« werden (86). Liebe und Schönheit verkörpert vordringlich der »unverwüstliche Topos von der schönen Zigeunerin« (27), für den sich eine unerschöpfliche Fülle von literarischen Belegen, aber auch Bildmaterial, wie etwa Stiche Gustave Dorés, anführen lässt. Das topische Leben der literarischen wie der ›realen‹ Zigeuner hingegen ist durch ihre Rastlosigkeit ebenso charakterisiert wie, auf den zweiten Blick, durch die Schrift- und daher Geschichtslosigkeit; ihr Sterben vollzieht sich nur zu oft als Vernichtung. – Letzteres seltener in der Literatur; aber auch hier gibt es leicht zu übersehende Beispiele, wie etwa Alfred Ehrensteins expressionistische Prosaminiatur Zigeuner (1911). Unter Magie fallen die Teufelsbünde sowie der Topos der Verhexung, der in einer sehr einlässlichen Lektüre von Thinner (1984; Der Fluch) aus Stephen Kings Fließbandproduktion mehr oder minder hochklassiger Thriller beschrieben wird. Abschließend werden Zigeunerromantik und -musik (die überlieferte Musik der ›Zigeuner‹ ebenso wie die topische, literarisch ausphantasierte ›Zigeunermusik‹) in den Blick genommen. Eine ebenso kurze wie schonungslose Lektüre des Librettos von Georges Bizets Carmen (1875) auf der Folie der gleichnamigen Novelle von Prosper Merimée (1847) zeigt überzeugend, wie »die Zigeunerfolklore auf der Opernbühne endgültig als Klimbim heimisch« wird (306) – ein ästhetisches Niveau, das nur noch von der Operette unterschritten wird, die abschließend in den Fokus rückt.

Es ist nur selten die Literatur des Höhenkamms (Goethes Mignon-Figur, Kleist, E.T.A. Hoffmann, Johannes Bobrowski), die von Brittnacher in den Blick genommen wird; häufiger sind es Texte und Autoren aus der zweiten und dritten Reihe (Eugenie Marlitt, Otto Alscher, Wolfdietrich Schnurre). Aber das erweist sich als dem Phänomen durchaus angemessen; denn stets ist es die unter Trivialitätsverdacht stehende Literatur, die an der Verfestigung überkommener Topoi mitarbeitet, während hier einmal mehr nur allzu deutlich wird, dass auch höherklassige Literatur nicht immer alle geläufigen Ressentiments subvertiert, sondern sich ihrer zuweilen auch schlicht (und unreflektiert) bedient – womit sie dann aber keinen Kontrast zu dem bildet, was trivial in Reinform vorgeführt wird.

Mit all dem wird der Leser von Brittnachers Studie für die zwar grundsätzlichen, aber letztlich nicht eigentlich schwerwiegenden Schwächen der Systematik entschädigt. Steht jene mit dieser gewissermaßen orthogonal zu Bogdals Diskursgeschichte, so ist sie in ihrer stärkeren Fokussierung auf (deutschsprachige) Literatur vor allem eine willkommene vertiefende Ergänzung zu dessen auf ganz Europa gerichtetem Blick.

Volker C. Dörr