Anmerkungen zu Erich Auerbachs Essay Philologie der Weltliteratur

Till Dembeck / Dieter Heimböckel

Erich Auerbachs Aufsatz zur Philologie der Weltliteratur ist in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Gegenstand der Diskussion gewesen – vornehmlich mit Blick auf »Weltliteratur«, weniger mit Blick auf »Philologie«. Einmütig ist diese Diskussion nicht verlaufen – und so ist dem Autor etwa vorgeworfen worden, sein Entwurf impliziere, trotz seiner erdumspannenden Rhetorik, eine eurozentrische Perspektive auf Literatur und sei in diesem Sinne gerade nicht weltoffen. Wenn man sich für Interkulturalität interessiert, ist diese Einschränkung selbstredend empfindlich. Dennoch kann eine Relektüre des Textes vielleicht dazu beitragen, den Blick auf die aktuelle Situation der interkulturell orientierten Literatur- und Kulturwissenschaften zu schärfen – und zwar gerade dann, wenn man sich dem philologischen Problem zuwendet, das Auerbach umtreibt.

Man mag zu Auerbachs angesichts der sich verfestigenden Frontstellung des Kalten Krieges geäußerten Befürchtung, die Welt steuere auf eine massive kulturelle Vereinheitlichung, sprich: Verarmung, zu, stehen, wie man will. Die Tatsache, dass Auerbach der Philologie die Aufgabe zuspricht, demgegenüber kulturellen Reichtum zu bewahren, darf man durchaus als Ermutigung empfinden. Wichtiger noch sind aber die Probleme, denen sich eine Philologie der Weltliteratur – und, damit: jede Form der interkulturellen Literatur- und Kulturwissenschaft – in Auerbachs Augen zu stellen hat. Sie liegen zum einen in der schieren Masse der Quellen und darin, dass man ihnen eine Ordnung auf Anhieb nicht ansehen kann; zum anderen aber in der multiplen sprachlichen und kulturellen Kompetenz, die man braucht, um mit diesen Quellen sachgerecht umzugehen.

Seit Auerbach hat sich unser Blick auf diese Probleme verändert. Für beide Problembereiche wurde nicht zuletzt die Anwendung digitaler Methoden, also algorithmisch organisierter Textauswertung, als Lösungsansatz ins Spiel gebracht: Computer können nicht nur schneller und mehr lesen als Menschen, sondern sie sind vielleicht auch weniger voreingenommen und eingeschränkt in ihren kulturellen Horizonten. Fragen kann man sich allerdings, inwiefern Berechenbarkeit und Kultur überhaupt zusammenzubringen sind: Kann man Kultur, verstanden als Kompetenz, digitalisieren?

Mindestens solange man geneigt ist, diese Frage mit einem Nein zu beantworten, bleibt Auerbachs Vorschlag dazu, wie man sich durch das Gewirr kulturell und sprachlich vielfältiger Materialfülle arbeiten könne, eine bedenkenswerte Option, so prekär sie in wissenschaftstheoretischer Hinsicht auch wirken mag. Das Wechselspiel zwischen dem Suchen und Finden von ›Ansatzpunkten‹ einerseits und der Nachverfolgung der Richtungen andererseits, in welche die Lektüre, von ihnen ausgehend, ›ausstrahlt‹, ist ein zentrales Moment der philologischen Bearbeitung von Interkulturalität.

Umgekehrt kann man sich aber auch fragen, ob Auerbachs Entwurf nicht doch zu weit ausgreift: Kann man es heutigentags noch wagen, die Philologie räumlich so groß zu denken, wie es Auerbach tut, wenn er die Erde als »unsere philologische Heimat« sieht, da es die Nation nicht mehr sein könne? Sicherlich hat seine eigene Exilerfahrung bei ihm zu einer nicht unwesentlichen philologischen Perspektivverschiebung beigetragen, die noch Edward Said unter anderem dazu veranlasste, sich so intensiv mit Auerbach auseinanderzusetzen, dass er Philologie der Weltliteratur ins Englische übersetzte (vgl. Lindenberger 2007: 360). Nach Maßgabe aber der Zukunftsvision einer sich globalisierenden Welt, die der Essay auch entwickelt, ist die Universalisiering der Philologie eben nur der konsequente Schritt in Richtung einer Transgression nationalphilologischer Positionen.

Dabei kann es prinzipiell nicht darum gehen, den Blick von den kulturellen Archiven und ihren je spezifischen Genesen gänzlich abzuwenden und, für die Literaturwissenschaft gesprochen, alle möglichen amerikanischen, chinesischen, deutschen, südafrikanischen usw. Werke ausschließlich als literarische Belege allgemeiner Prinzipien von Wortkunst, Poetizität, Textualität und Intertextualität zu verstehen (vgl. Fohrmann 2013: 10). Das wäre eine Verengung, an der gerade einer interkulturell ausgerichteten Germanistik nicht gelegen sein kann. Angesichts aber der von Auerbach eingebrachten Erkenntnis, dass »der Geist nicht national« sei, würde gerade die Vernachlässigung der in seinem Hauptwerk Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur so wirkungsmächtig ins Spiel gebrachten komparativen Perspektive das in der interkulturellen Literaturwissenschaft liegende Potential kreuzender Blicke in seiner Entfaltung beschneiden. Auerbachs Werk dagegen liefert zahlreiche Ansatzpunkte, um dieses Potential stärker, als dies bislang geschehen ist, zu aktivieren.

Literatur

Lindenberger, Helmut (2007): Aneignungen von Auerbach: Von Saïd zum Postkolonialismus. In: Karlheinz Barck / Martin Treml (Hg.): Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen. Berlin, S. 357-370.

Fohrmann, Jürgen (2013): Weltgesellschaft und Nationalliteratur (am Beispiel der Germanistik). In: Internationales Colloquium »Nach der Theorie, jenseits von Bologna, am Ende der Exzellenz? Perspektiven der Germanistik im 21. Jahrhundert« (Schloss Herrenhausen, Hannover, 4.-6. April 2013). Online-Publikation der Diskussionen und Ergebnisse; online unter: http://www.perspektiven-der-germanistik.de/files/Vortrag_Juergen_Fohrmann.pdf [Stand: 1.9.2018].