Austerlitz im Wartesaal

Gunther Pakendorf

Abstract

The condition of exile and homelessness is one of the recurrent features of W.G. Sebald’s work. This can be seen paradigmatically in the lives narrated in Die Ausgewanderten (The Emigrants). Sebald portrays the history of the West repeatedly as a gradual and relentless decline through various catastrophes towards ultimate destruction. A persuasive metaphor for this perceived human condition of uprootedness and instability is the situation of people in transit in waiting rooms in airports and railway stations. This is best exemplified by the eponymous main character in Sebald’s last novel, Austerlitz, a work in which stations and waiting rooms in Brussels, London, Paris, Prague and other cities are a recurring locus. They are linked symbolically through a network of inter- and intratextual references and associations to Sebald’s major thematic concerns: the Holocaust, the destruction of the natural world and, ultimately, the end of all time.

Title:

Austerlitz in the Waiting-Room

Keywords:

Sebald, W.G. (1944-2001); exile; dislocation; transitory space; railway waiting room

»Sie wissen ja selbst, was es auf sich hat mit solchen flüchtigen Bekanntschaften in den Bahnhöfen, in den Warteräumen der Konsulate, auf der Visa-Abteilung der Präfektur. Wie flüchtig ist das Geraschel von ein paar Worten, wie Geldscheine, die man in Eile wechselt. Nur manchmal trifft einen ein einzelner Ausruf, ein Wort, was weiß ich, ein Gesicht. Das geht einem durch und durch, rasch und flüchtig. Man blickt auf, man horcht hin, schon ist man in etwas verwickelt.«

Anna Seghers

»so leben wir und nehmen immer Abschied«

Rainer Maria Rilke

1. Einleitung

Jede Ausfahrt wird von der Voraussicht auf eine Ankunft bestimmt; der Abschied trägt immer die Absicht nach der Rückkehr in sich. So wusste das Volk der Israeliten, dass es nach langem Herumziehen endlich das Land erreichen wird, das ihm das göttliche Versprechen gelobt hat. Und nach zehn Jahren Wanderschaft wird auch Odysseus mit seiner treuen Penelope wieder vereinigt werden, das weiß er, und wir wissen es auch. Aus dieser grundlegenden Dualität hat Goethe das ewige Gesetz des Lebens abgeleitet: »Das Geeinte zu entzweien, das Entzweite zu einigen, ist das Leben der Natur; dies ist die ewige Systole und Diastole, die ewige Synkrisis und Diakrisis, das Ein- und Ausatmen der Welt, in der wir leben, weben und sind.« (Goethe 1981c: 488) Auch die vielen Verbannten, Verstoßenen und Verjagten der Weltgeschichte und zumal des 20. Jahrhunderts können sich mit der Hoffnung auf ein endgültiges Telos vertrösten, das der Ausbürgerung durch Rettung und Rückkehr Sinn und Ziel verleiht. So kann Anna Seghers zum Beispiel ihr Leben, in dem das Exil eine fundamentale Rolle spielt, in den größeren Zusammenhang des epochalen Umbruchs seit der Oktoberrevolution stellen, einer »Zeit des Übergangs von der alten kapitalistischen Gesellschaftsordnung« – so Klaus Sauer (1978: 27) –, und kategorial behaupten: »Mein Leben ist das Leben in einer Übergangsperiode.« (Seghers zit. n. ebd.: 26)

Im Gegensatz zur Abschluss und Ordnung versprechenden glücklichen Heimkehr über kurz oder lang aber steht seit eh und je das umgekehrte Bild des rastlos Umhergetriebenen, des Unbehausten ohne Zweck und Ruh’, lange vor Faust (vgl. Goethe 1981a: 107, 3347-3359) emblematisch verkörpert von Ahasver, dem ewigen Juden.

Spätestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wird dieses Bild des ruhelosen Menschen zum Topos der romantischen Heimatlosigkeit, Ahasver verwandelt sich in Peter Schlemihl oder den Fliegenden Holländer und wird so zum prototypischen Sinnbild jener »transzendentalen Obdachlosigkeit« des modernen Menschen an sich, die nach Lukács im bürgerlichen Roman gestaltet wird (Lukács 1965: 59). Dieser Zustand determiniert letztlich auch das gesamte Prosawerk Kafkas, dessen Figuren von einer existenziellen Unbestimmtheit geprägt sind und zwischen Schuld und Unschuld, Wissen und Verwirrung, ja zwischen menschlicher und tierischer Gestalt schwanken oder lebendig tot sind, wie der Jäger Gracchus, der nur in seinen Bergen leben wollte und der nach seinem Tod alle Meere befährt, immer in Bewegung, auf seinem alten, in irgendeinem irdischen Gewässer steckenden Kahn: »Ich bin hier, mehr weiß ich nicht, mehr kann ich nicht tun. Mein Kahn ist ohne Steuer, er fährt mit dem Wind, der in den untersten Regionen des Todes bläst.« (Kafka 1970: 288)

2. Ausgewanderte im transitorischen Zustand

Auf das Lebensgefühl und die Erfahrungen unzähliger Vertriebener und Exilierter im Zeitalter der displaced persons spielt das Erzählwerk W.G. Sebalds immer wieder an. Paradigmatisch dafür sind die zuerst 1992 mit dem Untertitel Vier lange Erzählungen erschienenen Ausgewanderten (vgl. Sebald 2003a), die, zumal in der englischen Übersetzung als The Emigrants (allerdings ohne den Untertitel; vgl. Sebald 2002), ab 1996 Sebalds internationalen Ruhm begründeten. Erst durch die Übersetzung wird dem deutschen Leser die vielschichtige Bedeutung des Titels ganz klar. Zwar hat Irene Heidelberger-Leonard mit ihrer Beobachtung durchaus Recht, dass mit der von Sebald gewählten grammatischen Konstruktion des substantivierten Verbs im Partizip Perfekt, das die Vergangenheit wie auch potentiell das Passiv impliziert, im Gegensatz zu der eher geläufigen Form ›Auswanderer‹, Zwang suggeriert und dass einem die so bezeichnete Emigration gegen den eigenen Willen auferlegt wird (vgl. Heidelberger-Leonard 2001: 127). Der Titel enthält aber auch eine versteckte Anspielung auf Goethes 1795 veröffentlichte Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, eine Sammlung novellistischer Erzählungen und Gespräche, die durch die Rahmensituation, in der sich die Figuren befinden, zusammengehalten wird. Es handelt sich bekanntlich um deutsche Adlige, die vor den Mächten des revolutionären Frankreich geflohen sind:

In jenen unglücklichen Tagen, welche für Deutschland, für Europa, ja für die übrige Welt die traurigsten Folgen hatten, als das Heer der Franken durch eine übelverwahrte Lücke in unser Vaterland einbrach, verließ eine edle Familie ihre Besitzungen in jenen Gegenden und entfloh über den Rhein, um den Bedrängnissen zu entgehen, womit alle ausgezeichneten Personen bedrohet waren [...]. (Goethe 1981b: 124)

Wie die Ausgangssituation erinnert auch die Erzählstruktur an romanische Novellenzyklen, mit denen sich Goethe in dieser Zeit beschäftigt (siehe Trunz 1981b: bes. S. 616f.). Der Vergleich mit Boccaccios Dekameron, obwohl dies Werk nicht ausdrücklich als Vorlage genannt wird, liegt nahe. Denn hier geht es um eine Gruppe von Edelleuten, die, wie bekannt, vor der erschreckenden Pestepidemie um die Mitte des 14. Jahrhunderts aufs Land geflohen sind, wo sie sich nun zum Zeitvertreib gegenseitig Geschichten erzählen.

Goethes Erwähnung der »unglücklichen Tage«, die für Europa und die Welt die »traurigsten Folgen« hatten, lässt sich durchaus als impliziter intertextueller Hinweis auf »die scheußliche Pest« lesen, welche »die blühendste Stadt Italiens, Florenz, heimsuchte« und an die »man ja nur mit Grausen denken kann«, wie Boccaccio es in seiner Einführung des ersten Tages des Dekameron formuliert (Boccaccio o.J.: 10f.). So gesehen wird eine Analogie zwischen der Französischen Revolution und den durch sie verursachten »Bedrängnissen« einerseits und der Pest im späten Mittelalter andererseits hergestellt und überdies impliziert, dass es sich in beiden Fällen zwar um eine unzählige unschuldige Opfer fordernde Katastrophe ungeheuren Ausmaßes handelt, die zudem außerhalb jeder menschlichen Kontrolle steht, aber doch über kurz oder lang vorübergehen wird. Der Aufenthalt in der geborgenen Zone jenseits der »Bedrängnisse« wird also hier wie dort als im Wortsinn transitorisch verstanden.

Führt man die Analogie weiter, so würde es bedeuten, dass Sebald seinerseits mit den Ausgewanderten sagen will, dass die vier Figuren, deren Geschichten hier erzählt werden, Flüchtlinge sind, die durch eine weltgeschichtliche Katastrophe in der Größenordnung der Pest oder der Französischen Revolution gezwungen worden sind, die Ruhe ihres gewohnten Lebens aufzugeben und ein unsicheres Dasein in einem fremden Land zu beginnen. Bei Sebald ist jedoch der Bruch so radikal, dass eine Rückkehr in die frühere Heimat und die Normalität eines ehemaligen Lebens ausgeschlossen ist. Die daraus resultierende Haltung von Ratlosigkeit und Melancholie der Sebald’schen Figuren hat der Schriftsteller J.M. Coetzee wie folgt kommentiert:

What is the basis of their melancholy? Again and again Sebald suggests they are labouring under the burden of Europe’s recent history, a history in which the Holocaust looms large. Internally they are racked by conflict between a self-protective urge to block off a painful past and a blind groping for something, they know not what, that has been lost. (Coetzee 2007: 146)

Kurz vor ihrem Tod stellt Austerlitz’ Pflegemutter Gwendolyn Elias denn auch die Frage, die wie ein roter Faden durch fast alle Werke Sebalds geht: »What was it that so darkened our world?« (Sebald 2001: 93) Was ist es, was unsere Welt verdunkelt und einen so großen Riss im Leben der Menschen verursacht hat, dass er nicht mehr zu heilen ist?

Sebald scheint unsere europäische Geschichte als stetigen Niedergang und Entwicklung durch unzählige Katastrophen bis hin zum Untergang aufzufassen. Seine Prosa enthält viele Geschichten und Bilder, die von kommendem Unheil und der Zerstörung der Umwelt erzählen. Schon der Titel seiner ersten literarischen Veröffentlichung, Nach der Natur, spricht mit einem klugen Wortspiel von einer Welt jenseits unserer vertrauten Geschichte. Für diesen geschichtlichen Prozess ist das in den Ringen des Saturn beschriebene Schicksal der englischen Küstenstadt Dunwich ein anschauliches Beispiel:

Das heutige Dunwich ist der letzte Überrest einer im Mittelalter zu den bedeutendsten Hafenplätzen Europas zählenden Stadt. Mehr als fünfzig Kirchen, Klöster und Spitäler hat es hier einmal gegeben, Werften und Befestigungsanlagen, eine Fischerei- und Handelsflotte mit achtzig Fahrzeugen und Dutzende von Windmühlen. All das ist untergegangen und liegt, über zwei, drei Quadratmeilen verstreut, unter Schwemmsand und Schotter draußen auf dem Boden des Meers. Die Pfarrkirchen zu den Heiligen James, Leonard, Martin, Bartholomew, Michael, Patrick, Mary, John, Peter, Nicholas und Felix sind, eine um die andere, über die stets weiter zurückweichende Klippe hinuntergestürzt und nach und nach in der Tiefe versunken mitsamt dem Erdreich und dem Gestein, auf dem die Stadt einst erbaut worden war. (Sebald 2003b: 187f.)

Und wenn der Erzähler in den Ringen des Saturn einen Spaziergang zur ehemaligen militärischen Forschungsanstalt Orfordness unternimmt, kommt es ihm vor, als ginge er durch ein unentdecktes Land (vgl. ebd.: 279); was er sieht, ist »nichts als Zerstörung« (ebd.: 281), das desolate Bild einer postapokalyptischen Landschaft, und

[ich] wähnte mich unter den Überresten unserer eigenen, in einer zukünftigen Katastrophe zugrundegegangenen Zivilisation. Wie einem nachgeborenen Fremden, der ohne jedes Wissen von der Natur unserer Gesellschaft herumgeht zwischen den Bergen von Metall- und Maschinenschrott, die wir hinterlassen haben, war es auch mir ein Rätsel, was für Wesen hier einstmals gelebt und gearbeitet hatten und wozu die primitiven Anlagen im Innern der Bunker, die Eisenschienen unter den Decken, die Haken an den zum Teil noch gekachelten Wänden, die tellergroßen Brausen, die Rampen und Sickergruben gedient haben mochten. (Ebd.: 282f.)

Bei genauem Lesen erkennt man in dieser Passage, wie so oft bei Sebald (siehe dazu auch Pakendorf 2008), versteckte Hinweise und Anspielungen auf die Folterkammern und Vernichtungslager der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft in Deutschland und Europa. Denn im scheinbar unaufhaltsamen Abstieg und Niedergang der europäischen Zivilisation, wie Sebald den Ablauf der Geschichte versteht, ist Auschwitz die letzte Katastrophe, und wir Zeitgenossen sind verbannt aus unserer Vergangenheit und ihrer Humanität und Überlebende im Schlusskapitel der Menschheitsgeschichte. In diesem Sinn ist jede Figur in Sebalds Werk ein Verstoßener, eine displaced person, und alle teilen das Los des wandernden Juden oder von Kafkas Jäger Gracchus: das Leben im permanenten Transitraum der Geschichte.

3. Der Wartesaal

Anfang der 1990er Jahre hat Hans Magnus Enzensberger in seinem Plädoyer für eine menschliche und vernünftige Einwanderungs- und Integrationspolitik in Deutschland das Bild von Reisenden in einem Eisenbahnabteil als Modell für menschliches Verhalten Einwanderern gegenüber entworfen: »Das Eisenbahnabteil ist ein transitorischer Aufenthalt, ein Ort, der nur dem Ortswechsel dient. Die Fluktuation ist seine Bestimmung. Der Passagier ist die Negation des Seßhaften. Er hat ein reales Territorium gegen ein virtuelles eingetauscht.« (Enzensberger 1994: 13) Ähnlich, aber mit viel größerer Emphase wird bei W.G. Sebald die Wartehalle im Bahnhof zum Inbegriff der menschlichen Situation und einer symbolischen Topografie der Welt. Schon auf den ersten Seiten in der Eröffnungsszene von Austerlitz, Sebalds letztem vor seinem Tod veröffentlichtem Prosawerk, begegnen dem Leser zwei Reisende in der Wartehalle des Antwerpener Hauptbahnhofs. Dieser Abschnitt1 verdient eine genauere Analyse.

Der Text ist von den ersten Sätzen an auf der symbolischen Sprachebene so überdeterminiert, dass auf Inhaltsebene die für eine gelungene sprachliche Kommunikation erforderlichen Voraussetzungen nur ungenügend erfüllt sind. Darüber hinaus werden gewisse Mitteilungen gemacht, die in der weiteren Entfaltung des Textes entweder als verwirrend, irreführend, rätselhaft oder schlichtweg redundant gelten müssen. Das beginnt schon mit dem Erzähler-Ich, das gewisse Informationen über sich selbst gibt, von denen der Leser bzw. Kommunikationspartner in einer normalen Gesprächssituation annehmen dürfte, dass sie im weiteren Verlauf der Kommunikation ergänzt und sinnvoll verdeutlicht werden würden, was jedoch so gut wie gar nicht geleistet wird. Schon im ersten Satz ist dies erkennbar: »In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre bin ich, teilweise zu Studienzwecken, teilweise aus anderen, mir selber nicht recht erfindlichen Gründen, von England aus wiederholt nach Belgien gefahren, manchmal bloß für ein, zwei Tage, manchmal für mehrere Wochen.« (Sebald 2001: 5)

Geht man von der Wörterbuchdefinition der ›Präsupposition‹ als »Satzvoraussetzung« aus, dem »im Rahmen einer Kommunikation mit einer Äußerung implizite[n] Mitbehauptete[n]« (Lewandowski 1976: 549), so dass also »Kommunikation gelingt, wenn die K.[Kommunikations]-Partner über eine gewisse gemeinsame Menge von P.[Präsuppositionen] verfügen, die u.U. ihr gesamtes Weltverständnis mit einbeziehen können« (ebd.: 550), so muss hier eine gelungene Kommunikation tatsächlich als nahezu unmöglich erscheinen. Denn weshalb das Ich aus England und warum es nach Belgien gereist ist, was es genau in Belgien vorhatte, wie die Unterschiede in der Zeit seiner Aufenthalte zu erklären sind, wird weder hier noch im weiteren Text erläutert. Verblüffend erscheint denn auch die Behauptung, der Erzähler wisse »teilweise« selber nicht genau, was ihn zu diesen Reisen bewegt habe, dies umso mehr, als er offenbar mit einem phänomenalen Gedächtnis für die kleinsten Details aus dieser immerhin 30 Jahre zurückliegenden Zeit ausgestattet ist, wie sich bald zeigt. Später spricht er davon, dass die damaligen »belgischen Exkursionen« ganz und gar planlos gewesen seien, wobei die rein zufälligen späteren Begegnungen mit Austerlitz »auf eine mir bis heute unbegreifliche Weise« stattgefunden hätten (Sebald 2001: 40).

Auch die Bemerkung im zweiten Satz des Gesamttextes, dass die Fahrten nach Belgien »mich immer, wie es mir schien, sehr weit in die Fremde führten« (ebd.: 5), ist nicht ohne Weiteres inhaltlich nachzuvollziehen, zumal sie nicht näher erläutert wird. Das Gleiche gilt für das im dritten Satz erwähnte, aber nicht weiter ausgeführte oder begründete »Gefühl des Unwohlseins« (ebd.), das ihn schon bei der Ankunft befallen habe und das er dann während des ganzen Belgienaufenthalts nicht wieder loswerden konnte. Man kann beim Lesen dieser wenigen Zeilen bereits den Grund für Julia Hells rhetorische Frage erkennen: »What is Sebald’s œuvre all about if not the refusal of realism?« (Hell 2003: 28) Und in seinem scharfsinnigen Aufsatz zu Sebalds Beschreibungspoetik geht auch Klaus Scherpe von der Frage aus, »ob dieser Autor überhaupt ein Erzähler sein kann oder will, egal in welchem Format von ›Prosa‹.« (Scherpe 2009: 299)

Bezeichnenderweise wird nach der Ankunft des Erzählers nicht der Bahnhof einer genauen Beschreibung unterzogen; vielmehr wird zunächst sein anscheinend zielloser und wohl auch nicht vorher geplanter oder überlegter Gang mit unsicheren Schritten durch die Straßen der Innenstadt beschrieben, von denen vordergründig nichts außer ihren Namen mitgeteilt wird: Jerusalem, Nachtigall, Paradies, Immerseel,2 bis er sich zwei Orten nähert, dem Tiergarten mit seinem Nocturama und dann dem Hauptbahnhof Antwerpens. Diese beiden Räume werden etwas später im Text direkt aufeinander bezogen:

Die Bilder aus dem Inneren des Nocturamas sind in meinem Gedächtnis im Laufe der Jahre durcheinandergeraten mit denjenigen, die ich bewahrt habe von der sogenannten Salle des pas perdus in der Antwerpener Centraal Station. Versuche ich diesen Wartesaal heute mir vorzustellen, sehe ich sogleich das Nocturama, und denke ich an das Nocturama, dann kommt mir der Wartesaal in den Sinn, wahrscheinlich weil ich an jenem Nachmittag aus dem Tiergarten direkt in den Bahnhof hineingegangen beziehungsweise eine Zeitlang zunächst auf dem Platz vor dem Bahnhof gestanden bin und hinaufgeblickt habe an der Vorderfront dieses phantastischen Gebäudes, das ich am Morgen bei meiner Ankunft nur undeutlich wahrgenommen hatte. (Sebald 2001: 8 [Hervorh. im Original])

Noch deutlicher heißt es bald darauf, dass ihm der Wartesaal »wie ein zweites Nocturama vorgekommen« sei; während im »unterweltliche[n] Dämmer« des Saals ein paar Reisende anscheinend Ähnlichkeiten mit den Tieren im Nocturama hätten (ebd.: 9). Auf den Zusammenhang zwischen dem Wartesaal und der Ermordung der europäischen Juden spielt der Text schon hier unmissverständlich an, wenn dem Erzähler beim Anblick der Wartenden in der Halle der »an sich unsinnige Gedank[e]« kommt, »es handle sich bei ihnen um die letzten Angehörigen eines reduzierten, aus seiner Heimat ausgewiesenen oder untergegangenen Volks, um solche, die, weil nur sie von allen noch überlebten, die gleichen gramvollen Mienen trugen wie die Tiere im Zoo.« (Ebd.: 10)

Eine dieser Personen in der Halle ist Austerlitz. Das verblüffend Außergewöhnliche an diesem Auftauchen der Person aus dem Nichts wie der anschließenden Begegnung liegt zumal an der Selbstverständlichkeit, mit der Austerlitz einfach ›da ist‹, so dass hier dem Leser unvorbereitet, ohne jedwede Präsupposition, eine Figur präsentiert wird, mit welcher der Erzähler daraufhin, anscheinend ohne irgendwelche Begrüßung oder Vorstellung, lange Gespräche über historische Bauten und Architektur führt – dies aber erst, nachdem der Erzähler eine Beschreibung von Austerlitz’ Aussehen gegeben hat, die eine ganze Seite umspannt.

Was den Erzähler an diesem späten Nachmittag in den Bahnhofssaal geführt hat und weshalb sich Austerlitz in diesem Saal befindet, erfährt der Leser nicht. Es wird zwar darauf angespielt, dass Austerlitz ein »Alleinreisender« sei (ebd.: 11), der sich »von den übrigen Reisenden« unterscheide (ebd.: 10), aber weder er noch der Ich-Erzähler fährt nach dem langen Gespräch ab, sondern sie entfernen sich mit einer Verabredung für eine Wiederbegegnung am nächsten Morgen auf der Wandelterrasse an der Schelde, wo das Gespräch des vorigen Abends anscheinend ohne Übergang fortgesetzt wird (vgl. ebd.: 19). Dies sind alles Indizien, die in Austerlitz und allgemein bei Sebald, wie Rob Kohn zeigt, auf einen unzuverlässigen Erzähler schließen lassen, dem der Leser nur schwer folgen kann:

Sebald’s texts, however, frustrate the concept of an implied reader insofar as no reader can reasonably be expected to embody the predispositions implicit in their textual structure, due mostly to a ubiquitous narrative instability. This is achieved through the use of the unreliable narrator, extensive reported speech, unmarked intertexts and quotations, and conflation of narrative mood and narrative voice. (Kohn 2012: 38 [Hervorh. im Original])

Auf solcherlei ›Regelverstöße‹ gegen den ›gesunden Verstand‹ realistischen Erzählens – Roland Barthes spricht diesbezüglich von der Stimme der Empirie, deren Codes, »einer logisch-zeitlichen Ordnung unterworfen, die stärkste Armatur des Lesbaren darstellen« (Barthes 1976: 201) – hat die Sebald-Forschung verschiedentlich aufmerksam gemacht. Kohn zum Beispiel hat auf die ungewöhnliche und letztlich auf realistischer Ebene nicht ganz nachvollziehbare Verwendung verschiedener Sprachen in Austerlitz hingewiesen (vgl. Kohn 2012: 42f.). So beteuert der Ich-Erzähler, dass er das Französische nur schlecht beherrsche (vgl. Sebald 2001: 46), während er Englisch nur als Zweitsprache spricht. Wie ist es denn möglich oder glaubwürdig, fragt Kohn, dass der Ich-Erzähler Gespräche in verschiedenen Sprachen, die er anscheinend nicht oder nur mangelhaft beherrscht, und aus teilweise längerer Vergangenheit in großer Detailtreue wiedergeben kann (vgl. Kohn 2012: 47)?

Freilich geht es Sebald hier nicht um eine ›realistische‹ Wiedergabe der Welt, sondern um eine Unterwanderung und Neutralisierung realistischen Erzählens,3 und es ist daher auch nur folgerichtig, dass er auf eine Gattungsbezeichnung für diesen Text verzichtet. Amir Eshels Versuch, Austerlitz von der Erzählebene und dem Blickwinkel des Erzählers aus als »a postmodern crypto-Bildungsroman stretching over some thirty years« (Eshel 2003: 80) zu lesen, muss aus dieser Sicht als verfehlt erscheinen. Denn praktisch alles in diesem Text ist auf die Ausdrucksebene abgestimmt, auf das Gewebe von tieferer Bedeutung, die Verflechtung von subterranen Mustern, so dass die Logik der Erzählung und die konventionellen Strukturelemente des Erzählens auf der syntagmatischen Achse4 des Textes, wie Handlungseinheit, Erzählsequenz, Angaben einer chronologischen Bewegung oder auch die Entwicklung eines Plots (Fabel), fast gänzlich außer Kraft gesetzt werden. In Bezug auf die Anfangsszene von Austerlitz sagt Klaus Scherpe denn auch: »Es ist nicht die wahrgenommene Wirklichkeit, die beschrieben wird, sondern das, was als Erinnerungsbild ›bewahrt‹ wurde.« (Scherpe 2009: 304)

Aus diesem Grund ist es einsichtig, dass etwa das Nocturama und der Wartesaal miteinander zusammenhängen, ja praktisch austauschbar sind, da sie Zeichen der tiefensymbolischen Bedeutung auf der paradigmatischen Achse5 des Textes sind: Sie deuten auf die Omnipräsenz des Motivs von der unabwendbaren Bewegung der Menschheit auf den Abgrund zu, so wie sich »die ganze Bau- und Zivilisationsgeschichte des bürgerlichen Zeitalters«, wie Austerlitz erklärt, »in die Richtung der damals [im 19. Jahrhundert; G.P.] bereits sich abzeichnenden Katastrophe« drängt (Sebald 2001: 201). Exemplarisch dafür ist Austerlitz’ »Bahnhofsmanie« (ebd.: 49), die Teil seiner groß angelegten (aber nie beendeten) Studie über die »Familienähnlichkeiten« (ebd.: 48) diverser öffentlicher Bauten bildet, bei deren Ausführung er, ähnlich wie der Erzähler bei seiner Ankunft in Antwerpen, »in die gefährlichen, ihm ganz und gar unbegreiflichen Gefühlsströmungen« geraten sei (ebd.: 49).

Dieses Verfahren ist dem auf der Wort- und Satzebene des Textes operierenden Stilmittel des Asyndetons durchaus vergleichbar. Sebald zeigt in seiner Erzählprosa eine Vorliebe für diese Ausdrucksform, die sich als »eine Reihe gleichgeordneter Wörter, Satzteile oder Sätze«, meist aber ohne Verknüpfung durch Konjunktionen äußert (Wilpert 1969: 49). Auf der makrotextuellen Ebene sind die vielen Beschreibungen ähnlicher Szenen, Bilder oder Motive, insbesondere der Bahnhöfe und öffentlichen Gebäude, oder auch thematisch die Wiederkehr der Toten, ferner das Stillstehen der Zeit und etliche andere vergleichbare Topoi, die stilistische Entsprechung dieser Schreibweise.

Das asyndetische Reihungsverfahren erkennt man ebenfalls in den oft kommentierten Abbildungen in Sebalds Prosa, die iterativ den gleichen Inhalt wiedergeben: Kuppeln, Stiegen, Türen in öffentlichen Bauten oder Straßen, Friedhöfe, auch Porträts und Stadtpläne, Grundrisse von Festungsanlagen und dergleichen mehr. Am klarsten tritt diese Darstellungsweise bei W.G. Sebald wohl in dem postum erschienenen, gemeinsam mit Jan Peter Tripp produzierten Bild- und Gedichtband »Unerzählt« (Sebald / Tripp 2003 [Hervorh. im Original]) zutage, dessen dreiunddreißig Radierungen (für die der Künstler Tripp verantwortlich war) ausschließlich denselben Gesichtsausschnitt verschiedener Figuren vorführen, wobei es ohne Ausnahme um einen Fokus auf die Augen geht. Diese Aneinanderreihung von Erzähleinheiten, Motiven und Bildern bewirkt effektiv die Aufhebung einer sequentiellen Erzählzeit.

Aus diesem Vorrang der Ausdrucksebene vor dem linearen Aufbau des Textes und dem diegetischen Primat der Iteration erklärt sich denn auch die Dominanz der räumlichen Dimension über die zeitliche, was Klaus Scherpe mit seiner Hervorhebung der ekphrasis, der Beschreibung als dominantem Erzählgestus in Austerlitz und wohl allgemein bei Sebald, herausgearbeitet und mit einer prägnanten Formulierung auf den Nenner gebracht hat: »Die beschreibende Erzählung storniert die erzählte Zeit. Diese Auszeit der Erzählung kann emphatisch und symbolisch als eine Art ›Auszeit der Geschichte‹ verstanden werden.« (Scherpe 2009: 305 [Hervorh. im Original])

4. Der Bahnhof, die Bahnhöfe

So gesehen, bildet die Wartehalle der Antwerpener Centraal Station ein Glied in einer langen und vielverzweigten Kette, die sich über den ganzen Text hinzieht. Mit der Bedeutung der Anfangsszene von Austerlitz sowie von Bahnhöfen und der Eisenbahn bei Sebald hat die Forschung sich verschiedentlich beschäftigt; so geht Jakob Hessing in seiner Besprechung von Sebalds »Vorgeschichte der Globalisierung« vom Bahnhof als »locus classicus der Moderne« aus (Hessing 2011: 359 [Hervorh. im Original]), während Amir Eshel von »Sebald’s symbology of railway transportation« (Eshel 2003: 83) spricht und in Bahnhöfen das Zeichen von Austerlitz’ »personal fixation on loss« sieht (ebd.: 84). Und zweifellos ist das gesamte Bahnsystem, das sich seit dem frühen 19. Jahrhundert immer weiter über ganz Europa ausdehnt, wie Eshel (vgl. ebd.: 86) feststellt, aufs Engste mit technischem Fortschritt und Herrschaft über die Natur – und die Zeit – verbunden, die den modernen Menschen nach Sebalds Auffassung nun in sein Verderben zu stürzen droht. Der Bahnhof verkörpert jedoch nicht nur die Gewissheit einer dem Untergang geweihten Zukunft, sondern weist auch zurück auf eine unheilsame Vergangenheit als »Ort eines ungesühnten Verbrechens«, wie Austerlitz die Gare d’Austerlitz in Paris vorkommt (Sebald 2001: 409).

Die grauenhaften Überbleibsel einer inhumanen Vergangenheit, jenes »Leid und die Schmerzen, die sich dort über die Jahrhunderte angesammelt haben« (ebd.: 187), werden auf dem die Beschreibung der Liverpool Street Station begleitenden Foto (vgl. ebd.: 189) grafisch vor Augen geführt. Austerlitz selber bezieht die Schwere seines Geistes, »eine Art Herzweh«, das er stets empfindet, wenn er sich im Wartesaal dieses Bahnhofs aufhält, auf »den Sog der verflossenen Zeit« (ebd.: 186), und er fragt sich, ob all das Elend und die Leiden jener unglücklichen Seelen, die hier verschüttet sind, »je wirklich vergangen sind, ob wir sie nicht heute noch, wie ich bisweilen an einem kalten Zug um die Stirn zu spüren glaubte, auf unseren Wegen durch die Hallen und über die Treppen durchqueren.« (Ebd.: 187)

An anderer Stelle wird fast nebenbei erwähnt, dass der Brüsseler Justizpalast, diese »singulär[e] architektonisch[e] Monstrosität« (ebd.: 43), auf dem ehemaligen Galgenberg errichtet worden ist (vgl. ebd.: 27, auch 42). Und am Lagerplatz zwischen der Gare d’Austerlitz und dem Pont Tolbiac wurde in den Kriegsjahren der durch die Deutschen von Pariser Juden erbeutete Besitz – »alles, was unsere Zivilisation, sei es zur Verschönerung des Lebens, sei es zum bloßen Hausgebrauch, hervorgebracht hat« (ebd.: 404) – gesammelt, ehe er unter anderem unter Naziparteibonzen verteilt wurde, dort, wo man Jahre später die Große Bibliothek erbaute, so dass, in den Worten des Bibliothekars Lemoine, »die ganze Geschichte im wahrsten Wortsinn begraben ist unter den Fundamenten der Grande Bibliotheque« (ebd.: 405).

Die Wartehalle der Gare d’Austerlitz beängstigt Austerlitz, wohl nicht nur, weil sie schlecht beleuchtet und fast leer ist, sondern auch wegen der an die Vernichtungslager gemahnenden »roh zusammengezimmerte[n] Bühne mit galgenähnlichen Gerüsten und allerhand verrosteten Eisenhaken« (ebd.: 408). Die Holzbaracke in der Nähe des Bahnhofs Holešovice in Prag, wo sich 1941 die Juden, unter ihnen Austerlitz’ Mutter Agáta, zum Abtransport in die Lager zusammenfinden mussten, ist ein ebenfalls düsterer, verwahrloster Ort, eiskalt, »wo unter trübem Lampenschein die größte Verwirrung herrschte« (ebd.: 257), und auch hier mussten die Eingetroffenen sich von ihren Wertsachen trennen. Wenn die Freundin Věra später den Weg nach Holešovice machte, ist sie meist in das dort eingerichtete Lapidarium gegangen und hat sich dann, ähnlich wie der Erzähler im Nocturama in der Nähe des Antwerpener Bahnhofs, stundenlang aufgehalten und die Gesteinsproben angesehen, und dann »habe ich mich gefragt, auf welcher Grundlage sie sich erhebt, unsere Welt.« (Ebd.: 258)

Mit ähnlichem Vokabular wird der Bahnhof an der Wilsonova beschrieben, wo in unvordenklicher Zeit der scheinbar nicht enden wollende Weg des damals viereinhalbjährigen Jacques Austerlitz seinen Anfang nahm. An diesem hässlichen Ort mit seiner »festungsartigen Anlage« und dem »Lagerplatz«, der in ein »wahrhaft infernalisches Licht« getaucht ist, steigt viele Jahre später der fast sechzigjährige Austerlitz zwischen »am Boden liegenden, reglosen Leibern hindurch« und wird dann unter dem mächtigen Kuppeldom von einem uniformierten Angestellten am Ärmel gefasst »wie ein verlorenes Kind« (ebd.: 310f.). Schon im Ladies Waiting Room der Liverpool Street Station in London bezieht Austerlitz das Bahnhofserlebnis auf sein gesamtes Leben:

Tatsächlich hatte ich das Gefühl, sagte Austerlitz, als enthalte der Wartesaal, in dessen Mitte ich wie ein Geblendeter stand, alle Stunden meiner Vergangenheit, all meine von jeher unterdrückten, ausgelöschten Ängste und Wünsche, als sei das schwarzweiße Rautenmuster der Steinplatten zu meinen Füßen das Feld für das Endspiel meines Lebens, als erstrecke es sich über die gesamte Ebene der Zeit. (Ebd.: 196)

Der dem Menschen so bedrohlich und unheimlich anmutende Zwischenraum ist stets in ein trübes Halbdunkel getaucht, das auf jene Verdunkelung der Welt hindeutet, die Gwendolyn Elias vor ihrem Tod Angst und Verwirrung einflößt (vgl. ebd.: 93). Schon bei der Beschreibung des Nocturamas, jenes im künstlichen Dunkel verharrenden Raums, ist von manchen Malern und Philosophen die Rede, die ähnlich wie etliche der hier eingesperrten Tiere »versuchen, das Dunkel zu durchdringen, das uns umgibt« (ebd.: 7). Der Wartesaal in der Centraal Station, der dem Erzähler wie ein zweites Nocturama vorkommt, wird denn auch von einem »unterweltliche[n] Dämmer« erfüllt (ebd.: 9), was auf sein Erleben der Festung Breendonk vorausdeutet, »dieser nur vom schwachen Schein weniger Lampen erhellten und für immer vom Licht der Natur getrennten Welt« (ebd.: 34; weiter ausgeführt vgl. ebd.: 35), und was in der »ewigen Düsternis« der Liverpool Street Station wiederholt wird, jenes »falschen Universum[s]« (ebd.: 195), das mit dem »verkehrten Miniaturuniversum« des Nocturamas (ebd.: 8) spiegelbildlich verbunden ist. Das findet auch in den düsteren Hinterhöfen der ehemaligen Festungsstadt Theresienstadt mit den beängstigend verschlossenen Türen eine Entsprechung: »Am unheimlichsten aber schienen mir die Türen und Tore von Terezín, die sämtlich, wie ich zu spüren meinte, den Zugang versperrten zu einem nie noch durchdrungenen Dunkel, in welchem, so dachte ich, sagte Austerlitz, nichts mehr sich regte als der von den Wänden abblätternde Kalk und Spinnen« (ebd.: 272-276).6

5. Grenze und Hölle

Der transitorische Raum ist ein Zwischenraum, im Schwebezustand zwischen Ankunft und Abfahrt, und markiert die zeitliche wie räumliche Grenze zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht, zwischen Herkunft und Jenseits. In seiner Vorstellung der transfiction (siehe dazu besonders Clingmann 2009: 181-188) als generische Begriffsbestimmung der Sebald’schen Prosa spricht Stephen Clingman von der konstitutiven Bedeutung der Grenze:

This is the boundary as divide, the boundary as crossing, the boundary as the very image of the transitive, with all its implications and accountabilities, protocols that must be observed and taken on. In short, in Sebald’s work the boundary is the place where the nature of transmission is the very problem to be engaged. In the wake of trauma, in the wake of crime, what does it mean to encounter this boundary? What can legitimately carry over, and how? (Clingman 2009: 180)

In den Ringen des Saturn spricht Sebald von der »so wunderbar gedämpften Stimmung« am in dieser Hinsicht mit der Bahnhofshalle vergleichbaren Amsterdamer Flughafen Schiphol, »daß man glauben konnte, man befinde sich schon ein Stück jenseits der irdischen Welt« (Sebald 2003b: 110). Dabei ist dem Ich-Erzähler hier »der von einem sanften Raunen durchzogene Flughafen an jenem Morgen erschienen wie der Vorhof des unbekannten Landes, von dem kein Reisender mehr wiederkehrt.« (Ebd.: 111) Ohne Zweifel ist dieser dargestellten Räumlichkeit ein gutes Maß an existenzieller Metaphysik eingeschrieben – »das Feld für das Endspiel meines Lebens […] über die ganze Ebene der Zeit« (Sebald 2001: 196) –, gleichwohl ist die apokalyptische Vision vom drohenden Ende der Welt nicht ohne eine Eschatologie eigener Art. So gewinnt das Warten im zwielichtigen Aufenthaltsort am Bahnhof eine transzendentale Dimension, die sie auf intertextuellem Weg paradigmatisch an einen anderen Raum anschließt, den der Vorhölle, wo die Ungesühnten im Übergangszustand nach ihrem Tod der Erlösung harren.

Dieser in der Göttlichen Komödie dem ersten Kreis der Hölle zugeschriebene Grenzbereich des Limbo – vom Lateinischen limbus, ›Rand‹, ›Saum‹, ›Umgrenzung‹ – ist einer aktuellen Beschreibung zufolge »ein Schwebezustand zwischen Verdammnis und Erlösung, ein Wartesaal, aus dem nur zu Auferstehung der Toten aufgerufen wird« (Smoltczyk 2007: 1). Bei Dante heißt es:

So schritt er vorwärts und ließ ein mich treten

Zum ersten Kreise, der den Abgrund gürtet.

Hier, dem gemäß, was ich erlauschen konnte,

Gab es kein Jammern, sondern nur wie Seufzer,

Davon die ew’gen Lüft’ erzittern mußten:

Und dies kam her von Leiden ohne Marter,

So Scharen, groß und zahlreich, hier erlitten,

Von Kindern und von Weibern und von Männern.

(Dante o.J.: Vierter Gesang, V. 24-30)

Dantes Begleiter und Führer Vergil gehört selber zu diesen unerlösten Seelen, als großer Dichter, aber ohne christliche Taufe und Sakrament »in dieser Vorhöll’ ungewiß verharrend«,

[d]urch diesen Mangel, nicht durch andres Böse,

Sind wir verloren und soweit nur leidend,

Daß ohne Hoffnung wir in Sehnen leben.

(Ebd.: V. 40-42)

So kombiniert der in Sebalds Werk rekurrente Topos des im Transitzustand im Wartesaal verharrenden Menschen wiederkehrende Themen dieses Autors wie Judenvernichtung und Zerstörung der natürlichen Umwelt, somit den Untergang der vom homo faber erbauten Welt mit einem kosmischen Blick auf das Weltgebäude und das Ende aller Zeiten.

Anmerkungen

1 | Sebald verzichtet auf Kapiteleinteilungen und Überschriften. Jedoch lassen sich in Austerlitz (2001) fünf große Teile an dem jeweils in der Mitte der Seite angebrachten Sternchen (Asterisk) erkennen, die der Funktion nach Kapitel genannt werden dürfen. So umfasst der erste Teil, von dem hier die Rede sein soll, die Seiten 5 bis 46.

2 | Dieser Name bezieht sich vermutlich auf einen Ortsnamen im Grenzgebiet zwischen dem ehemaligen Herrschaftsgut Wommelgem und dem Pfarrbezirk Deurne in der Nähe von Antwerpen (O.A. 2014).

3 | Dass der ›antirealistische‹ Erzählgestus in Bezug auf das Thema Holocaust nicht unproblematisch ist, hat u.a. Brad Prager (vgl. 2005) gezeigt.

4 | Die syntagmatische Achse einer Äußerung bezieht sich auf »sprachlich[e] Einheiten in ihrem gleichzeitigen Vorhandensein in der linearen Kette des Redestroms bzw. des Sprechkontinuums« (Lewandowski 1976: 779).

5 | Ich richte mich hier nach Hjelmslevs Definition, nach der das Paradigma als »eine Klasse von Elementen, die auf denselben Platz in einer Kette eingesetzt werden können«, bezeichnet ist (Hjelmslev zit. n. ebd.: 498).

6 | In Sebald 2001: 272 stehen nur zwei Zeilen Text; oben und unten beginnt eine Reihe von Fotos von verfallenen Häuserfronten mit verschlossenen Türen, anscheinend in einer engen Gasse, die auf den folgenden Seiten (ebd.: 273-275) ganzseitig fortgesetzt wird, so dass der auf S. 272 begonnene Satz erst auf S. 276 zum Abschluss kommt.

Literatur

Barthes, Roland (1976): S / Z. Aus dem Franz. v. Jürgen Hoch. Frankfurt a.M.

Boccaccio, Giovanni (o.J.) [1911]: Das Dekameron. Mit einem Vorw. v. Hanns Heinz Ewers. Aus dem Ital. v. Christian Kraus. Berlin.

Clingman, Stephen (2009): The Grammar of Identity. Transnational Fiction and the Nature of Boundary. Oxford / New York.

Coetzee, John Maxwell (2007): W.G. Sebald, After Nature. In: Ders.: Inner Workings. Literary Essays 2000-2005. London, S. 145-154.

Dante (o.J.) [1927]: Die göttliche Komödie. Aus dem Ital. v. Philalethes, erl. v. Edmund Th. Kauer. Berlin.

Enzensberger, Hans Magnus (1994): Die Große Wanderung. Dreiunddreißig Markierungen. Frankfurt a.M.

Eshel, Amir (2003): Against the Power of Time. The Poetics of Suspension in W.G. Sebald’s Austerlitz. In: New German Critique 88, S. 71-96.

Goethe, Johann Wolfgang von (1981a): Faust I. In: Ders.: Werke. Bd. 3. Hg. v. Erich Trunz. Dramatische Dichtungen I. München, S. 9-145.

Ders. (1981b): Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Ders.: Werke. Bd. 6. Hg. v. Erich Trunz. Romane und Novellen I. München, S. 125-241.

Ders. (1981c): Verhältnis zur allgemeinen Physik. In: Ders.: Werke. Bd. 13. Hg. v. Dorothea Kuhn u. Rike Wankmüller. Naturwissenschaftliche Schriften I. München, S. 487-490.

Heidelberger-Leonard, Irene (2001): Melancholie als Widerstand. In: Akzente 48, H. 2, S. 122-130.

Hell, Julia (2003): Eyes Wide Shut. German Post-Holocaust Authorship. In: New German Critique 88, S. 9-36.

Hessing, Jakob (2011): Das Gesetz der Zerstreuung. W.G. Sebalds Vorgeschichte der Globalisierung. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 55, S. 346-360.

Kafka, Franz (1970): Der Jäger Gracchus. In: Ders.: Sämtliche Erzählungen. Hg. v. Paul Raabe. Frankfurt a.M., S. 285-288.

Kohn, Rob (2012): Giving Voice to Uncertainty. Memory, Multilingual and Unreliable Narration in W.G. Sebald’s Austerlitz. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3, H. 2, S. 33-48.

Lewandowski, Theodor (21976): Linguistisches Wörterbuch. 3 Bde. Heidelberg.

Lukács, Georg (31965): Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Neuwied / Berlin.

O.A. (2014): Van Immerseel surname origin; online unter: http://www.mydutchroots.com/blog/?p=9 [Stand: 26.9.2016].

Pakendorf, Gunther (2008): Geschichte(n) nach Auschwitz. W.G. Sebald und die Stadt der Toten. In: Acta Germanica 36, S. 75-89.

Prager, Brad (2005): The Good German as Narrator. On W.G. Sebald and the Risks of Holocaust Writing. In: New German Critique 96, S. 75-102.

Sauer, Klaus (1978): Anna Seghers. München.

Scherpe, Klaus R. (2009): Auszeit des Erzählens. W.G. Sebalds Poetik der Beschreibung. In: Gerhard Fischer (Hg.): W.G. Sebald. Schreiben ex patria / Expatriate Writing. Amsterdam / New York, S. 297-315.

Sebald, W.G. (2001): Austerlitz. München.

Ders. (2002): The Emigrants. Aus d. Deutschen v. Michael Hulse. London.

Ders. (2003a): Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen. Frankfurt a.M.

Ders. (2003b): Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt. Frankfurt a.M.

Ders. / Tripp, Jan Peter (2003): Unerzählt. 33 Texte und 33 Radierungen. München.

Smoltczyk, Alexander (2007): Uups! – et orbi: Wie die Vorhölle abgeschafft wurde. In: Spiegel Online v. 30. April 2007; online unter: http://www.spiegel.de/panorama/ uups-et-orbi-wie-die-vorhoelle-abgeschafft-wurde-a-479936.html [Stand: 26.9.2016].

Trunz, Erich (1981): Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Nachwort. In: Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Bd. 6. Hg. v. Erich Trunz. Romane und Novellen I. München, S. 611-623.

Wilpert, Gero von (51969): Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart.