Im toten Winkel der Versöhnung

Mittler wider Willen im deutsch-französischen Kulturtransfer. Der Fall Jean Vilar

Nicole Colin

Abstract

This contribution proceeds from an expanded definition of the idea of the “mediator” to analyse the role that the famed French theatre director Jean Vilar (1912–1972) played in Franco-German cultural transfer. Although Vilar did not develop special engagement for the rapprochement for the two hostile nations – which means that he has not received any attention in the context of Franco-German cultural transfer – we cannot underestimate the influence that Vilar had on the mutual perception of French and German culture. Furthermore, Vilar serves as a case study for “overlooked mediators”; further research into this group promises new results from a methodological perspective for mediator research.

Title:

In the Blind Spot of Reconciliation: Unwilling Mediators in Franco-German Cultural Transfer. The Case of Jean Vilar

Keywords:

cultural transfer; Franco-German relationship; German drama; intermediary; theater

In der deutsch-französischen Transferforschung für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg tritt in den letzten Jahren die Figur des ›Mittlers‹ mehr und mehr ins Zentrum des Interesses, wobei allerdings in der Regel auf eine recht verengte Definition von Kulturtransfer bzw. Kulturbeziehungen rekurriert wird. So finden in der Regel nur Akteure der zivilgesellschaftlichen Annährungs- und Versöhnungspolitik, denen ein spezifisches Engagement unterstellt wird, als klassische Mittlerfiguren Beachtung (vgl. Marmetschke 2011 u. 2012). Auf der Grundlage der offiziellen politischen Versöhnungspolitik, die von der Bundesrepublik nach 1945 lanciert wurde (vgl. Gardner Feldman 2012), avancierte die deutsch-französische Freundschaft in den letzten Jahrzehnten zu einem Erfolgsnarrativ, das, wie Corine Defrance herausstellt, alle Elemente einer »Meistererzählung« im klassischen Sinne besitzt:

Sie ist zum einen ein Konstrukt, das bei der Auflösung des alten und antagonistischen Mythos vom ›Erbfeind‹ ansetzt. Zum anderen ist sie sehr zeitgenössisch und beruht auf einem Eros und symbolischen Orten. Zudem ist sie sinnstiftend, soll die »Versöhnung« nach dem absoluten Tiefpunkt von Gewalt und Verbrechen doch den Beginn einer neuen europäischen, von Friedenskonsolidierung geprägten Ordnung markieren. Und schließlich ist sie symbolträchtig, gab es doch einen historischen Präzedenzfall: die Aussöhnung in der Zwischenkriegszeit. (Defrance 2012: 17).

Hinzuzufügen ist, dass diese ›Meistererzählung‹ in den letzten 20 Jahren aufgrund des fortschreitenden europäischen Integrationsprozesses auch über das deutsch-französische Feld hinaus an Bedeutung gewonnen hat. Die positive Konnotation des zivilgesellschaftlichen Mittlers, die an sich alles andere als selbstverständlich ist,1 scheint aus dieser Perspektive vor allem seiner Einbettung in dieses Versöhnungsnarrativ zu verdanken zu sein, auf dessen Folie er gewissermaßen zu einer modernen Heldengestalt überhöht wird.

Die Fokussierung auf den zivilgesellschaftlichen Versöhnungsprozess, auf dessen Grundlage Mittlerbiografien im Blick auf ihren idealistischen und uneigennützigen Einsatz ›für die gute Sache‹ analysiert werden, erscheint jedoch problematisch, da sie wichtige Elemente und Phänomene unberücksichtigt lässt und bestimmte Mittler sogar explizit aus dem Untersuchungsfeld ausschließt. Hierzu gehören zum einen transnationale Akteure des Kunst-, Kultur- und Wissenschaftsfeldes, die wesentlichen Einfluss auf andere Systeme genommen und bedeutsame kulturelle und wissenschaftliche Wechselwirkungen provoziert haben, ohne sich dies jedoch explizit zur Aufgabe gemacht zu haben. Diese Akteure, für die an anderer Stelle der Begriff des ›nicht-intentionalen Mittlers‹ vorgeschlagen wurde (vgl. Colin/Umlauf 2013a: 69–80), ist vom Typus des ›ephemeren Mittlers‹ zu unterscheiden, d.h. von Personen, die als allgemeine Experten im transkulturellen Austausch kurz auftauchen und schnell wieder verschwinden und nur in seltenen Fällen nachhaltige Wirkungen entfalten können, wie Diplomaten oder Entsandte kultureller oder politischer Stiftungen (wie z.B. des Goethe-Instituts oder der Konrad Adenauer Stiftung) bzw. Vereine oder auch Gastprofessoren im universitären Sektor.

Einen weiteren, zumeist ignorierten Typ bildet der moralisch oder politisch diskreditierte Mittler, wie beispielsweise die deutschen Besatzer oder durch den Nationalsozialismus in Verruf geratene Persönlichkeiten wie Ernst Jünger, Carl Schmitt, Arno Breker oder Leni Riefenstahl, deren Annäherung an die andere Kultur ausgehend von der Idee einer prinzipiellen deutschen Hegemonialposition erfolgte und deren kulturelle Transferleistungen nach 1945 aus guten Gründen überaus skeptisch betrachtet und zumeist nicht genauer analysiert wurden. Die Nichtbeachtung dieser ›diskreditierten Mittler‹ ist insofern problematisch, als Kulturtransfer in der Regel keinen (primären) moralisch-ethischen Ziele unterworfen ist – auch dann nicht, wenn sich das Interesse der Mittler am Anderen im Wunsch der Überwindung von (im biografischen Kontext negativ erlebten) Grenzen und Krisensituationen gründet. Die solcherart immer – und sei es in der Erinnerung – präsenten Konflikte, deren Überwindung in vielen (vielleicht sogar den meisten) Fällen nicht möglich ist, nehmen einen bedeutsamen Einfluss auf die Beziehung selbst und schwelen sichtbar oder unsichtbar in zahlreichen Mittlerbiografien weiter. Die Beziehungen bleiben Amours fragiles (vgl. Colin/Umlauf 2013b), in denen sich die unbewältigten Konflikte in beleidigt anmutenden Reaktionen oder auch Provokationen zu erkennen geben, zuweilen aber auch in eine radikale Überhöhung der anderen Kultur umschlagen. Der solcherart ›ambivalente Mittler‹,2 dessen Ansichten sich kurioser Weise nicht selten mit den schlimmsten Stereotypen der Nichtexperten decken, bildet einen weiteren, bisher weitgehend übersehenen bzw. nicht als Mittler definierten Typus, der insbesondere in der Essayistik und im Journalismus präsent ist.

Ausgehend von diesen Vorüberlegungen möchte ich vorschlagen, in Abgrenzung zu einer eingeschränkten Fokussierung auf das Engagement zivilgesellschaftlicher Akteure einen ›erweiterten Mittlerbegriff‹ zu etablieren, der (vorläufig) die beschriebenen sechs Bereiche umfasst, wenngleich diese Typen natürlich niemals in Reinform existieren und sich Motivation und Wirkung zahlreicher Akteure durchaus zwei oder mehreren Typen zuordnen lassen:3

Ausgehend von diesem erweiterten Mittlerspektrum soll im Folgenden der Mittler im Kunst-, Literatur- und Wissenschaftsfeld und seine nicht-intentionalen Transferleistungen näher betrachtet werden – auch im Blick auf möglicherweise inhärent vorhandenes Konfliktpotential. Als Fallbeispiel soll ein herausragender, aber bisher im toten Winkel des Versöhnungsgedankens übersehener Mittler des deutsch-französischen Kulturaustausches dienen: Jean Vilar.

Jean Vilar – Mittler wider Willen?

Das Kapitel Jean Vilar (1912–1971) und Deutschland muss noch geschrieben werden. Als 2012 in Frankreich der hundertste Geburtstag des Schauspielers, Regisseurs und Theatermachers und -politikers, der wie kein Zweiter die französische Theaterlandschaft des 20. Jahrhunderts grundlegend verändert und zugleich nachhaltig geprägt hat, mit Ausstellungen und wissenschaftlichen Kolloquien gefeiert wurde, standen auch die internationalen Kontakte von Vilar auf dem Programm, insbesondere seine Tourneen durch die USA und die UDSSR; seine Beziehungen zu Deutschland fanden jedoch bestenfalls am Rande Erwähnung.4 Dies erscheint auf den ersten Blick auch durchaus verständlich, da Vilar kaum Kontakte nach Deutschland unterhielt. Seine südfranzösische Heimatstadt Sète hatte der aus einfachen Verhältnissen stammende Vilar bereits mit 20 Jahren verlassen, um nach Paris zu gehen und dort Theater zu machen. Sein erster und wichtigster Lehrmeister war Charles Dullin, der wiederum zu den bekanntesten französischen Theatermachern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählt. 1947 gründete Vilar das Festival d’Avignon, das er bis zu seinem Tod 1971 leiten sollte; von 1951 bis 1963 war er zudem Direktor des im Palais de Chaillot in Paris beheimateten Théâtre National Populaire (TNP).

Vilar sprach kein Deutsch5 und obwohl er häufig mit seinen Theaterinszenierungen in Deutschland (wie in vielen anderen Ländern) gastierte, stand er seinen Nachbarn auf der anderen Seite des Rheins nach dem Zweiten Weltkrieg, wie aus seinen Tagebucheinträgen hervorgeht, deutlich distanziert gegenüber (vgl. Vilar 1981: 114). Umso erstaunlicher mutet an, dass Vilar nach 1945 begann, ausgerechnet Stücke von deutschen Dramatikern zu inszenieren, die bis zu diesem Zeitpunkt in Frankreich gänzlich unbekannt waren. So präsentierte er 1948 Dantons Tod von Georg Büchner, 1951 Der Prinz von Homburg von Heinrich von Kleist sowie Bertolt Brechts Mutter Courage, obwohl man deutschen Stücken damals prinzipiell kritisch gegenüberstand. Die wenigen Stücke von Brecht, die in den 1930er Jahren in Paris aufgeführt worden waren, hatten nur negative Reaktionen hervorgerufen; die Stücke der beiden deutschen Klassiker Büchner und Kleist waren zwar bereits übersetzt und auch einer (germanophonen oder zumindest germanophilen) Leserschaft bekannt, Interesse an einer Inszenierung hatte bis zu diesem Zeitpunkt jedoch noch kein französisches Theater gezeigt.

Aus diesem Grund überrascht es nicht, dass Vilars Inszenierung von Büchners Dantons Tod auf dem Festival d’Avignon (das damals noch als Semaine d’Art angekündigt wurde), nur knappe vier Jahre nach der Libération von vielen als regelrechte Provokation empfunden wurde – und zwar im doppelten Sinne: Musste zu einem so spezifisch nationalem Ereignis wie der Französischen Revolution die Interpretation eines ausländischen und dann auch noch ausgerechnet deutschen Autors herangezogen werden? Hinzu kam, dass Büchner in Frankreich, wie Jean Vilar in einem Brief an den Übersetzer Jean Paulhan bemerkte, »kaum bekannt« und bis zu diesem Zeitpunkt »übersehen, wenn nicht offen verachtet« worden war.6 Büchner dem französischen Publikum nahe zu bringen sei, so Vilar weiter, daher eine ebenso schwierige Aufgabe wie zwei Jahrhunderte zuvor noch die Inszenierung der Stücke Shakespeares (Vilar 4–JV 87,1). Als Grund seines Interesses für Dantons Tod nennt Jean Vilar im Programmheft vor allem die Komplexität und historische Genauigkeit, mit der Büchner in diesem Text als einem Dokumentartheaterstück avant la lettre das Thema behandelt (Vilar 1948: 30), aber auch dessen letztlich unentschiedene Haltung:

Es ist schwierig in ein paar Sätzen zusammenzufassen, welche Aufgabe man sich angesichts eines Stückes stellt, das man bewundert. Vielleicht gelingt es mir meine Schwierigkeiten verständlich zu machen, indem ich […] versichere: Die Zuschauer müssen begreifen, dass die Widersprüche, unter denen der Held des Stückes leidet, auch die ihren sind. (Vilar 1948: 30)

Vor allem die Kommunisten lehnten eine solch aporetische Sicht auf die Revolution ab und protestierten entsprechend heftig gegen die ungelösten Widersprüche auf der Bühne.

Die Ablehnung des Publikums gegenüber Büchner erscheint aus dieser Perspektive deutlich verständlicher als die unbedingte Bewunderung, die man Vilars Inszenierung von Kleists Prinzen von Homburg entgegenbrachte. Ohnehin mutet die Tatsache, dass Vilar nach dem Skandal, den er mit Büchners Danton ausgelöst hatte, 1951 nun auch noch den Prinzen von Homburg inszenierte, in vielfacher Hinsicht befremdlich an: So besitzt das von der französischen Presse als »patriotisch« bezeichnete Stück,7 wenngleich aus historisch verständlichen Gründen, deutlich frankophobe (oder zumindest anti-napoleonische) Züge (David 1969: 10); zudem galt Der Prinz von Homburg, der bereits im Kaiserreich als Lieblingsstück Wilhelm II. in eine nationalistische und militaristische Interpretation gedrängt worden war, infolge der hemmungslosen Instrumentalisierung durch die Nationalsozialisten zu Beginn der 1950er Jahre in Deutschland als quasi unspielbar.8

Das sah man in Frankreich erstaunlicher Weise anders: Die Reaktionen auf die Inszenierung in der Presse waren enthusiastisch und die Figur des preußischen Prinzen avancierte, dargestellt von dem bekannten und umschwärmten Schauspieler Gérard Philipe (an seiner Seite: die junge Jeanne Moreau), zu einem französischen Mythos.9 Diese erstaunliche Transferleistung war sicherlich nicht unerheblich der Tatsache zu verdanken, dass Vilar den Prinzen (ebenso wie Dantons Tod ) als romantisches Stück interpretierte, die militaristischen bzw. nationalistischen Aspekte abblendete und stattdessen die Bedeutung der Gefühle sowie die Traumstruktur des Stückes in den Mittelpunkt stellte. Auf diese Weise kam es, dass Vilar mit einem in Deutschland zum damaligen Zeitpunkt als NS-Stück verpönten deutschen Klassiker auf Tournee ging und der erste Prinz von Homburg, den das deutsche Publikum nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Bühne zu sehen bekam, französisch sprach. Der Theaterkritiker Christian E. Lewalter stellte in der Zeit entsprechend irritiert die Frage: »Mußte ein französischer Theatermann kommen, um den Deutschen Mut zu Kleist zu machen?«

Die paradoxe Wirkungsgeschichte der Inszenierung blieb merkwürdigerweise bis heute unentdeckt oder zumindest unkommentiert (vgl. Colin 2012). Wenngleich Vilars von deutscher wie französischer Seite kritisierte Romantisierung der Komplexität des Stückes sicherlich nicht gerecht wird (vgl. David 1969: 26), wirkte die französische Erstaufführung trotz oder vielleicht ja sogar wegen ihrer Fehlinterpretationen letztlich in mehrfacher Hinsicht befreiend für die Kleistrezeption – und zwar auf französischen und deutschen Bühnen. Kleist avancierte in der Folge zu einem der beliebtesten deutschsprachigen Theaterautoren in Frankreich überhaupt; zudem gab Vilars Interesse letztlich auch den Weg frei für die Entdeckung von zahlreichen anderen bis dahin unbekannten deutschsprachigen Dramatikern (vgl. Colin 2011). In Deutschland erlaubte Vilars ungewöhnlicher, womöglich sogar ›falscher‹ oder zumindest von starken Interferenzen geprägter Zugang den Regisseuren wiederum eine andere, bislang unbekannte Seite des vielschichtigen Werks Kleist’ zu entdecken.10 Der westdeutsche Theaterbetrieb nahm das Stück nach der französischen Erstaufführung (nicht ohne weitere Kommentare) wieder in sein Repertoire auf,11 in der DDR sollte es immerhin noch bis in die späten 1960er Jahre dauern, bis man sich wieder an den Prinzen von Homburg heranwagte.12 Darüber hinaus führte der lang anhaltende Erfolg der Inszenierung, die Vilar bis zum frühen Tod von Gérard Philipe im Jahr 1959 immer wieder in den Spielplan aufnahm, aber auch zu einer symbolischen Aufladung des Stückes selbst, das zum Referenzstück wurde und immer wieder bekannten Regisseuren dazu diente, ihr Können unter Beweis zu stellen (vgl. Colin 2012). Während in Deutschland der Referenzrahmen inzwischen verloren gegangen ist, erfüllt das Stück in Frankreich und insbesondere in Avignon diese Funktion bis heute: So wird der neue Leiter des Festival d’Avignon, Olivier Py, das Festival 2014 mit einer Inszenierung des Prinzen von Homburg eröffnen, um symbolträchtig – wie Py selber meinte, verstanden als ein »historisches Augenzwinkern« – die neue künstlerische Ära des Festivals einzuläuten (vgl. Py 2013).

Im Blick auf den Autor Heinrich von Kleist selbst erscheint der Fall Jean Vilar nicht zuletzt auch darum so interessant, weil die Transferleistungen beider Akteure, verstanden als nicht-intentionale oder sogar unfreiwillige Mittler, spiegelbildlich gegeneinander gesetzt und interpretiert werden können. Trotz ihrer durch die historischen Ereignisse bedingten deutlich negativen bzw. distanzierten Einstellung zum jeweiligen Nachbarland – wobei sich Kleist in seine Aversionen deutlich stärker hineinsteigert als Vilar (vgl. David 1969: 10) – wurden beide Künstler malgré eux zu wichtigen Akteuren des deutsch-französischen Kulturtransfers. Das Zusammenspiel zwischen Vilar und Kleist zeigt indes auch, dass die Nachhaltigkeit solcher Transferleistungen verschiedene Arten von Katalysatoren benötigt, die weit über den biografischen Hintergrund der Akteure hinausgeht.

Die konkreten Gründe für die kuriose Entscheidung Vilars, sechs Jahre nach dem Krieg dieses von den Nationalsozialisten instrumentalisierte Stück eines in Frankreich völlig unbekannten Autors zu inszenieren, sind nicht auszumachen; bekannt ist wohl, dass es Arthur Adamov war, der Vilar auf das Stück aufmerksam gemacht hatte (vgl. Colin 2012). Vilar äußerte sich selbst nur sehr vage zu der Frage, warum er ausgerechnet dieses Stück auswählte, die problematische deutsche Rezeptionsgeschichte war ihm ganz offensichtlich nicht bekannt. Auf einer Postkarte an Robert Voisin vermerkte Vilar, verärgert über einige Fehler in dem von Voisin in seinem Verlag L’Arche herausgegebenen Buch Georg Büchner dramaturge von Jean Duvignaud:

Ich war der erste, der in Frankreich einen Büchner inszeniert hat. Ich habe mich zu sehr dafür abgerackert! Ein ganzes Stück von Büchner. 1948 auf dem Festival d’Avignon. […] Ich war auch der erste, der nach der libération ein deutsches Stück aufgeführt hat. Das nenne ich Freiheit!13

Spurensuche

Die Freiheit, die sich Jean Vilar nahm, hatte weitreichende Folgen, die allerdings leicht übersehen werden können, da sie sein Leben und Werk selbst kaum berührten. Als Fallbeispiel verstanden, zeigt die Transfergeschichte Vilars, dass sich die methodische Annäherung an nicht-intentionale Mittler zumeist schwierig gestaltet. So bietet sich die in der Mittlerforschung zumeist verfolgte biografische Herangehensweise (vgl. Kwaschik 2011) hier nicht an, da es ganz offensichtlich keine eindeutige lebensgeschichtliche Einbettung der vermittelnden Funktion, die Vilar eine gewisse Zeitlang erfüllte, gegeben hat. Eine Untersuchung der in der Maison Jean Vilar in Avignon archivierten Korrespondenz der 1950er und frühen 60er Jahre brachte zwar hinsichtlich der Beziehungen Vilars zu Deutschland einige kuriose und bisher unbekannte Einzelheiten zu Tage, Meinungen Vilars über Deutschland sind jedoch überaus selten und Auskünfte über eine konkret gewünschte oder faktisch erfolgte Annäherung nicht auffindbar. Gleiches gilt auch für Vilars Memento, seinen Tagebuchaufzeichnungen aus den 1950er Jahren (November 1952 bis September 1955), in denen er an einigen wenigen Stellen Eindrücke von seinen Tourneen durch Deutschland aufnahm, die insgesamt jedoch sehr unspezifisch wirken. Um die Wechselwirkungen auszuloten, die durch Vilars Arbeit in Deutschland und Frankreich unbeabsichtigt hervorgerufen wurden, erscheint aus diesen Gründen stattdessen eine feldtheoretische Netzwerkanalyse sinnvoll, in welcher biografische Einzelheiten durchaus Berücksichtigung erfahren können, aber nicht im Vordergrund stehen bzw. eher als Negativfolie dienen. Um das Spannungsfeld der vilarschen Mittlertätigkeit auszuloten, muss innerhalb dieser Analyse eine Strategie der Spurensuche erarbeitet werden, deren Umsetzung im vorliegenden Beitrag anhand einiger Beispiele allerdings nur angedeutet werden kann. Dabei wird, soweit als möglich, versucht, die wichtigsten französischen und deutschen Akteure, die an Vilars kulturellen Transferleistungen beteiligt waren, in die Analyse einzubeziehen.

»… um dem deutschen Theater, für das Sie in Frankreich so viel getan haben, zu erlauben, Ihnen seine Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen«14

Grundlage für die beschriebenen Wechselwirkungen bildete zweifellos die Tatsache, dass sich nach fast zwölf Jahren Unterbrechung die Künstlernetzwerke wieder jenseits argwöhnischer kulturpolitischer Bespitzelung transnational ausdehnen konnten – zumindest was das westliche Europa anbelangte. In Richtung Osten blieb der Transfer über den Eisernen Vorhang hinweg noch lange Zeit schwierig und politisch aufgeladen. Jene neue »Freiheit« bzw. »Befreiung«, von der auch auf Vilars Postkarte die Rede ist, bringt eine quantitative und qualitative Veränderung des Austausches mit sich, die auf beiden Seiten des Rheins mit spürbarer Erleichterung aufgenommen wird und sich unter anderem auch in den an Vilar adressierten Briefen bekannter deutscher Theater- und Operndirektoren widerspiegelt, die sich an Vilar mit der Bitte um eine Gastinszenierung wenden.15 Einflüsse der politischen Großwetterlage auf den Briefverkehr lassen sich dabei nicht ausmachen. So steht beispielsweise die Tatsache, dass die Zahl der Anfragen zu Beginn des Jahres 1963 sprunghaft anstiegen, ganz offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages, sondern ist vielmehr auf Vilars Rücktritt als Direktor des TNP zurückzuführen.16 Vilar erreichten auch, wenngleich deutlich seltener, Einladungen aus der DDR, beispielsweise 1963 von Wolfgang Heinz, dem damaligen Intendanten der Volksbühne. Als zweifellos interessantestes Dokument in diesem Kontext ist eine Nachricht von Helene Weigel zu bezeichnen, die am 3. September 1963 über den Verleger Robert Voisin eine Bestätigung an Vilar über eine geplante Inszenierung von ihm am Berliner Ensemble im Oktober 1963 schickte – zu der es freilich niemals kommen sollte.

Zumeist blieben die Kontakte ebenso distanziert wie die Absagen höflich, nur in einigen Fällen, wie bei Harry Buckwitz oder Rolf Liebermann, entwickelte sich eine lose Beziehung, die über einige Zeit aufrecht gehalten wurde.17 Die Frage, warum Vilar letztlich auf keines der Angebote einging, ist nicht eindeutig zu klären. Vielleicht waren es schlicht die mangelnden Sprachkenntnisse, die ihn vor einer Arbeit an einem deutschen Theater abschreckten. Vielleicht erzeugten aber auch die politischen bzw. moralischen Ressentiments, die der französische Theatermacher gegenüber Deutschland hegte, trotz gewisser freundschaftlicher privater Kontakte zu einigen Regisseuren und Theaterintendanten, eine unüberwindbare Distanz. Über die emotionalen Wechselbäder, die Vilar – einerseits begeistert und geschmeichelt vom Zuspruch der deutschen Zuschauer, andererseits misstrauisch und abgestoßen von deren unmittelbarer NS-Vergangenheit – während seiner Tourneen in Deutschland erlebte, geben insbesondere seine Tagebucheintragungen vom Oktober 1954 Auskunft. Anzumerken ist hier, dass sich die Gastspiele an eine Tournee durch Polen anschlossen, wo die Theatertruppe unter anderem kurz vor ihrer Abfahrt die Gedenkstätte des Konzentrationslagers Auschwitz besuchte: »Morgen also Deutschland«, notierte Vilar danach geradezu lakonisch: »Am 23. Stuttgart. Am 24. München, dann Freiburg, Bad Godesberg (nach Auschwitz!), Köln.« (Vilar 1981: 172) Zwei Tage später bemerkte er dann:

Es gelingt mir nicht, mich während der Pressekonferenz eines gewissen aggressiven Gefühls meinen Zuhörern gegenüber zu entledigen, gegenüber denjenigen, die mir in zuweilen heiterem und immer herzlichem Ton Fragen stellen. Es dauert eine Zeit, bis ich merke, wie eingebildet und dumm meine Reaktion ist. Seit unserem Aufenthalt in Polen, seit dieser Besichtigung des verlassenen Warschauer Viertels, aber ganz besonders seit unserer Reise nach Auschwitz habe ich keine Lust mehr, mit ›ihnen‹ zu scherzen. Es nützt nichts, mir zu sagen, dass unter diesen deutschen Männern und Frauen, die mir Fragen stellen, einige ihrerseits leiblich und seelisch unter eben diesem Verbrechen gelitten haben, aber ich schaffe es nicht mich zu beherrschen. Ich sage mir, dass ich kein Recht habe ihnen so zu antworten, wie ich es tue, dass ich selbst nicht unter diesen Konzentrationslager-Bestialitäten gelitten habe, dass weder mein Bruder noch meine Schwester, weder Mutter noch Vater die Erniedrigungen auf dieser grauen und düsteren Erde dort erlitten haben […], dass ich sanfter sprechen sollte, aber nichts zu machen. Ich kürze das Gespräch ab. Und habe nur den einen Wunsch: nach Paris zurückzukehren. (Vilar 1981: 172f.)

Wenige Tage später ist der Ton indes wieder versöhnlich. Vilar erinnert sich an ein Gastspiel des Prinzen von Homburg in Köln, »ein oder zwei Jahre zuvor«, zu dem Bundespräsident Theodor Heuss gekommen war, mit dem er anschließend offenbar ein längeres informelles Gespräch in seiner Theaterloge geführt hatte:

Die Erinnerung an diesen alten pazifistischen Studenten mit seinem schelmischen Lächeln und seiner heiteren Miene befreit mich am Ende dieser deutsch-polnischen Tournee vollkommen von meinen hartnäckigen Ressentiments in München. (Vilar 1981: 174)18

Die Nachhaltigkeit von Transferleistungen

Die Tatsache, dass die kulturellen Transferleistungen Vilars als nicht-intentionalem Mittler nicht allein punktuelle Aufmerksamkeit erregten, sondern langfristig Wirkung entfalten konnten, ist einer ganzen Reihe von Entwicklungen im deutschen und französischen Theaterfeld der 1950er Jahre zu verdanken, die hier nur skizziert werden können. Dabei lassen sich in dem von Vilar aus zu konstruierenden Koordinatensystem insgesamt (mindestens) zwei entscheidende Perspektiven mit wiederum jeweils zwei Unterpunkten benennen:

  1. Die kulturpolitische Grundlage des Transfers, d.h. (1.1) die Entwicklung der französischen Theaterlandschaft im Kontext der Décentralisation culturelle sowie (1.2) der Gastspiele deutscher Theater in Paris auf dem Festival Théâtre des Nations.
  2. Die (persönlichen) Verflechtungen, die einerseits (2.1) die Verbindungen Robert Voisins, des Gründers und Leiters des Verlags L’Arche sowie der Theaterzeitschrift Théâtre Populaire, nach Deutschland betreffen, andererseits (2.2) die französische Brecht-Rezeption und ihre Akteure.

Im Folgenden soll versucht werden, diese vier Aspekte zu beschreiben, um ihre wechselseitigen Verflechtungen deutlich zu machen, wobei sich insofern der Kreis schließt, als nun auch der dritte deutsche Autor, von dem zu Beginn die Rede war, ins Spiel kommt: Bertolt Brecht.19

1. Die kulturpolitische Grundlage des Transfers

1.1 Die Entwicklung der französischen Theaterlandschaft im Kontext der Décentralisation culturelle

Jean Vilar kann als einer der künstlerischen Hauptakteure der frühen Décentralisation culturelle bezeichnet werden: 1947 gründete er mit Unterstützung von Jeanne Laurent, der damaligen Kulturbeauftragten im Bildungsministerium, das Festival d’Avignon, 1952 ernannte ihn Laurent dann zum Direktor des Théâtre National Populaire (TNP) in Paris. Die beiden Ereignisse bilden zwei wichtige Eckpfeiler für die sich anschließenden kulturpolitischen Entwicklungen, auf deren Grundlage einerseits Vilars Inszenierungen (im hier verhandelten Kontext erscheinen vor allem seine Büchner-, Kleist- und Brechtinszenierungen bedeutsam) ihre Wirkung entfalten konnten, sich andererseits aber auch die von ihm angestoßene Rezeption der deutschen Dramatik insgesamt weiter vertiefte und ausbreitete. So entstanden im Kontext der Décentralisation culturelle in den 1950er und 60er Jahren eine große Anzahl staatlich oder kommunal geförderter Theaterstrukturen (Centres dramatiques), an deren Spitze zumeist linke Theatermacher wie Jean Vilar saßen, die sich insbesondere für politische und gesellschaftskritische Theaterstücke interessierten, die im französischen Repertoire jedoch eine Mangelware darstellen. Aus diesem Grund griffen die französischen Theatermacher gerne auf deutsche Texte zurück, die aber nicht nur durch Vilar, sondern auch durch die deutschen Gastspiele auf dem Festival Théâtre des Nations (und hier insbesondere durch Brecht) sowie den Verleger Robert Voisin bekannt wurden.

1.2 Die Gastspiele deutscher Theater in Paris

Die Gastspiele deutscher Theater in Paris auf dem Festival Théâtre des Nations stellten eine Gelegenheit dar, Unbekanntes zu entdecken, wenngleich große Teile des französisches Publikums wenige Jahre nach der Besatzungszeit kein Interesse an den in deutscher Sprache aufgeführten Theaterstücke hatten. Trotz dieser verständlichen Ablehnung wurde hier 1954 das Berliner Ensemble entdeckt, dessen Theatermodell für die nächsten Jahrzehnte zum Leitbild des sich im Rahmen der Décentralisation culturelle entwickelnden französischen Theaterfeldes avancierte. Die Entdeckung Brechts wurde dabei auch und vor allem von Robert Voisin bzw. seiner Zeitschrift Théâtre Populaire sowie deren Redakteuren Roland Barthes und Bernard Dort vorangetrieben.

2. Persönliche Verbindungen

2.1 Robert Voisin und Deutschland

Robert Voisin, Gründer und Leiter des Verlags L’Arche sowie der Theaterzeitschrift Théâtre Populaire, war überzeugter Kommunist und trat (spätestens) mit der ersten Brecht-Inszenierung Vilars in ein enges Verhältnis zu ihm. Der Name seiner 1953 gegründeten Theaterzeitschrift Théâtre Populaire orientierte sich zunächst vor allem an der Arbeit von Vilar im Théâtre National Populaire. Maßgeblich zur Bedeutung der Zeitschrift trugen die beiden Redakteure Roland Barthes und Bernard Dort bei, die insbesondere großen Einfluss auf die Brechtrezeption nahmen. Darüber hinaus konnte Voisin Bertolt Brecht davon überzeugen, ihm die Übersetzung, Veröffentlichung und rechtliche Vertretung seines gesamten dramatischen Werkes anzuvertrauen. Auf diesem Weg kam Voisin zum einen mit Helene Weigel in Kontakt und lernte zum anderen Peter Suhrkamp (sowie später dann Siegfried Unseld) kennen – und mit diesen auch das deutsche Theaterverlagssystem, in dem (anders als in Frankreich üblich) der Verlag gleichzeitig als Agent für seine Autoren tätig und an den Tantiemen beteiligt ist. Voisin kopierte dieses Prinzip und übernahm zudem viele erfolgreiche deutschsprachige Autoren des Suhrkamp Verlages, die er in den folgenden Jahrzehnten in dem sich im Zuge der Décentralisation culturelle neu strukturierenden französischen Theaterfeld positionierte.

2.2 Die Brecht-Rezeption in Frankreich

Nach ersten vergeblichen Versuchen in den 1930er Jahren die Stücke Bertolt Brechts dem französischen Publikum näherzubringen – so erlebte u.a. der bekannte Theatermacher Gaston Baty mit seiner französischen Erstaufführung der Dreigroschenoper in den 1930er Jahren einen der größten Misserfolge seiner Karriere –. war Vilar tatsächlich einer der ersten französischen Regisseure, die nach dem Zweiten Weltkrieg Brecht inszenierten – allerdings interessierten ihn nur seine Stücke, Brechts Theorie des epischen Theaters lehnte er hingegen ab. Aus diesem Grund wurde er letztlich dann auch – obwohl er seine Mutter-Courage-Inszenierung im Verlauf der 1950er Jahre immer wieder spielte und 1960 gleich drei Brecht-Stücke in Paris und Avignon präsentierte20 – mehr und mehr an den Rand der französischen Brecht-Rezeption gedrängt. In deren Mittelpunkt standen nach dem ersten Gastspiel des Berliner Ensembles 1954 nun Roland Barthes und Bernard Dort, die, sehr zum Ärger Vilars, in Théâtre Populaire geradezu dogmatisch über die ›richtige‹ und ›falsche‹ Brecht-Interpretation entschieden.21 Das allgemeine Interesse an Brecht führte aber auch zu Konflikten zwischen Vilar und Voisin, da Letzterer als Agent von Brecht bisweilen gegen Vilars Interessen handelte, wenn er anderen Regisseuren Brecht-Stücke vermittelte.

Fazit

Der Versuch einer ›Entschlüsselung‹ des Falles Jean Vilar zeigt exemplarisch, welch bedeutsame Rolle die oft übersehenen nicht-intentionalen Mittler innerhalb der kulturellen Transfergeschichte einnehmen können; darüber hinaus erlaubt die Analyse aber auch methodische Einsichten in die Möglichkeiten sowie Schwierigkeiten und Grenzen einer zukünftigen, von einem erweiterten Mittlerbegriff ausgehenden Erforschung transnationaler Kulturfelder und der Dekodierung der zumeist sehr komplexen Hintergründe nachhaltiger Transferleistungen. Deutlich wurde nämlich auch, dass die lebensgeschichtlichen Kontakte von Vilar mit Deutschland in diesem Koordinatensystem eine nur sehr untergeordnete Rolle spielen und eine biografische Annäherung an seine Fallgeschichte daher schnell an ihre Grenzen stößt bzw. in Spekulationen mündet.

Wie gezeigt, gehört Vilar zu einer sehr speziellen Sorte von Mittlern, deren Werke letztlich nur in einem breit angelegten und aktiven Netzwerk von bestehenden kulturellen Beziehungen ihre Wirkung entfalten können (vgl. Colin/Umlauf 2013b). Es überrascht nicht, dass die nachhaltigen Einflüsse, die solche Mittler oft unbewusst oder sogar wider Willen auf die transkulturellen Kulturfelder nehmen, zumeist übersehen werden. Dies stellt aber die Mittlerforschung insofern vor weitreichende methodische Probleme, als sich Netzwerkanalysen (analog zur biografischen Mittlerforschung) üblicherweise auf eine spezifische Gruppe von Intellektuellen oder Experten richten, deren wichtigste Eigenschaft im Rahmen von Untersuchungen, die den deutsch-französischen Kulturtransfer betreffen, eben eine nachhaltige und in der Regel auch ›engagierte‹ Verbindung zum jeweiligen Nachbarland ist (vgl. Bock 2011: 202f.) Wie gezeigt, handelt es sich bei dem Netzwerk, das half, die Transferleistungen von Jean Vilar auf Dauer zu stellen, indes um eine mehrschichtige Verflechtung von Akteuren unterschiedlichster Provenienz, deren Ziele sich sehr heterogen gestalteten: Jeanne Laurent, Bertolt Brecht, Robert Voisin, Peter Suhrkamp, Roland Barthes und Bernard Dort, um nur die wichtigsten zu nennen, waren keine Deutschland- bzw. Frankreich-Experten und bildeten, selbst wenn sie sich untereinander teilweise sogar kannten, auch keine Form von Réseau (Sirinelli 1988, zit. n. Bock 2011: 204).

Die Analyse und Beurteilung von Transferleistungen solch nicht-intentionaler Mittler kann entsprechend nur auf der Grundlage des zum Teil sehr dicht gewobenen Beziehungsgeflechts der Sektoren (Literatur, Theater, Bildende Kunst, Wissenschaft etc.) erfolgen, was eine entsprechende Tiefenkenntnis des jeweiligen Bereichs erfordert – und zwar nicht allein transnational, sondern auch unabhängig für jedes Land. Wenngleich der hier angestellte Versuch, die sehr komplexen Hintergründe des vilarschen Mittlertums zu erhellen, eine erste, unvollständige Annäherung bleiben muss, ist in jedem Fall jedoch die nicht zu unterschätzende Bedeutung der von Vilar unbeabsichtigt initiierten Histoire croisée deutlich geworden, zu deren späten Früchten unter anderem die für 2014 geplante Inszenierung des Prinzen von Homburg von Georgio Barberio auf dem Festival in Avignon gezählt werden darf, dessen historische Dimension und Referenz sich paradoxerweise dem deutschen zeitgenössischen Betrachter in der Regel nicht erschließt.

Anmerkungen

1  | So werden Menschen, die zwischen zwei Kulturen stehen, insbesondere wenn sich dieser Umstand zufällig durch ihre Abstammung ergibt, in der Regel von der Außenwelt aufgrund ihrer ›Doppelidentität‹ argwöhnisch betrachtet – wenngleich diese ›marginalen‹ Existenzen letztlich, wie dies Everett Stonequist bereits in den 1930er Jahren feststellte, eines der wichtigsten Phänomene der Moderne darstellen (vgl. Stonequist 1937: XIVf.).

2  | Vgl. hierzu den Beitrag von Joachim Umlauf im vorliegenden Heft.

3  | Diese Auflistung versteht sich in diesem Sinne als erster Versuch einer Klassifizierung der Mittlertypen. Eine Erweiterung und weitere Ausdifferenzierung ist nicht nur möglich, sondern wünschenswert.

4  | Vgl. hierzu das Programm des Kolloquiums online unter: http://theatrestudies.hypotheses.org/87 [Stand: 15.11.2013].

5  | Vgl. Jean Vilar: Brief an Jean Paulhan vom 2. April 1948. In: Bibliothèque Nationale de France, département Maison Vilar, Avignon, Fonds Jean Vilar, 4–JV–70,13. Im Folgenden wird nach dieser Quelle unter Angabe der Inventar-Nr. zitiert.

6  | Diese und alle weiteren Übersetzung stammen, wenn nicht anders gekennzeichnet, von der Verfasserin.

7  | »Le Prince de Hombourg de Heinrich von Kleist […] est une pièce patriotique allemande. Ecrite pour réveiller le sentiment national contre l’oppression napoléonienne elle entraîne à la guerre de libération. […] Joué à l’intersection du rêve et du réel, de la vie et l’amour, de la lâcheté et du courage, de l’honneur individuel et de l’honneur d’une ›maison‹, c’est la pièce romantique par excellence.« (N.N. 1956.)

8  | Vgl.: »Der ›Homburg‹ galt seit 1945 als Wagnis, und keiner traute sich. Der Große Kurfürst, die Schlacht bei Fehrbellin und am Schluß der Aufbruch zum Endsieg – mußte das nicht Ärgernis geben?« (Lewalter 1953) Bereits 1951 mutmaßte die Zeit: »Es war, als schäme man sich der Unbedingtheit Kleists, die das spielerische Element im Bühnenspiel mit so unheimlicher Lebensspannung auffüllt und es wie Gewitter zur Entladung treibt. Ja, es war, als sei in diesem Manne, der den unbändigen Willen zur Selbstverwirklichung und die innigste Vertrautheit mit dem Tode hatte, bereits die Gestalt des ›heroischen Nihilisten‹ vorgezeichnet gewesen, die zwölf Jahre lang über dem deutschen Schicksal hing« (N.N. 1951).

9  | Es gab selbstverständlich Ausnahmen. So findet sich im Archiv Vilars der Brief eines französischen, in Thionville geborenen Zuschauers, Pierre Noël, der Vilar irritiert fragte, warum er ausgerechnet ein Stück »dieses ehrgeizeigen und fanatischen von Kleist« inszenieren musste, eines Autors, »der die Franzosen hasste und sie als ›Affen der Vernunft‹ bezeichnete«, »Paris für eine widerliche Stadt hielt […]« und der noch »mehrere andere frankophobe Bücher geschrieben hat« (Vilar 4–JV 114,8). In seiner Antwort ging Vilar nicht direkt auf diese Vorwürfe ein, sondern erläuterte vielmehr seine Interpretation des Stückes und rekurrierte auf die deutsche Kleist-Rezeption im 19. Jahrhundert: »Kleist war ein unglücklicher Mensch. In jeder Hinsicht. Und die Preußen selbst haben sich geweigert, sich in dem jungen Offizier wiederzuerkennen. Ich habe das Stück 1950 nicht ohne Befürchtungen ausgewählt. […] Ein großes romantisches Märchen, wie es nur die Deutschen erfinden können.« (Ebd.)

10  | »Die Deutschen hatten nach diesem Kriege viel von französischen Autoren und Theaterleuten zu lernen. Nun auch noch dieses: wie man Kleists Aktualität entdeckt. Vilars Homburg ist zwar unnachahmlich im Detail, aber in der Gesinnung exemplarisch.« (Lewalter 1953)

11  | »Nach sechsjähriger ›Schonfrist‹ haben mehrere große deutsche Bühnen für den kommenden Winter den ›Prinzen von Homburg‹ auf ihren Spielplan gesetzt.« (N.N. 1951)

12  | »So bleibt die Vermutung, das Theater der DDR habe noch immer Schwierigkeiten mit einem – zu Unrecht – als chauvinistisch verrufenen Spiel, das mit dem (in Ostberlin nach all der Schreierei ziemlich leise, chorisch gesprochenen) Ruf endet: ›In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!‹ Bis vor einigen Jahren das Leipziger Theater einen ersten Versuch der Wiedergutmachung an diesem Stück wagte, galt für die DDR das Zerrbild von Brechts bösem Sonett über Kleists Titelfigur, die als ›Ausbund von Kriegerstolz und Knechtsverstand‹ geschmäht wird.« (Michaelis 1975)

13  | »J’ai été le premier à monter en France, un BUCHNER. Je me suis trop crevé pour cela. Une pièce de Buchner [sic] en son entier. En 1948 au cours du Festival d’Avignon. […] J’ai été aussi le premier de jouer un allemand après la libération, c’est ce que j’appelle la Liberté!« (Vilar 4–JV 88,6)

14  | »Nous serions tout particulièrement honorés, si vous voulez bien nous faire le plaisir de votre visite à Munich, et permettre ainsi au théâtre allemand, pour lequel vous avez déjà tant fait en France, de vous exprimer sa reconnaissance.« Brief von Eckhart Stein (Dramaturg am Münchener Residenztheater) im Auftrag von Helmut Heinrichs 1961 (vgl. Vilar 4–JV 87,1).

15  | Bereits 1951 erhielt Vilar eine Anfrage von Harry Buckwitz, dem Generalintendanten der Städtischen Bühnen Frankfurt; Rolf Liebermann, damals Intendant der Hamburger Staatsoper, schlug Vilar am Ende der 1950er Jahre eine Gastinszenierung vor (ebd.); Albert Bessler sowie Boleslaw Barlog baten 1959 und 1962 Vilar um Inszenierungen am Schillertheater in Berlin (vgl. Vilar 4–JV 87,1).

16  | So erfolgten u.a. Einladungen von Erwin Piscator (Freie Volksbühne West-Berlin), Arno Assmann (Köln), Paul Esser (Schauspielhaus Hansa Berlin); Arno Wüstenhöfer (Lübeck/Wuppertal) und Grischa Barfuss (Wuppertal/Düsseldorf) baten um Termine; Gustav Rudolf Sellner (Deutsche Oper West-Berlin) bekundet im Mai 1963 seine Freude über das von Vilar angenommene Angebot einer Inszenierung, die dieser letztlich jedoch absagte (vgl. Vilar 4–JV 87,1).

17  | Antoine Golea, der Giraudoux’ L’intermezzo für den Theaterverlag Desch übersetzt hatte, fungierte als Mittler zwischen Vilar und Buckwitz. Aus seinem am 17. August 1951 an Vilar adressierten Brief geht hervor, dass Vilar offenbar zugesagt hatte, das Stück an den Kammerspielen in Frankfurt a.M. (geplante Premiere am 1. Februar 1952) uraufzuführen. Golea bat Vilar Harry Buckwitz eine definitive schriftliche Zusage zu schicken und bot sich selber gleichzeitig als Dolmetscher an. Vilar antwortete am 14. September 1951 mit einer Absage, danach scheint der Kontakt vorerst abgebrochen. Zwölf Jahre später, am 4. Juli 1963, meldete sich Buckwitz bei Vilar erneut, um sein Bedauern über das Ausscheiden Vilars am TNP zum Ausdruck zu bringen und anzufragen, ob Vilar in Frankfurt Ionescos Le roi se meurt inszenieren wolle. Am 22. Oktober schickte Buckwitz dann eine Einladung für den 14./15. Dezember 1963 zu einem persönlichen Gespräch nach Frankfurt a.M., die Vilar annahm; es folgen weitere Briefe, wobei aus der Bitte Buckwitz’ vom 3. Januar 1964 um ein neuen Termin allerdings hervorgeht, dass Vilar (aufgrund von Probeverpflichtungen in Mailand) nicht zu dem vorgesehenen Treffen gekommen war. Rolf Liebermann von der Hamburger Staatsoper bat 1959 um eine Inszenierung der Uraufführung der Werner Henze-Oper Der Prinz von Homburg (Premiere am 22. Mai 1960), Vilar lehnte ab, sagte aber 1963 für eine andere Inszenierung zu und akzeptierte auch das Angebot (12 000 DM Gage plus Kosten); zur Inszenierung ist es aber auch hier nicht gekommen (vgl. Vilar 4–JV 87,1).

18  | Interessanterweise wird in dieser Bemerkung Vilars indirekt die Mittlerrolle deutlich, die Theodor Heuss im Kontext der bundesdeutschen Versöhnungspolitik nach 1945 eingenommen hat, auf die hier freilich nicht näher eingegangen werden kann.

19  | Zu den genauen historischen Hintergründen und Belegen der folgenden Ausführungen vgl. Colin 2011: 199–282.

20  | Es handelte sich um die Wiederaufnahme von Mutter Courage auf dem Festival d’Avignon, eine Inszenierung von Der gute Mensch von Sezuan im Théâtre Récamier in Paris und die französische Erstaufführung von Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui am TNP (in Zusammenarbeit mit Georges Wilson).

21  | »Wiederaufnahme von Mutter Courage am 3. [Dezember 1954]. Jetzt protestiert niemand mehr gegen das Werk ›dieses Kommunisten‹. Dafür gehen mir die Brechtianer auf die Nerven. Diese sozialistischen Besserwisser sind leninistischer als Lenin.« (Vilar 1981: 175f.)

Literatur

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Gardner Feldman, Lily (2012): Germany’s Foreign Policy of Reconciliation: From Enmity to Amity. Lanham.

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Lewalter, Christian E. (1953): Keine Furcht vor Kleist. In: Die Zeit, Nr. 25.

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Dies. (2012): Einleitung Dossier »Mittlerstudien«, hg. von Katja Marmetschke. In: Lendemains, Nr. 146/147.

Michaelis, Rolf (1975): Kleist im vierten Gang. In: Die Zeit 22.

N.N. (1951): Heinrich v. Kleist und die Feinde Brandenburgs. In: Die Zeit 35.

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Stonequist, Everest (1937): The Marginal Man. New York.

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