Das Tor des Übersetzers oder Celan liest Japanisch

Yoko Tawada

Wiederabdruck nach: Talisman. Literarische Essays. Tübingen: Konkursbuch-Verlag 72011 (zuerst 1996). © konkursbuch Verlag Claudia Gehrke

Es gibt Menschen, die behaupten, dass ›gute‹ Literatur eigentlich unübersetzbar sei. Als ich noch nicht Deutsch lesen konnte, habe ich diesen Gedanken tröstlich empfunden, weil ich mit der deutschsprachigen Literatur – besonders mit der, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist – nichts anfangen konnte. Ich dachte mir, ich müsste Deutsch lernen und sie im Original lesen, dann würde sich mein Problem mit der deutschen Literatur wie von allein auflösen.

Es gab aber Ausnahmen, wie z.B. die Gedichte von Paul Celan, die mich schon in der japanischen Übersetzung faszinierten. Mir fiel gelegentlich die Frage ein, ob seine Gedichte vielleicht keine Qualität besäßen, weil sie übersetzbar waren. Mit der Frage nach der ›Übersetzbarkeit‹ meine ich nicht, ob ein Gedicht sein perfektes Abbild in einer fremden Sprache findet, sondern ob seine Übersetzung auch Literatur sein kann. Außerdem wäre es nicht ausreichend, wenn ich sagen würde, Celans Gedichte seien übersetzbar. Vielmehr hatte ich das Gefühl, dass sie ins Japanische hineinblicken.

Nachdem ich gelernt hatte, deutsche Literatur im Original zu lesen, stellte ich fest, dass meine Eindrücke keine Täuschung waren. Es muss zwischen Sprachen eine Kluft geben, in die alle Wörter hineinstürzen. Umso stärker beschäftigte mich die Frage, warum Celans Gedichte eine fremde Welt, die außerhalb der deutschen Sprache liegt, erreichen können.

Eine mögliche Antwort auf meine Frage begegnete mir später auf überraschende Weise. Eines Tages rief mich Klaus-Rüdiger Wöhrmann an, um sich bei mir für die Fotokopie zu bedanken, die ich ihm auf seinen Wunsch hin gemacht hatte. Es war die Kopie der japanischen Übersetzung von Celans Gedichtband Von Schwelle zu Schwelle (1955). Der Übersetzer des Bandes war Mitsuo Iiyoshi, durch dessen japanische Version ich Celans Text kennengelernt hatte. Als Wöhrmann mir sagte, dass das Radikal 門 (Tor) für diese Übersetzung eine entscheidende Rolle spiele, blitzte eine Idee durch meinen Kopf: Genau dieses Radikal verkörperte die »Übersetzbarkeit« der Literatur Celans.

Ein Radikal ist so etwas wie der »Hauptbestandteil« eines Ideogramms (Ideogramm = Schriftzeichen, das einen ganzen Begriff ausdrückt und nicht einen Laut wie das Alphabet). Es gibt auch ldeogramme, die nur aus dem Radikal bestehen, wie z.B. 門 (Tor), aber die meisten haben noch zusätzliche Bestandteile. Alle Schriftzeichen, die das Radikal »Tor« in sich tragen, haben auf der semantischen Ebene etwas mit Tor zu tun. Allerdings sind die Bedeutung des Radikals und die des ganzen Schriftzeichens manchmal so weit voneinander entfernt, dass man den Zusammenhang ohne Hilfe des Lexikons nicht erkennen kann. Außerdem denkt man beim Lesen nicht darüber nach, welche Bedeutungen die einzelnen Bestandteile eines Schriftzeichens haben, sondern man erfasst das ganze Zeichen als solches. Deshalb wäre ich alleine nicht auf die Idee gekommen, über ein Radikal bei Celan nachzudenken. Nur der klare Blick von außen konnte mich darauf aufmerksam machen.

Wie aber ist es möglich, dass in diesem schmalen Gedichtband immer wieder an einer entscheidenden Stelle die Ideogramme mit dem Radikal »Tor« auftauchen? Es kann kein Zufall sein, denn einen Zufall gibt es vielleicht in der Literatur, aber nicht in der Lektüre der Literatur. Die Frage nach der Intention des Autors hilft uns gar nicht: Es ist nicht möglich, dass Celan heimlich Japanisch gelernt und mit Absicht so gedichtet hat, dass in der japanischen Übersetzung das Radikal »Tor« zu einem Schlüsselzeichen wird.

Das Radikal »Tor« erscheint bereits zweimal im Titel des Gedichtbandes Von Schwelle zu Schwelle. Das Schriftzeichen 閾 (Schwelle) hat das Radikal »Tor«. In diesem Fall ist es nicht schwer, die Gemeinsamkeit zwischen der Bedeutung des Radikals und der des Zeichens zu erraten: Es geht in beiden Fällen um eine Grenze. Dieser Titel zeigt aber schon, dass die Grenzüberschreitung nicht beabsichtigt ist: Es geht nicht darum, eine bestimmte Grenze zu überschreiten, sondern darum, von einer Grenze zu einer anderen zu wandern.

Im ersten Gedicht des Buches taucht schon wieder ein Schriftzeichen mit dem Radikal »Tor« auf: 聞 (Hören). Ich hörte sagen heißt das Gedicht und fängt an mit dem Satz:

Ich hörte sagen, es sei

im Wasser ein Stein und ein Kreis

und über dem Wasser ein Wort,

das den Kreis um den Stein legt.

In dem Zeichen 聞 (hören) sieht man ein Ohr 耳, das unter dem Tor 門 steht. Folgt man dem Zeichen, so bedeutet Hören, wie ein Ohr an der Schwelle zu stehen. In der nächsten Strophe sieht das Ich eine andere Figur, die nicht auf der Schwelle stehenbleibt, sondern sie überschreitet.

Ich sah meine Pappel hinabgehn zum Wasser,

ich sah, wie ihr Arm hinuntergriff in die Tiefe,

ich sah ihre Wurzeln gen Himmel um Nacht flehn.

Die Welt unter Wasser befindet sich hinter der Schwelle. Das lyrische Ich sieht, wie die »Pappel« in die fremde Welt des Wassers eintaucht, aber es bleibt Beobachter und eilt ihr nicht nach.

Ich eilt ihr nicht nach, ich las nur vom Boden auf jene Krume,

die deines Auges Gestalt hat und Adel,

ich nahm dir die Kette der Sprüche vom Hals

und säumte mit ihr den Tisch, wo die Krume nun lag.

Das Ich steigt nicht ins Wasser, sondern bleibt auf der Schwelle und treibt ein magisches Spiel: Der Stein und der Kreis werden mit Hilfe der Krume und der Kette nachgezeichnet, und so wird das Bild, das unter Wasser zu sehen sein soll, auf dem Tisch wiederholt.

Dieses magische Spiel wirkt wie ein Übersetzungsvorgang. Der Übersetzer bildet das Bild, das sich unter Wasser befindet, auf dem Schreibtisch nach. Die Pappel ist dagegen keine Übersetzerin. Ihr Körper verschwindet im Wasser.

Wenn man die fremde Welt unter Wasser mit dem Reich der Toten gleichsetzen würde, dann wäre das magische Spiel eine Übersetzung der Sprache der Toten in die Schrift. Der Übersetzer hört das Wort der Toten und liest es (liest er es wie Ähren vom Boden auf oder liest er es wie ein Schriftzeichen?) und stellt es auf den Schreibtisch, also er schreibt. Die Pappel dagegen schreibt nicht. Sie verschwindet wie eine Sterbende im Wasser: Und sah meine Pappel nicht mehr.

Das Hören spielt in der ersten Gedichtserie dieses Buches, welche Sieben Rosen später betitelt ist, durchgehend eine wichtige Rolle. Mir kam es vor, als würden die Gedichte mich daran erinnern, dass das Hören nicht von der Schwelle getrennt zu denken ist. Ich hatte das gewusst, als ich noch ausschließlich in der japanischen Sprache lebte. Das Schriftzeichen 聞 (hören) hielt damals dieses Wissen fest, ohne dass es mir bewusst gewesen wäre. Es gibt ein Sprichwort, das vielleicht auch zu diesem Wissen gehört. Es lautet: Monzen na kozoo narawanu kyoo o yomu (Der Knabe, der vor einem Tempeltor lebt, kann das Gebet rezitieren, ohne es zu lernen). Der Knabe, der nicht in den Tempel hineingeht und am Tor steht, verkörperte für mich den Hörenden. Aber seitdem ich oft in der deutschen Sprache denke, hängt das »Hören« hauptsächlich mit dem »Zugehören« zusammen, so dass ich beim Hören das Bedürfnis bekomme, der fremden Stimme nachzueilen, und nicht an der Schwelle zu bleiben.

Je intensiver ich las, desto stärker wurde mein Eindruck, dass Celans Gedichte ins Japanische hineinblicken. Der Dichter muss den Blick der Übersetzung, der aus der Zukunft auf den Originaltext geworfen wird, gespürt haben. Interessant ist, dass man Celans Fähigkeit, diesen Blick wahrzunehmen, nicht mit sogenannter Sprachkenntnis begründen kann. Es muss eine Fähigkeit geben, beim Schreiben ein oder mehrere fremde Denksysteme (in diesem Fall das System der chinesischen Schriftzeichen, so wie es heute u.a. in der japanischen Sprache weiterlebt), die außerhalb der konkret verwendeten Sprache liegen, zu sich zu rufen und im Text präsent zu machen.

Der Titel des dritten Gedichtes Leuchten enthält das Schriftzeichen 閃 (Leuchten), das auch das Radikal »Tor« hat. Hier sieht man, wie ein Mensch 人 unter einem Tor 門 steht. Ich hatte mir noch nie Gedanken darüber gemacht, warum aus der Kombination von einem Tor und einem Menschen ein Leuchten erzeugt werden kann. Vielleicht ist einer, der unter einem Tor (oder auf einer Schwelle) steht, besonders fähig, ein Leuchten aus einer unsichtbaren Welt zu empfangen. (Diese Idee wurde während der weiteren Lektüre bestätigt.)

Außerdem spürte ich etwas, was das deutsche Wort »Leuchten« stark mit diesem Schriftzeichen verbindet: Mir fiel auf, dass das Wort »Ich« in der Mitte des deutschen Wortes »Leuchten« kurz auftaucht, wenn man es deutlich und laut ausspricht. Das Wort »Ich« kommt sonst nicht in dem Gedicht vor, sondern nur »mir«, »du« und »uns«. Nur in dieser Leuchte blitzt das Ich einmal auf, ganz kurz und gebrochen.

Wenn ich mir ein Gedicht als einen Strahlenempfänger vorstelle, so ist es sinnlos, in einem deutschen Gedicht etwas ›typisch Deutsches‹ zu suchen. Denn es empfängt immer etwas Fremdes und niemals sich selbst. Vielleicht gibt es auch deutsche Gedichte, die aus der deutschen Erde gemacht sind. Mich interessieren aber eher die Gedichte, die mit Konstellationen fremder Sprachen und Denkweisen korrespondieren, denen sie bei ihrer Entstehung noch nicht begegnet waren. Ich bezeichne hier die fremden Denksysteme deshalb als Konstellationen, weil jedes Zeichen aus ihnen wie ein Stern ein Licht auf das Original wirft. Wenn man das Gedicht Strähne liest, kann man sich vorstellen, dass zwar der Mund des Dichters aus Erde bestehen könnte, aber nicht seine Worte. Dieser Mund spürt ein Sternenlicht und spricht die Worte, die sich von der vertrauten Sprache unterscheiden.

Niedergehn hier die Fernen,

und du,

ein flockiger Haarstern,

schneist hier herab

und rührst an den erdigen Mund.

Der Strahl aus dem Stern ist hier noch nicht sichtbar. Erst wenn der Übersetzer später dem Strahl eine Form gibt, sieht man ihn endlich. Wie ist aber dieser Vorgang zeitlich zu verstehen? Wie soll die ›Zeit‹ aussehen, in der die Übersetzung das Original anstrahlen kann? In der ersten Zeile des fünften Gedichtes Mit Äxten spielend kommt das Wort »Stunden« vor, deren Übersetzung wieder ein Schriftzeichen mit dem Radikal »Tor« enthält. Das Wort »Stunde« 時間 wird aus »Zeit« 時 und »Zwischenraum« 間 zusammengestellt. In dem zweiten Zeichen 間 sieht man die Sonne 日, die unter einem Tor steht. In der früheren Form dieses Zeichens stand der Mond und nicht die Sonne unter dem Tor. Das Mondlicht scheint durch die Spalte des leicht geöffneten Tors hindurch: So stellten sich die Menschen damals einen Zwischenraum vor.

Mit Äxten spielend

Sieben Stunden der Nacht, sieben Jahre des Wachens:

mit Äxten spielend,

liegst du im Schatten aufgerichteter Leichen

– o Bäume, die du nicht fäIIst! –‚

zu Häupten den Prunk des Verschwiegnen,

den Bettel der Worte zu Füßen,

liegst du und spielst mit den Äxten –

und endlich blinkst du wie sie.

Dieses »Du« blinkt wie die Axt, das heißt, es hat wahrscheinlich keinen eigenen Strahl, sondern es empfängt »endlich« ein fremdes Licht und blinkt. Dieses »Du« kann ein Gedicht sein, das eine Zeitlang auf das Licht der Übersetzung wartet. Dieses Gedicht liegt wie eine Brücke zwischen dem »Prunk des Verschwiegnen« und dem »Bettel der Worte«. Dabei bildet das Gedicht einen Zwischenraum. Ein ähnlicher Raum auf einer Schwelle kommt auch im Gedicht Gemeinsam vor.

Da nun die Nacht und die Stunde,

so auf den Schwellen nennt,

die eingehn und ausgehn,

Die Begegnung des Originals mit seiner Übersetzung findet bei der Entstehung des Textes statt und nicht später. Das kann man nur verstehen, wenn man sich diese Entstehung nicht in einem Zeitpunkt auf einer fortlaufenden Zeitlinie vorstellt, sondern in einem Zwischenraum auf einer Schwelle. Der Zwischenraum ist kein geschlossenes Zimmer, sondern er ist der Raum unter einem Tor.

Ich fing an, Celans Gedichte wie Tore zu betrachten und nicht etwa wie Häuser, in denen die Bedeutung wie ein Besitz aufbewahrt wird. Dabei fiel mir ein Satz ein, den Gershom Scholem in Religiöse Autorität und Mystik schrieb:

Je präziser solche mystische Exegese, desto größer die Chancen der fortdauernden Anerkennung des so verwandelten Textes auch in seinem Wortsinn, der nur das Tor bildet, durch das der Mystiker schreitet, aber ein Tor, das er sich immer wieder offenhält.

Celans Wörter sind keine Behälter, sondern Öffnungen. Ich gehe durch die Öffnung der Tore, jedes Mal, wenn ich sie lese. Das Schriftzeichen 開 (sich auftun) kommt übrigens auch vor, und zwar in der entscheidenden letzten Zeile des Gedichtes Ein Körnchen Sands.

und ich schweb dir voraus als ein Blatt,

das weiß, wo die Tore sich auftun.

Ein Wort zu schreiben bedeutet, ein Tor zu öffnen. Die Lektüre der Schriftzeichen ist die der Wörter, und nicht die der Sätze oder des Klangs. Die faszinierende Übersetzbarkeit der Gedichte Celans kann u.a. an ihrer Wörtlichkeit liegen. Celan selbst spricht immer wieder vom »Wort«, z.B. im ersten Gedicht: »und über dem Wasser ein Wort«, oder in Strähne:

Dies ist ein Wort, das neben den Worten einherging,

ein Wort nach dem Bilde des Schweigens,

umbuscht von Singrün und Kummer.

In diesem Gedicht wird das Wort klar von der »Sprache« unterschieden: Das Wort bildet das Schweigen nach, während die Sprache den Körper des Dichters verletzt:

ein Wort, das mich mied,

als die Lippe mir blutet’ vor Sprache

Ich vergleiche Celans Wörter mit den Toren und erinnere mich dabei daran, dass Benjamin die Wörtlichkeit einer Übersetzung als »Arkade« bezeichnet:

Die wahre Übersetzung ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das Original, steht ihm nicht im Licht, sondern lässt die reine Sprache, wie verstärkt durch ihr eigenes Medium, nur um so voller aufs Original fallen. Das vermag vor allem Wörtlichkeit in der Übertragung der Syntax und gerade sie erweist das Wort, nicht den Satz als das Urelement des Übersetzers. Denn der Satz ist die Mauer vor der Sprache des Originals, Wörtlichkeit die Arkade.

Eine Arkade besteht – wenn man so will – aus vielen Toren, die hintereinander stehen. Wenn jedes Wort von Celan ein Tor bildet, so kann das ganze Gedicht wie eine Arkade aussehen.

Ich werde jetzt durch das letzte Tor von Sieben Rosen später hindurchgehen: Das siebte Zeichen mit dem Radikal »Tor« 闇 (Dunkel) taucht in zwei Gedichten auf: in Von Dunkel zu Dunkel und in Der Gast. Es ist von seiner Zusammensetzung her ein besonders rätselhaftes Zeichen, denn dort steht ein Ton 音 unter dem Tor 門 und soll »Dunkelheit« bedeuten. Ich las Celans Gedicht Von Dunkel zu Dunkel, als könnte ich dadurch die Entstehung dieses Zeichens besser verstehen.

Von Dunkel zu Dunkel

Du schlugst die Augen auf – ich seh mein Dunkel leben.

Ich seh ihm auf den Grund:

auch da ists mein und lebt.

Setzt solches über? Und erwacht dabei?

Wes Licht folgt auf dem Fuß mir,

dass sich ein Ferge fand?

Nach der Lektüre des Gedichtes erkläre ich mir das rätselhafte Schriftzeichen 闇 folgendermaßen: Das sprachlich nicht Darstellbare, das »Dunkel«, befindet sich vermutlich hinter dem Tor, aber man kann nicht durch das Tor blicken, weil ein Ton ihm im Weg (d.h. direkt unter dem Tor) steht. Gleichzeitig fürchtet man, dass man überhaupt keinen Zugang mehr zu dem Dunkel haben könnte, wenn es keinen Ton mehr gäbe. Der Ton stopft das Tor zu, aber er ist auch das Medium, das diese Seite des Tors mit der anderen verbindet. Man muss ihn hören, dann verhindert er nicht die Sicht.

Das Gedicht Von Dunkel zu Dunkel, besonders die Frage »Setzt solches über?« lädt mich ein, über die Entstehung eines Gedichtes und seiner Übersetzung weiter nachzudenken. In der ersten Strophe blickt eine Übersetzung, die noch nicht existiert, auf den Dichter (»Du schlugst die Augen auf«), und er spürt das »Dunkel« in sich selbst. Damit wird die Dichtung in Gang gesetzt. In der zweiten Strophe geht es um die Suche nach einer Übersetzung. Es wird gefragt, ob solches (Dunkel) überhaupt hinübergesetzt (übersetzt) werden kann und ob es dabei erwacht. Es ist eine schöne Vorstellung, dass etwas durch die Übersetzung erwachen kann. Bis der Übersetzer (»Ferge«) gefunden wird, steht der Autor orientierungslos, einsam und unsicher da. Er fragt sich: »Wes Licht folgt auf dem Fuß mir, dass sich ein Ferge fand?«

Es ist schön, dass es offen bleibt, wann der Arbeitsprozess des Schreibens beginnt und wann er vollendet ist. Vielleicht dauert dieser Prozess so lange, bis das Gedicht in die letzte Sprache übersetzt ist.

Auf jeden Fall ist es ein Wunder, dass Celan ohne Hilfe eines Lexikons chinesischer Schriftzeichen Sieben Rosen später geschrieben hat. Das sind genau sieben unterschiedliche Schriftzeichen mit dem Radikal »Tor«, die in der Übersetzung verwendet werden: 閾(Schwelle). 門 (Tor), 聞 (Hören), 開 (Sich auftun), 間 (Zwischenraum), 閃 (Leuchten), 闇 (Dunkel). Das entspricht den sieben Rosen oder den sieben Stunden; die magische Zahl, auf die immer wieder angespielt wird. Die »sieben Rosen« drücken einen Zeitraum aus, wie man an dem Ausdruck »sieben Rosen später« sieht. Bei der Lektüre öffnet sich jede Rose wie ein Schriftzeichen, wie ein Tor oder wie ein Zwischenraum.

Das Radikal »Tor« ist das sichtbare Element in dieser Übersetzung, das zeigt, warum sie als Literatur wirksam ist. Die Übersetzung ist nicht Abbild des Originals, sondern in ihr bekommt eine Bedeutung des Originals einen neuen Körper (in diesem Fall nicht einen Klangkörper, sondern einen Schriftkörper). Walter Benjamin schreibt:

Übersetzbarkeit eignet gewissen Werken wesentlich – das heißt nicht, ihre Übersetzung ist wesentlich für sie selbst, sondern will besagen, dass eine bestimmte Bedeutung, die dem Original innewohnt, sich in ihrer Übersetzbarkeit äußere.