Transitional and transitory phenomena are mostly interrelated with various forms of dynamic self-perception, -articulation and -reflection, and combined with relational perception, experience and construction of foreignness, alterity and difference.
In José F. A. Olivers poem kompass & dämmerung (2002) poetical transformations of the transitory can be traced through the interplay of specific literary themes, motifs and techniques. The main focus of this paper is on the poetic performance of a fluctuating and pluralist self-exploration – located at dawn as a transitional phase – via deictic acts creating fleeting interior and exterior spaces which are undistinguishable. This is complemented by literary techniques of lexical splitting, poetic neologisms and multilingual references which blur the boundaries of one-dimensional perception and of determining allocation of meaning and keep words in the balance.
Title:›Sich herschreiben, sich fortschreiben, sich einschreiben in Sprache‹: Themes and Techniques of the Transitory in José F. A. Olivers kompass & dämmerung
Keywords:Oliver, José F. A. (* 1961); modern poetry; transitional and transitory poetics; deictic performances; poetical self-articulation
»Wer sich an einem Übergang befindet, ist im Begriff, auf (und in) ein Anderes, Ungewohntes einzugehen, das zunächst nur in Umrissen erkennbar sein kann«, schreibt Görner in seinen Ausführungen zu einer Poetik des Transitorischen (Görner 2001: 7). Das wirft die Frage auf, was mit einem Ich in einem Raum, einer Situation, einer Phase des Übergangs, angesichts eines unentwegt verspürten Unterwegsseins oder einer Schwellen- bzw. Grenzerfahrung geschieht und wie es sich dazu verhält. Über die jeweiligen transitorischen Räume, Elemente, Phänomene und Konstellationen werden Identitätsaspekte in je besonderer Weise perspektiviert und es werden verstärkt Reflexionen über Formen des Selbstverständnisses und Selbstverhältnisses angestoßen, also darüber, wie eine Person »ins Verhältnis zu sich selbst tritt« (Straub 2004: 280). Ein Ich, so Görner, sei Übergangsphänomenen eher passiv ausgesetzt, könne sich aber in Übergangsphasen auch im Sinne Rimbauds als ›ein anderes‹ bzw. – so ist vorausschauend mit Blick auf kompaß & dämmerung von José F. A. Oliver zu ergänzen – als ein plurales begreifen (vgl. Görner 2001: 7).
In oder an Übergängen unterschiedlichster Art sieht sich ein Ich verstärkt zu einer Begegnung mit anderem / anderen oder mit sich selbst als ein anderes, ein sich wandelndes bzw. verwandeltes oder – über veränderte und wechselnde Bezugnahmen – als ein sich kontinuierlich neu, auch narrativ, sprachlich vermessendes, ausrichtendes und bestimmendes Ich und damit zu intensivierter Selbstreflexivität herausgefordert. Phänomene des Transitorischen verbinden sich mit je unterschiedlichen Formen der relationalen Selbst-, Fremd- und Differenzwahrnehmung, -erfahrung und -konstruktion und erfordern somit Überlegungen zu Positionierungen, Verortungen und Blickwinkeln des wahrnehmenden Ich. Identitätstheoretisch ist dies zu fassen als »Reflexion einer Differenz, die das Selbst stets auch ›als Anderes‹ und mitunter ›als Fremdes‹ thematisiert.« (Straub 2004: 281)
In der Lyrik Olivers gestalten sich transitorische Aspekte meist als Zusammenspiel spezifischer Themen, Motive, Formen und Verfahren. Am Beispiel seines Gedichts kompaß & dämmerung lässt sich nachzeichnen, wie Übergänge als Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Sprach(-en)-räume sowie transitorische Identitäten erdichtet werden und welche Gestalt dabei ›w:orte‹ als Spielfeld provisorischer Konstellationen annehmen. Die graphisch auffällige Konstruktion »w:ort« (Oliver 2002: 12) impliziert den von Oliver gezielt eingesetzten, von ihm so bezeichneten »poetischen Doppelpunkt« (Oliver zit. n. Ryneveld 2008: 2) als Spielart seiner »Umschrift aus Passion« (Oliver 2007b: 13). Letztere resultiert aus dem fortwährenden Versuch, zu einer eigenen Sprache bzw. (Selbst-)Ausdrucksform zu finden. Der auf ein künstlerisches Verfahren Olivers verweisende Doppelpunkt macht ›Ort‹ in ›Wort‹ augenfällig und lädt darüber zu einer Reflexion über die Beziehung zwischen beidem oder zwischen Raum und Sprache(-n) ein. Diese Einladung aufgreifend ist zu fragen: Wie gestalten sich in der lyrischen Hervorbringung des Transitorischen Räume, die Worte bergen oder in Worten aufgehen? Oder: Wie werden über Worte bzw. Sprache(-n) und sprachliche Handlungen sich konstituierende Räume – Außen- wie Innenräume – entworfen? Mit Blick auf poetologische Überlegungen Olivers soll weiter die Frage angeschlossen werden, welche Bedeutung Verfahren und Phänomenen poetischer Mehrsprachigkeit und Mehrstimmigkeit, wie etwa Sprach(-en)-wechseln oder inhärenten mehrsprachlichen Bezugnahmen, in der Vorführung transitorischer Übergänge, Räume und Identitäten zukommt.
Die Besonderheiten moderner lyrischer Sprachverwendung unterstützen in vielfältiger Weise die Vorführung transitorischer Phänomene bzw. schaffen diese, indem Mehrdeutigkeiten, Verschiebungen und andere Beweglichkeiten vielfältig in Szene gesetzt werden und somit die sprachliche Vermitteltheit des Transitorischen in den Blick rückt. Das von festlegenden Bezügen befreite Wort in der modernen Lyrik, so etwa Barthes, »brille d’une liberté infinie et s’apprête à rayonner vers mille rapports incertains et possibles« und sei folglich enzyklopädisch: »Chaque mot poétique est ainsi un objet inattendu, une boîte de Pandore d’où s’envolent toutes les virtualités du langage« (Barthes 1972: 36f.).1 Und auch Hans Magnus Enzensberger hebt die Vieldeutigkeit und Vielgestaltigkeit des frei gesetzten und gehaltenen lyrischen Worts hervor, die in der Lyrik der Moderne vor allem durch »Entstellung« hergestellt werde, weil sie »das Wort der gewöhnlichen Zusammen-stellung entreißt, um es dichterisch neu verfügbar zu machen« (Enzensberger 1961: 28 [Hervorh. im Original]). Die dadurch erzeugte Offenheit »läßt das Wort zwischen seinen einzelnen Bedeutungsmöglichkeiten gleichsam in der Schwebe und verhindert seine konkrete Bindung, seine Festlegung, die alle anderen, in ihm liegenden Möglichkeiten ausschlösse und seine klanglichen Werte zurücktreten ließe« (ebd.: 31).
Über eine so verstandene Entstellung lassen sich auch zentrale Verfahren im lyrischen Werk von José F. A. Oliver beschreiben. Er sei, wie er selbst es in seinem Essay Mein Hausach beschreibt, »zwischensprachlich« erzogen, und dies bedeute »kulturmehrfach heranwachsen (andalusisch / alemannisch, spanisch / deutsch)« (Oliver 2007b: 9). Das auf diese Weise stilisierte sprachliche Repertoire und damit sich verbindende spezifische Spracherleben wird in seiner Dichtung zum schöpferischen Anstoß für ein kontinuierliches Sichherschreiben, Sichfortschreiben in poetischer Sprache.2 Oliver konkretisiert: »weiterreisen und ein MEHR sich ergründen, an Identitäten. Beileibe nicht Verlust.« (Ebd.: 11 [Hervorh. J. O.])
Seine Gedichte sind durchzogen von poetischen Imaginationen vielfältiger Suchbewegungen und Spielarten des Unterwegsseins (immer auch in Worten), wie es etwa im Titel seines Gedichtbands fahrtenschreiber zum Ausdruck kommt. Einer Selbstauskunft zufolge setzt er seine mehrsprachig geschärfte Sprachbewusstheit ein, um »die eigene poetische Sprache zu entwickeln« (Oliver zit. n. Ryneveld 2008: 3), zu einer selbstbestimmten Stimme zu finden und dadurch einem Gefühl von Sprachohnmacht zu entkommen. Er sei »ein Poet, der sich aufgemacht hatte, seine Sprache zu suchen, um nicht zu verstummen« (Oliver 1989: 9), formuliert er einleitend in dem Band HEIMATT und andere FOSSILE TRÄUME angesichts im Laufe seiner Biographie erfahrener einschränkender Zuschreibungen und Festlegungen – dazu ist etwa die Kennnummer in seinem Reisepass zu zählen, die ihn, in Hausach geboren, als spanischen Staatsbürger identifiziert (vgl. ebd.: 8).
Das von Festschreibungen befreite und befreiende lyrische Wort hingegen eröffnet Spielräume der Selbstentfaltung und Olivers kontinuierliche, wie er es ausdrückt, »in die Sprache sich hinein schreibende Spracharbeit[, a]lso die Arbeit am Wort, die Arbeit an der Sprache« (Oliver zit. n. Ryneveld 2008: 2) wird in seinen Gedichten im Sinne entautomatisierter Wahrnehmung produktiv. Ungewöhnliche Wortmontagen sowie Techniken der Fragmentierung und Fokussierung von Sprachelementen, etwa durch unkonventionellen Einsatz von Interpunktion und durch mitunter wortzerteilende wie -durchschreitende Enjambements, kennzeichnen sein Werk. Diese ›Entstellungstechniken‹ fungieren als poetisch eingesetzte Stolpersteine, die ein Innehalten, ein genaueres Hinschauen und -hören herausfordern, Eindeutigkeiten aufheben und eindimensionale, automatisierte Bedeutungszuweisungen durchkreuzen. Dazu zählt u.a. der bereits angeführte poetische Doppelpunkt, der die Gestaltung und Wahrnehmung des lyrischen Texts auf visueller wie rhythmischer Ebene beeinflusst und eine spaltende Funktion zur Herstellung vielfältiger neuer Bezüge erfüllt:
Für mich heißt die Trennung, Doppelpunkte, das Aufspalten von Wörtern, dass ich diese Wörter in ihren Bedeutungen wieder entzingel, einmal lexikalisch entzingel, andererseits aber auch eine poetische Dimension gewinne und Sprachbewusstsein schaffe für mich selber und damit auch für denjenigen, der das Gedicht liest. (Oliver zit. n. ebd.: 14)
Die so erzielte Sprachaufmerksamkeit korrespondiert mit erweiterten, differenzierteren und fluktuierenden Ausdrucks- und Wirkungsmöglichkeiten. Über den Doppelpunkt kreiere er zudem »eine poetische Etymologie«, wie z.B. auch in ›w:erden‹: Durch den trennenden Doppelpunkt werde sichtbar, dass in ›werden‹, also ›entstehen‹, das Wort ›erden‹ stecke, etwa assoziierbar mit ›ankommen‹, ›wieder zurückkehren‹ (vgl. Oliver zit. n. ebd.: 15). Das Wort (im Wort) wird dem lyrischen Spiel freigegeben und aus konventionellen Bedeutungsstrukturen gerückt. Dieses Verfahren legt neue Wortschichten frei, stiftet vielfältige neue Bezüge, schafft transitorische Bedeutungen und hält dadurch Sprache und Wörter offen.
Die durch Verfahren wie ›Entzingelung‹ in Bewegung versetzten Wörter mit ihren in der Schwebe gehaltenen und entsprechend flüchtigen Bedeutungsmöglichkeiten sowie den dadurch hinzugewonnenen poetischen (Selbst-)Ausdruckspotentialen verbinden sich in vielen Werken Olivers mit Themen und Motiven des Transitorischen – so auch in folgendem Gedicht aus dem Band nachtrandspuren:
kompaß & dämmerung
Da ist der osten weit hinter meiner stirn. Da
ist der westen ein pfandaug hei
matt. Da ist der süden würfel
becher dem hunger. Da ist NORDEN. No
pierdas el norte. Da ist ostwest
laibung der sonne. Da ist der mond
auf seiner suche nach dem zwiegeschlecht. Da ist
die SPRACHZEITLOSE licht
verzweigung der vogelunruh. Da ist tau
brotwärme im verlegten w:ort
ist stille noch. Da ist der tag
so reichbar nah
Für Harald Weinrich
(Oliver 2002: 12 [Hervorh. im Original])
Das Gedicht führt die Suche des lyrischen Sprechenden nach Orientierung als assoziativ-reflektierende Ausleuchtungen von Möglichkeiten innerer Selbstausrichtung sowie Formen des Selbstverhältnisses und -ausdrucks über relationale Richtungsbestimmungen und projektive Naturbetrachtungen vor.
Der Titel initiiert diese Suche über einen Kompass, der zur Richtungsbestimmung sowie zur Navigation dient und mit dem sich eine Person zugleich in ein Verhältnis zu einem sie umgebenden Raum setzt bzw. diesen über die jeweiligen Ausrichtungshandlungen hervorbringt. Das lyrische Ich spielt, einem inneren Kompass folgend, flüchtige und transitorische Selbstauslotungen zum einen über Assoziationen zu den Himmelsrichtungen durch, zum anderen richtet es sich probeweise in und an durch Wandel gekennzeichneten Naturerscheinungen (wie etwa »dämmerung«, »laibung der sonne«, »tau«) aus und tritt darüber in einen Dialog mit sich selbst bzw. mit einem wie auch immer vorstellbaren anderen (mit dem anderen in sich selbst, einem imaginären Gegenüber oder dem Rezipierenden). Sprechenderweise findet diese mehrdimensionale Suche in einer Schwellensituation statt: der symbolisch aufgeladenen Morgendämmerung, diesem immer wiederkehrenden, immer neu einsetzenden Übergang zwischen der Dunkelheit der Nacht und der Helligkeit des anbrechenden Tags. In der Dämmerung, einer möglichen Spur am Rande der Nacht, ist das Ich sich selbst auf der Spur. Der Kompass, ein Hilfsmittel zur Orientierung, das allerdings nur zur Bestimmung einer fest vorgegebenen Richtung dienen kann, verbindet sich im Titel über das Et-Zeichen (»&«) mit der Dämmerung, einer durch fließenden Übergang und Wandel gekennzeichneten Naturerscheinung, in der facettenreiche Grautöne die klare Unterscheidbarkeit von Hell und Dunkel auflösen. Damit ist schon angedeutet, dass das Bestimmen der Richtungen, um sich selbst aufzuspüren, in der Dämmerung nebulös und veränderlich bleibt.
Die Modellierung der vorgeführten Suchbewegung als eine innere, als Versuche wechselnd perspektivierter Selbsterkundung deutet sich gleich im ersten Vers an, in dem »osten« weit hinter der Stirn des lyrischen Ich imaginiert oder auch erinnert wird. Mit seinen durchgespielten Zeigehandlungen und ständig wechselnden Blickrichtungen erzeugt dieses Ich den es umgebenden Raum selbst (in sich) bzw. setzt sich im Akt der Hervorbringung leiblich zum vorgestellten Raum und darüber zu sich selbst in Beziehung. Formal ist die mehrdimensionale Selbstauslotung über das anaphorisch eingesetzte Adverb ›da‹ in Kombination mit ›sein‹ inszeniert, wodurch ein deiktisches und dynamisches Spiel mit Positionierung und mit Nähe-Ferne-Relationen in Gang kommt, das in der zeigenden Selbst- und Raumerzeugung mit der Diffusion von Grenzziehungen zwischen Innen und Außen einhergeht.3
Das Zeigen mit sprachlichen Mitteln hat drei Dimensionen: »Im ›Zeigen für‹ einen Adressaten verbindet sich das ›Zeigen auf‹ mit dem ›Sich-Zeigen‹ desjenigen, der zeigt«. (Cuntz 2015: 57 [Hervorh. im Original]) In der von Oliver entworfenen Textwelt zeigt der lyrische Sprechende in erster Linie für sich selbst sowie – nicht genau definier- und unterscheidbar – auf bzw. in sich und projektiv auf etwas (anderes) oder fortwährend auf etwas anderes in sich und sucht damit sich zu zeigen, zu umreißen, wodurch er Akte probeweiser Selbstverständigung performativ hervorbringt. Bezogen auf die Rezeption ist das Gedicht als Wirkungsangebot immer auch ein Zeigen für einen Lesenden, der aufgerufen ist und angeleitet wird, den vorgeführten Zeigehandlungen zu folgen. Oliver nutzt, so kann in Anlehnung an Ehlich formuliert werden, die Origo des Vorstellungsraumes bzw. versetzt die Lesenden in diesen Vorstellungsraum und fokussiert bzw. irritiert darüber ihre Aufmerksamkeit in einer spezifischen Weise (vgl. Ehlich 1985: 253).
Dem Adverb ›da‹ in Kombination mit dem Verb ›sein‹ schreibt Krusche u.a. die Bedeutung ›in der Welt vorhanden‹ zu, wobei mit ›Welt‹ die für den Sprecher wahrnehmbare Welt gemeint und ›da‹ entsprechend als Positionierung von etwas oder jemand im Wahrnehmungsraum zu fassen sei (vgl. Krusche 2001: 89). Die Literatur habe nun die Möglichkeit, die Sprecher-Origo als »innere Positionierung« zu formulieren, und nutze sie zur Veranschaulichung komplexer Vorgänge wie etwa der Ich-Versetzung, der Personenspaltung und der Projizierung des Ich auf Anderes (vgl. ebd.: 90). So sind die fluktuierenden »Da ist«- Imaginationen in Olivers Gedicht beschreibbar als ein sich in einer Übergangsphase formender, unvollendeter und fragmentarischer Selbstentwurf (Was ist / war da alles? Was könnte / wird da noch sein?) des lyrischen Ich, das sich in seinen zahlreichen Zeigehandlungen als ein plurales erfährt. Es konstituiert sich und seinen Wahrnehmungsraum über versuchte Mehrfachpositionierungen und bringt durch seine Projektionen auf Kardinalpunkte und andere Orientierung versprechende Naturphänomene vielfältige Räume hervor bzw. setzt sich vielfach und in je spezifischer Weise zu ihnen in Beziehung.
Die sprachliche Organisation der Orientierung über Leiblichkeit konkretisiert sich zudem in den von Weinrich, dem Oliver das Gedicht widmet, so bezeichneten »Dimensions-Adverbien«, die u.a. die Dimension der »Frontalität« (vorne / hinten) und die der »Interiorität« (innen / außen) betreffen (Weinrich 1993: 563). Letztere, die Innen- / Außenrelation, stelle, so Krusche, eine Ausnahme dar, weil bei der Bewegung von einem Richtungspol zum anderen die Leibgrenze selbst gequert werde und somit die Orientierung ›innen / außen‹ bezogen auf die je eigene Leiblichkeit nur Evidenz in der Selbstverständigung habe (vgl. Krusche 2001: 86). Mit Olivers erstem Vers: »Da ist der osten weit hinter meiner stirn« nimmt so eine Form der Selbstverständigung ihren Anfang. Denn auch die dimensionale Präposition ›hinter‹ lässt sich anthropolinguistisch aus den leiblichen Bedingungen der Blickstellung ableiten und »mit dem Merkmal (RÜCKSEITE)« beschreiben, zudem bilde sie ein Oppositionspaar mit der Präposition ›vor‹ (Weinrich 1993: 630 [Hervorh. im Original]). Im Selbstbezug und in der Selbstansprache des lyrischen Ich bzw. in der Konstitution seines Wahrnehmungsraums wird allerdings durch die Kombination von »hinter« und dem personaldeiktischen »meiner Stirn« eben nicht die Rückseite, sondern die Innenseite fokussiert, und folglich erfahren die Oppositionspaare ›vor-hinter‹ und ›innen-außen‹ eine relationale Durchkreuzung. Implizit findet ein Wechsel des Richtungspols nach innen statt, und im dadurch eingeleiteten Spiel wechselnder und ununterscheidbarer, weil im Folgenden nicht mehr klar markierter, nach innen wie außen weisender ›leibgrenzenquerender‹ und raumstiftender Zeige- und Blickwechsel werden Wahrnehmungsgrenzen durchlässig.
Die Sprechsituation im Gedicht ist leiblich-räumlich, aber auch zeitlich offen und uneindeutig konfiguriert. So kann etwa »weit hinter meiner stirn« auch auf Gedächtnis und darin konstruierte Erinnerung, also weit Zurückliegendes referieren. Die im Hakenstil montierten »Da ist«-Konfigurationen führen unentwegt wechselnde (Selbst-)Perspektivierungen vor, die, entsprechend dynamisiert, transitorisch, flüchtig und letztlich ungreifbar wirken.
Das Spiel mit ständig wechselnder Positionierung setzt sich auf der graphischen Ebene fort. Resultierend aus den zahlreichen Enjambements steht das anaphorisch aufgegriffene »Da ist« am Satz-, aber nicht am Zeilenanfang und ist entsprechend über den Text verstreut an immer anderen Stellen angeordnet, so dass sich in der Betrachtung des Textkörpers bzw. des Texts als Bild eine Form der Unruhe einstellt. Durch seine flexible Position scheint das »Da ist« den Text zu durchwandern und sowohl das Schriftbild als auch das Auge des Betrachtenden zu dynamisieren. Die so vorgeführten deiktischen Handlungen verstärken den Eindruck, dass weder die Position, von der aus das Ich zu sich selbst spricht, wirklich fassbar ist noch die Art und Weise, in der es in Verhältnisse zu sich selbst tritt, noch die unentwegt Koordinaten wechselnde Aus-Richtung, zu der es sich assoziativ verhält und nach der es sich zu orientieren versucht. Der gehäufte Einsatz des Punktes, der die kurzen Sätze bzw. elliptischen Satzeinheiten voneinander trennt und so einen unterbrochen wirkenden Textkörper sowie einen stakkatohaften Rhythmus erzeugt, lässt die über »Da ist« durchgespielten Möglichkeiten der Selbstausleuchtung zudem aneinandergereiht, nur lose bis gar nicht verbunden und fragmentarisch erscheinen.
Welcher Art sind nun die einzelnen Ausrichtungsversuche im Gedicht? Und wie gestaltet sich das vorgeführte, vom lyrischen Sprechenden ausgehende, in spezifischer Weise raum- wie zeitstiftende deiktische Spiel konkret?
Über »Da ist« setzt sich das Ich in den ersten vier Versen zunächst assoziativ zu den vier Haupthimmelsrichtungen in Beziehung, die der Orientierung mit dem Kompass oder der Sonne dienen. Die sich mit »westen« verbindende, über ein Enjambement montierte Wortneuschöpfung »hei / matt«, in der die Wörter ›Heimat‹ und ›matt‹ anklingen, lässt vielfältige Deutungen zu, wie z.B. die Vorstellung, dass die Beziehung des lyrischen Ich zu ›Heimat‹ schwach (geworden), nur undeutlich oder unterbrochen ist, dass die Erinnerung an sie verblasst oder das Konstrukt Heimat in seinem Blickwinkel nur umrisshaft und somit wenig greifbar ist.4 Der Zeilensprung innerhalb dieser Wortneuschöpfung spaltet »hei« und »matt«, schafft jedoch zugleich einen Übergang zur folgenden Verszeile, wodurch – wie unterstützend auch über den Kursivdruck – gerade das Herstellen vielfältiger Bezüge zwischen den sich so formierenden Wortelementen angeregt und besonderes Augenmerk auf »matt« gelegt wird. Mit allen Konnotationen und unterstrichen durch den Wortsprung erscheint »hei / matt« als etwas Abgetrenntes und nicht klar zu Umreißendes, der damit assoziierte Blick nach Westen erweist sich für das lyrische Ich als wenig hilfreiches Konzept der Orientierung und Selbstauslotung. Ein »pfandaug« als Attribut zu »hei / matt« ist rätselhaft. Die Verbindung mag ein Pfand, eine bei / an einem unbestimmbaren Nehmer / Ort und aufgrund einer unbestimmbaren Situation hinterlegte Sicherheit im Auge, in der Perspektive des lyrischen Ich evozieren – allerdings nur eine vage Sicherheit für etwas nur (noch) undeutlich Wahrnehmbares. Oder für das Ich, das auf »hei / matt« zu blicken sucht, erweist sich diese als undurchsichtiges Anzeichen oder nur vage Manifestation für etwas kaum noch oder nur schwer Zugängliches, Definierbares. In möglicher Anspielung auf Odins Auge, das dieser in seiner Suche nach Wissen und Weisheit als Pfand zur Erlangung inneren Sehens hergegeben hat, wäre »hei / matt« als »pfandaug« als etwas zu verstehen, das für etwas nicht Spezifizierbares geopfert / aufgegeben werden musste, vielleicht um darüber hinaus (noch) anderes (in sich) sehen zu können.
Der Blick gen Süden und die darüber anvisierte, das Selbst (mit-)beeinflussende Facette ist mit »würfel / becher dem hunger« negativ konnotiert und verbindet sich etwa mit Schicksal, Zufall, also sich der Einflussnahme entziehenden Konstrukten und Umständen.
Als Deklarativsatz, der kürzeste Satz im gesamten Gedicht, und artikellos rückt die letzte Himmelsrichtung in den Blick – typographisch in Großbuchstaben hervorgehoben, aber zunächst ohne Attribute und darüber vorgeführte Assoziationen bzw. Erinnerungen: »Da ist NORDEN.« Auf diesen Satz folgt der wortspielerische, in wörtlicher wie übertragener Bedeutung treffende und zur Achtsamkeit mahnende Ausruf »No / pierdas el norte« – also etwa ›Verlier’ den Norden bzw. die Orientierung nicht‹. Mit dem Kompass ist die Bestimmung der magnetischen Nordrichtung und damit aller anderen Richtungen möglich – eine klare Orientierungsmarke, die im inneren Kompass des lyrischen Ich zu verschwimmen scheint. Der Wechsel ins Spanische ist durch Kursivdruck besonders markant und mag auf die Bedeutung von Sprache(-n) in der fortlaufenden Hervorbringung von Identität (als einer pluralen) referieren. Über den Sprachenwechsel klingt in den Selbstauslotungen des lyrischen Ich seine Viel- bzw. Mehrstimmigkeit an. »No / pierdas el norte« ist neben den Elementen »hei / matt« die einzige kursive Hervorhebung im Gedicht, wodurch eine Beziehung zwischen beidem hinsichtlich eines drohenden Verblassens, Verschwindens angeregt wird. Zwei vermeintlich klare Marken und Konzepte der Orientierung verlieren an Wirkungskraft, oder Facetten des Selbst erscheinen als nahezu verdrängt bzw. unterdrückt.
Ein weiterer Versuch der Hinwendung, über die das lyrische Ich in ein Verhältnis zu sich selbst zu treten sucht, ist an der »laibung der sonne«, der dem Sonnenlauf folgenden Ostwestbewegung ausgerichtet – der Tagbogen beginnt am Osthorizont und endet im Westen. ›Ostwest‹ kann von der Kompassnadel nicht auf einmal, als eine Richtung, angezeigt werden, und gewöhnlich dient eher der Sonnenstand, nicht der Sonnenlauf zur Orientierung. So wurden auch in den ersten beiden Versen Osten und Westen und darüber angestoßene assoziative Selbstverortungsversuche noch vereinzelt fokussiert. Nun jedoch gerät »ostwest« in der Zusammenschreibung als eine dynamische, einander bedingende Orientierungsmöglichkeit in den Blick des lyrischen Ich. Diese transitorische, über den Sonnenlauf entworfene Ostwestbewegung ist folglich als eine sich wechselseitig und immer neu konstituierende Ausrichtung des Ich lesbar, etwa als Identität und Alterität oder auch als dynamische plurilinguale, mehrstimmige Identität. Als stets wiederkehrende und neu einsetzende Bewegung symbolisiert der Sonnenlauf in dieser Hinsicht – wie auch die über zahlreiche und unmittelbare deiktische Handlungen erzeugte, stets wechselnde raum-zeitliche Perspektivierung – das Unvollendete, Unaufhörliche, Unvollständige in den Selbstvermessungsversuchen des lyrischen Ich. Das Gedicht erscheint nahezu als poetische Transformation eines transitorischen Konzepts personaler Identität: »Identität als Aspiration«, als »angestrebte, imaginierte Identität« (Straub 2004: 279f.). Personen müssten, so Straub, »selbst zusehen, und zwar stets aufs Neue, wer sie (geworden) sind und sein möchten« (ebd.: 280 [Hervorh. im Original]).
Im Anschluss an die über Himmelsrichtungen durchgespielten Imaginationen folgt eine projektiv über den personalisierten Mond eingeleitete und vorgeführte Ausrichtung, die deutlich als Prozess markiert ist: »Da ist der mond / auf seiner suche nach dem zwiegeschlecht«. Der Mond, bzw. über Projektion das lyrische Ich, sucht das (noch / immer) andere in sich, seine inhärente Pluripotentialität: die Mond(-e) im Mond. Dieser Vers kann als Erkundung eines mehrstimmigen Selbstausdrucks gelesen werden, steht doch der Mond auch in anderen Gedichten Olivers und in seinen poetologischen Überlegungen oft in Zusammenhang mit Identität(-en), Sprache(-en), Geschlechtern und einer spezifischen Sprach(-en)wahrnehmung und -verwendung. Je nach sprachlicher Perspektivierung und damit einhergehender Genuszuweisung erscheint der Mond in einem anderen Licht, verbindet sich der Mond in der Wahrnehmung des Betrachtenden mit je unterschiedlichen, aber interagierenden und aufeinander bezogenen bzw. beziehbaren (Sprach-)Erfahrungen und Assoziationen.
In der Vorführung dieser über den Mond gestalteten Suchbewegung spiegelt sich Olivers fortwährendes Streben nach einer eigenen Sprache. So taucht das Bild der »Geschlechter-Monde« beispielsweise auch in seinem Essay wortaus wortein auf:
Schreiben und Worte aufstöbern
aufstöbern wie Jäger verstecktes Wild, um selbst Gejagter zu werden vor vertrauten Buchstaben. Ruhelos Wortwechsel, Fährtenspur, Rast zu weiden. In Worten sein. […] Heute suche ich wie morgen schon nach meinen Sprachen
Mondzunge und lengua luna. Dämmerbleiches Licht und Schattenschimmer, die ein Sprechen wurden und mir die Geschlechter-Monde zutrauten. Sie bleiben mir nah, die versöhnten Mond-Wörter, die sich berührten
da war ein Haus, das zwei Häuser war. Zwei Häuser, die zwei Kulturen verleibten. Ein Haus und zwei Stockwerke, zwei Sprachen. Offene Fenster und Türen, Luken in Reisen. Längst im Mehrfachen angekommen. Der alemannische Dialekt im ersten Stock, das Andalusische im zweiten. Dazwischen Treppenstufen ohne grammatikalisches Geschlecht. Entwurf ins Spiel um die Bedeutungen: Wortes Körper und Wortes Seele. Ein paar Treppenstufen nur, die trennten und verbanden
Mondin & Mond: la luna, 1 Mond. Weiblich die eine, männlich der andere
eintauchen. Einfach eintauchen in diesen Fluss aus Vätern und Vorvätern, aus Müttern schließlich. […] Einatmen in Sprachfetzen, um vielleicht jenen Sprachhütern und Alphabestien zu begegnen, die mich zu den Maulwürfen antreiben (Oliver 2007c: 18f. [Hervorh. im Orginal]).
Oliver inszeniert in diesem autobiographisch gefärbten und poetologischen Essay über die Häuser-Stockwerke-Treppenstufen-Metapher seine dynamische plurilinguale Identität und über die mehrsprachlichen Monde das daraus resultierende sinnliche Spracherleben und sprachgrenzenüberschreitende (poetische) Sprechen. Er entwirft, wie seine Wahrnehmung und sein Sprechen / Schreiben (»Einatmen in Sprachfetzen«) durch sein sprachliches Repertoire mehrfach perspektiviert sind und wie sich in seiner Spracharbeit auch zwischensprachliche Spielräume eröffnen: »Dazwischen Treppenstufen ohne grammatikalisches Geschlecht. Entwurf ins Spiel um die Bedeutungen«. Das In-, An- und Miteinander der einzelnen Stimmen, Sprachen und Wörter kommt in der Konstruktion »Mondin & Mond: la luna, 1 Mond. Weiblich die eine, männlich der andere« prägnant zum Ausdruck. Sie verdeutlicht, wie Oliver der deutschen Sprache andere (Sprach-)Erfahrungen zuführt. Er verwendet in seinen Werken ›Mond‹ und ›Mondin‹ oder ähnliche Konstellationen je nach vorgeführter Wahrnehmung, Rhythmisierung und Kontext, wodurch er eine Erweiterung und Verdichtung des lyrischen Ausdrucks-, Bedeutungs- und Klangspektrums, des Sagbaren und der poetischen Erzeugung von Welt erzielt.5
Das über Genusmarkierung und Nominalendungen initiierte poetische Wechselspiel speist sich aus mehrsprachlichen und mehrdimensionalen Bezugnahmen (»Mondzunge und lengua luna«), über die fließende und differenziertere ›eigene‹ Ausdrucksmöglichkeiten hervorgebracht werden. Er schreibt sich und seine Sprachenerfahrungen in die deutsche Sprache ein, entwickelt sie weiter, zer-bricht sie, erweitert sie, verändert sie, schreibt sich in ihr weiter, verändert sich.
Sein sprachliches Repertoire wird also poetisch wirksam und treibt dadurch die unaufhörliche, gleichermaßen gegenwarts- wie zukunftsbezogene (»Heute suche ich wie morgen«) und rückwärtsgewandte (»Einfach eintauchen in diesen Fluss aus Vätern und Vorvätern, aus Müttern schließlich«) Suche nach ›seinen Sprachen‹, nach einer eigenen poetischen Sprache als Form des Selbstausdrucks kontinuierlich voran – auch in Abgrenzung von anderem / anderen, etwa in der Begegnung und Auseinandersetzung mit »Sprachhütern und Alphabestien«, mit Sprachideologien und Sprachpuristen.
Des Weiteren referiert Oliver in seinem Essay Dichtung und Nachhall explizit auf Hilde Domins Gedicht: »Lyrik / das Nichtwort / ausgespannt / zwischen / Wort und Wort«. (Domin 1993: 7). Die in diesen Versen vorgeführte Vorstellung, das lyrische Sprechen erwachse aus einem nicht konkret zu fassenden Etwas, einem ›Nichtwort‹, das sich aus einer spezifischen Relation der gesetzten Wörter konstituiert, erweitert er um die bereits beschriebenen Potentiale mehrsprachlich perspektivierten Spracherlebens:
Die parallele Wahrnehmung zweier Sprachen lässt mich die Dinge und ihre Verhältnisse ständig aus verschiedenen Perspektiven erleben. Augenblicke im Vergehenden in zwei Sprachen. Zuweilen bleiben Fetzen, die das Ganze nur erahnen. Dafür jedoch das Zerbrechliche herstellen.
Wenn es stimmt, dass das Geheimnis eines Gedichtes ausgespannt ist zwischen ›Wort- und Nicht-Wort‹, dann will auch ich im Akt des Schreibens diese Spannung aufsuchen, von der Hilde Domin spricht. (Oliver 2007a: 54)
Diese poetologischen Überlegungen zu einer kontinuierlichen Suche im Spannungsfeld mehrerer Sprachen wirken in die Inszenierung pluraler, sprachlich vermittelter und Sprache / Wörter aufstöbernder Selbstauslotungsakte in kompaß & dämmerung hinein.
Darin richtet sich das Ich in den letzten Versen projektiv an einer weiteren Naturerscheinung aus, die besonders verrätselt gestaltet ist: »Da ist / die SPRACHZEITLOSE licht / verzweigung der vogelunruh«. Die sich mit »licht« über den Zeilensprung verknüpfende »verzweigung« lässt vielfache, (auch) noch unbestimmte und offene Möglichkeiten des Selbstentwurfs und -ausdrucks als Vergegenwärtigung und Aspiration auf einmal aufscheinen: Licht kann prinzipiell in viele Ausbreitungsrichtungen schwingen. Über »vogelunruh« in Verbindung mit der Zugunruhe, also dem Drang von Zugvögeln, regelmäßig den Standort zu wechseln, wird in diesem Vers eine gewisse Aufbruchsstimmung evoziert. Im Kontext des gesamten Gedichts kann dieser Vers als fokussierter Moment des Innewerdens, vielleicht auch Innehaltens gelesen werden, denn die Lichtverzweigung ist nicht nur durch das Bedürfnis nach oder den Antrieb zur Mobilität gekennzeichnet, sondern sie ist gleichermaßen, mittels Großschreibung besonders akzentuiert, durch das Attribut »SPRACHZEITLOSE« bestimmt, das als Wortneuschöpfung hochgradig deutungsoffen ist. Dieses durch eine ungewöhnliche Kombination einzelner Sprachelemente befreite lyrische Wort entzieht sich vereindeutigenden Festlegungen und fungiert als ein weiterer der oliverschen poetischen Stolpersteine.6
Die »licht / verzweigung« bzw. das sich auf sie projizierende Ich ist also gleichermaßen sprachlos – (noch) ohne Sprache / Worte, (noch) nicht sprechend bzw. sprachlich noch unausgefüllt, noch nicht festgeschrieben und somit verheißungsvoll – und zeitlos, ohne Zeit bzw. nicht zeitgebunden oder der Zeit (zeitweilig) nicht unterworfen. Der in diesem Vers imaginierte Blick scheint Sprache und Zeit in spezifischer Weise hervorzubringen. In diesem über eine projektive Zeigehandlung auf eine Naturerscheinung evozierten Wahrnehmungsraum, der sich zwischen Beweglichkeit und Sprachzeitlosigkeit aufspannt, sind klar definierte Zeit und eindeutig auf etwas verweisende Sprache vorübergehend in der Schwebe im Sinne einer Orientierung auch auf das (noch) Mögliche hin. Denn das sich mit den zahlreichen Ausrichtungen des lyrischen Ich stets erneuernde und bewegliche, leiblich hervorgebrachte Blicken ist nicht nur raum-, sondern auch in spezifischer Weise zeitstiftend – so, wie es Merleau-Ponty, Zeitlichkeit konsequent vom Subjekt aus denkend, beschreibt:
In jeder Fixierungsbewegung verschlingt mein Leib eine Gegenwart, eine Vergangenheit und eine Zukunft zu einem einzigen Knoten […]. Mein Leib ergreift Besitz von der Zeit und läßt für eine Gegenwart Vergangenheit und Zukunft da sein; er ist kein Ding, denn er vollbringt die Zeit, statt ihr bloß zu unterliegen. Doch jeder Akt der Fixierung bedarf stets der Erneuerung, soll er nicht ins Unbewußtsein zurücksinken. Der Gegenstand bleibt nur deutlich vor mir stehen, solange ich ihn mit dem Blick durchlaufe; ein Wesenszug des Blickens ist die Beweglichkeit. (Merleau-Ponty 1966: 280)
In der Morgendämmerung, dieser undefinierbaren Zwischensphäre und Schwelle, werden Selbstauslotungen vielfach und vielgestaltig hervorgebracht bzw. projektiv als solche erkannt – oder, wie es Ilma Rakusa, Rimbaud variierend, ausdrückt: »Ich ist viele« (Rakusa 2006: 9).
Und blickend durchläuft der lyrische Sprecher sogleich weitere, durch Übergang gekennzeichnete Naturerscheinungen wie »tau« und »brotwärme«, die in einem Zusammenhang mit dem »verlegten w:ort« stehen. Das Hauptaugenmerk liegt auf dem Transitorischen dieses Moments: der Tau, in dem das Wasser noch verdampft, die noch (vor dem Erkalten) spürbare »brotwärme« und noch vernehmbare Stille »im verlegten w:ort«. Über »brotwärme« positiv konnotiert, erscheint das an einen anderen Ort, in einen anderen Bereich verlegte, verschobene, irgendwo noch / wieder (neu) aufzufindende Wort geradezu als Begehren, als Versprechen für noch offene, zu entfaltende Möglichkeiten der Selbstausrichtung und des Selbstausdrucks. Das Wort ist noch / wieder ›Nicht-Wort‹, noch still, also noch nicht gesagt, noch nicht festgelegt und kann sich, neue Verbindungen eingehend, frei entfalten.7
Dieses kurze Innehalten, Innewerden im Zwischenbereich der Dämmerung gestaltet sich als Übergangserlebnis, als über Zeigen und Blicken sich konstituierendes spezifisches Raum-Zeit-Erleben, als Schwellenerfahrung. Eine solche vollzieht sich laut Waldenfels »in der Dämmerung eines gewissen Wartezustandes, der sich zwischen einem Nicht-mehr und einem Noch-nicht ausbreitet« (Waldenfels 1987: 29).
Das Fließende des Moments und die noch unbestimmte Ahnung, welche Positionierungs- und Ausdrucksmöglichkeiten sich noch eröffnen können, sowie das allmähliche Begreifen, dass sich das Ich stets nur in Vielheiten und im Unvollendeten wird umreißen lassen, bleibt auch im letzten Vers des Gedichts gewahrt: »Da ist der Tag / so reichbar nah«. Es ist der einzige Vers im Gedicht, der nicht mit einem Punkt endet, wodurch die Offenheit und das Unabgeschlossene der Selbstauslotungen noch einmal betont werden.
Wie ausgeführt, wird diese Offenheit auf der thematischen Ebene im gesamten Gedicht formal gestützt durch mehrsprachliche Referenzen und die vielfältigen Techniken der ›Entzingelung‹, des zugleich Trennenden und neue Verbindungen Schaffenden. Dies erfolgt z.B. über den künstlerischen Einsatz von Interpunktion, Enjambements und Zusammensetzungen, die Wörter sowie festlegende, eindimensionale Bedeutungsverweise und -strukturen aufbrechen und fortwährend neue Sprachangebote und (Selbst-) Ausdrucksmöglichkeiten kreieren. Diese Verfahren spiegeln Olivers kontinuierliches Weiterreisen und Worteaufstöbern als ein sich »Einatmen in Sprachfetzen«, ein Sichher-, -hinein- und -weiterschreiben in und durch Sprache und erweisen sich als spezifische Ausgestaltung einer transitorischen Poetik.
1 | In deutscher Übersetzung von Helmut Scheffel: Das lyrische Wort »leuchtet von einer unendlichen Freiheit und bereitet sich, tausend ungewissen und möglichen Beziehungen entgegenzustrahlen. […] Jedes lyrische Wort ist auf diese Weise ein unerwartetes Objekt, eine Büchse der Pandora, aus der alle Wirkungsmöglichkeiten der Sprache auffliegen können« (Barthes 2006: 41).
2 | Vgl. José F. A. Olivers Beschreibung seines literarischen Schaffens: »Insofern hat eine Entwicklung stattgefunden aus dem Schreiben heraus, ich schreibe mich weiter, ich schreibe mich fort, schreibe mich her, und ich schreibe mich hin vielleicht zu dem Gedicht, in dem ich sage, jetzt habe ich alles geschrieben, was ich schreiben musste.« (Oliver zit. n. Ryneveld 2008: 2)
3 | Die Interdependenz von Subjekt und Raum wird in neueren Raumtheorien besonders hervorgehoben: »Denn auch das Subjekt unterliegt einer, es ist eine Raumordnung. […] Die Konstruktion von Subjekt(raum) und Raum beruht auf einer mehrfachen Unterscheidung eines Innen und Außen. Dabei werden oftmals sowohl die Handelnden als auch der Raum, in dem sie sich situieren, als bereits konstituiert vorausgesetzt, statt Subjekt und Raum als etwas aufzufassen, das sich erst durch Handlungen konstituieren muss«. (Cuntz 2015: 58 [Hervorh. im Original])
4 | Gestützt wird diese Lesart durch den bereits zitierten Titel des 1989 erschienenen Gedichtbands HEIMATT und andere fossile Träume. In Zusammenhang mit fossilen Träumen evoziert die Konstruktion HEIMATT auch hier eine gewisse Distanz, Unzugänglichkeit, Verborgenheit und scheint auf Vergangenes, Unbewusstes und weit Zurückliegendes zu deuten.
5 | So z.B. in dem Gedicht mondwechsel, geschlechterakt aus dem Band austernfischer marinero vogelfrau. Der Titel des Gedichts realisiert sich gleich in der gebrochenen Alliteration, im mehrsprachlich-mehrklanglichen rhythmisierten Spiel der ersten beiden Verse: »und mond und mondin und mond / lunares« (Oliver 1997: 52). Das darin zum Ausdruck kommende Verfahren erläutert Oliver auch in seinem Essay Dichtung und Nachhall. In Erinnerung an eine Erzählung seines Großvaters schreibt er: »El mar La mar Das Meer Die Meerin Das Meer. Was hier spielerische Wellenbewegung und Sprachfließen ist (Ankunft ins Sagen) spurt eine Geschichte her. […] Diese kleine Geschichte buchstabiert mir den Mut ins zu Sagende. […] Grammatikalisch korrekt wurde mein Meer in Deutschland ein sächliches. Irgendwann jedoch, als der Mut ins Erschriften der Welt größer wurde, konnte auch ich ins Weibliche erzählen und mir ein Wort ausdenken, das es vorher nicht gab: die Meerin«. (Oliver 2007a: 53f. [Hervorh. im Original])
6 | Diese Stolpersteine sind konstitutiv für sein lyrisches Schaffen und fungieren zugleich als spezifisches Wirkungsangebot an den Lesenden: »Ich lass einfach diese Fremderfahrung ausstehen, ich brauche diese Fremderfahrung und dieses Stolpern im Gedicht«, damit wolle er auch »den Leser an die Grenzen« bringen, »um aus dieser Grenzerfahrung etwas mitzunehmen«. (Oliver zit. n. Ryneveld 2008: 11)
7 | Auch in dem Gedicht fragmente aus dem Band fahrtenschreiber wird über Ambivalenzen mit den Motiven ›Stille‹, ›Unruhe‹ und ›zeitlos‹ gespielt. Darin heißt es: »um die vorsprechende würde einer stille / legt sich die aufmerksame unruh. […] 1 versprechen von zeit / im ZEIT-LOS, losgelöst / die aufgelesenen fragen. Wir / im nichtgesagten, meistens« (Oliver 2010: 44 [Hervorh. im Original]).
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