This contribution considers the changes in German-Polish border narratives since 1989, and it argues for a flexible transnational approach to studying borderlands literature. In particular, the article discusses ›border poetics‹ as an idiom of the cosmopolitan imagination: it is a broadly applicable narrative and cultural practice that connects locally and historically specific border experiences with universally understood liminal experiences (e.g., life and death) or with epistemic and ontological boundaries. Using examples from German and Polish literature, the article explains that border poetics both emerges from and expands upon an understanding of the border as a contact zone.
Title:From Borderlands Literature to Border Poetics: German-Polish Transit Spaces and the Cosmopolitan Imagination
Keywords:new borderlands literature; border poetics; cosmopolitan imagination; transdifference; German-Polish literary relations
Im fortgeschrittenen Alter stattet der Deutsche Peter Dieter seiner ehemaligen schlesischen Heimat einen Besuch ab. Von dem Dorf, in dem er aufgewachsen ist, ist nur wenig geblieben und das Elternhaus ist ganz verschwunden. Behutsam sucht er dennoch weiter nach den Spuren seiner Vergangenheit – er bemüht sich, seine bruchstückhafte Erinnerung mit der Landschaft der Gegenwart in Einklang zu bringen. Er wandert allein in die bewaldeten Berge, die er als Kind und Jugendlicher durchstreifte, und will Abschied nehmen von seiner ehemaligen Heimat. Doch sein Herz ist schwach, der Aufstieg anstrengend, und so erleidet er genau auf der polnisch-tschechischen Grenze, die auf dem Bergrücken verläuft, einen Herzinfarkt. Mit letzter Kraft schleppt sich Peter Dieter zu einem der nah gelegenen Grenzpfeiler und stirbt kurz darauf mit einem schmelzenden Stück Schokolade im Mund – ein Bein ruht auf der tschechischen, das andere auf der polnischen Seite. Polnische Grenzschützer finden ihn, wollen jedoch ihren nahenden Feierabend nicht gefährden und tragen den Toten auf die tschechische Seite. Wenig später wiederholt sich die Szene, als die tschechischen Grenzer den Leichnam ihrerseits auf die polnische Seite tragen: »Und so blieb Peter Dieter sein Tod in Erinnerung, bevor seine Seele ganz verschwand – als mechanische Bewegung zur einen und zur anderen Seite, als ein Balanceakt auf einer Kante, das Verharren auf einer Brücke.« (Tokarczuk 2001: 109)
Das zeitweilige Schweben von Peter Dieters Seele im Übergangsraum zwischen Leben und Tod unterstreicht das Transitorische seiner Existenz. Aber auch der Grenzraum zwischen zwei Nationen, der doch vermeintlich absolut ist, ist hier durchlässig. Peter Dieter wird zur einen und zur anderen Seite getragen, denn für ihn gibt es kein von, keinen Ursprungsort mehr. Immer wieder aufs Neue verhandelt die polnische Autorin Olga Tokarczuk in ihrem 1998 erschienenen Roman Dom dzienny, dom nocny (dt. 2001, Taghaus, Nachthaus) die Unvollkommenheit und die Absurdität jeder Art von Grenzziehung, aber auch ihre gleichzeitige Unausweichlichkeit. Mit ihrem Gespür für polyvalente Identitätskonstruktionen und der damit verbundenen inhärenten Widersprüchlichkeit und Dynamik von Grenzen ist Tokarczuk keine Ausnahme. Vielmehr haben das Ende des Kalten Krieges in Europa und die schrittweise Erweiterung der Europäischen Union das Bewusstsein für die Ambivalenz von Grenzen geschärft, was auch im literarischen Umgang mit Grenzräumen und -subjekten deutliche Spuren hinterlassen hat.
Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, einer Poetik der Grenze nachzugehen, die als narrative und kulturelle Praxis aus diesem veränderten Bewusstsein hervorgegangen ist und die unterschiedliche Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit sich mehrfach überschneidenden und sich dabei immer wieder neu konstituierenden Grenzen durchspielt. Wie im genannten Beispiel geht es dabei zunächst um die Grenze als konkret realisierten und politisch geregelten Einschluss- und Ausschlussmechanismus, der zwei als unterschiedlich definierte nationale Räume voneinander trennt. Die Poetik der Grenze destabilisiert diesen rigiden Binarismus jedoch in doppelter Hinsicht: Zum einen werden Grenzen als vielfach historisch überformte und somit poröse Konstruktionen sichtbar gemacht und in ihrer Funktion als Transit- und »Kontaktzone«1 hervorgehoben. Zum anderen wird diese Kontaktzone zum Schauplatz und Verhandlungsraum für Grenzen im übertragenen und symbolischen Sinne (wie z.B. hier für die Grenze zwischen Leben und Tod). Auf diese Weise werden verschiedene Grenzen in einen universell zugänglichen Verstehenshorizont überführt und als Zustandsbeschreibungen sich mehrfach über- und zerschneidender situativer und temporärer Selbst- und Fremdzuschreibungen sichtbar gemacht. Die Poetik der Grenze, wie ich sie verstehe, speist sich also aus der Ambiguität und Widersprüchlichkeit von realen und symbolischen Grenzen und fördert durch die Auseinandersetzung mit deren gesteigerter Komplexität eine kosmopolitische Imagination.2
Dass die Grenzthematik in Bezug auf den deutsch-polnischen Kontext ein sehr fruchtbares und vielfältiges Forschungs- und Betätigungsfeld ist, beweist die große Menge an wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema. Dabei dominierte lange ein weitgehend ›getrennter‹ Blick, der methodisch entweder auf die polnische oder die deutsche Perspektive fokussiert war und der sich auf nationale Räume und Identitäten als zentrale Erklärungsmuster berief. Selbst in vergleichenden Studien wurden deutsche und polnische Räume dabei als prinzipiell unterschiedlich wahrgenommen. Erst seit den 1990er Jahren ist diese überwiegend binäre Betrachtungsweise einem Fokus auf die Wechselbeziehungen und Verflechtungen zwischen Deutschland und Polen gewichen.3
Der Poetik der Grenze mit ihrem universellen Gestus gebührt in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit, da sie in der Lage ist, bereits bewusst gemachte transnationale und transkulturelle Beziehungsgefüge auf neue Weise in den Blick zu rücken und zu artikulieren. Sie verdeutlicht auch, dass es bei der Analyse des deutsch-polnischen Raumes als gemeinsam erlebter Kontaktzone nicht um einen im konventionellen Sinne verstandenen Vergleich gehen kann, der auf der Existenz separater Einheiten basiert, die bei aller Gemeinsamkeit doch als unterschiedliche Systeme konstatiert werden. Vielmehr ist hier ein transkulturell-komparatistischer Ansatz gefragt, der von unabgeschlossenen und mobilen Systemen ausgeht, die sich wandelnden Konstellationen und Perspektivverschiebungen unterworfen sind – so wie es etwa Rita Felski und Susan Stanford Friedman (vgl. 2013) in der Einleitung zu ihrem Sammelband Comparison fordern.
Wenngleich das Konzept der Poetik der Grenze an dieser Stelle am Beispiel der deutsch-polnischen Literatur vorgeführt wird, geht die Praxis selbst deutlich über diesen Rahmen hinaus: Auf die strukturelle und inhaltliche Komplexität des Beziehungsgeflechts Grenzraum Bezug nehmend, werden durch die Poetik der Grenze Ideen von Kosmopolitisierung4 erprobt und im Sinne einer kulturellen poiesis5 vorgebildet. Weil die Poetik der Grenze etablierte und erstarrte Narrative in Bewegung setzt, schafft sie auch neue Verstehenszusammenhänge, die z.B. das Verhältnis von Welt und Literatur und somit auch Konzepte wie Nationalliteratur und Weltliteratur neu beleuchten sowie Diskussionen über den Zusammenhang von Ethik und Ästhetik anstoßen können.
Die Grenzen zwischen diversen deutschen und polnischen Staaten wurde im Verlauf der Jahrhunderte mehrfach verschoben oder auf Kosten Polens sogar vollständig aufgelöst, ohne dass dabei auf die ethnischen, lokalen oder persönlichen Zugehörigkeitsgefühle der Bevölkerung geachtet worden wäre. Jedoch hat die Verflechtung unterschiedlichster Lebensläufe und Geschichten Identitäten hervorgebracht, die sich nicht innerhalb nationalstaatlicher Grenzen fassen lassen. Gleichwohl sind diese Verflechtungen immer wieder gestört und unterbrochen worden, wie dies auch an Tokarczuks Figur Peter Dieter deutlich wird. Besonders der deutsche Überfall auf Polen 1939, die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und die Vertreibungen und Umsiedlungen am Ende des Krieges haben diese Verbindungen nachhaltig erschüttert, und sie prägen das kollektive Gedächtnis von Polen und Deutschen noch heute. Dennoch haben die veränderte politische Situation seit dem Ende des Kalten Krieges und die zeitliche Distanz zum Zweiten Weltkrieg eine Wiederentdeckung der gemeinsamen Vergangenheit ermöglicht und den Weg für einen offeneren Dialog geebnet – wenngleich dieser immer auch aktuellen politischen Entwicklungen unterworfen ist.
Dass auch die Nachkriegsliteraturen beider Länder auf unterschiedliche Weise auf die jeweiligen historischen und politischen Bedingungen und Grenzziehungen reagiert haben, mag wenig überraschen. Pointiert kann man daher sagen, dass bei Texten, die sich mit dem deutsch-polnischen Grenzraum auseinandersetzen, eine Entwicklung vom Schreiben über die Grenze zwischen 1945 und 1989 zu einer ›neuen Grenzlandliteratur‹ nach 1989 und hin zur Poetik der Grenze seit etwa Anfang des 21. Jahrhunderts stattgefunden hat. Bei genauer Betrachtung gibt es zahlreiche Überschneidungen und Mischungen (auch innerhalb einzelner Texte und besonders zwischen den letzteren zwei Tendenzen), die vor allem die klaren Grenzen zwischen den Kategorien in Frage stellen. Dennoch soll diese Typologie zunächst dazu dienen, die unterschiedlichen Möglichkeiten des narrativen Umgangs mit Grenzen und Grenzräumen pauschal zu artikulieren, um sie dann im Weiteren zu verfeinern, zu hinterfragen und aufzubrechen.
In seinem Aufsatz ›Grenzlandliteratur‹ und das mitteleuropäische Dilemma, der 1997 im bilingualen Informationsbulletin Transodra erschienen ist, stellt der polnische Autor Stefan Chwin die Entwicklung der polnischen ›Grenzlandliteratur‹ seit dem Zweiten Weltkrieg dar. Nach Chwins Beschreibung geht es darin zunächst um ein Schreiben über die Grenze: die Nachwirkungen des Krieges, Flucht, Vertreibung und Umsiedlung, an die Sowjetunion verlorene Heimaten im Osten und neue Heimaten in den ehemals deutschen Gebieten. Danach entspreche die überwiegende Mehrheit dieser fiktionalen Texte der seinerzeit vorherrschenden kommunistischen Geschichtspolitik, welche die ethnische Homogenität und somit auch die politische Stabilität des neu geschaffenen polnischen Staates in den Vordergrund stellte. Erst nach Ende des Kalten Krieges sei jenseits der politischen Spannungen zwischen Deutschland und Polen auch ein gesteigertes Bewusstsein für die lange unterdrückte multi- und transkulturelle Geschichte der Grenzregionen entstanden.6 In den 1990er Jahren, so Chwin weiter, habe dann eine neue Generation von Autorinnen und Autoren damit begonnen, anders mit der deutsch-polnischen Vergangenheit umzugehen und von stereotypen Repräsentationen und einem nostalgischen Blick auf die verlorene Kindheit im Osten Abstand zu nehmen. Langsam habe sich so eine »neue Grenzlandmentalität« entwickelt, bei der mobile und »unscharfe« Identitäten im Mittelpunkt stünden (Chwin 1997: 5). Polnische Autorinnen und Autoren eroberten mit einer »neuen Grenzlandliteratur« das ehemals marginalisierte Grenzland zurück (ebd.: 7), und zwar nicht nur als zentralen Teil der polnischen Identität, sondern als Grundlage für ein europäisch definiertes Kulturmodell (vgl. ebd.: 9 u. 13).
Wie die Forschung zeigt, lassen sich auch für die deutschsprachige Literatur in den letzten Jahrzehnten qualitative und thematische Veränderungen in der Auseinandersetzung mit Polen feststellen. Diese müssen im Zusammenhang mit den veränderten gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen seit den 1990er Jahre gesehen werden, die deutsche und polnische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Kulturschaffende veranlassten, die Geschichte in einem europäischen Zusammenhang neu zu betrachten (vgl. Eigler 2013). In der jüngsten Literatur gehe es nunmehr darum, das traumatische Erbe der Vergangenheit zu überwinden: Es werde versucht, scheinbar eindeutige Identitätszuschreibungen wie deutsch, polnisch oder jüdisch aufzubrechen und stattdessen eine Bandbreite individueller Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten zu präsentieren (vgl. Fachinger / Nell 2009: 192). Doch auch wenn es das erklärte Ziel vieler Gegenwartsautorinnen und -autoren7 sei, sich von alten Stereotypen und Mustern zu lösen, kämen sie nicht umhin, dennoch immer wieder in sie zurückzufallen, die exotische Anziehungskraft des Anderen zu betonen oder Ost-West-Dichotomien zu verfestigen (vgl. ebd.: 192f.; Eigler 2013: 2f.). Trotz seiner Bedeutungsverschiebung in Richtung einer Kontaktzone bleibt der Grenzraum also immer auch Ort ambivalenter Identitätskonstruktionen – dies trifft auf deutsche und polnische Texte gleichermaßen zu. Die in ihnen artikulierten Verflechtungen bringen stets auch historische Konflikte und Grenzziehungen ins Bewusstsein. Dabei wird Differenz heute zwar deutlich anders artikuliert, sie wird jedoch nicht aufgehoben.
Diese Entwicklung und die in den Texten reflektierten Spannungen werden auch in den Begrifflichkeiten selbst deutlich. Der vorliegende Aufsatz plädiert daher auch für die Auseinandersetzung mit dem Konzept Grenzlandliteratur und unterstützt seine semantische Neuprägung als ›neue Grenzlandliteratur‹. Um dieses Konzept produktiv zu machen, ist jedoch eine grenzübergreifende Begriffsklärung notwendig, die auch Schwierigkeiten der Übersetzung verdeutlicht. So verwendet z.B. Chwin in der polnischsprachigen Version seines Aufsatzes für die mit »Grenzland-« übersetzten Komposita die Bezeichnungen kresy und pogranicze synonym, geht auf ihre jeweilige Begriffsgeschichte aber nur am Rande ein.8 Gleichwohl verweist die Übersetzung von nowa literatura pogranicza als »neue Grenzlandliteratur« auf die im deutschen Kontext problematische Gattung der Grenzlandliteratur.
Mit dem Terminus Grenzlandliteratur bezeichnete man bis vor Kurzem ausschließlich die aggressiv nationalistische und völkische Literatur aus der Zeit des Nationalsozialismus, die spätestens 1945 obsolet geworden war. Ohne auf der Weiterverwendung des Begriffs selbst zu bestehen, stellt der polnische Germanist Hubert Orłowski fest, dass es nach 1945 eine »neue ›Grenzlandliteratur‹« gibt, die von »›neuen‹ Prämissen ausgeht« und die sich mit dem Verlust ehemaliger Heimaten auseinandersetzt.9 Dieses Phänomen einer neuen Grenzlandliteratur sei allerdings nicht nur in beiden deutschen Staaten zu beobachten, sondern auch »in weiteren Nationalliteraturen Ostmitteleuropas« – wenngleich mit besonderer Ausprägung in Deutschland und Polen (Orłowski 1993a: 15). Im Gegensatz zu Chwin setzt Orłowski den Beginn der neuen Grenzlandliteratur also bereits deutlich früher an, er begreift sie aber auch geographisch weit umfassender als bisher üblich, indem er das Phänomen auch in anderen Nationalliteraturen beobachtet.
Die Fragen, ob eine neue Grenzlandliteratur 1945 oder 1989 beginnt und ob wir uns inzwischen vielleicht sogar schon in einer Phase der »neuesten Grenzlandliteratur« (»najnowsza literatura pogranicza«) befinden (Chwin 1997: 8), sollen an dieser Stelle offenbleiben. Bei der Diskussion um den Begriff soll es stattdessen hier zunächst um zweierlei gehen: Einerseits soll auf die Übersetzungsschwierigkeiten aufmerksam gemacht werden, denen sich eine transnationale bzw. grenzüberschreitende Literaturwissenschaft stellen muss. Andererseits erscheint mir die Aktualisierung des Begriffs Grenzlandliteratur als ›neue Grenzlandliteratur‹ auch deshalb sinnvoll, weil es sich um einen prägnanten Begriff handelt, der zu Reflexionen über viele unterschiedliche Auseinandersetzungen mit dem lokalisierbaren und symbolischen Grenzland einlädt. Zwar darf der spezifische historische Kontext dabei nicht aus dem Blick geraten, dies sollte die Verwendung des Begriffs jedoch nicht ausschließen. So wie Grenzen und das Grenzland selbst historischen Veränderungen unterworfen sind, so werden auch die Narrative über das Grenzland ständig ihren politischen und sozialen Bedingungen entsprechend aktualisiert.10 Als literarischer Stoff besitzt das Grenzland eine fortdauernde Relevanz, und häufig wird dabei nicht mehr nur über die Grenze als Trennlinie gesprochen. Vielmehr lässt sich eine stetig fortschreitende Erweiterung des Narrativs beobachten, die einhergeht mit seiner Öffnung für die Vielschichtigkeit und Dynamik von Grenzräumen sowie die Verflechtung unterschiedlicher Grenzerfahrungen. Historisch und sozial diverse Räume werden dadurch nicht homogenisiert, sondern – inklusive bestehender Konflikte und Differenzen – miteinander in Beziehung gesetzt.
Die ›neue Grenzlandliteratur‹ hat besonders in jüngster Zeit Narrative hervorgebracht, die jedoch mit diesem Konzept allein nicht hinreichend erfasst werden können. Diese gehen bei der Grenzüberschreitung einen Schritt weiter und entwickeln eine umfassende Poetik der Grenze. Dabei handelt es sich um eine Praxis, die sich mit unterschiedlichen konkreten und im übertragenen Sinne verstandenen Grenz- und Transiträumen auseinandersetzt und ihre sich überlagernden und überschneidenden Bahnen in den Blick rückt. Während sich solche Narrative auf national-, regional- und sogar lokalspezifische Grenzerfahrungen beziehen, bringen sie gleichzeitig deren Fluidität und ihre translokalen und transtemporalen Verbindungen ans Licht. Die Poetik der Grenze schafft Räume der Verflechtung, in denen u.a. Grenzen zwischen Leben und Tod, Traum und Wirklichkeit, Geschlechtern, Genres und Sprachen mit kulturell, ethnisch, regional oder national definierten Grenzen in Beziehung gebracht werden. Durch diese neuen Konstellationen (z.B. das Verhandeln von Geschlechteridentität innerhalb sich verändernder politischer Grenzen bei Tokarczuk) wird auch Widerstand gegen hegemoniale Erzählungen geleistet. Diese werden mithilfe einer Reihe von narrativen Strategien (z.B. fragmentarisches Erzählen, Fantastik, Multiperspektivität und Vielstimmigkeit, Brechen von Genrekonventionen usw.) destabilisiert und durch die Darstellung multidimensionaler Verflechtungen und Intersektionalität ersetzt.
Der Begriff ›Poetik der Grenze‹ (bzw. ›Grenzpoetik‹ oder border poetics) ist in der Forschungsliteratur bislang nicht tiefgreifend erörtert worden. Eine wichtige Ausnahme bildet die interdisziplinäre Forschungsgruppe Border Poetics / Border Culture an der Universität von Tromsø in Norwegen, die systematisch an der Entwicklung des Konzepts arbeitet, z.B. in dem von Johan Schimanski und Stephen Wolfe 2007 herausgegebenen Sammelband Border Poetics De-Limited sowie auf den Wikiseiten des Projekts. Auf Letzteren wird border poetics definiert als »field of cultural analysis«, »[that] investigates the ways in which borders are negotiated within medialized forms of production and examine [sic] the function of the forms of representation in the intersection between territorial borders and textual frames.« (Border Poetics / Border Culture Research Group o.J.)
Während die norwegischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Poetik der Grenze also vor allem als Analysefeld definieren, liegt mir daran, sie darüber hinaus als eine politisch und ethisch wirksame kulturelle und narrative Praxis zu begreifen, mit deren Hilfe territoriale Grenzen und diskursiv vermittelte Begrenzungen narrativ und performativ überschritten und destabilisiert werden. Die Poetik der Grenze ist damit nicht nur ein wissenschaftliches Analyseinstrument für Texte und Kontexte, sondern eine Analyse und Kritik sozialer Verhältnisse, die bereits von den Texten selbst geleistet wird. Diese Poetik schafft neue Konstellationen und vermag es, scheinbar bekannte Kontexte auf neue Weise zu artikulieren.
Wenngleich die Poetik der Grenze seit der Jahrtausendwende zunehmend in den Vordergrund gerückt ist, ist sie dennoch kein Phänomen des 21. Jahrhunderts. Auf innovative Weise problematisiert Gloria Anzaldúa bereits 1987 in Borderlands / La Fronterra das geopolitisch lokalisierbare Grenzland zwischen den USA und Mexiko als Verhandlungsraum einer Vielzahl anderer Grenzziehungen. Anzaldúa führt vor, in welchen Konstellationen und Ausprägungen sich Grenzen und Grenzräume reiben und mehrfach kreuzen und welche physischen und psychischen Konsequenzen erfolgreiche oder misslungene Grenzüberschreitungen jeder Art haben. Dies wird auch formell durch das Unterwandern von Gattungsgrenzen vermittelt, denn der Text bewegt sich u.a. zwischen Geschichtsschreibung, Mythologie, Lyrik und Autobiographie.
Auch im deutsch-polnischen Kontext lassen sich frühe Beispiele einer Poetik der Grenze finden. So bringt etwa Günter Grass’ Blechtrommel (1959) formal und inhaltlich zahlreiche konkrete und symbolische Grenzen miteinander in Beziehung, stellt sie gleichermaßen in Frage und bricht Konventionen. Züge einer Poetik der Grenze finden sich auch in Christa Wolfs Roman Kindheitsmuster (1976), in dem die Archäologie der Erinnerung sowohl an konkrete Orte und Zeiten als auch an symbolische Räume gebunden ist, und in Paweł Huelles Roman Weiser Dawidek (1987), der mit magischem Realismus dem Rätsel um das Verschwinden des jüdischen Protagonisten Weiser nachgeht und dabei auch Fragen nach Verantwortung und Schuld aufwirft.
Die Poetik der Grenze sollte verstanden werden als Ausdruck einer kosmopolitischen Imagination, wobei Imagination im Sinne von Arjun Appadurai eine soziale Praxis ist, die sich in Wechselwirkung mit der Wirklichkeit entfaltet (vgl. Appadurai 1996: 31). Die Poetik der Grenze ist somit ein Phänomen mit globalem Anspruch, das auch politisch verortet werden kann. Dies ist nicht zuletzt deshalb der Fall, weil Grenzen durch die intensivierten Globalisierungs- und Transnationalisierungsprozesse der letzten Jahrzehnte in der Literatur sowie in zahlreichen anderen Bereichen in den Mittelpunkt des Interesses gerückt sind. Gleichwohl stehen der damit verbundenen vermeintlichen Auflösung von nationalen Grenzen soziale, politische und ökonomische Entwicklungen gegenüber, die neue Grenzen und Ausschlussmechanismen schaffen und Ungleichheit verschärfen. Gegenwärtige Krisen machen deutlich, dass auch innerhalb Europas immer wieder politische, ökonomische, soziale sowie ideologische Grenzen bestehen (und entstehen) und dass diese nicht selten auf ein starkes Nationalbewusstsein rekurrieren.
Ulrich Beck und Edgar Grande haben in diesem Zusammenhang bereits vor einem Jahrzehnt eine Neuerfindung Europas mit kosmopolitischer Ausrichtung gefordert, welche die Dynamk im Verhältnis der Ideen von Europa und Nationalstaat anerkennt und diese beiden Konzepte nicht mehr gegeneinander ins Feld führt. Nur wenn Differenz nicht zwingend aufgelöst werden muss, sondern anerkannt wird, könne eine Kosmopolitisierung Europas vorangetrieben werden. Notwendig sei dafür ein aktualisiertes europäisches Selbstverständnis, welches einerseits von einer neuen politischen Vision abhängt, das andererseits aber grundlegend auf die Schaffung neuer Narrative angewiesen ist. Erst dann können die unvermeidbaren inneren Widersprüche der Europäisierung als Teil des gemeinsamen europäischen Projekts begreifbar gemacht werden (vgl. Beck / Grande 2007: 4f.). Solche neuen Verstehenshorizonte sind von zentraler Bedeutung, denn, so Beck und Grande:
[T]oday we are confronting the experience of Europeanization without knowing how to conceptualize and understand it. Europe is in movement – Europe as movement – escapes our understanding because this permanent process of transformation contradicts the conception within which Europe hitherto seemed to be self-evidently situated, namely the conceptual horizon of national societies and states (ebd.: 2).
Lokalitäten, Regionen und sogar Europa an sich werden zunehmend als Grenzland erzählt, was häufig mit dem Impuls einhergeht, im Grenzraum eine imaginative Kraft zu suchen (vgl. Chwin 1997; Balibar 2009; Schlögel 2013). Dies kommt auch in literarischen und anderen imaginativen Ausdrucksformen zum Tragen, doch wird dieser Form von kritischer Auseinandersetzung mit Grenzen in Diskussionen um Kosmopolitismus oder die Möglichkeit einer gemeinsamen europäischen Identität nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Dabei werden in der neuen Grenzlandliteratur und besonders über die Poetik der Grenze Räume und Narrative imaginiert, in denen die immer wieder neu entstehenden Spiel- und Konflikträume in ihren Überschneidungen und Überlappungen als veränderliche und veränderbare Prozesse begreifbar gemacht werden. Auch dadurch wird der Vorgang der Kosmopolitisierung (bzw. Europäisierung) denkbar und vorstellbar gemacht.
Die Poetik der Grenze kann aufgrund ihrer kritischen Auseinandersetzung mit Grenzen auch auf ihr Widerstandspotenzial hin untersucht werden. Wie Bożena Chołuj zeigt, tragen Grenzliteraturen, weil sie Ausdruck der Mischung von Kulturen sind, subversive Elemente immer schon in sich. Diese können jenseits des Inhalts und auch entgegen der Autorintention zu Tage treten (Chołuj 2003: 63). In diesem Kontext sind auch die Überlegungen von Walter Mignolo (vgl. 2000) von Bedeutung, der in seinen Ausführungen zu einem kritischen Kosmopolitismus auf die Bedeutung von border thinking hinweist. Zwar meint Mignolo mit Grenzräumen vor allem postkoloniale Räume und bezieht border thinking auf die Notwendigkeit, subalterne Perspektiven anzuerkennen, doch lässt sich so ein »Grenzdenken« generalisierend für die Infragestellung hegemonialer Narrative in einer Vielzahl unterschiedlicher Kontexte anwenden, einschließlich dem von Beck und Grande geforderten Neudenken Europas als kosmopolitischem Projekt. Dass dies auch ein Widerstand gegen hegemoniale Ein- und Ausschlussmechanismen und die binäre Konstruktion von Grenzen ist, lässt sich mit dem Konzept der »Transdifferenz« näher beleuchten. Denn auch Transdifferenz will scheinbare Gegensätze (wie Europa / Nation) in ein produktives Verhältnis bringen, was bedeutet,
dass Differenz gleichzeitig eingeklammert und als Referenzpunkt beibehalten wird: Es gibt keine Transdifferenz ohne Differenz. Transdifferenz ist nicht als Überwindung von Differenz, als Entdifferenzierung oder als höhere Synthese misszuverstehen, sondern bezeichnet Situationen, in denen die überkommenen Differenzkonstruktionen auf der Basis einer binären Ordnungslogik gleichsam ins Schwimmen geraten und in ihrer Gültigkeit temporär suspendiert werden, ohne dass sie damit endgültig dekonstruiert würden (Lösch 2005: 27 [Hervorh. im Original]).
Mit Hinblick auf das Widerstandspotenzial, so Lösch weiter, kann »intrasystemisch generierte Transdifferenz als Keim des Widerstands gegen rigide Schemata der Inklusion und Exklusion und gegen den gesellschaftlichen Normierungsdruck instrumentalisiert werden. Auf der Basis dieses Widerstands können sich soziale Bewegungen formieren [...]« (ebd.: 31).
Neben der politischen Kraft, die so dem border thinking und der Poetik der Grenze als Strategien der Transdifferenz zugeschrieben werden kann, sei an dieser Stelle auch auf die Idee eines »kosmopolitischen Anspruches« verwiesen: Wie Mani (vgl. 2007) in Bezug auf türkisch-deutsche Literatur gezeigt hat, reklamieren Autorinnen und Autoren heute einen cosmopolitical claim auf Mehrfachzugehörigkeit zu verschiedenen nationalen, linguistischen, ethnischen und kulturellen Räumen für sich und dringen darauf, an ihrer Um- und Mitgestaltung teilzuhaben. Anders formuliert, und auf das Thema der Grenzen bezogen, werden über die Poetik der Grenze nicht nur verschiedene Möglichkeiten der Zugehörigkeit zu diversen und multiplen Räumen imaginiert, sondern es wird auch Widerstand gegen feste Zuschreibungen und Grenzziehungen geleistet. Dadurch melden Autorinnen und Autoren den Anspruch an, in Narrative aktiv einzugreifen und den Prozess der Kosmopolitisierung selbst mitzugestalten.
Über den Gestus des Widerstands, das Bestehen auf Transdifferenz und den kosmopolitischen Anspruch werden durch die Poetik der Grenze in literarischen Texten auch neue Räume deutsch-polnischer Begegnung geschaffen, in denen alternative Möglichkeiten des Zusammenlebens und des Erzählens von Geschichte experimentell erprobt und ausgehandelt werden. Das Zulassen verschiedener Perspektiven in der Gestaltung des literarischen Handlungsraumes macht zumindest innerhalb der Texte einen Dialog möglich, der eine kosmopolitische Imagination befördern kann.
Zum Einsatz kommt diese Praxis z.B. in Sabrina Janeschs Roman Ambra (2012). Dessen Hauptfigur Kinga – die zwar in Deutschland geboren ist, deren lange Familiengeschichte jedoch das komplizierte Hin und Her zwischen deutscher und polnischer Identität verkörpert – besucht nach dem Tod ihres Vaters ihre bis dahin unbekannte Familie in Gdańsk (ehemals Danzig), wo sie von den Stimmen und Geschichten der früheren Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt und ihren traumatischen Erinnerungen bedrängt wird. Mit dem Mittel der Fantastik und einer unzuverlässigen Erzählerin, deren Version der Ereignisse immer wieder von anderen in Zweifel gezogen wird, bringt Janesch verschiedene Perspektiven und Zeiten in einen oft schmerzlichen, aber unumgänglichen Dialog.
Auch in Inga Iwasióws Roman Bambino (2008) begegnen einander im Szczecin (ehemals Stettin) der Nachkriegszeit Menschen, deren Schicksale unterschiedlicher nicht sein könnten, die aber durch die gemeinsame Erfahrung der Entwurzelung und Heimatlosigkeit miteinander verbunden sind: Da sind z.B. Maria, die aus Polens Ostgebieten, den kresy, stammt, Janek aus dem relativ wohlhabenden Zentralpolen, Stefan, der seine jüdische Herkunft verheimlicht, und Ula, die eigentlich Ulrike heißt und die verbotenerweise nach Kriegsende in der Stadt verblieben ist und niemals zugeben darf, dass sie Deutsche ist. Neben Geschlechterrollen, Familienbeziehungen und Kindheitserinnerungen wird im Roman auch Sprache selbst zum symbolischen und konkreten Ort der Aushandlung von Identitäten. Sprache ist einerseits an die Vergangenheit gebunden: Sie ist eine Gewalt, die Hierarchien erschafft und verfestigt. Andererseits birgt sie auch das Potenzial, Unschärfen und Ungleichheiten zu überwinden – ein Potenzial, das in diesem Roman jedoch uneingelöst bleibt: Für Maria wird die polnische Sprache zum Ort exemplifizierter Fremdheit – sie hat zwar einen praktischen Wert für die Protagonistin, markiert sie aufgrund des unüberwindbaren Akzents jedoch gleichsam als Außenseiterin. Auch das lateinische Alphabet versperrt sich Maria und sie ist trotz aller Versuche nicht in der Lage, eine emotionale Bindung zum Polnischen aufzubauen. Ula hingegen nimmt das Polnische auf, stülpt es über ihre deutsche Vergangenheit, die sie zu vergessen sucht. Ähnlich verfährt Janek, der seine Sprache dem politischen Jargon des kommunistischen Regimes und der Geheimpolizei anpasst. Gleichzeitig schiebt er seine Vergangenheit beiseite und distanziert sich so zunehmend auch von sich selbst.
Dies sind nur zwei weitere Verweise auf eine neue Grenzlandliteratur, in der entweder durchgehend oder phasenweise eine Poetik der Grenze praktiziert wird. Diese Praxis bringt nicht nur unterschiedliche Positionen miteinander in einen Dialog, sondern vermittelt auch eine lokal, regional, national und sogar persönlich spezifische Grenzerfahrung so, dass in ihr Anknüpfungspunkte für gänzlich andere Grenzerfahrungen aufscheinen und translokale und transtemporale Bedeutungsnetzwerke entstehen.
Den Versuch, eine spezifische Grenzerfahrung universell zugänglich und bedeutungsvoll zu machen, kann man in der Weltliteratur vielfach beobachten. Dem Phänomen begegnet man in zahlreichen literarischen Texten, aber auch in Inszenierungen, Installationen, Kulturprojekten und vielem mehr. Ihnen allen ist ein spezifischer Umgang mit Grenzen und Grenzräumen gemein, der in diesem Beitrag als Poetik der Grenze beschrieben wurde. Zum einen verdeutlicht diese literarische und kulturelle Praxis, dass Grenzen vielfach historisch überformte und durchlässige Konstruktionen sind. Dabei wird die Polyvalenz des Grenzraumes hervorgehoben und auch sein Potenzial als Transit- und Kontaktzone wahrnehmbar gemacht. Zum anderen bindet diese Praxis Grenzerfahrung an einen lokal und historisch konkreten Kontext und markiert so Differenz; sie geht dann jedoch über diese Differenz hinaus und macht Grenzerfahrung als translokal und universell verständliches Phänomen sichtbar. Darin liegt die ethische Relevanz der Poetik der Grenze und ihre Bedeutung für das kosmopolitische Projekt: Hier werden Aussagen über das Verhältnis von Welt und Literatur getroffen, die dazu einladen, die eigene Perspektive zu erweitern und über bestehende Grenzen hinauszublicken.
1 | Der Begriff contact zone wurde von der Literaturwissenschaftlerin Mary Louise Pratt geprägt. Sie beschreibt damit »social spaces where disparate cultures meet, clash, and grapple with each other, often in highly asymmetrical relations of domination and subordination« (Pratt 1991: 34).
2 | An dieser Stelle sei beispielhaft auf Gerard Delanty verwiesen, der die kosmopolitische Imagination als Teil eines »critical cosmopolitanism« beschreibt. Diese selbstkritische und dialogische Form des Kosmopolitismus verfolgt das Ziel, alternative Zugänge zur Geschichte zu finden und Pluralität anzuerkennen (vgl. Delanty 2006: 35). Die damit verbundene Imagination ist ihrerseits offen, selbstreflexiv und begreift Gesellschaft als Prozess kontinuierlicher Selbstkonstitution (ebd.: 40).
3 | Im Bereich der Literaturwissenschaft haben Aufsatzsammlungen und Sonderausgaben von Zeitschriften wichtige Impulse für eine grenzüberschreitende Perspektive gegeben: Vgl. z.B. Neumann / Albrecht / Talarczyk (2004), Zybura (2007), Fachinger / Nell (2009), Eigler (2013), Gansel / Joch / Wolting (2015). Einzelstudien liegen z.B. von Drozdowska-Broering (vgl. 2013) und Eigler (vgl. 2014) vor. Deutlich über den deutsch-polnischen Kontext hinausgehende literaturwissenschaftliche Arbeiten sind Cornis-Pope / Neubauer (vgl. 2004-2010) und Joachimsthaler (vgl. 2011). Einen konsequent inhaltlich und methodisch transnationalen Ansatz bietet auch die interdisziplinär angelegte Reihe Deutsch-Polnische Erinnerungsorte (vgl. Hahn / Traba 2012-2015).
4 | Siehe auch Sznaider / Levy (vgl. 2007), die diesen Begriff dem des Kosmopolitismus vorziehen, um die Prozesshaftigkeit zu markieren.
5 | Richard Kearney führt den Begriff der Poetik auf den antiken Terminus poiesis zurück, der auf die Kraft der Imagination verweist, etwas zu ›machen‹ oder zu ›tun‹. Realität und Imagination stehen dabei in einem Wechselverhältnis und schaffen sich immer wieder neu (vgl. Kearney 1998: 97). Der Begriff der poiesis als kulturelle und politische Kraft ist auch näher ausgeführt bei Holm / Lægreid / Skorgen: »[T]he concept of Europe and Europeanness represents a kind of cultural and linguistic poiesis: a production of religious, historical and political meaning which in turn anticipated some actual European institutions and historically acting collectives.« (Holm / Lægreid / Skorgen 2012: 16)
6 | Häufig ist dabei der polnische Multikulturalismus der Vergangenheit mythologisiert worden, wie dies etwa Gregor Thum (vgl. 2005) am Beispiel der Stadt Breslau / Wrocław erörtert.
7 | Diese Autorinnen und Autoren werden ungeachtet ihrer sehr unterschiedlichen Erfahrungen und Schreibweisen häufig unter dem Begriff der ›Enkelgeneration‹ subsumiert. Dazu zählen u.a. Tanja Dückers, Reinhard Jirgl, Stephan Wackwitz, Michael Zeller oder in jüngster Zeit auch Per Leo. In Polen gibt es keine Entsprechung zu diesem Sammelbegriff.
8 | Pogranicze ist eine recht neutrale Bezeichnung für Grenzland, die keiner der beiden Seiten des Grenzlands Vorzug gibt (vgl. Krzysztof Kwaśniewski in Czaplejewicz 2007: 1). Der Begriff kresy hingegen vermittelt eine polnische Perspektive (vgl. ebd.; Orłowski 1993a: 17). Im heutigen Verständnis bezieht sich kresy überwiegend auf jene ehemals polnischen Regionen im Osten Polens, die nach 1945 im Zuge der Grenzverschiebungen Teil der Sowjetunion wurden und die heute zu den Territorien der Ukraine, Weißrusslands und Litauens gehören. Die aus diesen Gebieten umgesiedelte oder vertriebene polnische Bevölkerung ließ sich nicht selten in den zuvor von Deutschen bewohnten Gebieten Polens nieder. Chwin fasst kresy jedoch allgemeiner und bezieht den Begriff auf ein Grenzland im weiteren Sinne. Es sei »[e]in Gebiet, das sich beide Seiten seit Jahrhunderten gegenseitig aus der Hand reißen« (Chwin 1997: 5) – die Akteurinnen und Akteure sowie die ›Seiten‹ definiert Chwin hier nicht.
9 | Andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben ebenfalls auf eine zwar deutlich anders akzentuierte, aber dennoch vorhandene Kontinuität bestimmter mit der Grenzlandliteratur verwandter literarischer Orientierungen verwiesen. So ist u.a. von einer Fortsetzung der ostpreußischen Literatur in Westdeutschland als »neue Heimatliteratur« (Światłowski 1993: 96) oder von der Entstehung einer »Postheimatliteratur« (Namowicz 1993: 78) die Rede. Selbst mit Bezug auf die frühere, nationalistische Phase der Grenzlandliteratur vor 1945 wird inzwischen eine Erweiterung der Perspektive angestrebt. So zeigt Rinas am deutsch-tschechischen Beispiel, dass sich der bisher eher einseitig auf die deutsche Literatur angewandte Begriff der Grenzlandliteratur auf die Literaturen zu beiden Seiten des deutsch-tschechischen ›Grenzkampfes‹ beziehen lässt und dort in der Rhetorik durchaus Ähnlichkeiten bestehen (vgl. Rinas 2008).
10 | Bożena Chołuj spricht sich in diesem Zusammenhang zwar für den Begriff der »Grenzliteraturen« (im Plural) aus, aber auch sie verweist auf eine Kontinuität, die daraus hervorgeht, dass diese Literaturen stets auch an der performativen Schaffung von Kulturräumen an der Grenze beteiligt sind: »Sobald man bemerkt, dass die ›Grenze‹ kein scharfer Begriff ist [...], kann man die Literatur, die an einer politischen Grenze entsteht, auch als einen Teil der kulturellen und politischen Prozesse betrachten, an denen sie sich, wenn nicht inhaltlich, so doch immer sprachlich beteiligt.« (Chołuj 2003: 59)
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