Irene, the protagonist in Herta Müller’s Reisende auf einem Bein, experiences the transit between two political systems as a continuous journey which does not end with her arrival, but extends into everyday life in the destination country, a life marked by Otherness, foreignness and placelessness. The political oppression suffered in her country of origin, an unnamed Eastern bloc state representing Nicolae Ceauşescu’s Romania, influences Irene’s perception of her Western destination country. While Irene suffers from the Otherness and placelessness experienced on her journey, this experience also constitutes her identity as a »vagabond« (Brittnacher / Klaue), making it impossible for her to stop. Irene makes this experience as a train passenger, as well as in train and metro stations where the movement of passing trains makes her feel disconnected, but also allows her to see the fractures in other relationships around her. The article shows how the train journey becomes a central metaphor of Irene’s transit experience, similar to Kristeva’s image of foreignness as a moving train, and describes Irene’s movement by means of the ›vagabond‹, the ›flâneur‹ (Benjamin), the ›nomad‹ (Deleuze / Guattari) and the ›system migrant‹ (Sorko).
Title:The Space of Otherness as a Moving Train in Herta Müller’s Reisende auf einem Bein
Keywords:Müller, Herta (* 1953); system migration; otherness; train journey; vagabond; flâneur
Der Wunsch zu schlafen war wie eine Sucht.
Und der Wunsch weit weg zu fahren. Aus dem Abteil durchs Fenster zu sehen, in den Sog der Landschaft hinein, die sich in grünen Schlieren wegdrehte und verschwand. Und Menschen im Abteil, die zustiegen. Die aßen und schliefen. Die nichts von sich preisgaben.
Müller 2013: 1761
Mit dem Wunschtraum einer fortgesetzten (Flucht-)Bewegung nimmt Herta Müller am Schluss ihres Erzähltextes Reisende auf einem Bein (1989) das Bild des Sogs vom Beginn des Textes wieder auf – eines Sogs, der den Transitraum kennzeichnet, durch den sich die Protagonistin Irene im Verlauf der Erzählung bewegt. Für Irene verbindet sich die Transitbewegung von einem in ein anderes Land, von Osten nach Westen, mit der körperlich empfundenen Erfahrung des Fremdseins, an der sie einerseits leidet, über die sie sich andererseits definiert, womit ein Anhalten unmöglich wird. Sie erfährt sich als Vagabundin (vgl. Brittnacher / Klaue 2008). Die Unbehaustheit, die ihren Umgang mit den fremden Dingen und Menschen im neuen Land bestimmt und sich im ruhelosen Gehen und Fahren durch diverse Stadtlandschaften äußert, hat aufgrund der dort erlittenen politischen Verfolgung bereits ihre Existenz im Herkunftsland bestimmt, doch im neuen Land wirken die hier Lebenden ebenso unbehaust, tragen die Stadt, in der sie leben, »auf dem Rücken« (147). Die Protagonistin findet sie auf Bahnhöfen, wo ihr die Bewegung des Zugs den Blick auf die Bruchstellen in ihren Beziehungen freigibt. Sie selbst findet sich dort wie an anderen Orten immer wieder zwischen Momenten der Annäherung und der unüberwindbaren Distanz zu anderen Menschen und Objekten. Die Bahnreise wird zur zentralen Metapher der Fremdheit und Migrationsbewegung im Sinne Julia Kristevas, für die der Raum des Fremden »ein fahrender Zug« ist, »der jedes Anhalten ausschließende Transit selbst« (Kristeva 1990: 17).
Bis zu einem gewissen Punkt lässt sich Müllers Reisende damit als Figuration des transnationalen Subjekts der Postmoderne – des Nomaden im Sinne von Deleuze und Guattari (vgl. 1986) – deuten, das in seiner Lust an der Bewegung Parallelen zu Benjamins Flaneur aufweist. Dabei fehlt Müllers Reisender in ihrer von politischen Dislokationsprozessen geschaffenen Marginalität jedoch die nonchalante ästhetische Distanz des Flaneurs gegenüber der Erscheinungswelt, ein Schicksal, das sie mit anderen Flüchtlingen und Migranten in der zeitgenössischen »Literatur ohne festen Wohnsitz« (Ette 2006: 42) teilt. Zudem hat die Transitbewegung in Müllers Text eine politische Dimension, die sich mit dem Begriff des Systemmigranten von Karin Sorko (vgl. 2007) fassen lässt. In der Literatur der Systemmigration wird die Bewegung des Subjekts zu einer Fluchtbewegung und ist oft verbunden mit Motiven wie Befremdung, Suche, Beziehungslosigkeit, Sucht oder Paranoia aufgrund traumatischer Erlebnisse, wie auch mit einer »dualen Systemkritik« (ebd.: 65). Letztere ist Sorko zufolge das Grundmerkmal dieser Literatur. Dabei kann die Fluchtbewegung, wie in Reisende auf einem Bein, zum »psychischen Dauerzustand« (ebd.: 162) und damit zu einer Form von dauerhaftem Transit oder Vagabondage werden. Müllers Text erkundet die Möglichkeit, diese schmerzhafte, von äußeren Kräften vorangetriebene, andauernde Bewegung Irenes in der westlichen Großstadt in eine von der Lust des postmodernen Individuums gesteuerte nomadische Bewegung zu verändern,2 aber stellt diese Möglichkeit zugleich in Frage. So übt der Text Kritik nicht nur am politischen System, vor dem Irene geflüchtet ist, sondern indirekt auch an der westlichen Konsumgesellschaft sowie der damit verbundenen Alltagskultur im Herkunfts- und Ankunftsland.
Reisende auf einem Bein setzt sich mit der Ankunft der Aussiedlerin Irene in West-Berlin Ende der 1980er Jahre nach ihrer Ausreise aus Nicolae Ceauşescus Diktatur in Rumänien auseinander. Rumänien wird in der aus der Perspektive der Protagonistin erzählten Geschichte nur als »das andere Land« (7) bezeichnet, ist als Ort traumatischer Erfahrung, die Irenes Wahrnehmung des Ankunftsortes prägt, aber ständig präsent. Die politische Verfolgung dort – in Form von ständiger Überwachung und Verhören durch den rumänischen Geheimdienst sowie der Einschränkung jeglicher Freiheiten des Individuums – hat Spuren in Irenes Psyche hinterlassen. Sie nimmt die Realität auch außerhalb des anderen Landes als fragmentiert und befremdend wahr. Die surrealistische, »sprunghafte« Erzählweise, die den Text zu einer »Erzähl-Collage« macht und die Bewegung Irenes sprachlich umsetzt (Schulte 1997: 54), reflektiert diese Beschädigung und die Kontingenz ihres Lebens im Transit. Die Autorin hat Reisende auf einem Bein selbst als Versuch beschrieben, eine kollektive Erfahrung literarisch zu verarbeiten.3 ›Reisende‹ im Titel kann daher im Singular oder Plural verstanden werden, die Erfahrung Irenes repräsentiert die vieler. Der Text folgt Irene in ihren ersten Tagen und Wochen in Berlin bis zu dem Punkt, an dem sie sich zum Bleiben entschließt. Die Handlung, sofern man diese so bezeichnen kann, konstituiert sich in der Bewegung Irenes durch die fremde Großstadt.
Als Aussiedlerin hat Irene im Vergleich zu anderen Flüchtlingen und Migranten eine privilegierte Stellung: Deutsch ist ihre Muttersprache und sie hat Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft. Trotzdem findet sie sich aufgrund ihrer kulturellen und politischen Erfahrung wie auch ihrer wirtschaftlichen Situation in Berlin und anderen deutschen Städten als Außenseiterin wieder. Die Pluralität des westlichen, konsumorientierten Großstadtlebens verwirrt Irene. Beobachtungen von zusammenhanglos erscheinenden Einzelheiten schaffen Momentaufnahmen des als fragmentarisch und fremd wahrgenommenen Lebens dort.
Im Folgenden möchte ich die Transitreisende mit Hilfe der Begriffe ›Vagabund‹ und ›Systemmigrant‹ vom Flaneur und Nomaden abgrenzen und die Bahnfahrt als zentrale Metapher des systembedingten Vagabundentums im Kontext von Müllers Werk und ihrer Biographie untersuchen. Die Bahnreise ist von einer besonderen Dynamik geprägt, die das Subjekt als Sog empfindet. Andere im Text mit Bahn oder Bahnhof assoziierte Eigenschaften sind Anonymität und Nivellierung, Geschlossenheit und zugleich Offenheit. Wie bringt diese Form der Bewegung die Erfahrung der vagabundierenden Systemmigrantin und anderer Vagabunden in der westlichen Großstadt der Postmoderne zum Ausdruck?
Simon Ward beschreibt in seinem Aufsatz von 2005 die andauernde Relevanz des Topos Eisenbahn und des Flaneurs in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Dabei stützt er sich auf Keith Testers Definition des Flaneurs als ein weiterhin präsentes Phänomen der modernen Kultur, das nicht auf die Großstadt Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zu beschränken ist (vgl. Ward 2005: 413).4 So bedeutet auch die Eisenbahn und das von ihr vorangetriebene Tempo der Moderne nicht das Ende des Flaneurs und der ihn auszeichnenden Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse.5 Bereits Michel de Certeau führt in seiner 1988 auf Deutsch erschienenen Kunst des Handelns aus, dass die Reise mit der Eisenbahn und der Blick aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft es dem Passagier erlauben zu träumen, seinen Erinnerungen nachzuhängen und sich damit dem Rhythmus des – vom System bestimmten – Alltagslebens zeitweilig zu entziehen. Auch de Certeau bezieht sich dabei auf Benjamins Passagen-Werk (vgl. de Certeau 1988: 209-214). Der Reisende findet sich in einem Moment des Transits, des Übergangs, in einem Grenzraum zwischen Orten und Zeiten. Zu den Transiträumen, die vom Einzelnen und auf kultureller Ebene als Grenzräume und Räume des Übergangs oder der Passage wahrgenommen werden, gehören für de Certeau neben der Eisenbahn, U-Bahn und anderen öffentlichen Verkehrsmitteln auch Bahnhöfe oder öffentliche Plätze. Im Gegensatz zu Letzteren, auf denen der Fußgänger eine aktive Rolle im Hinblick auf seine physische Bewegung und Bewegungsrichtung hat, ist der Passagier der Eisenbahn allerdings von deren Bewegung als primum mobile abhängig. Seine Befreiung vom Rhythmus des Alltagslebens wird erst durch den Aufenthalt im Zug als »Kerker« möglich, der ihm seinen Rhythmus aufzwingt (ebd.: 212).
Das trifft auch auf Irene zu und den mit ihrer Bewegung verbundenen Erinnerungsprozess (vgl. Benjamin 1982: 524). Jedoch wird Irene selbst von der Bewegung als Form von Dislokation überwältigt, womit an die Stelle der Flanerie die »obdachlose Wanderschaft« tritt, was Irene zur »Vagabundin« macht (Brittnacher / Klaue 2008: 5). Die Erfahrung des Überwältigtwerdens entspricht in vielem der des Subjekts, das der Bewegung der Eisenbahn als primum mobile ausgesetzt ist. Irenes Vagabundentum ist als Fluchtbewegung zu verstehen, ausgelöst durch eine dem Individuum jeglichen Freiraum nehmende politische Situation im Ausgangsland, die durch die Fluchtbewegung noch verstärkt wird. Zwar symbolisiert der von der Eisenbahn geschaffene Sog in der Reisenden die Flucht aus der Situation im Ausgangsland, doch bleibt das Subjekt äußeren Zwängen damit weiter ausgesetzt. Das gilt zum Teil auch für die Bewegung Irenes außerhalb des Zuges, in der U-Bahn und bei ihren Streifzügen durch Berlin.
In der Reisenden werden die Protagonistin und ihre Bewegung gleich am Anfang vom bürgerlichen »Spaziergänger« abgegrenzt: »Irene ging nicht ans Ende der Bucht. Wollte keine Menschen sehen […]. Die Abende waren keine Spaziergänge gewesen« (9). Denn ihr Versuch des Spazierengehens (»Es sollten Spaziergänge sein« [8]) vor der Abreise aus dem anderen Land mündet darin, dass sie sich den Blicken eines Exhibitionisten aussetzt und sich damit wieder in einer für ihren Alltag im anderen Land charakteristischen Missbrauchssituation befindet. Den genuinen Vagabunden trennt vom bürgerlichen Spaziergänger wie vom romantischen Wanderer die Erfahrung einer »archaischen Gewalt«, die seine Vagabondage als »atemlos[e] Flucht« erkennbar werden lässt (Brittnacher / Klaue 2008: 5). Seine Lebensart des ständigen Unterwegsseins ist zwanghaft und von anhaltender Unruhe geprägt. Bei Irene tritt an die Stelle der bürgerlichen Vergesellschaftung als Grund für die Flucht die traumatische Erfahrung des politischen Systems im anderen Land. Die archaische Gewalt dieser Unterdrückung setzt sich in der für das Subjekt schmerzhaften, es förmlich zerreißenden Fluchtbewegung fort, die sich vom »Rausch« des Flaneurs bei Benjamin unterscheidet (Benjamin 1982: 525). In Irenes Fall findet die atemlose Flucht kein Ankommen, sondern belässt das Subjekt auch im Westen in einem andauernden Transitprozess. Dieser ist für Irene mit einer umfassenden Erfahrung von Fremdheit verbunden, an der sie einerseits leidet und anhand derer sie andererseits ihre Identität zu bestimmen versucht. Ein Anhalten wird damit unmöglich. Die Transitbewegung führt nicht zu als solchen vom Subjekt empfundenen Entwicklungsschritten im Sinne eines »rite of passage« (Turner 2001: 24), sondern zu einer existentiellen Ort- und Heimatlosigkeit. Julia Kristeva beschreibt mit Hilfe ihres psychologischen Ansatzes, der soziologische und phänomenologische Aspekte mit einbezieht, das Phänomen der inneren Fremdheit als eine Spaltung (vgl. Kristeva 1990). Ausgangspunkt dieser Spaltung, in der das Subjekt sich selbst fremd ist, kann ein Trauma sein, eine verborgene Verletzung, die dem Subjekt nicht bewusst ist und es auf seiner Odyssee der Fremdheit vorwärtstreibt.6 Kristeva versteht dieses Phänomen aber nicht als etwas Abnormales, da es zur Struktur der menschlichen Natur gehöre.
In dem Essay aus der Sammlung Der König verneigt sich und tötet mit dem Titel Die Insel liegt innen – die Grenze liegt außen schreibt Herta Müller über ihr nach außen abgeschottetes Leben unter Ceauşescu und beschreibt den Zwang zur Flucht, der dieses Leben charakterisiert und außerhalb der Kontrolle des Individuums liegt, als Sog (vgl. Müller 2009).7 Diverse der hier verwendeten Bilder (des Sogs, der Insel, der Eisenbahnfahrt) erinnern an die Reisende. Insgesamt sind die literarischen und nichtliterarischen Texte Herta Müllers thematisch und formal eng miteinander verknüpft. Das gilt auch für die in den Texten entworfenen Transiträume:
Der Sog der Fremde als machbares Leben: nebulös, schicksalsgroß wurde er jedesmal, wenn ich mit dem Zug von Temeswar nach Bukarest fuhr, zu einem konkreten Bild. Der Zug fuhr nämlich eine Weile ganz eng an der Donau entlang. Zwischen ihm und der Grenze war nichts mehr. Und alle, groß oder klein, sogar uniformierte Militärs und Polizisten, gingen auf den Gang und schauten hinaus, als stünden sie unter Hypnose, als sähen sie ihre Zukunft. […] Und drüben lag Jugoslawien, das Transitland Richtung Westen. Man sah Dörfer, Bäume fächelten dort, als würden sie warten, daß man kommt. […] Das Träumen hatte alle im Griff, die allgemein bekannte Grundfrage: Fliehen, aber wie. Es war zum Greifen deutlich, was jetzt alle dachten, so deutlich, daß sich das Rattern des Zugs eine Weile anhörte wie ›Ich will weg von hier, ich will weg von hier‹ in endloser Wiederholung. Das Eisen sang der Donau entlang sein Lied so beklemmend deutlich auf die Schienen, daß man den Rädern das Maul hätte verbieten wollen, weil die Reisenden wie ein Chor der Ertappten dastanden. (Ebd.: 169f.)
Der an der Grenze entlangfahrende Zug stellt ein »abgeschlossenes System« (de Certeau 1988: 209) dar, das Unterschiede zwischen den mitreisenden Passagieren nivelliert, einschließlich der »Militärs und Polizisten«. Sie alle teilen in diesem Moment denselben Fluchtwunsch, zumindest aus Sicht der Sprecherin, aber finden sich eingekerkert im Abteil wie im mit »hier« benannten Land. Ihre Bezeichnung als »Chor der Ertappten« könnte ein Verweis auf den Chor der Gefangenen in Verdis Nabucco sein, der das Leid der unter der babylonischen Gefangenschaft leidenden Hebräer und ihre Hoffnung auf die Rückkehr nach Jerusalem thematisiert (vgl. Henze-Döhring 2013: 29). In Müllers Aufsatz ist die Fremde für die unter der Diktatur Leidenden zum Sehnsuchtsort geworden. Heimat und Fremde haben aufgrund der politischen Unterdrückung ihre konventionelle Bedeutung vertauscht. Wie in der Reisenden geht es auch hier nicht um die Problematik der verlorenen Heimat, sondern um die Ort- und Heimatlosigkeit des Lebens selbst aufgrund der Erfahrung der ›Einkerkerung‹ im Unterdrückungsstaat.8 Die politische Erfahrung verbindet sich in der Erinnerung des Subjekts mit der Kindheitserfahrung als ein weiteres Beispiel existentieller Fremdheit in der »erste[n] Diktatur, die ich kannte« (Müller zit. n. Haines / Littler 1998: 17).9 Dagegen ist die politische Dimension der Unmöglichkeit, sich frei zu bewegen, in der zwei Jahre vor der Reisenden erschienenen Prosaskizze Barfüßiger Februar (vgl. Müller 1987) explizit mit dem Topos der Eisenbahnfahrt verbunden.10
In der Reisenden lässt sich die Protagonistin von diesem Sog über die Landesgrenze mitziehen, wobei der Sog sich als die Sehnsucht nach einer erfüllten zwischenmenschlichen Beziehung manifestiert. Allerdings wird Letztere wiederum mit der in der Diktatur erlittenen Unterdrückung verknüpft. Der Exhibitionist, der sich Irene kurz vor ihrer Ausreise am Strand zeigt, verkörpert die Perversion von zwischenmenschlichen Beziehungen als ein Grundmerkmal der Diktatur. So sieht Irene vor und nach der Ausreise wiederholt die Gestalt des »Diktators«. Er tritt auf die Sommerblusen, die sie für ihre Reise einpackt, und erscheint ihr in der Verkleidung eines der männlichen Passagiere auf ihrem Flug nach Berlin: »Irene erkannte das eine, ihr zugewandte Gesicht. Es war das Gesicht des Diktators, der sie vertrieben hatte aus dem anderen Land. Kurz hob der Diktator den Blick. Er schaute Irene an. Irene entfernte sich mit dem Rücken voraus, um das Gesicht des Diktators nicht aus den Augen zu verlieren.« (19) Trotz ihres Ekels lässt sich Irene immer wieder von dem Exhibitionisten am Strand anschauen, bestimmt von einem Rhythmus der Gewohnheit, der an den von den durchfahrenden Zügen und Bahnhofsuhren markierten Alltagsrhythmus des Mädchens erinnert: »Irene ging auf den Zeigern der Uhr. Irene war pünktlich. Der Mann war pünktlich. Jeden Abend stand der Mann halb bedeckt vom Laub hinter demselben Strauch. Irene kam durch den Sand. Er hatte die Hose schon aufgeknöpft. Irene blieb stehn.« (9) Sie folgt schließlich dem »Ausländer« (11) Franz, den sie an einem der Abende zufällig trifft und in den sie sich verliebt, nach Deutschland, wo er sich ihr jedoch immer wieder entzieht. Ihre flüchtigen Treffen sind nicht das erhoffte Ankommen in der Fremde, sondern nur ein kurzer Zwischenhalt auf einer Reise, die von der Protagonistin als schwierig und enttäuschend empfundenen wird: »Zwischen Ankommen, Auspacken, Einpacken, Wegfahren war fast keine Zeit« (134). Die Reise ist eine Metapher für die Beziehung, die trotz ihrer andauernden Versuche nicht zustande kommt, für das Scheitern von Kommunikation. Sie schreibt ihm Karten: »Ich war zu zweit abgereist. Angekommen bin ich allein. Ständig schreib ich dir Karten. Die Karten vollgeschrieben. Und ich leer. Den Zufall, der uns noch einmal gefährdet, gibt es nicht.« (134) Die »Gefährdung« ist die Möglichkeit, einem von außen aufgezwungenen Rhythmus zu entkommen und sich zu begegnen. Denn Irenes Leben hat aufgrund ihrer Erfahrung einen anderen Rhythmus als das von Franz, einem der »Bewohner« des Ankunftslandes, so dass Irene bei ihren Versuchen, sich ihm anzunähern und damit anzukommen, immer »zu spät« kommt: »Reisende, dachte Irene, Reisende mit dem erregten Blick auf die schlafenden Städte. Auf Wünsche, die nicht mehr gültig sind. Hinter den Bewohnern her. Reisende auf einem Bein und auf dem anderen Verlorene. Reisende kommen zu spät.« (98)11
Irenes Beziehung zu Franz, den sie nach ihrer Ankunft in Deutschland zwanghaft verfolgt, ist kaum als Liebesbeziehung zu verstehen, sondern als Symptom einer posttraumatischen Störung (vgl. Haines 2002: 273).12 Günsel Koptagel-Ilal weist in ihrer psychologischen Studie zu Migration und Trauma auf die verzweifelte Suche nach körperlicher Nähe als »Stütze« zur Aufrechterhaltung des Selbst und der dafür notwendigen Objektbeziehungen als ein Symptom traumatischer Erfahrung hin.13 Dieses Verhalten verstärkt sich in einer Transitsituation und mehr noch, wenn politischer Druck zur Migration geführt hat.14 Für Systemmigranten, die bereits durch politische Erfahrung in ihrem Heimatland traumatisiert sind, kann die Migrationsbewegung und die damit verbundene Orientierungslosigkeit im Zielland daher zu einer weiteren Traumatisierung führen, die der Migrant oder die Migrantin, wie Irene, als Sog in eine »Leere« empfindet.15 Die daran Leidenden sind unfähig, eine funktionsfähige zwischenmenschliche Beziehung zu knüpfen, leiden an Befremdung, Identitätsfragmentation und somatischen Symptomen. »Jede Form von Emigration verursacht an sich schon unvermeidlicherweise eine Art von Gleichgewichtsstörung«, wie der Exilant Stefan Zweig schreibt (Zweig zit. n. Koptagel-Ilal 2002: 200). Bei Irene geht diese Störung auf ihre Erfahrung mit der Diktatur zurück, verstärkt sich in der Fluchtbewegung und führt zur Auflösung des Ich als Zustand der Fremdheit, der auch die sie umgebende Wirklichkeit durchdringt. Schon bei ihrer Abreise zu Anfang des Textes bezieht sie ein Schild, das vor einem Erdrutsch warnt, auf ihre konkrete Ausreisesituation: »Die Warnung hatte in diesem losgelösten Sommer zum ersten Mal wenig mit der Küste und viel mit Irene zu tun« (7). Ihr Verlangen nach Nähe zu Franz, um dem Absturz zu entgehen, empfindet sie an verschiedenen Stellen als einen Sog. In Berlin hängt sie ein von einer Baustelle gestohlenes Schild über ihr Bett, auf dem ein Mann zu sehen ist, der mit dem Kopf nach unten stürzt: »Auf dem Schild stand: Gefahr ins Leere zu stürzen [...] Sie hatte die Warnung auf ihr Leben bezogen. Und auf das Leben aller, die sie kannte« (90).
In Berlin wird Irene zunächst in einem Asylbewerberheim untergebracht. Bereits in der ersten Ortsbeschreibung äußert sich ihr Gefühl, nicht in der Freiheit, sondern in einer Sackgasse angekommen zu sein, die ihr keine Bewegungsmöglichkeit bietet: »Irene wohnte im Asylantenheim. Es lag in der Flottenstraße. Die Flottenstraße war eine Sackgasse.« (30) Der Bahndamm bietet hier keine Fluchtmöglichkeit, er löst keine Sehnsucht aus, sondern bildet eine weitere Einschränkung und erinnert untergründig an die mit den Grenzsoldaten im anderen Land verbundenen Ängste: »Der Bahndamm lag auf der einen Straßenseite. Die Kaserne auf der anderen Seite« (ebd.).16 Sowohl Eisenbahnschienen als auch der Hafen als klassische Topoi der Reise und Bewegung vermitteln bildlich die von Irene gefühlte Beschränkung und zugleich Verlorenheit. Selbst die Fluidität des Wassers tritt hier auf der Bildebene vor der Präsenz von Eisenstangen zurück, die an ein Gefängnis erinnern.17 Kurz nach ihrer Ankunft erlebt Irene im Stadtviertel, in dem sich das Heim befindet, Szenen, in denen Asylbewerber und andere Anwohner in einer Kiste mit Sonderangeboten verzweifelt nach passenden Schuhen wühlen, während ihre Kinder angesichts der Verzweiflung der Eltern weinen und versuchen, sie von der Kiste wegzuziehen. Hier wird der von Benjamin thematisierte Konsumrausch, den Müller auch an anderen Stellen in der Reisenden auf einem Bein kritisch beleuchtet, als Form der Entmenschlichung gezeigt und mit der wirtschaftlichen, kulturellen und psychologischen Lage von Flüchtlingen und Migranten verknüpft. Die Perspektive Irenes setzt die von ihr betrachtete Situation in den Rahmen ihrer eigenen Erfahrung und Desorientierung, die sich im von ihr körperlich empfundenen Balanceverlust bzw. der Fragmentation des Ich äußert – etwas, was sie auch an den beobachteten Asylbewerbern und Migranten wahrnimmt. Deren Scheitern, im für sie erschwinglichen Sonderangebotskorb den zweiten passenden Schuh zu finden, deutet auf die von Irene zu diesem Zeitpunkt empfundene Hoffnungslosigkeit, die ›Verlorene‹ mit der ›Reisenden‹ zusammenzubringen:
Irene hatte gesehen, wie die Männer und Frauen den einen, passenden Schuh gefunden hatten. Wie sie ihn über den Kopf hielten mit der einen Hand. Mit der anderen Hand weiter wühlten, im Haufen der auseinandergerissenen Paare.
Und diese Entfernung blieb, von einem Schuh zum anderen. Sie wuchs hinter den Rücken. Schloß auch die Schultern ein.
Auch in den Augen stand diese Entfernung. […] Wenn sie zur Post gingen, zu laut telefonierten, aus einem rauhen Teil der Stadt. Und in ein anderes Land auf Karten Lebenszeichen schrieben. (31)
Irene schreibt später selbst im U-Bahnhof eine Karte an Franz, der ihre Telefonanrufe nicht entgegennimmt, ihre Lebenszeichen nicht hört (vgl. 33). Es ist diese Fremdheit, die Irene von denen trennt, die an den Orten der Bundesrepublik, die sie besucht (Marburg, Frankfurt, Berlin), zu Hause sind. Diese Fremdheit findet sie in den Bewohnern ihres Viertels, aber je weiter sie durch Westberlin läuft und fährt, auch in den übrigen Bewohnern der Großstadt, die sie auf den Bahnhöfen, in der U-Bahn, in den Straßen und in Kneipen sieht. Wie die Neuangekommenen in ihrem Viertel für die neue Umgebung »zu laut« telefonieren, kommt Irene für eine Beziehung mit Franz »zu spät«. Es ist der – unerfüllt bleibende – Wunsch, anzukommen, den sie mit anderen Vagabunden teilt. Zwar wird im Text die spezifische Erfahrung von Migranten und Flüchtlingen angesprochen und von der der »Bewohner« zunächst unterschieden. Jedoch bleibt der Zustand der Heimatlosigkeit nicht auf Migranten und Flüchtlinge beschränkt, sondern wird im Verlauf von Irenes Bewegung in und außerhalb von Berlin zu einer existentiellen Heimatlosigkeit, welche die Großstadtbewohner der Postmoderne über nationale oder ethnische Grenzen hinweg verbindet.
Franz bleibt von diesem Zustand ausgenommen – zumindest an seinem Wohnort Marburg. Mit seiner Ortsgebundenheit repräsentiert er ein Deutschland, das noch nicht von der Heimatlosigkeit der Postmoderne betroffen ist, die in den 1980er Jahren in deutschen Großstädten spürbar wird. Damit fungiert Irenes Beziehung zu ihm auch als Metapher für die Heimatsuche der Aussiedler. Sein Name macht ihn einer anderen Zeit zugehörig und ist für Irene mit dem Selbstbild der Rumäniendeutschen im anderen Land verbunden (vgl. 98). Irenes Wahrnehmung der Gebundenheit an Orte bei ihm und anderen, denen sie begegnet, fungiert als Spiegel, vor dem sie ihre eigene Fremdheit und Distanz von solchen Beziehungen betrachtet.18 Franz’ Identifikation mit dem deutschen Staat, zusammen mit seiner kritischen Abgrenzung von einem politisch konnotierten deutschen Patriotismus und Beispielen solcher Vaterlandsliebe in der deutschen Geschichte, stellt für Irene den Gegensatz zu ihrem Dasein als vagabundierende Systemmigrantin, aber auch zum nomadischen Dasein der Postmoderne dar: Franz ist »[f]ertig bis in die Gesten« (133). Sein Blick nimmt ihr ihre Beweglichkeit (vgl. 62). Aus ihren Gesprächen mit Franz wird deutlich, dass ein Staat keine Heimat für sie sein kann. Es ist das Unkraut, es sind die »Gräser der Gegenden, in denen niemand wohnte: Brennessel, Distel, Scharfgarbe«, was sie an das andere Land erinnert und ihr die damit verbundenen Schrecken ins Gedächtnis ruft, aber zumindest ansatzweise auch Gefühle von »Heimweh« oder »Wehmut« auslöst, die angesichts der traumatischen Erfahrung in der »Heimat« sofort wieder unterdrückt werden (68).
Auf dem S-Bahnsteig in der Nähe des Asylbewerberheims fühlt sie einen Wind, der in anderen Texten und anderswo in der Reisenden Offenheit und damit neue Bewegungsmöglichkeiten symbolisiert:19 »Auf dem Bahnsteig oben, der Wind. Darunter die Mauer. Das Licht war grell. Und der Sog war kalt.« (31) Dass sie den mit den durchfahrenden Zügen verbundenen Sog ebenso wie den Wind als kalt empfindet, schafft hier zusammen mit dem grellen Licht eine unangenehme Atmosphäre, die Assoziationen mit Verhörsituationen aufruft. Die Kälte ist Ausdruck ihrer Verlorenheit,20 die Unwirklichkeit des Betrachteten Ausdruck ihrer Fremdheit: »Es war ein Bühnenbild für ein Verbrechen.« (Ebd.) Irenes Blick von ihrem Standort auf dem S-Bahnsteig Wilhelmsruh auf die Berliner Mauer und patrouillierende Grenzbeamte lässt den Leser an die Mauer, Grenzübergänge und Bahnhöfe als Szenenbild für vor dem Hintergrund des Kalten Krieges gedrehte Spionagethriller und damit an den Ost-West-Konflikt denken. Vor allem aber klingt hier die Erinnerung an die von Irene an Bahnhöfen im anderen Land ausgestandene Angst an, wo sich das Individuum dem Machtspiel von Grenzbeamten und Geheimdienstlern ausgeliefert findet.
Irene sieht einen »Mann in Uniform«, der mit dem Funkgerät den Bahnsteig entlang geht und den kalten Sog im Gegensatz zu Irene nicht spürt (vgl. ebd.): »Der Mann in Uniform war die erste Person des Stücks. Und Irene, sie zögerte sich mitzuzählen, war die zweite Person. Das Stück hieß wie die Haltestelle: Wilhelmsruh.« (32) Der darauf folgende Satz: »Das Urteil hatte zugeschlagen, bevor das Verbrechen begangen war« (32), bezieht sich auf das Leben Irenes mit den Folgen der Diktatur.21 Sie ist dazu verurteilt, mit ihrer Beschädigung zu leben, während der für die Diktatur stehende Mann in Uniform davon nicht tangiert wird. Statt der aktiven Rolle in einer engen Beziehung mit Franz findet sich Irene als passive und distanzierte Zuschauerin von Szenen wie der obigen oder solchen zwischen Menschen im U-Bahnhof, deren Beziehungen zueinander und zu Irene distanziert, leidenschaftslos oder gestört scheinen und Teil der Transitbewegung werden.22 Sie beobachtet ein sich küssendes Paar:
In den Küssen war eine Klemme.
Das Umsteigen war in den Küssen. Das Warten auf die nächste Bahn.
Wie für Irene das Auf- und Abgehen, um nicht zu stehn.
Um die Schuhe Asphalt. Um das Haar kalte Luft, die nicht still stand. Sie riß.
In dieses kalte Flattern traten jedesmal, wenn sich beide Gesichter voneinander trennten, zwischen ihre Lippen, die gelben Kacheln des Schachts.
Als die nächste U-Bahn kam, waren die beiden von den Wagen und dem Luftsog nicht mehr zu unterscheiden. (32f.)23
Bei ihrer eigenen im Text Der König verneigt sich und tötet beschriebenen Bahnreise nach Marburg sieht die Autorin »im Zug INGE WENZEL AUF DEM WEG NACH RIMINI« (Müller 2009: 112 [Hervorh. im Original]), die Frau auf einem Werbeplakat der Bahn, deren Nachthemd sie an das erinnert, das ihre Großmutter ihr bei ihrem Umzug aus dem Dorf nach Temeswar für ihr Leben in der Stadt genäht hatte. »Es begegnete mir aber schon einmal auf fremder Haut, in einem Schlafwagen, acht Stunden durch die Winternacht von Temeswar nach Bukarest« (ebd.: 113). Das Nachthemd erinnert Müller an ihre Todesangst bei dieser Reise nach Bukarest, wo sie ihrer Westberliner Lektorin Briefe von Inhaftierten für Amnesty International übergeben will. Nachdem sie vor dem Einsteigen von zwei Geheimdienstmitarbeitern bedroht wird, ist sie sich sicher, dass sie in der Nacht aus dem Zug gestoßen werden soll, und die Mitreisende im Nachthemd, die den Schlafwagen mit ihr teilt, Teil des Komplotts ist: »Das obere Bett des Schlafwagens gehörte einer Frau um die fünfzig mit so hohem Haarknoten, daß die Frau einer pelzüberzogenen Teekanne glich.« (Ebd.: 117) Diese Erinnerungen sind nicht voneinander trennbar und kommen der Autorin auf Eisenbahnreisen ungewollt ins Gedächtnis: »Ich sah INGE WENZEL später immer wieder in den Zügen, sie reiste auf allen Strecken« (ebd.: 119). Die Autorin beschreibt, wie sie nach dem Einsteigen so lange durch den Zug läuft, bis sie »INGE WENZEL AUF DEM WEG NACH RIMINI« findet: »Ich war geradezu auf sie angewiesen. Im Abteil saßen Zufallspassagiere beieinander, nur Inge Wenzel und ich waren nicht zufällig zusammen.« (Ebd.: 128) Irgendwann stiehlt sie das Poster, bevor die Bahn es durch andere Bilder ersetzt, und hängt es in ihr Schlafzimmer, da sie es zur Lokalisierung ihrer Identität braucht (vgl. ebd.: 129).
Die Distanz oder Betäubung, aus der Irene ihre Berliner Umwelt betrachtet, ist ein Symptom ihrer traumatisch bedingten Fremdheit.24 Momente bewusster Beobachtung wechseln ab mit unkontrollierbaren Bewegungsimpulsen. Eindrücke der konkreten Umgebung und disparate Erinnerungsfragmente überlagern einander. Letztere bleiben selbstreferentiell und lassen sich nicht chronologisch in eine kohärente Lebensgeschichte einordnen. Der fragmentarische Charakter der narrativen Erinnerungslandschaften, ihre temporalen und räumlichen Brüche und Diskontinuitäten sowie ihre metaphorischen Erstarrungen verweigern den Lesern wie dem Subjekt jegliche Sinnkonstitution. Irene lebt nicht in den »Gründen«, sondern in den »Folgen« und empfindet diesen Zustand als schmerzhaft.25 Die Erfahrung des Gegenwärtigen ist dadurch ebenfalls beschädigt. Herta Müller beschreibt in einem ihrer Essays, wie dies Wahrnehmung und Sprache betrifft: »So verbinden sich die Details von jetzt und damals. Unversehens, grundlos, unerlaubt entsteht die Vergangenwart in der Gegenheit« (ebd.: 108).26 Die Erfahrung der Diktatur führt zu einem Bruch, der die sinnliche Wahrnehmung von Realität nicht mehr zulässt. Sie ist auf den Platz der passiven Zuschauerin beschränkt, die wie durch ein Zugfenster vom Betrachteten getrennt bleibt und die eigene Bewegung nicht kontrollieren kann:27
Dann sah Irene, daß die Menschen, die ihr nahestanden, die Stadt, in der sie lebten, auf dem Rücken trugen.
In diesen Augenblicken wußte Irene, daß ihr Leben zu Beobachtungen geronnen war. Die Beobachtungen machten sie handlungsunfähig.
Wenn sich Irene zu Handlungen zwang, waren es keine. Sie blieben in den Anfängen stecken. Es waren Anfänge, die zusammenbrachen. Nicht einmal die einzelnen Gesten blieben ganz. (147)
Die wechselnde, teils externe Fokalisierung in einer autodiegetischen Erzählung, in der auf das Subjekt in der dritten Person Bezug genommen wird, ermöglicht dem Leser keine Zuordnung der Wahrnehmungsperspektive oder Innensicht. Er hat ebenso wenig Einblick in Irenes Gefühls- und Gedankenwelt wie sie selbst und ist wie sie in seiner Perspektive auf die dissoziative Wahrnehmung konkreter Gegenstände beschränkt. Das lässt ihm die Protagonistin ebenso fremd erscheinen wie ihr selbst ihre Außen- und Innenwelt. Ihre Angst vor der Auflösung des eigenen Ich wird von Alltagsgegenständen der neuen Umgebung ausgelöst, aber auch von Situationen, die ihr die traumatische Erinnerung gegenwärtig machen. Die Angst ist für Irene körperlich spürbar, und sie kann in diesem Moment nur auf der körperlichen Ebene mit ihr umgehen. Wie in den Collagen Irenes ist der eigene Körper wie der der anderen von den Einschreibungen der Vergangenheit gezeichnet. Diese Körperlichkeit ist Ausdruck einer Identitätsstörung,28 aber auch eine Form sprachlicher Performanz, die für Herta Müllers Schreiben von zentraler Bedeutung ist. Die Auflösung des Ich wird durch für den Leser befremdliche sinnliche Eindrücke des Subjekts vermittelt. An einer Stelle beschreibt Irene, wie sie Steinchen ihrer zerrissenen Halskette den Rücken hinabrieseln spürt und es sich anfühlt, »als löse sich die Wirbelsäule auf« (59).
Die Collagen, die Irene zusammenstellt, sind ein Bild ihrer fragmentierten Wahrnehmung. Die Collage – als Motiv in der Reisenden und als Form der neueren Texte Herta Müllers – fungiert Lyn Marven zufolge als Metapher für die Struktur des erlittenen Traumas: Sie kodifiziert diese Struktur und schafft damit zugleich die Möglichkeit, sie zu artikulieren und mit ihr konstruktiv umgehen zu können (vgl. Marven 2013: 136). Zwar werden die Lücken, die sich in der Wahrnehmung des Ich auftun, in der graphisch parzellierten Wirklichkeit der Textcollagen visuell und sprachlich noch deutlicher als in den Prosatexten.29 Dennoch haben die narrativen Strategien in der Reisenden eine ähnliche Funktion, da sie eine Vereinnahmung von Irenes subjektiver Erinnerungsarbeit durch vorgefasste Deutungsmuster abwehren. Denn solche Muster versuchen – auf dieser Ebene vergleichbar mit den von Siegrun Wildner untersuchten pauschalisierenden Deutungsmustern des Holocaust – »Sinn zu stiften, wo kein Sinn ist« (Wildner 2010).30
Hoffnung auf eine Befreiung aus der von außen aufgezwungenen Richtung des Transits und der »Einkerkerung« in der Fremdheit liegt in einem selbstbestimmten Wechsel von Richtung und Tempo der Bewegung. Irenes Spiel mit der Sprache in Collagen, mit ihrer Laufrichtung und Momenten sinnlicher Wahrnehmung, die das Potenzial größerer Nähe zu Dingen und Menschen andeuten, zeigt zumindest die Möglichkeit einer solchen Befreiung auf. Das sinnliche Erleben einzelner Aspekte der konkreten Außenwelt, die ihr helfen, ihre Balance ohne Franz als »Stütze« zu finden und damit die Genese des Ich im Zuge einer selbstbestimmten Bewegung zu ermöglichen, verbindet sie mit dem bisexuellen Außenseiter Thomas. In Gesprächen mit Irene, in denen sie sich auch körperlich nahekommen, benennt er Sinnlichkeit als Antrieb zum Überleben und hebt die Bedeutung von öffentlichen Räumen wie Straßen, Brücken und Bahnhöfen dafür hervor. Denn in diesen können sich Individuen frei bewegen und ihrer Bewegung hingeben.31
Manchmal könnte man meinen, wir haben keinen Verstand. Und brauchen auch keinen. Nur sinnliche Kraft, um zu leben. Weißt du, wo man das merkt, auf windigen Straßen, auf Bahnsteigen im Freien und auf Brücken. Dort bewegen die Menschen sich so schamlos und leicht, daß sie den Himmel fast berühren. (141)32
Dies wird explizit mit der Fahrt in der U-Bahn kontrastiert, als Transport des passiven, in seiner Fremdheit gefangenen Individuums in einer von außen gesteuerten Transitbewegung. Das Zerreißen der Fahrkarte ist ein bewusster Schritt hin zu einer selbständigen Bewegung und Präsenz des Individuums in der konkreten Gegenwart: »Thomas zerriß eine Fahrkarte. Die Fahrkarte dieser Fahrt. Thomas zerriß die Fahrkarte nicht abwesend. Er dachte an das, was er tat.« (138) Auch der Wind wird von ihm nicht als kalt empfunden und mit dem Gefühl der Einsamkeit verbunden, sondern als befreiend erlebt. Irene erlebt die »jouissance« (Haines 2002: 280) einer solchen Bewegungsfreiheit am eigenen Leib, als sie die Straße bewusst bei Rot überquert und entgegen den von äußeren Autoritäten bestimmten Regeln die Großstadt als Raum erlebt und mitschafft: »Weder tot noch lebendig, dachte Irene. Es war fast Freude.« (161) Zugleich eröffnet sich für Irene eine Möglichkeit der Kommunikation über ihre traumatische Erfahrung: »Ich kenn die Könige des Ostens, sagte Irene. Ich habe Angst. Und du hast Angst, du kennst sie nicht. Manchmal, sagte Thomas, wenn du redest und mit den Händen zeigst, was du erzählst, kenn ich sie auch.« (140)
Im Bild der von Irene herbeigesehnten Eisenbahnreise am Ende des Buches wird allerdings auch die Schwierigkeit für jemanden mit Irenes Biographie angesprochen, eine solche Befreiung tatsächlich zu verwirklichen.
In der Berührung zwischen Irenes Blick und dem leuchtenden Fenster lag Kälte und Starrsinn. Und eine angestrengte Stille.
Um auszuweichen ging Irene zum Schrank […]
Der Wunsch zu schlafen war wie eine Sucht.
Und der Wunsch, weit weg zu fahren. Aus dem Abteil durchs Fenster zu sehen, in den Sog der Landschaft hinein, die sich in grünen Schlieren wegdrehte und verschwand. (176)
Die »Berührung« von Irenes Blick und dem leuchtenden Fenster auf der anderen Hofseite verweist Irene wieder auf ihren Platz als Fremde, deren Bewegungs- und sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit gleichermaßen eingeschränkt sind. Sie findet sich als passive Beobachterin am Fenster in einer Außenseiterrolle, die sie sich nicht selbst ausgesucht hat. Die hinter dem Zugfenster im Abteil herrschende Stille unterstreicht hier und an anderen Stellen in der Reisenden die Anstrengung, die mit Irenes zwanghaftem, teils voyeuristischem Blick aus dem Fenster verbunden ist.33 Es bleibt offen, ob ihr Wunsch einer Eisenbahnreise »weit weg« auf eine weiterhin begrenzte Existenz am Fenster verweist – weiter vorangetrieben durch den ›Sog‹ – oder ob sich ihre Perspektive so geändert hat, dass der Blick aus dem Zugfenster befreiend wirken kann. Laut de Certeau ist es gerade die Trennung von der Außenwelt durch die Fensterscheibe, die den Reisenden seinen Gedanken und Träumen überlässt und damit die Möglichkeit der Selbstfindung schafft (vgl. de Certeau 1988: 211); ebenso zeichnet sich der Vagabund, dessen Leben nicht durchgeplant ist, durch seine Offenheit gegenüber verschiedenen Möglichkeiten aus (vgl. Brittnacher / Klaue 2008: 4f.). Die folgenden Abschnitte, in denen die Bahnreisende Irene ihre Mitreisenden als postmoderne Nomaden beschreibt, »die nicht mehr wußten, ob sie nun in diesen Städten Reisende mit dünnen Schuhen waren. Oder Bewohner mit Handgepäck« (176), impliziert, dass ein Wechselspiel von Distanz und sinnlicher Nähe, von Erinnerung und Gegenwart ein Überleben ermöglicht und einen Grad von Fremdheit zulässt,34 der nicht einkerkert oder zum Abschied zwingt, sondern eine – gemeinsame – nomadische Existenz zumindest vorstellbar macht.35
1 | Im Weiteren werden bei Verweisen auf diesen Primärtext lediglich Seitenangaben in Klammern angegeben.
2 | Siehe dazu Margaret Littler (1998), die in ihrer Analyse von Reisende auf einem Bein Rosi Braidottis (vgl. 2011) Begriff des Nomaden verwendet. Vgl. auch Bozzi 2005, Kublitz-Kramer 1993, Harnisch 1997 und McGowan 2013, die sich auf die Weiblichkeit der Reisenden konzentrieren.
3 | Vgl. Preisendörfer 1989. Paola Bozzi weist auf das Unterwegssein als Topos in der zeitgenössischen deutschsprachigen Migrationsliteratur hin (vgl. Bozzi 2005: 117).
4 | Tester versteht den Flaneur als eine Redefigur (›figure of discourse‹) statt als Teil der sozialen Realität. Für ihn ist der Flaneur nicht auf urbane Räume beschränkt, sondern bewegt sich durch verschiedene Landschaften. Er ist zugleich ein schweifender, scheinbar zielloser Beobachter, der sich den Randerscheinungen der modernen Kultur zuwendet und ein selbst zur Ware gewordener Teilnehmer dieser Kultur als Markt ist. Als solcher findet er sich in einer von existentieller Unsicherheit geprägten Randposition.
5 | Dies hatte Wolfgang Schivelbusch (1977) in seinem breit rezipierten Buch zur Eisenbahnreise als »Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert« diagnostiziert, wie es im Buchtitel heißt.
6 | Das entspricht auch der mit der Migrationsbewegung verbundenen Fremdheit, wie sie praktizierende Psychologen verstehen: »Das Migrationsleben ist ein abgespaltener, […] unterbrochener Vorgang, wo Fremdheit das Hauptmerkmal ist. Man ist der Umgebung fremd, die Umgebung ist einem fremd, und man entfremdet sich selbst, wenn es nicht gelingt, mit Hilfe eigener Ressourcen die Verbindungslinien aneinanderzuknüpfen, um […] die Ganzheit des eigenen Selbst wiederherzustellen« (Koptagel-Ilal 2002: 202).
7 | »Die grüne Grenze zu Ungarn und die an Jugoslawien grenzende Donau übten einen Sog aus. Sie zerrten den Verstand in die Füße […] Auf der Donau trieben Leichenteile, Fliehende wurden von Schiffen gejagt und mit den Schiffsschrauben zermahlen. Dennoch wuchs der Fluchtwunsch. Er steigerte sich zur Fluchthysterie, der Ekel vor dem Alltag, der Überdruß des wertlosen Lebens schlug um in eine Hoffnungspsychose, in das gefährlich erreichbare, aber dann in der Fremde machbare Leben.« (Müller 2009: 168)
8 | Dass der von der Autorin als Kind erfahrene, von vorbeifahrenden Zügen verursachte Sog die Befreiung aus der dörflichen Enge des Kindheitsortes verspricht, also nicht ausschließlich auf die politische Situation verweist, steht hierzu nicht im Widerspruch. Den Zug, der an dem die Kühe hütenden Mädchen vorbeifährt, beschreibt die Autorin mit den Worten »[i]n jeder Sprache sitzen andere Augen«. Er schafft ein Moment der Befreiung, aber macht zugleich die Unmöglichkeit der Flucht bewusst (ebd.: 11f.). Auch bei Kristeva befindet sich der Fremde jenseits von Heimatgefühlen: der Ursprung ist verloren, die Verwurzelung unmöglich (vgl. Kristeva 1990: 17).
9 | In dem Interview spricht Müller über ihre Kindheit in einem banatschwäbischen Bauerndorf, wo die nationalsozialistische Vergangenheit ebenso verschwiegen wird wie Weiblich-Sinnliches. An anderer Stelle schreibt die Autorin: »Fremd ist für mich nicht das Gegenteil von bekannt, sondern das Gegenteil von vertraut. Unbekanntes muß nicht fremd sein, aber Bekanntes kann fremd werden.« (Müller 2009: 136)
10 | Vgl. dazu Pasewalck 2004. Julia Müller bezeichnet die Schriften Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt (1986), Barfüßiger Februar und Reisende auf einem Bein als »Transit-Texte« (Müller 2014: 181).
11 | Das Zuspätkommen wird in der wiederholten Feststellung Irenes »Aber ich war nicht mehr jung« auf ihre Lebensreise bezogen, eine Anspielung auf Cesare Paveses Roman Il diavolo sulle colline (1948; dt.: Der Teufel auf den Hügeln), der mit dem Satz »Wir waren noch sehr jung« beginnt (vgl. Pavese 1968).
12 | Neben der zwanghaften Suche nach Zärtlichkeit diagnostiziert Brigid Haines Irenes anhaltendes Gefühl der Einengung, Übererregbarkeit und Hypervigilanz als weitere Symptome einer solchen Störung (vgl. Haines 2002: 273).
13 | Irenes Suche entspricht dem Verhalten von Menschen in Migrationssituationen, »bei denen die Objektbeziehungen, das Dasein oder die Identität gestört oder bedroht sind« und die verzweifelt nach einer menschlichen »Stütze« suchen (Koptagel-Ilal 2002: 199).
14 | Psychologen stellen bei Migranten, die vor politischem Druck geflohen sind, eine gesteigerte Befremdung fest, da sich die mit der im Ausgangsland erlittenen politischen Unterdrückung verbundene Fremdheitserfahrung zu der Fremdheitserfahrung des Ich im Zielland addiert und Identitätsfragmentation wie auch somatische Symptome zur Folge haben kann (ebd.: 201).
15 | »Wenn der Migrant diese Stütze nicht finden kann oder die vermutete Stütze nicht imstande oder bereit ist, ihm den Halt zu bieten, gerät er in eine Leere.« (Ebd.: 199) Es kommt zu einer »Borderline-Persönlichkeitsstörung«, bei der die betroffene Person verzweifelt versucht zu verhindern, tatsächlich oder vermeintlich verlassen zu werden (Özkan / Hüther 2012: 179). Özkan und Hüther zufolge leiden solche ›Borderliner‹ unter einem instabilen Selbstbild, pendeln zwischen Idealisierung und Entwertung der Bindung an den anderen und sind damit letztlich beziehungsunfähig.
16 | Die Kaserne dient nicht nur als Wohnheim, sondern auch als Polizeistation: »Die Kaserne war ein Backsteingebäude […] Die eine Hälfte gehört der Polizei. Die andere Hälfte war ein Asylantenheim.« (30)
17 | »Die Flottenstraße hatte die Härte der großen Häfen, der Eisenstangen, die sich in der Spiegelung des Wassers verdoppelten […] Auf dem Bahndamm rosteten die stillgelegten Gleise.« (Ebd.)
18 | Als sich ein Italiener, den sie in einer Berliner Kneipe trifft, als »heimatlos« bezeichnet, obwohl er eine deutsche Familie hat, stellt Irene dem entgegen, dass sie nicht heimatlos sei, »[n]ur im Ausland«. Im Paradox der Selbstbezeichnung »Ausländerin im Ausland« (65) wird Irenes Fremdheit verstärkt zum Ausdruck gebracht und eine einfache Kategorisierung – als Migrantin, Aussiedlerin, Asylbewerberin, Ausländerin – unterlaufen.
19 | Einige von Müllers Collagen in den Blassen Herren mit den Mokkatassen und Vater telefoniert mit den Fliegen spielen mit dem Gegensatz zwischen der Einengung und konkreten Bedrohung des Individuums im Zugabteil und dem Wind bzw. der Luft außerhalb des Zuges als Metaphern der (Bewegungs-)Freiheit (vgl. Müller 2012: 10, 11). In einer der Collagen in den Blassen Herren lässt die Vorstellung eines in den Wolken schwebenden Schlafwagenschaffners die Dorfbewohner »in alle Richtungen frei torkeln« (Müller 2005, o. S.).
20 | In dem Text Der König verneigt sich und tötet schreibt Müller über das Leben »in den Folgen« (Müller 2009: 106) der zum Zeitpunkt des Erlebens für das Individuum undurchschaubaren und bedrohlichen Realität. Der ständige Verdacht, dass harmlos aussehende Gegenstände, Personen und Situationen der Alltagswelt eine Gefahr darstellen, verfolgt Müller auch nach ihrer Ausreise: »Die einzelnen Momente aus der Vergangenheit könnten mir selbst nicht so grell und neu durch die Gegenwart gehen, wenn ich sie seinerzeit, als sie gelebte Augenblicke waren, durchschaut hätte.« (Ebd.) Auch hier beschreibt sie die traumatische Erinnerung als »grell«.
21 | Der Satz kann aber auch eine Anspielung auf Kafkas Novelle Das Urteil (1912) sein. Darin führt der Vater die Unfähigkeit seines Sohnes Georg, mit der Außenwelt in eine emotionale Beziehung zu treten, als Begründung für sein Urteil an.
22 | Zum Bahnhof als halböffentlichem Raum in literarischen Texten vgl. Zitzlsperger (2013: 10) sowie Schivelbusch (2011: 152-157).
23 | Weitere Beispiele sind die Grausamkeit des Kindes auf dem U-Bahnhof, das den Versuch einer alten Frau, es freundlich anzulächeln, mit bewusst zur Schau gestellter Gleichgültigkeit untergräbt (vgl. 34), oder die Beziehung von Vater und Sohn, Mitpassagieren in der U-Bahn zum Flughafen (vgl. 89).
24 | Auch Kristevas Fremder versteckt seine große Verletzlichkeit hinter einer »gefühllosen Haut« (Kristeva 1990: 16). Für Müller tut sich aufgrund ihrer Erfahrung mit der Diktatur ein Bruch zwischen Sprache und Gegenstand auf, der die sinnliche Wahrnehmung von Realität nicht mehr zulässt. In einer Vorlesung an der Universität Paderborn 1989 / 1990 nennt sie den Bruch einen »Riß als Chronologie und Kontinuität des Geschehens« (zit. n. Renneke 2008: 278).
25 | »Ich weiß, es gibt Gründe. Ich kann sie nicht sehn. Es tut weh, täglich die Gründe nicht zu sehn.« (139)
26 | »In solchen Momenten, wenn sich Gegenwart und Vergangenes durchkreuzen, ist man völlig verrückt und glasklar normal. Man steht kauzig neben sich selbst, läßt sich überfallen und schützt sich in einem, redet sich das Dümmste ein und aus. Aber ein und aus bleibt sich gleich. […] Du wirst nie ein Wort über Marburg und deinen selbstgebauten Ekel an der Lahn sagen. […] Du hütest dich, dir die Lahn anmerken zu lassen, schweigst und läßt andere glauben, daß du kein Auge hast für die schönen Orte, die Gegenwart in diesem Land.« (Müller 2009: 110)
27 | Vgl. de Certau (1988: 211f.).
28 | Als nach einem Gespräch mit Beamten des deutschen Nachrichtendienstes ihr Ich sich aufzulösen scheint, versucht Irene das durch die Bewegung von Körperteilen und das Festhalten am festen Untergrund der Straße zu verhindern. Sie »[p]reßte die Arme eng an die Rippen. Hielt sich beim Gehen am äußersten Rand der Fußsohlen fest. In ihrem Kopf fand etwas anderes statt.« (29) Für Migranten, die nicht auf eine sinnstiftende Vergangenheit zurückblicken können, bleibt Koptagel-Ilal zufolge oft nur noch »der Leib mit seinen somatischen Symptomen« (Koptagel-Ilal 2002: 202).
29 | Bösmann verweist in diesem Zusammenhang auf Müllers Rezeption Eugène Ionescos. Dessen Reflexion des Lebens in einem totalitären Regime zitiert Müller in Hunger und Seide (1995): »Leben wir also. Aber man läßt uns nicht leben. Leben wir also im Detail.« (Zit. n. Bösmann 1997: 51) Indem das Detail des Alltagslebens größer wird als das Ganze, wird es dem totalitären Deutungsanspruch entzogen, isoliert und in Frage gestellt und dieser allumfassende Deutungsanspruch daran zugleich bewusst gemacht.
30 | Dass der Text einen interpretatorischen Rahmen auch im Hinblick auf eine klare Gattungszuordnung verweigert, bezeichnen Haines und Littler als einen literarischen Akt des Widerstandes (vgl. Haines / Littler 2004: 105). Das mache die Reisende zu einem Schlüsseltext im Hinblick auf Müllers Schreibverfahren.
31 | Dass Irene Thomas näher ist als Franz, wird bereits in einem Gespräch mit Franz deutlich, als Irene in einem Zitat aus einem Buch, das beide kennen, »Städte« durch »Bahnhöfe« ersetzt: »Ich weiß, daß man ganze Bücher vergißt, sagte Irene. Nur einzelne, waghalsige Sätze bleiben übrig. Sie gehören einem, als hätte ein eigenes Erlebnis in einem Bahnhof sie einem zugeflüstert […] Bahnhof, sagte Franz. Ich glaube, es ging in diesem Buch um Städte. Man verändert diese Sätze, man macht sie so, wie man selber ist. Man glaubt, man kann von diesen Sätzen leben, weil sie waghalsig sind.« (99)
32 | Zur Fremdheit als Offenheit bei Kristeva vgl. Anm. 34.
33 | Irene beobachtet Menschen nicht nur an öffentlichen und halböffentlichen Orten, sondern – durch ihr Zimmerfenster – auch in deren Intimsphäre (vgl. 53, 120f.).
34 | Die von Kristeva beschriebene Fremdheit beinhaltet auch Aspekte der Offenheit und Freiheit, die Thomas anspricht: »Keinem Ort zugehörig, keiner Zeit, keiner Liebe. Der Ursprung ist verloren, die Verwurzelung unmöglich, eine Erinnerung, die sich immer tiefer gräbt, eine Gegenwart mit offenem Horizont.« (Kristeva 1990: 17) Ein Grad an Fremdheit ist insofern auch eine Voraussetzung für eine nomadische Freiheit.
35 | Die Gemeinsamkeit, die sie hier mit den Mitreisenden empfindet, unterscheidet sich von anderen Reisen im Buch, auf denen die eigene Fremdheit sie von anderen Passagieren völlig trennt, wie von der schlafenden Frau im Zug nach Marbach (vgl. 146). In ihrem Essayband reflektiert die Autorin über ihre Unsicherheit bei solchen Begegnungen in Zügen und anderen (halb-)öffentlichen Räumen, als sie über mögliche Gründe für das unterschiedliche Verhalten von zwei weiblichen Mitreisenden nachdenkt, denen beim Essen Brotkrümel auf die Kleidung fallen: »Hatte die Mühe, etwas über die beiden übers Krümelabwischen abzuleiten, einen Sinn. Oder zeigte die ganze Beobachtung lediglich wie fremd ich selber war, wie unsicher ich anderen gegenübersaß, wie ich mich beschäftigen und an Nichtigkeiten das Richtige und Falsche ableiten wollte.« (Müller 2009: 128)
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