Philologie der Weltliteratur

Erich Auerbach

Wiederabdruck nach: Erich Auerbach: Philologie der Weltliteratur. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Bern 1967, S. 301-310. © 1967 A. Francke Verlag Bern.

Nonnulla pars inventionis est nosse quid quaeras.

Augustin, Quaest. in Hept., Prooem.

Es ist Zeit sich zu fragen, welchen Sinn das Wort Weltliteratur, in Goethescher Weise auf das Gegenwärtige und das von der Zukunft zu Erwartende bezogen, noch haben kann. Unsere Erde, die die Welt der Weltliteratur ist, wird kleiner und verliert an Mannigfaltigkeit. Weltliteratur aber bezieht sich nicht einfach auf das Gemeinsame und Menschliche überhaupt, sondern auf dieses als wechselseitige Befruchtung des Mannigfaltigen. Die felix culpa des Auseinanderfallens der Menschheit in eine Fülle von Kulturen ist ihre Voraussetzung. Und was geschieht heute, was bereitet sich vor? Aus tausend Gründen, die jeder kennt, vereinheitlicht sich das Leben der Menschen auf dem ganzen Planeten. Der Überlagerungsprozeß, der ursprünglich von Europa ausging, wirkt weiter und untergräbt alle Sondertraditionen. Zwar ist überall der Nationalwille stärker und lauter als je, aber überall treibt er zu den gleichen, nämlich den modernen Lebensformen, und es ist für den unparteiischen Beobachter deutlich, daß die inneren Grundlagen des nationalen Daseins überall im Zerfallen sind. Die europäischen oder von Europäern gegründeten Kulturen, an langen fruchtbaren Verkehr miteinander gewöhnt und überdies durch das Bewußtsein ihrer Geltung und Zeitgemäßheit gestützt, bewahren noch am besten ihre Eigenständigkeit gegeneinander, obwohl auch hier der Ausgleichsprozeß weit rascher fortschreitet als früher. Über alles andere aber breitet sich die Standardisierung, sei es nach europäisch-amerikanischem, sei es nach russisch-bolschewistischem Muster; und so verschieden die beiden Muster auch sind, der Unterschied wird vergleichsweise gering, wenn man beide, in ihren gegenwärtigen Formen, mit den jeweiligen Substraten vergleicht, etwa den islamischen, oder den indischen, oder den chinesischen Traditionen. Sollte es der Menschheit gelingen, sich durch die Erschütterungen hindurchzuretten, die ein so gewaltiger, so reißend schneller und innerlich so schlecht vorbereiteter Konzentrationsprozeß mit sich bringt, so wird man sich an den Gedanken gewöhnen müssen, daß auf einer einheitlich organisierten Erde nur eine einzige literarische Kultur, ja selbst in vergleichsweise kurzer Zeit nur wenige literarische Sprachen, bald vielleicht nur eine, als lebend übrigbleiben. Und damit wäre der Gedanke der Weltliteratur zugleich verwirklicht und zerstört.

Diese Lage, wenn ich sie richtig sehe, ist in ihrer Zwangsläufigkeit und ihrer Bedingtheit durch Massenbewegungen sehr ungoethisch. Goethe wandte sich gern von solchen Gedanken ab; es kamen ihm zuweilen Gedanken, die sich ein wenig nach dieser Richtung bewegten; ein wenig nur, denn er konnte nicht ahnen, wie schnell und über alles Erwarten radikal sich das ihm Unerfreulichste der Verwirklichung nähern sollte. Wie kurz war die Epoche, der er angehörte und deren Ende die älteren von uns noch miterlebt haben! Etwa fünf Jahrhunderte ist es her, seit die europäischen Nationalliteraturen Vorrang vor dem Lateinischen und Selbstbewußtsein gewannen; kaum zwei, daß der geschichtlich-perspektivische Sinn erwachte, der es gestattete, einen Begriff wie den der Weltliteratur zu bilden. Zur Bildung des historisch-perspektivischen Sinnes und zu der philologischen Forschungstätigkeit, die aus ihm entsprang, hat Goethe selbst, der vor 120 Jahren starb, durch Tätigkeit und Anregung entscheidend beigetragen. Und schon sehen wir eine Welt entstehen, für die dieser Sinn nicht mehr viel praktische Bedeutung haben dürfte.

Die Epoche des Goetheschen Humanismus war kurz, aber sie hat viel gewirkt und viel begonnen, was immer noch fortgesetzt wird, ja sich immer weiter ausbreitet und verästelt. Was Goethe am Ende seines Lebens von den Literaturen der Welt, vergangenen und gegenwärtigen, zu Gebote stand, war viel im Verhältnis zu dem, was zur Zeit seiner Geburt davon bekannt war; es ist sehr wenig, verglichen mit unserem gegenwärtigen Besitz. Diesen Besitz verdanken wir dem Impuls, den der geschichtliche Humanismus jener Epoche gegeben hat; wobei es sich nicht nur um das Auffinden des Materials und das Ausbilden der Methoden zu seiner Erforschung handelt, sondern darüber hinaus um seine Durchdringung und seine Verwertung für eine innere Geschichte der Menschheit, für den Erwerb einer in ihrer Vielfalt einheitlichen Vorstellung vom Menschen. Das war, seit Vico und Herder, die eigentliche Absicht der Philologie; durch diese Absicht ist sie führend geworden. Sie zog die Geschichte der anderen Künste, die Religions-, Rechts- und politische Geschichte nach sich und verwob sich vielfach mit ihnen in gemeinsam erworbenen Ordnungsbegriffen und Zielsetzungen. Was dabei geleistet worden ist, sowohl an Forschung wie an Synthese, braucht man nicht zurückzurufen.

Kann, bei ganz veränderten Umständen und Aussichten, eine solche Tätigkeit mit Sinn fortgesetzt werden? Die bloße Tatsache, daß sie fortgesetzt wird, ja sogar sich immer noch ausdehnt, besagt nicht viel. Was einmal Gewohnheit und Einrichtung geworden ist, läuft noch lange weiter; zumal selbst diejenigen, die eine eingreifende Veränderung der allgemeinen Lebensvoraussetzungen bemerken und in ihrer ganzen Bedeutung erkennen, darum längst noch nicht bereit und oft auch gar nicht fähig sind, die praktischen Folgerungen aus ihrer Erkenntnis zu ziehen. Wohl aber kann man aus der leidenschaftlichen Neigung, die nach wie vor eine zwar geringe, aber durch Begabung und Originalität ausgezeichnete Anzahl junger Menschen zur philologisch-geistesgeschichtlichen Tätigkeit treibt, die Hoffnung schöpfen, daß ihr Instinkt sie nicht betrügt und daß diese Tätigkeit auch jetzt noch Sinn und Zukunft besitzt.

Die mit wissenschaftlichen Methoden betriebene Erforschung der Weltwirklichkeit erfüllt und beherrscht unser Leben; sie ist, wenn man so will, unser Mythos; denn einen anderen, der allgemeine Gültigkeit hätte, besitzen wir nicht. Innerhalb der Weltwirklichkeit ist die Geschichte dasjenige, was uns am unmittelbarsten trifft, am tiefsten ergreift und am eindringlichsten zum Bewußtsein unserer selbst bildet. Denn sie ist der einzige Gegenstand, in welchem die Menschen im Ganzen vor uns treten. Unter dem Gegenstand der Geschichte wird hier nicht nur das Vergangene verstanden, sondern das Fortschreitende der Ereignisse überhaupt, also mit Einschluß des jeweils Gegenwärtigen. Die innere Geschichte der letzten Jahrtausende, welche die Philologie als historische Disziplin behandelt, ist die Geschichte der zum Selbstausdruck gelangten Menschheit. Sie enthält die Dokumente des gewaltigen und abenteuerlichen Vorstoßes der Menschen zum Bewußtsein ihrer Lage und zur Aktualisierung der ihnen gegebenen Möglichkeiten; ein Vorstoß, dessen Ziel (auch in der gewiß ganz fragmentarischen Form, in der es sich jetzt darstellt) lange Zeit kaum zu ahnen war, und der doch, in den verschlungenen Windungen seines Verlaufs, wie nach einem Plan vor sich gegangen zu sein scheint. Es liegt darin aller Reichtum an Spannungen, deren unser Wesen fähig ist; es entwickelt sich darin ein Schauspiel, dessen Fülle und Tiefe alle Kräfte des Beschauers in Bewegung setzt und ihn zugleich befähigt, durch die Bereicherung, die er gewinnt, innerhalb des ihm Gegebenen Frieden zu finden. Der Verlust des Blickes auf dieses Schauspiel – welches, um zu erscheinen, vorgestellt und interpretiert werden muß – wäre eine Verarmung, für die nichts entschädigen könnte. Freilich würden ihn nur diejenigen empfinden, die ihn noch nicht ganz erlitten haben; aber diese Erwägung darf uns nicht hindern, alles zu tun, damit solch ein Verlust nicht eintritt. Wenn die Zukunftsgedanken, mit denen ich begann, einige Berechtigung besitzen, so ist die Aufgabe, das Material zu sammeln und zu einheitlicher Wirkung zu bringen, dringend. Denn gerade wir sind noch, wenigstens grundsätzlich, in der Lage, die Aufgabe zu erfüllen: nicht nur, weil wir über so viel Material verfügen, sondern vor allem, weil wir den historisch-perspektivistischen Sinn ererbt haben, der dazu erforderlich ist. Wir besitzen ihn noch, da wir noch mitten in der Erfahrung von geschichtlicher Mannigfaltigkeit leben, ohne die, wie ich fürchte, jener Sinn schnell an lebendiger Konkretheit verlieren könnte. Wir also, so scheint mir, leben in einem Kairos der verstehenden Geschichtsschreibung; ob viele Generationen ihm noch angehören werden, ist fraglich. Schon jetzt bedroht uns die Verarmung, die mit einer geschichtslosen Bildung verknüpft ist; sie existiert nicht nur, sondern sie macht schon jetzt Anspruch auf Herrschaft. Was wir sind, das wurden wir in unserer Geschichte, wir können nur in ihr es bleiben und entfalten; dies so zu zeigen, daß es eindringt und unvergeßbar wird, ist die Aufgabe der Weltphilologen unserer Zeit. Adalbert Stifter läßt im Nachsommer, gegen Ende des Kapitels »Die Annäherung«, eine seiner Personen folgenden Satz sprechen: »Es wäre des höchsten Wunsches würdig, wenn nach Abschluß des Menschlichen ein Geist die gesamte Kunst des menschlichen Geschlechtes von ihrem Entstehen bis zu ihrem Vergehen zusammenfassen und überschauen dürfte.« Stifter denkt hier nur an die bildende Kunst. Und ich glaube, daß vom Abschluß des Menschlichen jetzt nicht gesprochen werden kann. Aber ein Ort des Abschlusses und der Wendung, der zugleich Überschau gestattet wie nie zuvor, scheint erreicht zu sein.

Diese Vorstellung von der Weltliteratur und ihrer Philologie erscheint weniger aktiv, weniger praktisch und weniger politisch als die einstige. Von geistigem Austausch, von Veredlung der Sitte und von Völkerversöhnung ist nicht mehr die Rede. Diese Ziele haben sich teils nicht erreichen lassen, teils sind sie durch die Entwicklung schon überholt. Hervorragende Einzelpersonen und auch kleine Gruppen hoher Bildung haben den unter dem Zeichen jener Ziele organisierten Austausch von Bildungsgütern genossen, später und auch jetzt noch wurde und wird er in großem Maßstab betrieben. Allein auf Gesittung und Versöhnung im Ganzen hat diese Art von Annäherung wenig Wirkung; vor dem Sturm der Interessengegensätze und der dann einsetzenden Propaganda zerstäuben ihre Ergebnisse augenblicklich. Wirksam ist der Austausch, wo die politische Entwicklung ohnehin zu Annäherung und Gruppenbildung geführt hat: dann wirkt er innerhalb der Gruppe, beschleunigt die Angleichung oder Verständigung und dient so der gemeinsamen Absicht. Im übrigen aber ist, wie eingangs gesagt wurde, die Angleichung der Kulturen schon weiter gediehen, als es einem Humanisten Goethescher Prägung lieb sein könnte, ohne daß sich doch vernünftige Aussicht zeigte, die trotzdem bestehenden Gegensätze anders zu lösen als durch Machtprobe. Die hier vertretene Vorstellung von Weltliteratur als mannigfaltigem Hintergrund eines gemeinsamen Geschicks hofft nicht mehr etwas bewirken zu können, was doch geschieht, aber anders geschieht, als man es hoffte; sie nimmt die sich vollziehende Standardisierung der Erdkultur als unentrinnbar. Den im Endstadium einer fruchtbaren Mannigfaltigkeit begriffenen Völkern will sie das Bewußtsein ihres schicksalsvollen Zusammenwachsens präzisieren und erhalten, so daß es ihnen zum mythischen Besitz wird: um auf diese Art den Reichtum und die Tiefe der Geistesbewegungen während der letzten Jahrtausende in ihnen nicht verkümmern zu lassen. Welche Wirkung ein solches Bestreben auf lange Sicht ausüben kann, darüber läßt sich nicht einmal fruchtbar spekulieren; an uns ist es, die Möglichkeit der Wirkung zu schaffen, und so viel läßt sich jedenfalls sagen, daß für das Übergangszeitalter, in dem wir uns befinden, die Wirkung sehr bedeutend sein kann; sie mag auch wohl dazu beitragen, daß wir gefaßter aufnehmen, was uns geschieht, und unsere Gegner nicht allzu unverständig hassen, auch wenn es uns aufgegeben ist, sie zu bekämpfen. Auf diese Art ist unsere Vorstellung von der Weltliteratur und ihrer Philologie nicht minder menschlich und nicht minder humanistisch als die frühere; wie ja auch die Auffassung von Geschichte, die ihr zugrunde liegt, zwar nicht die gleiche ist wie die einstige, aber doch aus ihr erwachsen und ohne sie undenkbar.

Oben wurde gesagt, daß wir grundsätzlich dazu fähig sind, die Aufgabe einer Philologie der Weltliteratur zu erfüllen, da wir über unendliches Material verfügen, das ständig wächst, und da wir noch den geschichtlich-perspektivischen Sinn besitzen, den wir von dem Historismus der Goethezeit ererbt haben. So hoffnungsvoll es aber im ganzen aussieht, so groß sind die Schwierigkeiten im einzelnen und Praktischen. Damit die Aufgabe der Durchdringung und Gestaltung erfüllt wird, muß es wenigstens noch einige geben, die das Gesamte der Weltliteratur oder doch wenigstens große Teile derselben aus eigener Erfahrung und Forschung beherrschen. Das aber ist, wegen der Überfülle des Materials, der Methoden und der Anschauungsweisen beinahe unmöglich geworden. Wir besitzen Material aus sechs Jahrtausenden, aus allen Teilen der Erde, in vielleicht fünfzig Literatursprachen. Viele der Kulturen, von denen wir jetzt Kenntnis haben, waren vor hundert Jahren noch unentdeckt, von anderen kannte man nur einen Bruchteil der heute vorliegenden Zeugnisse. Selbst für die Epochen, mit denen man sich schon seit Jahrhunderten beschäftigt, ist so viel Neues gefunden worden, daß der Begriff von ihnen sich stark verändert hat und ganz neue Probleme aufgetaucht sind. Dazu kommt, daß man sich ja nicht mit der Literatur einer Kulturepoche allein befassen kann; es sind die Bedingungen zu studieren, unter denen sie sich entwickelt hat; es sind die religiösen, philosophischen, politischen, ökonomischen Verhältnisse, die bildende Kunst und etwa auch die Musik in Betracht zu ziehen, und es sind auf all diesen Gebieten die Ergebnisse der ständig tätigen Einzelforschung zu verfolgen. Die Fülle des Materials führt zu immer genauerer Spezialisierung; es ergeben sich Spezialmethoden, so daß auf jedem der Einzelgebiete, ja sogar für jede der vielen Auffassungsweisen eine Art Geheimsprache entsteht. Damit nicht genug. Von außen her, von nichtphilologischen Wissenschaften und Strömungen dringen Begriffe und Methoden in die Philologie ein: aus der Soziologie, der Psychologie, aus manchen philosophischen Strömungen und aus dem Bezirk der zeitgenössischen Literaturkritik. Das alles muß verarbeitet werden, wäre es auch nur, um gegebenen Falles die Wertlosigkeit einer vorgeschlagenen Methode für philologische Zwecke mit gutem Gewissen behaupten zu können. Wer sich nicht konsequent auf ein enges Spezialgebiet und auf die Begriffswelt eines kleinen Kreises von Fachgenossen beschränkt, der lebt in einem Getümmel von Ansprüchen und Eindrücken, denen gerecht zu werden nahezu unmöglich ist. Und doch wird es immer unbefriedigender, sich nur mit einem Spezialgebiet zu befassen; wer heute etwa ein Provenzalist sein will und nichts anderes beherrscht als die einschlägigen Teile der Linguistik, der Paläographie und der Zeitgeschichte, der ist kaum auch nur noch ein guter Provenzalist. Andererseits gibt es Spezialgebiete, die sich dermaßen verästelt haben, daß ihre Beherrschung eine Lebensaufgabe ist – etwa Dante, der freilich kaum als Spezialgebiet bezeichnet werden kann, denn die Beschäftigung mit ihm strahlt aus nach allen Seiten – oder der höfische Roman, mit seinen drei Problemgruppen höfische Liebe, keltische Stoffe und Gral: wie viele Menschen mag es geben, die das ganze Material auch nur dieses einen Gebietes, mit all seinen Verzweigungen und Forschungsrichtungen, sich angeeignet haben? Wie kann man, unter solchen Umständen, an eine wissenschaftlich-synthetische Philologie der Weltliteratur denken?

Noch gibt es einige Personen, die wenigstens für Europa eine beherrschende Übersicht über das gesamte Material besitzen; aber sie entstammen, soweit ich sie kenne, alle der Generation, die vor den Kriegen aufgewachsen ist. Es wird schwer sein, sie zu ersetzen; denn inzwischen ist die spätbürgerliche humanistische Kultur, deren Schule Griechisch, Latein und Bibelkenntnis inbegriff, fast überall zusammengebrochen; wenn ich aus meinen Erfahrungen in der Türkei Schlüsse ziehen darf, so vollzieht sich auch in den Ländern anderer Altkulturen Entsprechendes. Was also früher auf der Universität (oder, in den angelsächsischen Ländern, in den graduate studies) vorausgesetzt werden konnte, muß jetzt dort erst erworben werden und wird, so spät, oft nicht mehr ausreichend erworben. Außerdem hat sich auch innerhalb der Universitäten oder der graduate schools der Schwerpunkt verschoben: es wird sehr viel mehr moderne Literatur und modernste Kritik gelehrt, und von den älteren Epochen werden diejenigen bevorzugt, die, wie das Barock, kürzlich wiederentdeckt wurden und selbst im Bereich der modernen literarischen Schlagworte liegen. Zwar ist es die Gesinnung und Lage unserer Zeit, aus der wir das Ganze der Geschichte ergreifen müssen, wenn es für uns bedeutend werden soll; aber den Geist der eigenen Zeit besitzt ein begabter Student ohnehin, und er sollte, so scheint mir, keines akademischen Lehrers bedürfen, um sich Rilke oder Gide oder Yeats zu eigen zu machen. Aber er bedarf ihrer, um die Sprachformen und Lebensumstände der Antike, des Mittelalters, der Renaissance zu verstehen und um die Methoden und Hilfsmittel zu ihrer Erforschung kennenzulernen. Die Problemstellungen und Ordnungskategorien der zeitgenössischen Literaturkritik sind immer als Ausdruck des Zeitwillens bedeutsam, oft auch darüber hinaus geistvoll und erleuchtend. Aber nur wenige von ihnen sind für unmittelbare Verwendung im Geschichtlich-Philologischen, oder gar als Ersatz der überlieferten Begriffe brauchbar. Die meisten von ihnen sind allzu abstrakt und vieldeutig, oft auch auf eine allzu private Weise zugespitzt. Sie bestärken die Versuchung, der viele Anfänger, und nicht nur Anfänger, ohnehin allzu geneigt sind zu verfallen; die Versuchung, der Fülle des Materials durch hypostasierende Einführung abstrakter Ordnungsbegriffe Herr werden zu wollen, was zur Verwischung des Gegenstandes, zur Diskussion von Scheinproblemen, und schließlich ins bare Nichts führt.

Aber nicht diese Erscheinungen, so störend sie zuweilen sind, scheinen mir wirklich gefährlich, wenigstens nicht für die wirklich Begabten und der Sache Verpflichteten. Es finden sich schon einige, die es fertigbringen, an sich zu ziehen, was als allgemeine Voraussetzung für historisch-philologische Tätigkeit unentbehrlich ist, und die gegenüber den Modeströmungen das richtige Verhältnis von Aufgeschlossenheit und Unabhängigkeit finden. In vieler Hinsicht sind sie auch gegenüber ihresgleichen in früheren Jahrzehnten im Vorteil. Die Ereignisse der letzten vierzig Jahre haben den Gesichtskreis erweitert, die weltgeschichtlichen Ausblicke enthüllt und die konkrete Anschauung von der Struktur zwischenmenschlicher Vorgänge erneuert und bereichert. Das praktische Seminar in Weltgeschichte, an dem wir teilgenommen haben und noch teilnehmen, hat mehr Einsicht und Vorstellungskraft für geschichtliche Gegenstände ausgebildet als man früher besaß, so daß uns selbst manche hervorragenden Erzeugnisse der historischen Philologie aus der spätbürgerlichen Epoche ein wenig wirklichkeitsfremd und eng in der Problemstellung erscheinen. In diesem Sinne hat man es heute leichter.

Aber wie ist das Problem der Synthese zu lösen? Ein Leben scheint zu kurz, um auch nur die Vorbedingungen dafür zu schaffen. Organisierte Gruppenarbeit, für andere Zwecke von höchstem Nutzen, bietet hier keinen Ausweg. Die historische Synthese, an die wir denken, obwohl sie nur auf der Grundlage wissenschaftlicher Durchdringung des Materials ihren Sinn finden kann, ist ein Erzeugnis persönlicher Intuition, und also nur vom Einzelnen zu erwarten. Wo sie vollkommen gelänge, da wäre zugleich eine wissenschaftliche Leistung und ein Kunstwerk entstanden. Schon die Auffindung des Ansatzpunktes, von der wir noch sprechen wollen, ist Intuition; die Ausführung ist Gestaltung, sie muß einheitlich und suggestiv sein, wenn sie erzielen soll, was hier von ihr erwartet wird. Gewiß wird überall die eigentlich bedeutende Leistung der kombinatorischen Intuition verdankt; für die historische Synthese tritt hinzu, daß ihre höchsten Produkte, um ihre Wirkung zu erreichen, auch als Kunstwerke vor den Leser treten müssen. Der traditionelle Einwand, daß die literarische Kunst Freiheit besitzen muß, um ihr entsprechende Gegenstände zu gewinnen, also nicht an wissenschaftliche Treue gebunden sein darf, kann kaum noch erhoben werden; denn die geschichtlichen Gegenstände, wie sie sich heute darstellen, bieten der Einbildungskraft Freiheit genug in Auswahl, Problemstellung, Kombination und Formung. Ja, man kann sagen, daß die wissenschaftliche Treue eine gute Beschränkung ist: indem, bei so großer Versuchung, sich der Wirklichkeit zu entziehen, sei es durch triviale Glättung, sei es durch gespenstische Verzerrung, die wissenschaftliche Treue im Wirklichen das Wahrscheinliche bewahrt und verbürgt; denn das Wirkliche ist das Maß des Wahrscheinlichen. Überdies bewegen wir uns mit der Forderung einer synthetisch-inneren Geschichtsschreibung als Genos der literarischen Kunst innerhalb der europäischen Überlieferung; die antike Historiographie war ein literarisches Genos; und die in der deutschen Klassik und Romantik begründete philosophisch-historische Kritik strebte zu eigenem Kunstausdruck.

Wir sind also auf das Individuum zurückverwiesen: wie kann es zur Synthese gelangen? Jedenfalls nicht, so scheint mir, auf dem Wege des enzyklopädischen Sammelns. Ein weiter Horizont ist Vorbedingung, daran ist kein Zweifel, aber er sollte früh, absichtslos, nur gelenkt durch den Instinkt des persönlichen Interesses erworben werden. Doch die nach Vollständigkeit strebende Sammlung des Materials auf einem der Gebiete, wie sie gewöhnlich in großen Handbüchern behandelt werden (etwa die Behandlung einer Nationalliteratur, einer großen Epoche, eines literarischen Genos) kann, so zeigt es die Erfahrung der letzten Jahrzehnte, schwerlich noch zu synthetisch gestaltender Tätigkeit führen. Das liegt nicht nur an der Materialfülle, die ein einzelner kaum zu bewältigen vermag, so daß in solchem Falle oft Gruppenarbeit sich empfiehlt, sondern auch an der Struktur des Materials selbst. Die herkömmlichen chronologischen, geographischen oder artmäßigen Einteilungen, so unentbehrlich sie für die Bereitstellung des Stoffes sind, eignen sich nicht, oder nicht mehr, zu energisch-einheitlichem Vorgehen; die Felder, die sie zu decken haben, stimmen mit den Problemfeldern der Synthese nicht überein. Es ist mir sogar zweifelhaft geworden, ob Monographien über einzelne bedeutende Gestalten, von denen wir ja viele vorzügliche besitzen, sich noch für die Art von Synthese, die hier intendiert ist, als Ausgangspunkt eignen. Die einzelne Gestalt bietet zwar als fertig die konkrete Lebenseinheit, die als Gegenstandsmitte immer besser ist als alles Ausgedachte; aber sie bietet sie zugleich allzu unfaßbar und allzu belastet mit der ungeschichtlichen Ausweglosigkeit, in die das Individuelle schließlich mündet.

Unter den Werken historisch-synthetischer Literaturbetrachtung aus den letzten Jahren ist wohl das eindrucksvollste Ernst Robert Curtius’ Buch über Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter. Dies Buch, so scheint mir, verdankt sein Gelingen dem Umstand, daß es trotz des Titels nicht vom Umfassenden und Allgemeinen ausgeht, sondern von einem scharf gefaßten, ja beinah eng zu nennenden Einzelphänomen: dem Fortleben der rhetorischen Schultradition. Deshalb ist das Werk in seinen besten Teilen, so ungeheure Materialmassen es mobilisiert, nicht eine Anhäufung von vielem, sondern eine Ausstrahlung, die von wenigem ausgeht. Sein allgemeinster Gegenstand ist das Fortleben der Antike durch das lateinische Mittelalter hindurch und die Wirkung derselben in ihren mittelalterlichen Formen auf die neuere europäische Literatur. Mit einer so allgemeinen Absicht ist zunächst gar nichts anzufangen; der Bearbeiter, der noch nichts beabsichtigt als die Darstellung eines so weit gefaßten Gegenstandes, steht vor einer unübersehbaren Menge verschiedenartigen und kaum zu ordnenden Materials, dessen Sammlung nach mechanischen Gesichtspunkten (etwa nach dem Fortleben der einzelnen Schriftsteller, oder nach dem Fortleben des Ganzen nach der Reihenfolge der mittelalterlichen Jahrhunderte) schon durch den bloßen Umfang des zu Sammelnden die Gestaltung der Absicht verhindern würde. Erst durch die Auffindung eines zugleich fest umgrenzten, übersehbaren und zentralen Phänomens als Ansatz (nämlich der rhetorischen Überlieferung, und insbesondere der Topoi) wurde die Durchführung des Planes möglich. Ob in diesem Falle die Wahl des Ansatzes durchaus befriedigt, ob sie die beste ist, die man sich für eine solche Absicht vorstellen kann, steht hier nicht zur Erörterung; ja gerade derjenige, der etwa den Ansatz im Verhältnis zur Absicht unzureichend findet, muß um so mehr bewundern, welch eine Leistung trotzdem zustandegekommen ist. Sie ist dem methodischen Prinzip zu verdanken, welches lautet: für die Durchführung einer großen synthetischen Absicht ist zunächst ein Ansatz zu finden, eine Handhabe gleichsam, die es gestattet, den Gegenstand anzugreifen. Der Ansatz muß einen fest umschriebenen, gut überschaubaren Kreis von Phänomenen aussondern; und die Interpretation dieser Phänomene muß Strahlkraft besitzen, so daß sie einen weit größeren Bezirk als den des Ansatzes ordnet und mitinterpretiert.

Die Methode ist längst bekannt; die Stilforschung zum Beispiel bedient sich ihrer seit langem, um an bestimmten Merkmalen die Eigentümlichkeit eines Stiles zu beschreiben. Doch scheint es mir nötig, die Bedeutung der Methode ganz allgemein hervorzuheben, als der einzigen, die es uns zurzeit gestattet, bedeutende Vorgänge der inneren Geschichte auf weitem Hintergrund synthetisch und suggestiv vorzustellen. Sie ermöglicht das auch einem jüngeren Forscher, selbst einem Anfänger; ein vergleichsweise bescheidenes Überblickswissen, durch etwas Beratung unterstützt, kann genügen, sobald die Intuition einen glücklichen Ansatz gefunden hat. In der Ausarbeitung erweitert sich der Gesichtskreis auf zureichende und natürliche Weise, da die Auswahl des Heranzuziehenden durch den Ansatz gegeben ist; die Erweiterung ist so konkret, und ihre Bestandteile hängen so notwendig miteinander zusammen, daß das Erworbene nicht leicht wieder verlorengehen kann; und das dabei Geleistete besitzt, in seiner Querschnittanlage, Einheit und Universalität.

Es ist natürlich in der Praxis nicht immer so, daß zuerst eine allgemeine Absicht oder ein allgemeines Problem da ist, und dann dazu der konkrete Ansatz gefunden werden muß. Zuweilen geschieht es, daß man ein einzelnes Ansatzphänomen entdeckt, welches die Erkenntnis und Formulierung des allgemeinen Problems erst auslöst – was freilich nur geschehen kann, wenn die Bereitschaft für das Problem schon vorher bestand. Wesentlich ist die Einsicht, daß eine allgemeine Absicht synthetischen Charakters oder ein allgemeines Problem nicht ausreichen. Es ist vielmehr ein möglichst umgrenztes, konkretes, mit technisch-philologischen Hilfsmitteln beschreibbares Teilphänomen aufzufinden, von dem aus sich die Probleme gleichsam aufrollen und die Gestaltung der Absicht ausführbar wird. Zuweilen wird ein Ansatzphänomen nicht genügen, mehrere werden erforderlich sein; doch wenn das erste da ist, stellen sich die weiteren leichter ein; zumal sie von der Art sein müssen, daß sie nicht nur eines zum anderen hinzutreten, sondern in bezug auf die Absicht konvergieren. Es handelt sich also um Spezialisierung; aber nicht um Spezialisierung gemäß den überkommenen Einteilungen des Stoffes, sondern um eine jeweils dem Gegenstand angemessene, und daher immer wieder neu aufzufindende.

Die Ansätze können sehr verschieden sein; hier alle Möglichkeiten aufzuzählen, wäre undurchführbar. Die Eigentümlichkeit des guten Ansatzes liegt einerseits in seiner Konkretheit und Prägnanz, andererseits in seiner potentiellen Strahlkraft. Er mag vielleicht in einer Wortbedeutung bestehen, oder einer rhetorischen Form, oder einer syntaktischen Wendung, oder in der Interpretation eines Satzes, oder einer Reihe von Äußerungen, die irgendwo und irgendwann getan wurden: aber er muß ausstrahlen, so daß von ihm aus Weltgeschichte getrieben werden kann. Wer etwa über die Stellung des Schriftstellers im neunzehnten Jahrhundert, sei es in einem bestimmten Lande, sei es in ganz Europa arbeiten wollte, der wird, wenn er das gesamte Material zu sammeln sucht, vielleicht ein nützliches Nachschlagewerk hervorbringen, wofür man ihm dankbar sein soll, denn man kann es brauchen; aber eine synthetische Leistung, an die wir denken, ließe sich eher erzielen, wenn man von wenigen Äußerungen ausginge, die ganz bestimmte Schriftsteller über das Publikum gemacht haben. Ähnlich verhält es sich mit solchen Gegenständen wie dem Fortleben (la fortuna) von Dichtern. Umfassende Schriften über das Fortleben Dantes in den einzelnen Ländern, wie wir sie besitzen, sind gewiß unentbehrlich; aber vielleicht käme etwas Interessanteres heraus, wenn man (diese Anregung verdanke ich Erwin Panofsky) die Interpretation bestimmter einzelner Stellen der Komödie verfolgte, etwa von den ersten Kommentatoren bis ins 16. Jahrhundert – und dann wieder seit der Romantik. Das wäre eine exakte Art von Geistesgeschichte.

Ein guter Ansatz muß genau und gegenständlich sein; abstrakte Ordnungskategorien und Merkmalsbegriffe eignen sich nicht dafür; also weder das Barocke oder das Romantische, noch so etwas wie Dramatik oder Schicksalsgedanke oder Intensität oder Mythos; auch »Zeitbegriff« oder »Perspektivismus« sind gefährlich. Solche Worte können wohl in der Darstellung verwandt werden, wenn sich aus dem Zusammenhang ergibt, was gemeint ist; aber als Ansätze sind sie zu vieldeutig, um etwas Genaues und Festhaltbares zu bezeichnen. Der Ansatz soll nichts Allgemeines sein, was von außen an den Gegenstand herangetragen wird – er soll aus ihm herausgewachsen sein, ein Stück von ihm selbst. Die Dinge selbst sollen zur Sprache kommen; wenn schon der Ansatz nicht konkret und fest umgrenzt ist, so kann das nie gelingen. Ohnehin gehört viel Kunst dazu, auch bei dem besten Ansatz, um immer am Gegenstand selbst zu bleiben. Überall liegen fertig geprägte, aber selten genau zutreffende Begriffe auf der Lauer, zuweilen durch Klang und Modegeltung verführerisch, bereit einzuspringen, sobald den Schreibenden die Energie des Gegenständlichen verläßt. Dadurch wird zuweilen schon der Schreibende, sicher aber viele Leser, verführt, an Stelle der Sache ein naheliegendes Cliché zu verstehen – sind doch überhaupt allzu viele Leser zu solchen Substitutionen geneigt; man muß alles tun, um ihnen jede Möglichkeit des Entwischens aus dem Gemeinten abzuschneiden. Die Phänomene, die der synthetische Philologe behandelt, haben ihre Gegenständlichkeit in sich; diese darf in der Synthese nicht verlorengehen, und das zu erreichen ist schwer. Es ist zwar nicht die in sich selbst ruhende Freude am einzelnen, auf die hier gezielt wird, sondern das Ergriffenwerden von der Bewegung des Ganzen; diese aber kann nur dann rein gesehen werden, wenn die Glieder in ihrer Eigentlichkeit erfaßt sind.

Wir besitzen, soviel ich weiß, noch keine Versuche zu synthetischer Philologie der Weltliteratur, sondern nur einige Ansätze dieser Art innerhalb des abendländischen Kulturkreises. Aber je mehr die Erde zusammenwächst, um so mehr wird die synthetische und perspektivistische Tätigkeit sich erweitern müssen. Es ist eine große Aufgabe, die Menschen in ihrer eigenen Geschichte ihrer selbst bewußt zu machen; und doch sehr klein, schon ein Verzicht, wenn man daran denkt, daß wir nicht nur auf der Erde sind, sondern in der Welt, im Universum. Aber was frühere Epochen wagten, nämlich im Universum den Ort der Menschen zu bestimmen, das scheint nun ferne.

Jedenfalls aber ist unsere philologische Heimat die Erde; die Nation kann es nicht mehr sein. Gewiß ist noch immer das Kostbarste und Unentbehrlichste, was der Philologe ererbt, Sprache und Bildung seiner Nation; doch erst in der Trennung, in der Überwindung wird es wirksam. Wir müssen, unter veränderten Umständen, zurückkehren zu dem, was die vornationale mittelalterliche Bildung schon besaß: zu der Erkenntnis, daß der Geist nicht national ist. Paupertas und terra aliena: so oder ähnlich steht es bei Bernhard von Chartres, bei Johannes von Salisbury, bei Jean de Meun und vielen anderen. Magnum virtutis principium est, schreibt Hugo von St-Victor (Didascalicon III, 20), ut discat paulatim exercitatus animus visibilia haec et transitoria primum commutare, ut postmodum possit etiam derelinquere. Delicatus ille est adhuc cui patria dulcis est, fortis autem cui omne solum patria est, perfectus vero cui mundus totus exilium est … Hugo meinte das für den, dessen Ziel Loslösung von der Liebe zur Welt ist. Doch auch für einen, der die rechte Liebe zur Welt gewinnen will, ist es ein guter Weg.