Die deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 – Modell oder Ausnahme?

Zur Einführung

Nicole Colin / Dieter Heimböckel / Joachim Umlauf

Title:

The Franco-German Relationship after 1945 – Role Model or Exception? Introduction

50 Jahre Élysée-Vertrag: Das Jahr 2013 war geprägt von Festivitäten rund um den allgemein als modellhaft beschriebenen Versöhnungsprozess der beiden einstigen ›Erbfeinde‹ Deutschland und Frankreich, der nicht zuletzt die Grundlage des europäischen Integrationsprozesses bildet. Das Dossier der vorliegenden Ausgabe der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik nimmt das Élysée-Jahr zum Anlass, dieses weitgehend dominante Zuschreibungsmuster zu hinterfragen und aus interkultureller Sicht gegen den Strich zu lesen. Denn die großen, wenngleich nicht immer wirkungsvoll inszenierten Feiern vermochten nicht darüber hinwegzutäuschen, dass sich das deutsch-französische Paar im Angesicht der Wirtschaftskrise in Europa und weltweit gerade einmal wieder tief in einem handfesten Ehestreit verstrickt hatte. Anzumerken ist hierbei freilich, dass die aktuell teils schwelenden, teils ausgetragenen Konflikte, für die der französische Staatspräsident François Hollande im Frühjahr 2013 den Ausdruck der »tension amicale« prägte (Cazin 2013), nicht unwesentlich mit den verschiedenen politischen Ausrichtungen und sozialen Leitideen der (ehemaligen) konservativ-liberalen Regierung in Deutschland und der sozialistischen in Frankreich zu tun haben. Ungeachtet dieser Tatsache wurden in der Tagespresse, aber auch in den Expertenkreisen des franco-allemand die Streitigkeiten jedoch nicht selten als Beweis einer nur vorgetäuschten Annäherung in den letzten Jahrzehnten gewertet und entsprechend pessimistisch kommentiert: Ist die gewonnene Nähe womöglich doch nur Illusion und das tatsächliche Konfliktpotenzial doch größer als die Versöhnungsrhetorik vermuten lässt?

An Debatten, die sich zumeist an Einzelphänomen entzünden und ausgehend von diesen das deutsch-französische Einverständnis grundlegend in Frage stellen oder krisenhafte Rückständigkeit in einzelnen Gebieten konstatieren wollen, mangelt es nicht. So beklagte beispielsweise der renommierte Historiker Pierre Nora 2012 in einem großen Interview der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) die nach seiner Meinung starke Rückläufigkeit deutsch-französischer Wissenschaftsbeziehungen (Nora/Guez 2012). Als Reaktion erschienen ein längerer Gegenartikel von Frank Baasner, Leiter des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, und dem ehemaligen Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg Erwin Teufel (Baasner/Teufel 2012) sowie ein von verschiedenen Romanisten wie Wolfgang Asholt und Michael Nerlich unterschriebener Text auf den Internetseiten von Le Monde (Asholt u.a.), die einerseits Nora widersprachen, ihm andererseits aber auch beipflichteten. Solche Debatten erlauben ohne Frage, sich einen breiten Überblick über die bestehenden unterschiedlichen Positionen zu verschaffen, wenngleich die meisten pauschalen Statements, wie sie in solchen Feuilleton-Debatten vorgebracht werden, einer genaueren Überprüfung nicht standhalten. So beklagt Nora letztendlich das Verschwinden einer gewissen Form der akademischen Welt: die nämlich einer europäischen, politisch links stehenden und zugleich humanistisch geprägten Wissenschaftselite – ein Problem, das eigentlich jenseits der potenziellen Schwierigkeiten im deutsch-französischen Verhältnis liegt. Gleichzeitig unterschlägt er aber, dass sich durch das europäische Erasmus-Programm, die Deutsch-Französische Hochschule und viele weitere Austauschmöglichkeiten die universitären Beziehungen zwischen den beiden Ländern in den letzten Jahrzehnten zahlenmäßig deutlich intensiviert haben.

Wenngleich Kritik durchaus angebracht ist, sollte jedoch, so jedenfalls die Überzeugung der Herausgeber, von scherenschnittartigen Kommentaren abgesehen und die deutsch-französischen Beziehungen vielmehr als ein Sonderfall des Kulturtransfers betrachtet werden, der alle Vor- und Nachteile einer Außenseiterposition in sich versammelt. Das Außergewöhnliche ist eben nicht unbedingt etwas im eigentlichen Sinne Exemplarisches, was bedeutet, dass sich die Mechanismen und Strategien dieses bemerkenswerten Annäherungsprozesses nicht selbstverständlich auf andere Verhältnisse übertragen lassen – man denke an Nord- und Südkorea oder an Japan und China –, wenngleich einzelne Bausteine und Module durchaus auch in anderen Kontexten erprobt werden können. Dies gilt beispielsweise für das dreibändige deutsch-französische Geschichtsbuch Histoire/Geschichte, dessen Konzeption und Entstehungsgeschichte Corine Defrance und Ulrich Pfeil im vorliegenden Heft näher beleuchten. So konnten sich Deutschland und Frankreich darauf verständigen, eine gemeinsame Perspektive der Vergangenheit zu erarbeiten und diese in einem Schulbuch zu manifestieren, das auf Deutsch und auf Französisch erschienen ist. Dennoch wäre es eine naive Verwechslung hinsichtlich Ursache und Wirkung, von einer einfachen Wiederholbarkeit im anderen Kontext auszugehen. Tatsächlich lässt sich über ein solches Buch keine einheitliche Sicht auf die Geschichte herstellen, vielmehr setzt die Erarbeitung eine weitgehende Kongruenz bereits voraus.

Wenngleich die deutsch-französischen Entwicklungen nicht einfach kopierbar sind, lassen sich aus der Analyse des einzigartigen Annäherungsprozesses dennoch strukturelle Erkenntnisse für den Kulturtransfer im Allgemeinen ziehen. So bestätigt sich hier unter anderem die Einsicht, dass sich die Qualität gelebter Beziehungen langfristig betrachtet nicht an ihrem reibungslosen Funktionieren misst, sondern am Potenzial der Partner zur Konflikt- und Krisenbewältigung. Erst in der Suche nach Kompromissen ohne Vorspiegelung falscher Tatsachen oder Aufgabe der eigenen Position beweist sich die Haltbarkeit einer Freundschaft. Letzteres aber haben die Franzosen und Deutschen in den letzten Jahrzehnten vorbildlich voneinander und miteinander gelernt. Bereits das Jahr 1963, das aufgrund der Unterzeichnung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags gerne als positive Zäsur genommen wird, von der ab das bilaterale Verhältnis der beiden ›verfeindeten‹ Nationen eine neue und grundlegend andere Qualität erhalten habe, war ein deutsch-französisches Krisenjahr. So scheiterte die Unterzeichnung beinahe an der vom Bundestag hinzugefügten Präambel, in der die Bedeutung und Qualität des transatlantischen Verhältnisses betont wurde, was den auf europäische Unabhängigkeit bedachten de Gaulle außer sich brachte.

Auch in den darauffolgenden Jahrzehnten waren trotz vieler positiver Entwicklungen immer wieder Spannungen, Gereiztheiten und Konflikte zu ertragen. Schaut man in die Programme der Institutionen des sogenannten franco-allemand (vor allem die der Kulturinstitute und Bildungseinrichtungen), fällt auf, dass Gesprächsrunden und Kolloquien zur Krise der deutsch-französischen Beziehungen spätestens seit den 1980er Jahren Konjunktur haben. Man könnte meinen, dass sich das deutsch-französische Milieu solcherart ständig selbst vergewissert und in seinen wichtigen Aufgaben legitimiert: Denn eine Krise benötigt Experten, die sich kompetent für eine Klärung der Differenzen und langfristige Verbesserung der Situation einsetzen. Insofern verwundert nicht, dass sich das nach 1945 langsam aufkommende und heute omnipräsente Versöhnungsnarrativ von diesen Aufs und Abs bestens zu ernähren wusste. Ein gleichmäßiger, gleichwohl wenig spektakulärerer Annäherungsprozess hätte wahrscheinlich eine geringere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit evoziert. Jedenfalls ist es in den letzten 50 Jahren gelungen, das allen Beziehungen und also auch der deutsch-französischen Partnerschaft inhärente Konfliktpotenzial immer wieder produktiv zu wenden und aus dem Moment der gemeinsamen Überwindung eines Problems als bewusst erfolgte Kraftanstrengung auf beiden Seiten viel symbolisches Kapital zu schlagen. Aus dieser Perspektive waren die Meinungsverschiedenheiten die notwendige Bedingung der Möglichkeit der sich anschließenden, politisch inszenierten Versöhnungsgesten. Auf das Problem, dass in diesem Sinne Programm und Programmation der deutsch-französischen Kulturbeziehungen mitunter weit auseinander klaffen, geht Gerit Fischer in seinem Beitrag ein.

Einen Hinweis darauf, dass die deutsch-französischen Beziehungen fast 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges tatsächlich in eine neue Phase eingetreten sein könnten, gab der Staatsbesuch des deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck in Frankreich im September 2013, dessen Fahrt nach Oradour-sur-Glane zum Höhe- und Abschlusspunkt des Élysée-Jahres wurde. In dem 200 km nordöstlich von Bordeaux liegenden Dorf hatte die Waffen-SS im Juni 1944 bis auf ganz wenige Ausnahmen die gesamten Bewohner des Dorfes, das heißt 642 Männer, Frauen, Kinder und alte Menschen, auf grausamste Art ermordet, ohne dass bis heute die Gründe vollständig bekannt wären. Oradour-sur-Glane ist eine der letzten großen offenen Wunden in der deutsch-französischen Vergangenheitsaufarbeitung, an die man von deutscher Seite aus bislang nicht rühren wollte. Dass Joachim Gauck ausgerechnet seinen Staatsbesuch in Frankreich im Élysée-Jahr dazu nutzte, als erster hochrangiger deutscher Politiker den Gedenkort zu besuchen, hat übrigens nicht nur Zustimmung gefunden; einige offizielle Stellen hätten die Erinnerung an die NS-Gräuel lieber aus den Feierlichkeiten herausgehalten.

Dieser Spannung zwischen Erinnerung und Vergeben bzw. Vergessen ist geradezu symptomatisch für den deutsch-französischen Annäherungsprozess. So wäre es falsch zu glauben, dass die Versöhnung stets mit einer umfassenden Aufarbeitung der zentralen Problemstellen und Reibungspunkte der deutsch-französischen Vergangenheit – beispielsweise im Kontext der beiden Weltkriege – einhergegangen ist. Im Gegenteil: Staatsraison und Aussöhnungswillen arbeiteten bisweilen durchaus gegen eine angemessene Beschäftigung mit der Vergangenheit. Der historische Skandal um Alain Resnais’ Film Nuit et Brouillard (1955; Nacht und Nebel), den die französische Regierung 1956 auf Drängen der Bundesrepublik aus dem Programm der Filmfestspiele in Cannes nehmen ließ, spiegelt insofern geradezu symbolhaft die Shoah als Leerstelle in den deutsch-französischen Beziehungen. Bis heute steht der gemeinsame offizielle Besuch eines deutschen und französischen Staatsoberhauptes einer Holocaust-Gedenkstätte immer noch aus (vgl. Moll 2013).

Es würde indes zu kurz greifen, die Analyse der Voraussetzungen einer Tabu-Aufhebung wie Gaucks Besuch in Oradour-sur-Glane allein auf das Zusammenspiel politischer Interessenvertreter beschränken zu wollen. Wenngleich es schwierig, ja unmöglich ist, gerade Kausalitätslinien aufzuzeigen, erscheint das Hintergrundszenario solcher Entscheidungen komplex und geht weit über Absprachen auf oberster Ebene hinaus. So ist, um bei dem Beispiel zu bleiben, unserer Information nach für den Besuch Gaucks in Oradour auch ein im Februar 2013 im Goethe-Institut Paris gezeigter neuer Dokumentarfilm über das Massaker und die Folgen verantwortlich. Die in Zusammenarbeit mit der Maison du Limousin und der Maison Heinrich Heine durchgeführte Veranstaltung gab der deutschen Botschafterin Susanne Wasum-Rainer nicht nur Gelegenheit, einen der drei Überlebenden des Massakers, Robert Hébras, persönlich kennenzulernen, sondern auch den ebenfalls anwesenden Bürgermeister von Oradour-sur-Glane. Auf dessen Einladung besuchte Wasum-Rainer wenig später dann Oradour – eine Reise, die für die Entscheidung Gaucks letztlich von nicht unwesentlicher Bedeutung gewesen sein dürfte, wenngleich sich dieser Zusammenhang nicht nachweisen lässt und der konkrete Einfluss faktisch nicht messbar ist.

Aus dieser Perspektive betrachtet, erscheint verständlich, dass in den letzten Jahren die Figur des Mittlers in der Transfergeschichte mehr und mehr an Bedeutung gewonnen hat. Ein wichtiger Aspekt, der den Mittler so ›interessant‹ macht und den Kreis zum eingangs erwähnten Krisenmanagement in Beziehungen setzt, ist die Tatsache, dass die bi- oder multilateralen Aktionsfelder im allgemeinen Sinne immer auch potenzielle Konfliktherde darstellen. Der Akteur des Kulturtransfers im weiteren Sinne ist im Kontext des europäischen Versöhnungsnarratives nach 1945 sowie der europäischen Integration auf diese Weise regelrecht zu einer neuen Heldenfigur avanciert. Wie in den Artikeln von Nicole Colin und Joachim Umlauf dargelegt, die sich mit der Frage der Mittler im deutsch-französischen Kulturfeld auseinandersetzen, erscheint der Mittlerbegriff dabei allerdings meistens zu kurz gegriffen bzw. eng begrenzt auf gewisse zivilgesellschaftliche Mittler, die aufgrund ihres besonderen Engagements im Prozess der Aussöhnung in Erscheinung getreten sind. Bereits in ihrem Einleitungstext zum Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen seit 1945 hatten sie aus diesen Gründen für einen »erweiterten Mittlerbegriff« plädiert (Colin/Umlauf 2013). Neben den ökonomisch oder machtpolitisch interessierten sowie den zivilgesellschaftlich engagierten Mittlern müssen daher auch diejenigen zukünftig in der Mittlerforschung Berücksichtigung erfahren, die, wie Nicole Colin dies beispielhaft am Fall des französischen Theatermachers Jean Vilar vorführt, Maßgebliches für den Kultur- (oder auch Wissens-)Transfer geleistet haben, ohne sich dies zur Aufgabe gemacht zu haben. Ferner gilt es aber auch, wie Joachim Umlauf in seinem Artikel darstellt, die problematischen Mittler in ihrem Wirken zu beschreiben und zu untersuchen: die durch die NS-Zeit oder andere Umstände diskreditierten Mittler; die Wohlmeinenden, die gegen ihren Willen gängige Stereotypen nicht nur bestätigen, sondern zuweilen noch vertiefen; die zu sehr Liebenden, die das Lob des Anderen zur Herabsetzung des Eigenen benutzen; die mehr oder minder ambivalenten Mittler, die sich als Freunde des Anderen ausgeben, es aber eigentlich nicht sind und die Abwertung des Anderen dazu nutzen, das Eigene in einem positiveren Licht erscheinen zu lassen; die ephemeren Mittler, die, häufig im Dienst von Institutionen, einige Jahre etwas bewegen, bevor sie (mitunter spurlos) wieder verschwinden; die lebensgeschichtlich negativ geprägten Beleidigten und Traumatisierten, deren Liebe nicht erwidert wurde und sich in Abscheu verwandelt hat. Wie das Beispiel der im Frühjahr 2013 durch die große Louvre-Ausstellung De l’Allemagne ausgelöste Polemik zeigt, die zuallererst von solchen Mittlern selbst befeuert und vertieft wurde, besitzt diese negative Form der Kulturvermittlung auch im Zeitalter der Versöhnung nach wie vor Aktualität.

Eine weitere grundsätzliche Fragestellung bietet die Benelux-Perspektive: Handelt es sich bei der spezifischen und historisch einmaligen Entwicklung der deutsch-französischen Beziehung nach 1945 um eine Ausnahme oder lässt sich diese – und sei es methodisch – universalisieren und als Modell auf andere transnationale Verhältnisse übertragen? Wie steht man als europäischer Außenstehender bzw. Nachbar zu diesen deutsch-französischen Fragestellungen? Auch zwischen Deutschland und den Niederlanden und Luxemburg wurde in den letzten Jahrzehnten schließlich ausgiebig angenähert und ausgesöhnt. Wie Katharina Garvert-Huijnen in ihrem Beitrag aufzeigt, war man von niederländischer Seite aus nicht immer begeistert über die deutsch-französische Annäherung. Darüber hinaus stellt sich aber auch die Frage, ob die Konzentration auf solche binationalen Verflechtungen im Kontext einer europäischen Integration nicht ohnehin als Auslaufmodell zu bezeichnen ist. Für die Überwindung der bilateralen Perspektive spricht mit Blick auf die deutsch-französischen Beziehungen jedenfalls, dass ungeachtet ihrer Komplexität vorzugsweise mit eingängigen Gegensatzkonstruktionen nach dem Muster der fremden Freunde (vgl. Picht u.a. 2002) gearbeitet wird. Dahinter verbirgt sich eine Verstehensbemühung, die immer schon – und heute erst recht – auf die Herstellung von Eindeutigkeit zielt und damit einem Prozess der »Erstaunensentfernung« (Guzzoni 2012: 36) Vorschub leistet. Dieter Heimböckel plädiert daher aus interkultureller Perspektive für eine am Staunen augerichtete Wahrnemungspraxis, durch die sowohl auf wissenschaftlicher Ebene als auch in anderweitigen Begegnungskonstellationen die Möglichkeit eröffnet werden soll, aus dem Ritual eines Denken-wie-üblich herauszutreten, um so Unvertrautes im Vertrauten bzw. Selbstverständlichen wieder zur Kenntnis nehmen zu können. Dass gerade auch eine historische Perspektivierung eine solche Überlegung nahe legt, zeigt Heinz Sieburg in seiner Analyse der deutsch-französischen Beziehungen im Mittelalter, die auf eindrucksvolle Weise belegt, dass jede Geschichte ihre Vorgeschichte hat und die historische Ausrichtung der Interkulturalitätsforschung für das Verständnis diachroner Prozesse unumgänglich ist.

Kommen wir zurück zur Anfangsfrage, inwiefern die deutsch-französische Annäherung als Chimäre zu bezeichnen ist, so lässt sich konstatieren, dass die dieser Frage letztlich inhärente teleologische Vorstellung eines zu erreichenden statischen Ziels naiv anmutet. Die jüngsten Debatten im deutschen Feuilleton haben gezeigt, dass die Verfechter einer Vorstellung vom Aufstieg und Niedergang der deutsch-französischen Freundschaft weitgehend unterkomplex argumentieren. Die heutigen Beziehungen der beiden Länder bestätigen vielmehr in relativ eindeutiger Weise die Thesen der neueren Friedensforschung, der zufolge es nicht darum gehen kann, alte Feindschaften zu begraben, sondern vielmehr grundlegend neue Verhältnisse und Narrative zu kreieren. Das an symbolischen Inszenierungen und Ikonen reiche deutsch-französische Verhältnis – vom Gottesdienst in Reims und der auf Deutsch gehaltenen Rede de Gaulles an die deutsche Jugend über Helmut Kohls und François Mitterrands Freundschaftsgeste auf dem Friedhof von Verdun bis zum Besuch Gaucks in Oradour-sur-Glane – belegt letztlich die Dynamik der Beziehung und zeigt zugleich, wie wichtig es ist, die Geschichte als Prozess zu begreifen und zu akzeptieren. Die in den letzten sechs Jahrzehnten geschaffenen Netzwerke sind inzwischen so dicht und selbstverständlich geworden, dass man sie nicht mehr wahrnimmt und Übersetzungen entsprechend zweitrangig, wenn nicht überflüssig erscheinen lassen. Die Streitereien und Missverständnisse um die Ausstellung De l’Allemagne, die beispielhaft belegen, dass die Erträge des Annäherungsprozesses immer wieder neu justiert und diskutiert werden müssen, sind insofern keinesfalls Ausweis unüberwindbarer Differenzen, sondern als positive Reaktionen zu werten. Um solche Diskussionsräume lebendig zu halten, ist es wichtig, die kulturellen Transferleistungen, die in einer globalisierten Welt die Tendenz haben, sich selbst zum Verschwinden zu bringen, in Zukunft stärker in den Blick zu rücken. Ganz im Sinne des neueren Translational Turn (vgl. Bachmann-Medick: 240) gilt es – auch jenseits der Postcolonial Studies – die scheinbar nicht vorhandenen, tatsächlich aber nur unsichtbar gewordenen Beziehungslinien und die Arbeit der Mittler zu analysieren – im transnationalen Aktionsfeld zwischen Deutschland und Frankreich ebenso wie in anderen europäischen und nicht-europäischen Ländern auch.

Literatur

Asholt, Wolfgang u.a. (2012): Pour un renouveau dans les rapports franco-allemands. In: Le Monde v. 28. Juni 2012; online unter: http://www.lemonde.fr/idees/article/2012/06/28/pour-un-renouveau-dans-les-rapports-franco-allemands_1725 611_3232.html [Stand: 15.11.2013].

Baasner, Frank/Teufel, Erwin (2012): »Wir haben uns zusammengelebt«. In: FAZ v. 26. März 2012; online unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/deutsch-franzoesische-verstaendigung-wir-haben-uns-zusammengelebt–11698459.html [Stand: 15.11.2013].

Bachmann-Medick, Doris (2010): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. 4. Aufl. Reinbek bei Hamburg.

Cazin, Alice (2013): De ›tension amicale‹ à ›égoïsme‹, les mots de la gauche face à Angela Merkel. In: L’Express v. 29. April 2013; online unter: http://www.lexpress.fr/actualite/politique/de-tension-amicale-a-egoisme-les-mots-de-la-gauche-face-a-angela-merkel_1245194.html [Stand: 15.11.2013].

Colin, Nicole/Umlauf, Joachim (2013): Eine Frage des Selbstverständnisses? Akteure im deutsch-französischen champ culturel. Plädoyer für einen erweiterten Mittlerbegriff. In: Dies. u.a. (Hg.): Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945. Tübingen, S. 69–80.

Guzzoni, Ute (2012): erstaunlich und fremd. Erfahrungen und Reflexionen. Freiburg i.Br./München.

Moll, Nicolas (2013): [Art.] Vergangenheitsaufarbeitung. In: Nicole Colin u.a. (Hg.): Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945. Tübingen, S. 447–449.

Nora, Pierre/Guez, Olivier (2012): Man hat sich auseinandergelebt. Ein Gespräch über das deutsch-französische Verhältnis. Aus d. Franz. übers. v. Michael Bischoff. In: FAZ, Nr. 41 v. 17. Februar 2012.

Picht, Robert u.a. (Hg.; 2002): Fremde Freunde. Deutsche und Franzosen vor dem 21. Jahrhundert. 2. Aufl. München/Zürich.