Rundbrief 7.2 (2013)

Ernest W.B. Hess-Lüttich

BERLIN, DEN 9. NOVEMBER 2013

Sehr verehrte Kolleginnen, sehr geehrte Kollegen, liebe Freunde in der GiG,

der heutige 9. November ist für historisch sensible Germanisten ein Tag des Erinnerns in vielerlei Hinsichten. Die einen verbinden den »Schicksalstag der Deutschen« mit dem Scheitern der Revolution von 1848 und dem Ende des Paulskirchenparlamentes, die anderen mit der ›Novemberrevolution‹ von 1918 und Philipp Scheidemanns Ausrufung der deutschen Republik, die Dritten mit der Niederschlagung des Hitler-Aufstandes von 1923, wieder andere gedenken der jüdischen Opfer der faschistischen Progrome, nach denen der Holocaust seinen grausigen Lauf nahm. Und am 9. November 1989 fiel ›die Mauer‹, die unser Land so lange teilte.

Heute schreibe ich diesen Rundbrief freilich nicht, um die Mitglieder der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik (GiG) noch einmal an dieses Datum zu erinnern. Dessen bedarf es nicht. Vielmehr kann ich damit anknüpfen an meinen letzten Rundbrief vom 17. Juni (erschienen in der ZiG 4.1: 246–250), in dem ich bereits die Brücke zum 9. November zu schlagen versuchte, um die historischen Prämissen unseres politischen Handlungsrahmens in Erinnerung zu rufen. Zumindest für mich gehören die mit solchen Daten verbundenen Ereignisse zu den zentralen Triebfedern meines Engagements für die internationale und interkulturelle Verständigung als eines (auch) germanistischen Gegenstands.

Diesem gemeinsamen Gegenstand unseres wissenschaftlichen Interesses sind erneut auch die beiden jüngsten Bände unserer Buchreihe gewidmet, die die Mitglieder der GiG vor nicht langer Zeit (wie immer im Rahmen ihrer Mitgliedschaft kostenfrei) erhalten haben. Ich freue mich, dass es gelungen ist, wichtige Beiträge, die aus den Vorträgen zu den beiden Konferenzen der GiG in Kairo 2010 und in Bangkok 2011 hervorgegangen sind, in zwei gut geratenen Büchern zu versammeln.

Ihre Themen könnten aktueller nicht sein. In Kairo hatten wir uns am Vorabend des später so genannten Arabischen Frühlings eingefunden, um im wissenschaftlichen Diskurs, also möglichst frei von außerwissenschaftlichen Einschränkungen, über Rituale und Tabus zu sprechen. Die reichhaltigen Ergebnisse der Konferenz habe ich versucht, im Klappentext so kondensiert wie möglich zusammenzufassen. Rituale und Tabus dienen in allen Gesellschaften zur Regulierung von sozialem Handeln, insofern sie Erwartungen über Ordnungsmuster und Verhaltensschemata festigen sowie Sanktionsmechanismen für regelwidriges und regelkonformes Verhalten bereitstellen. Die Regeln für Rituale und Tabus indes sind nicht immer leicht und allgemein zu formulieren, denn sie können nicht nur in hohem Maße von Kultur zu Kultur variieren, sondern auch innerhalb einer Gesellschaft gibt es hochgradig gruppen- und situationsspezifische Unterschiede. Insoweit Rituale und Tabus sprachlich sedimentiert und Gegenstand ästhetischer Modellierung sind, finden sie auch in den Textwissenschaften zunehmend Beachtung. Während Interaktionsrituale heute etablierter Gegenstand der Linguistik sind, bleibt die Untersuchung gerade von verbal manifestierten Tabus weiterhin Desiderat der Sprach- und Kulturwissenschaften im Allgemeinen sowie der interkulturellen Germanistik im Besonderen. Rituale als zugleich traditionsbildende und ordnungsschaffende routinisierte Handlungen und Tabus als zugleich selektiv wirkende und mit Sanktionen belegte Handlungen sind symptomatisch für spezifische kulturelle Identitäten und führen im Falle von unterschiedlicher kultureller Prägung zu einem besonders starken Fremdheitserleben. Lerner einer fremden Sprache sollten daher nicht nur für die Tabus der Eigen- und Fremdkultur sensibilisiert werden, sondern auch ein Arsenal an Reparaturmechanismen und Kompensationsstrategien an die Hand bekommen, um im Falle einer Tabuverletzung dem Abbruch der Kommunikation entgegensteuern zu können. Dies aber führt zu der Frage, welche sprachlichen Mittel eine Bewältigung bzw. im vorhinein eine Vermeidung von Tabus ermöglichen. Dazu kann auch die verständige Lektüre ihrer literarischen Problematisierung fruchtbar beitragen.

In Bangkok ging es unter dem Eindruck der aktuell anhaltenden (nicht nur) kultur- und textwissenschaftlichen Debatte über den Spatial turn um die (inter-)kulturelle Bestimmung des Raumes in Sprache, Literatur und Film. Die Debatte, so schrieben die Kongresspräsidentin Pornsan Watanangura und ich zur Einführung, sei in den literarästhetisch motivierten Cultural Studies zunächst dem Versuch entsprungen, die ›Postmoderne‹ von der ›Moderne‹ abzuheben: Diese sei dadurch gekennzeichnet, dass sie in Ordnungskategorien der Zeit denke, jene aber in solchen des Raumes. In den Literaturwissenschaften werde im Gefolge dieser Debatte die Wahrnehmung von Räumen (Orten, Landschaften usw.) inzwischen auch als Metapher für Denkfiguren, Schreibweisen, Sprachkontakte oder mediale Räume diskutiert. Auch in den Sprachwissenschaften sei die Untersuchung räumlicher Relationen und deren Niederschlag im sprachlichen Gebrauch (und in Zeigehandlungen) seit langem ein etabliertes Forschungsfeld. Beide Forschungsstränge konnten nun in diesem Band unter dem titelgebenden Stichwort KulturRaum für die Untersuchung interkultureller Sprach- und Literaturdiskurse fruchtbar gemacht werden, indem die Autoren literarische Modellierungen des Raumes, aber auch sprachliche Mittel zum Ausdruck räumlicher Relationen und die Visualisierung des Raumes in Kunst, Film und Neuen Medien zum Gegenstand ihrer Erörterungen machten.

Da nun in diesem Jahr gleich zwei Bände durch Druckkostenzuschüsse finanziert werden mussten, hat mich der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) gebeten, das Erscheinen des nun eigentlich ebenfalls anstehenden Buches, das aus der allen Teilnehmern in positiver Erinnerung gebliebenen Tagung in Kyoto hervorgehen wird, auf das Frühjahr des Folgejahres zu verschieben. Die redaktionellen Arbeiten an diesem Band zum Thema sind in Bern abgeschlossen, und wir hoffen, dass auch unter der neuen Leitung des Außenministeriums in Berlin die Unterstützung unserer Arbeit ungeschmälert bleibt, damit der Verlag die Drucklegung zügig vorantreiben kann.

In einer zusätzlichen Sonderanstrengung streben wir an, auch den im letzten Rundbrief bereits annoncierten Band über die Gesellschaften in Bewegung, in den etliche Beiträge zur gleichnamigen Konferenz in Johannesburg zu Beginn dieses Jahres einfließen werden, noch im Folgejahr 2014 herauszubringen.

Derweil laufen die Vorbereitungen für die nächste GiG-Tagung im irischen Limerick bereits auf vollen Touren. Die Resonanz auf unsere Einladung (ZiG 4.1: 251ff.), einen thematischen Vorschlag einzureichen, der dem Konferenzthema Begegnungen in Transiträumen / Transitorische Begegnungen zu subsumieren wäre, war so überwältigend, dass wir eine strikte Auswahl aus den Abstracts treffen mussten, um das Programm nicht ins Uferlose sich ausdehnen zu lassen. Das daraus entstandene Tagungsprogramm, das noch im laufenden Jahr versandt (sein) wird, wird in seiner Vielfalt wieder sehr attraktiv sein. Das gilt auch für das kulturelle Rahmenprogramm. In einem Zwischenbescheid zum Jahreswechsel werden wir (die beiden Organisatoren und ich) dazu aber sicher noch Genaueres mitteilen können. Die Tagungshomepage (s. ZiG 4.1: 248) orientiert über den jeweils aktuellen Stand der Vorbereitungen.

Unsere indischen Kolleginnen Meher Bhoot und Vibha Surana haben inzwischen mit der Vorbereitung einer GiG-Tagung begonnen, die in der 51. Woche des kommenden Jahres (15.-19. Dezember 2014) zum Thema Komparative Ästhetiken (Arbeitstitel) an der University of Mumbai stattfinden soll. Eine Einladung dazu wird ebenfalls in Kürze ergehen.

Soviel für heute. Herzliche Grüße aus Bern und Berlin im Wonnemonat November und alles Gute für einen besinnlichen Dezember.