Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
liebe Mitglieder der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik,
sehr geehrte Leserinnen und Leser der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik,
nachdem vom 4. bis 9. Oktober die GiG-Tagung 2016 in Ústí nad Labem und in Prag in Tschechien stattfand, nehme ich natürlich gerne die Gelegenheit wahr, an dieser Stelle zu berichten. Da auch die ersten Vorbereitungen der nächsten GiG-Tagung im kommenden Jahr an der Europa-Universität Flensburg im Norden Deutschlands mit Blick auf Skandinavien und die Germanistiken in dieser Region bereits begonnen haben, finden Sie hier in diesem Heft der ZiG unter anderem unseren neuen Call for papers.
Die Tagung begann am 4. Oktober in Ústí nad Labem in Nordböhmen in den kürzlich generalrekonstruierten Räumlichkeiten des Stadtmuseums, das auf eine Geschichte von 140 Jahren zurückblickt und im zentral gelegenen Neorenaissance-Schulgebäude aus dem 19. Jahrhundert untergebracht ist.
Der Tagungstitel »Vielfältige Konzepte – Konzepte der Vielfalt: Interkulturalität(en) weltweit« bestimmte die Ausrichtung der Arbeit unserer internationalen Forschungsgemeinschaft, bei der es darum ging, besondere Aufmerksamkeit auf »ein Arbeiten im Plural« zu legen, und also die Auseinandersetzung mit Interkulturalitäten fokussiert wurde. Dem liegt zugrunde, dass gerade die breite Fächerung der wissenschaftlichen Fragestellungen und Zugänge der interkulturellen Germanistik erlaubt, vielfältige Konzepte weltweit nicht nur zu apostrophieren, sondern tatsächlich in den Blick zu nehmen.
Damit beziehen wir die Interkulturalitätsforschung sowohl auf unsere Untersuchungsgegenstände als auch auf die wissenschaftlich-methodischen Ansätze, mit denen wir uns den jeweiligen Fragestellungen nähern. Dies ist aus meiner Sicht ein vielversprechender Ansatz im Grunde wissens- bzw. wissenschaftssoziologischer Provenienz, wobei durchaus auch an die Wissenssoziologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu denken ist. Hier wurde – um nur einen einzigen Aspekt zu nennen – mit dem Begriff des ›Relationismus‹ von Karl Mannheim schon 1924 die Überlegung begründet, dass standortgebundene (»seinsverbundene«) Erkenntnisse sehr wohl wissenschaftlich sein und dabei sowohl eine ungeschichtlich-statische Denk- und Erkenntnishaltung einerseits als auch einen alle Werthaltungen nivellierender Nihilismus andererseits vermeiden können.
Wenn Ansätze wie dieser seit geraumer Zeit zunehmend – und, wie ich meine, erfreulicherweise – erneut in Erwägung gezogen und fruchtbar gemacht werden, bleibt allerdings eine ganz unverzichtbare Komponente viel zu oft weiterhin außer Acht: Eine Auseinandersetzung mit der Mannigfaltigkeit der Konzepte von Interkulturalität und Vielfalt setzt selbstverständlich die Kenntnis der entsprechenden Sprachen voraus, in denen betreffende Ansätze entwickelt und niedergelegt wurden beziehungsweise werden.
Die interkulturellen Germanistinnen und Germanisten, also uns alle, verbinde ich vor meinem geistigen Auge oft mit der Vorstellung einer Landkarte, in die als eine Netzstruktur unsere gesamten Sprachkenntnisse eingetragen sind. Die Gesamtzahl der Sprachen, die die GiG-Mitglieder und die interkulturellen Germanistinnen und Germanisten weltweit zusammen genommen als aktive, als passive Kompetenzen, als Erinnerungen und so weiter beherrschen, ist nicht bekannt. Ebenso wenig wurde je erhoben, welche Sprachen von jeweils wie vielen von uns beherrscht werden, aber auch diese Zahlen wären von Interesse.
Ohne Frage kann dieses enorme Potential unserer Forschungsgemeinschaft meiner Ansicht nach aber noch viel mehr aktiviert werden, wenn es darum geht, vielfältige Konzepte von Interkulturalitäten weltweit zu erforschen. Dasselbe gilt natürlich auch für alle möglichen anderen Untersuchungsfelder.
Spinnt man diesen Faden weiter und denkt darüber nach, wie konkret gearbeitet werden kann, um vielfältige Konzepte der Forschung zugänglich zu machen, rückt die große Bedeutung von – besonders wissenschaftlichen – Übersetzungen in den Blick. Denn dass es nicht mit einem Verweis auf das Englische als mögliche Lingua franca der Wissenschaft getan ist, bedarf kaum der Erwähnung, allein schon wenn man bedenkt, dass es ja um vielfältige Konzepte, die in unterschiedlichen Sprachen vorliegen, geht. Dies ist auch einer der Gründe, warum es sehr zu begrüßen ist, dass bei dieser GiG-Tagung das Feld des Übersetzens in einer eigenen Sektion repräsentiert ist.
Dieselbe Überlegung – dass nämlich die Auseinandersetzung mit vielfältigen Ansätzen ins Zentrum gerückt werden soll – liegt dem Bestreben zugrunde, die interkulturelle Germanistik in der vollen Breite des Faches abzubilden: Zu meiner Freude ist dies gelungen und die Fachvertreterinnen und Fachvertreter, die etablierten und jungen Forscherinnen und Forscher mit den Promovierenden ebenso wie in der Praxis Tätige stehen für die Bereiche der:
Dieser Ansatz der fachlichen Breite weist Wege, um – im Sinn des Gestaltprinzips, dass das Ganze mehr als die Teile ist – die interkulturelle Germanistik in ihren »Seinsverbundenheiten« fruchtbar zu machen und das Tagungsthema ertragreich zu bearbeiten.
Abgebildet wurde es unter anderem im Spektrum der Plenarvortragenden und ihrer bereichernden Beiträge, für die ihnen hier nochmals gedankt sei: David Simo (Yaoundé, Kamerun) sprach über das Thema Interkulturalität und Wissensproduktion, Goro Kimura (Tokio, Japan) über das Thema Interlinguale Strategien und Interkulturalität, Ernest Hess-Lüttich (Berlin, Deutschland) über Integration und Identität – oder: Medien, Moslems, Migration. Zur Diskursanalyse einer europäischen Kontroverse, Alison Lewis (Melbourne, Australien) über Herausforderungen für die australische Germanistik: Transkulturell, transnational und / oder interdisziplinär?, Paul Michael Lützeler (St. Louis, USA) über Die Rolle der Literatur in der amerikanischen German Studies Association und Paolo Soethe (Curitiba, Brasilien) über Vilém Flusser und die Interkulturalität: Ein deutsch-sprachiges Konzept der Vielfalt für Brasilien – aus Prag. Dem GiG-Konzept der Vielfalt entsprechend waren damit die verschiedenen Kontinente repräsentiert ebenso wie die unterschiedlichen Teildisziplinen der interkulturellen Germanistik. Ausdrücklich ist dem DAAD zu danken, dass die Plenarvortragenden mit seiner finanziellen Unterstützung eingeladen werden konnten.
Neben der großen Zahl an Vorträgen bleiben die Tage in Ústí und in Prag mit einem vielfältigen Rahmenprogramm in Erinnerung, der Tanzinszenierung Café Aussig zur Geschichte der Tschechoslowakei und Tschechiens im 20. Jahrhundert sowie der Lesung mit dem Chamisso-Autor Vladimir Vertlib in Ústí, dem Kulturabend »Böhmen liegt am Meer« zur Geschichte der Böhmischen Länder und der Gegenwart Tschechiens und einer Lesung mit Katharina Winkler in der Deutschen Botschaft in Prag.
Die Vorträge der GiG-Tagung in Ústí nad Labem und Prag werden in gleich mehreren Bänden publiziert: Wie immer in einem gesonderten Band mit den Tagungsakten, in einem Themenheft der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, einem Heft der Aussiger Beiträge sowie einem Band der brücken. Germanistisches Jahrbuch Tschechien – Slowakei. Natürlich werden auch die Beiträge der Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler berücksichtigt; derzeit laufen Gespräche mit den Herausgebern der Zeitschrift Germanistica Pragensia.
Schließlich fand am 7. Oktober 2016 in Prag die Mitgliederversammlung statt, zu der fristgerecht und schriftlich auf dem Postweg eingeladen wurde. Das Protokoll wird den GiG-Mitgliedern als E-Mail-Anhang zugeschickt. Besonders hervorgehoben sei an dieser Stelle, dass die anwesenden Mitglieder die Verdienste von Prof. Dr. Dr. Dr. Ernest W.B. Hess-Lüttich um die GiG würdigten und seine Wahl zum Ehrenmitglied einstimmig beschlossen.
Für die ausgezeichnet organisierte Tagung spendeten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer großes Lob und auch an dieser Stelle ist Renata Cornejo (Ústí nad Labem) und Manfred Weinberg (Prag) nochmals sehr herzlich zu danken.
Wie erwähnt, sind die Vorbereitungen der GiG-Tagung 2017 inzwischen bereits angelaufen. Sie wird von Iulia-Karin Patrut und Matthias Bauer (beide Europa-Universität Flensburg) organisiert und Sie finden den Call for papers im vorliegenden ZiG-Heft. Sie werden sehen, dass der Termin im kommenden Jahr etwas früher, nämlich im September 2017 liegt, was zum einen denjenigen unter Ihnen entgegenkommen soll, bei denen die Semesterpause Ende September endet, und zum anderen dem Semesterzyklus an der Europa-Universität Flensburg geschuldet ist, der Gastgeberin der nächsten GiG-Tagung.
Auch im kommenden Jahr hoffen wir entsprechend der vielfältigen Schwerpunktsetzungen der internationalen Germanistiken, Felder von der Interkulturellen Literaturwissenschaft über die Interkulturelle Linguistik, die Mehrsprachigkeitsforschung, die Dialog- und Konfliktforschung, die Translationswissenschaft, Deutsch als Fremd- und Zweitsprache bis hin zur Mediävistik vertreten zu sehen. Dieses Anliegen wird auch weiterhin im Rahmen der bereits in GiG im Gespräch in der Ausgabe der ZiG 2015 / 2 angeregten und initiierten Forschungsschwerpunkte weiter verfolgt.
Schließlich kann ich Sie nun bezüglich des übernächsten Tagungsortes vorinformieren: Die GiG-Tagung 2018 soll erstmals im frankophonen Westafrika stattfinden, nämlich in Benin, wo sie gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen aus Togo veranstaltet wird. Es freut mich besonders, dass wir dort auch mit einer großen Zahl an Studierenden der Germanistik und Deutsch-als-Fremdsprache-Lernenden ins Gespräch kommen werden.
Meinerseits wünsche ich Ihnen für die nächsten Wochen und Monate herzlich alles Gute und bleibe mit ganz herzlichen Grüßen
Ihre
Gesine Lenore Schiewer