Identität im Transit

Nicht-Orte und die Dissoziation des Subjekts in Terézia Moras Roman Der einzige Mann auf dem Kontinent

Erika Hammer

Abstract

Referring to Marc Augé’s theory of non-places, the article shows how the protagonist of Terézia Mora’s second novel Der einzige Mann auf dem Kontinent (2009) undergoes a process of dissociation when moving either in indistinguishable, non-identifiable non-places or in virtual worlds offered by the new media. These virtual worlds constitute transitory places which neither offer the protagonist any stability or fixed orientation points, nor do they place him in any permanent relationships. In addition, the article focuses on the metafictional level of the novel, where transitory movement through architextual system references plays a central role. The text, I would argue, creates an infinite movement by means of such system references, thus putting not only the protagonist, but also the text itself into a permanently oscillating transitional movement.

Title:

Identity in Transit: Non-Places and the Dissociation of the Subject in Terézia Mora’s Novel Der einzige Mann auf dem Kontinent

Keywords:

non-place; transit; virtual worlds; new media; Mora, Terézia (* 1971)

1. Einleitung

Nicht erst seit der kulturwissenschaftlichen Raumwende werden in der Literatur unterschiedliche Konzepte des Raumes reflektiert. Seit ihren Anfängen entwerfen literarische Texte verschiedene Szenarien von epistemologischen Vorstellungen des Raumes, von Raumpraktiken, oder nutzen den Raum zu poetologischen Reflexionen. Durch Räume werden mentale Prozesse und damit auch Muster der Selbstwahrnehmung geprüft und modelliert. Im hier untersuchten Roman geht es um solche Konzepte.

Die Omnipräsenz des Raumes und transitorischer Bewegungen ist ein Markenzeichen der Texte von Terézia Mora. Besonders deutlich wird dies beispielsweise in Alle Tage an einem Raumspiel und der Behauptung, unsere Gegenwart sei so, als »würde die ganze Welt Die Reise nach Jerusalem spielen« (Mora 2004: 93). Dieses Spiel, das Getriebensein, nicht Stillhalten-, nicht Verharrenkönnen und die Tatsache, dass man keinen festen Platz einnehmen kann, ist das Grunderlebnis aller Bücher Moras. Grenzen, Flüchtlinge, Menschen, die ihren Platz suchen, bevölkern ihre Prosa. Ihr zweiter Roman, Der Einzige Mann auf dem Kontinent, scheint hier eine Ausnahme zu sein. Der Protagonist ist weder ein Migrant noch geht es um Grenzregionen, Vertreibung oder Flucht. Was berechtigt uns also, so könnte die Frage lauten, auch in Bezug auf diese Figur vom Transitorischen zu sprechen?1

Die mittlerweile zur Epochensignatur erklärten transitorischen Identitäten können – so meine These – auf verschiedenen Ebenen des Romans reflektiert werden: auf der Ebene des Thematisch-Motivischen in Bezug auf Nicht-Orte, aber auch auf der Ebene der Textualität selbst. Es sollen hier demnach nicht nur die Infiltrationen von Raum und Subjekt, die Entortung des Subjekts angesichts konturloser, unspezifischer Nicht-Orte gezeigt werden. Moras Roman wendet durch fluktuierende Perspektiven, durch architextuelle Systemreferenzen und intertextuelle Einzeltextreferenzen die Problematik des Transitorischen ins Metafiktionale. Der Roman zeigt, dass weder Weltdeutungs- noch Erzählmuster von Dauer sind. Im erzählerischen Impetus des Romans wird das Paradigma des Romans mit dem Ephemeren gekoppelt, was eine transitorische Bewegung exemplifiziert, ein unaufhörliches Spiel und damit eine nie endende Verschiebung zwischen Identität und Differenz, dem auch das scheinbar agierende Subjekt zum Opfer fällt.

Der einzige Mann auf dem Kontinent ist ein zeitdiagnostischer Roman.2 Er reflektiert zahlreiche Zusammenhänge der globalen Informationswelt. Trotz dieses globalen Bezugs und des Unspezifischen der Räumlichkeit ist das Buch in einem konkreten Raum zu situieren.3 Der Text kann auch als ein spezifisch (ost-)deutscher – bzw. osteuropäischer – Nachwenderoman gelesen werden. Der Protagonist des Romans, Darius Kopp, geboren und aufgewachsen in der DDR, wechselt zwar nicht den Raum, aber das für diesen Raum gültige politische und wirtschaftliche System verändert sich über seinen Kopf hinweg. Hier wird die herkömmliche Koppelung des Transitorischen an Migration oder Flucht um eine Perspektive erweitert: Nicht nur Menschen, sondern ganze Systeme bewegen und verschieben sich und zwingen dadurch den Menschen in neue Ordnungen sowie zur Überprüfung und Modifikation von Lebensentwürfen und Weltbildern. Auch wenn die Wende auf den ersten Blick nur am Rande erscheint, reflektiert der Text, dass dieser Systemwechsel das Eigenbild des Subjekts, wonach dieses mit Hilfe der Technik unendliche Möglichkeiten besitzt, noch weiter facettiert. Durch die Wende wird der Mensch von allen von außen auferlegten Bestimmungen gelöst – so hat es zumindest den Anschein. Der Roman zeigt die Ambivalenzen dieser Freiheit. Es gibt einerseits keine Vorgaben mehr, nichts Beengendes, andererseits gibt es aber auch keinen Halt, keinen Rahmen, den die Bestimmungen sonst garantieren und somit das Subjekt in einer Ordnung situieren, indem sie ihm Grenzen auferlegen. Man kann jetzt »selbständig werden« (Mora 2009: 100)4 und »seinen Traum erfüllen« (ebd.), man ist sein »eigener Chef« (ebd.), man kann schließlich etwas »[E]igenes auf die Beine stellen, besonders jetzt, da es endlich nur noch auf dich ankommt« (101). Die Fesseln sind durch die Wende entfallen, man hat Bewegungs- und Gestaltungsfreiheit gewonnen. Gerade diese Chancen und Möglichkeiten und die Last, die mit ihnen einhergeht, sind einer der zentralen Reflexionsgegenstände dieses Romans. Deutlich wird im Buch, dass ein Subjektkonzept, in welchem das Ich Gestaltungsfreiheit besitzt und welches zur Herausbildung des modernen Romans führte, hinterfragt werden muss. Dies ist der zentrale Gegenstand auf der poetologischen Ebene des Romans. Dadurch erhält der Text einen selbstreflexiven Zug, denn im Laufe des Erzählens werden architextuell Modelle des Romans herbeizitiert und zugleich demontiert. Der Roman kann nicht nur als Zeitroman, sondern auch als selbstreflexiver Identitätsroman gelesen werden, in dem selbst die Identität der Gattung des Romans zur Diskussion steht. Die im Roman reflektierte Lebensstrategie ist, poetologisch gewendet, auch die Textstrategie.

Dass dem Text die literarische Tradition als Folie dient, trägt zur genuinen Mehrstimmigkeit des Romans bei, was in einer oszillierenden Bewegung zwischen Identität und Nichtidentität des Subjekts resultiert. Gezeigt werden soll im Folgenden, wie der Roman durch seine Raummetaphorik, durch Wege, Bewegung und Behausungen die Subjektkonstitution thematisiert, indem er die Möglichkeiten von Selbstfindung und Subjektkonstitution aufscheinen lässt, tatsächlich jedoch einen Selbstverlust inszeniert. Durch den ständigen Bezug auf tradierte Muster des Romans und des Subjekts, durch ihre Persiflage und nicht zuletzt durch die potenzierte Multiperspektivität entsteht eine Mehrstimmigkeit, die zu transitorischen Identitäten und zuletzt – sowohl für die Figur als auch für den Leser – nur noch zu einem nicht identifizierbaren Rauschen5 führt.

2. Identifikation und Nicht-Orte

Der Text zeigt uns eine kurze Zeitspanne aus dem Leben von Darius Kopp, einem IT-Fachmann, der in der Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschland lebt. Die Erzählgegenwart beträgt eine Woche, es fließen aber mehrere Jahrzehnte in die Handlung ein. Kopp ist die Hauptfigur, und die Geschichte dreht sich um seine Ehe, seine Familie, aber hauptsächlich um seinen Beruf. Seinen Tag verbringt er in einem Bürohochhaus namens »Businesscenter«, wo ihm seine Firma »Fidelis Wireless« einen Raum angemietet hat. Diese weltweit agierende Firma mit Sitz in den USA vertreibt Sicherheitssysteme für drahtlose Kommunikation. Kopps Aufgabe besteht darin, diese Systeme an eine internationale Kundschaft zu verkaufen. Er selbst ist nur scheinbar allein auf dem Kontinent, denn er ist Teil eines die Welt umspannenden Netzwerkes einer boomenden Branche, ist Kind der globalen Welt und Repräsentant der Kommunikationsgesellschaft. Nach eigener Einschätzung steht er mit beiden Beinen im Leben, ist in seiner Ehe, in der Stadt und der Wohnung sowie in der Firma fest verwurzelt. Diese Position erweist sich im Laufe des Romans durch die Handlung, mehr noch aber durch die polyfokale Darstellung und damit eine sich auffächernde Multiperspektivität und Stimmenvielfalt als ein Trugbild. Kopps Beziehungen und Identifikationsmöglichkeiten zerfasern allmählich und lösen sich im Nichts auf.6

Insgesamt spielen in der Literatur Positionierungen im Raum und geosoziale Identitätsvorstellungen eine bedeutende Rolle, die traditionell an das Dorf und grundsätzlich an Statik, Verwurzelung und eine dauerhafte Verbindung mit dem Raum gekoppelt werden und damit Identität schaffen. Diesem Konzept der Verbundenheit mit dem Ort werden bei Mora generell und so auch in diesem Roman Modelle des Nomadischen gegenübergestellt, die, gebunden an das Transitorische, die Entortung des Individuums darstellen (vgl. Fähnders 2007a; 2007b).7 Der Raum gilt generell als Informationsträger von gesellschaftlichen Prozessen der Veränderung, ganz besonders gilt dies seit der Moderne für den urbanen Raum als Sinnbild von labyrinthischer Orientierungslosigkeit, Verlust von Individualität und Identität, für Entfremdung, als Allegorie des Übergangs und der Instabilität, als Bild des Inkohärenten. In diesem Kontext ist auch der Protagonist zu situieren: Kopp ist ein ausgewiesener Stadtmensch, der in der Stadt-Land-Dichotomie die Großstadt zum idealen Raum erklärt, der den einzig richtigen Lebensstil bieten kann. Damit setzt er statt auf Verwurzelung und Statik auf Bewegung, was zugleich seine Entortung in Aussicht stellt.

Die Großstadt bewahrt bis in unsere Zeit hinein die genannten Eigenschaften und wird heute im Roman gerade deswegen zum Modell für einen Erfahrungsraum, der nicht mehr als Heimat- oder Identifikationsraum im traditionellen Sinn gesehen wird, sondern als Chiffre für Entortung fungiert.8 Die Stadt wird bei Mora aber auch zu einem Nicht-Ort, denn die Metropole erscheint anders als noch bei Döblin oder Joyce als nicht bestimmbar, nicht kartierbar. Sie ist nicht die, sondern irgendeine Stadt, die (fast) überall liegen könnte, denn es ist möglich, »darin nichts Konkretes zu sehen, also auch nicht zu sehen, wo er [Kopp; E.H.] genau war« (295 [Hervorh. im Original]).9

In der Rolle der Chiffre für Orientierungslosigkeit finden sich im Roman auch die neuen Medien. Das Internet mit seinen Datenhighways ähnelt der Struktur der Metropolen, die mit ihren nicht zu überblickenden Straßen, mit der Fülle der Informationen für das Undurchsichtige schlechthin stehen. Die Nutzung der neuen Medientechnologie – PC, Internet, Mobiltelefon, Fernseher – steigert die Unbestimmtheit zum einen dadurch, dass diese auf den globalen Raum projiziert wird, zum anderen dadurch, dass man den physischen Raum verlässt und sich in eine virtuelle Welt hineinbegibt. Diese Medien multiplizieren nicht nur die Wirklichkeit, sondern bringen herkömmliche dichotomische Ordnungen des Denkens und Wahrnehmens wie die Grenzen des Raumes, das Hier und Dort, Nähe und Ferne usw. durcheinander und steigern die Komplexität des Romans ins Unendliche.10

Da aber auch die Identität des Subjekts an Raumvorstellungen gebunden ist, führt das Leben in diesen urbanen, globalen und virtuellen Räumen zu einer Dynamisierung des Ich. Die Orte und das Ich stehen nicht mehr in einem verbindlichen Verhältnis zueinander. Diese Dynamisierung wird ein zentraler Aspekt der Literatur, aber auch der Theoriebildung. Neben vielen anderen Theoretikern reflektiert auch Marc Augé über das veränderte Verhältnis zum Raum, nicht zuletzt im Zusammenhang mit modernen Kommunikationstechnologien. Nach Augé ist es der Wechsel der Größenordnung, d.h. die Globalisierung, aber auch die Allgegenwart von identitätslosen, unspezifischen, sogenannten Nicht-Orten, die ebenso das Bewusstsein des Menschen infiltrieren, was der Übermoderne ein neues Profil verleiht.11 Er weist darauf hin, dass der Raum und die mentale und seelische Verfassung von Individuen ineinander verschachtelt sind. Es wird durch die Änderung des Raumes und der Raumkonzepte die Frage nach dem Subjekt neu gestellt, denn Transiträume, transitorische Bewegungen, das egalisierte, anonymisierte Nebeneinander zeigen nach Augé die Position oder vielmehr die Dis-Position des Subjekts an. Am Anfang des dritten Jahrtausends sind es nicht nur konkrete Räume und Orte, die die Befindlichkeiten der Epoche zur Schau stellen, sondern auch virtuelle Orte und Netzwerke12 als Nicht-Orte, die exemplarisch das Bild des Subjekts dieses Jahrtausends zeigen: eines Subjekts, das zum Durchgangsort vieler Reize und Informationen und somit selber zum Transitraum wird. Diese Zusammenhänge bilden den Hauptgegenstand des Romans von Terézia Mora, dessen Protagonist sich durch den ganzen Text hindurch nur an Nicht-Orten aufhält: im Bürohochhaus, in Kneipen, Einkaufszentren, in Zügen und anderen Verkehrsmitteln, in einem Krankenhaus, auf der Straße und vor dem Computerbildschirm.

Als Erstes soll nun das Augenmerk auf Kopps Beziehung zu seiner Stadt gerichtet werden:

Das ist meine Stadt. Ich betrachte sie wie ein Heimkehrender sein Zuhause und gleichzeitig wie ein erstmals hier gelandeter Außerirdischer. Die Straßen sind breit, die Gebäude sind gemäßigt hoch und sandfarben, die Wege sind gut gepflastert und sauber gehalten, die Abgase gefiltert, es liegen Schienen, es fliegen Flugzeuge: eine wohlhabende Gesellschaft auf hohem technischen Entwicklungsstand. Wohlgenährte, gesunde, fröhliche Population. (130)

Kopps Worte unterstreichen die Beliebigkeit der Stadt, die man nicht weiter identifizieren kann. Es geht nicht um individuelle Charakteristika, wie etwa Toponyme oder symbolische Orte, durch die sich eine spezifische Stadt auszeichnet.13 Darüber hinaus wird auch die ambivalente Beziehung der Figur zur Stadt angesprochen, wenn es darum geht, dass Kopp sich hier einerseits zu Hause fühlt, sich andererseits aber als jemand von einem anderen Planeten und damit als ein radikal Fremder14 empfindet. Heimat und Fremde fließen so ineinander und weisen auf die Entortung der Figur hin. Ähnlich sind Kopps Gefühle in Bezug auf seine Geburtsstadt. Er schaut sie aus einem Taxi an, blickt auf die Stadt, »die er kennt, wenn er sie auch nicht so kennt, in 20 Jahren wird vieles anders […]. Darius Kopp konzentrierte sich auf die Unterschiede, auf das andere, so lange, bis er das Gefühl hatte, nicht mehr hier, sondern woanders zu sein, wo man ganz und gar fremd, also frei wäre.« (292 [Hervorh. im Original]) Beide Städte sind nicht wiedererkennbar, nicht identifizierbar, als ob es gar nicht um geographische, sondern vielmehr um abstrakte Orte ginge. Die Städte sind ihm fremd, was er positiv konnotiert, denn dies garantiert ihm Freiheit. Diese Freiheit hat einen – wie Augé sagt – ambivalenten Zug, denn sie ist gleichzeitig die Ursache für die Deplatziertheit und Einsamkeit des Menschen.15

Auch Kopps Wohnung wird nur dadurch charakterisiert, dass sie im Strom des Luftverkehrs und mitten im Straßenverkehr liegt. Man telefoniert, surft im Internet oder sieht fern und zappt von einem Programm zum nächsten. Es gibt in diesem Zuhause keine Eigenarten, die der Wohnung ein individuelles Antlitz verleihen würden. Die Wohnung wird als offen und Teil der Verkehrswege beschrieben, eine Privatsphäre existiert nicht. Diese spürt Kopp hingegen im Einkaufszentrum in Form einer Fußmassage, bei der er von fremden Frauen verwöhnt wird und Geborgenheit erlebt (213).

Einen »Hafen« (294), und damit einen Verankerungspunkt, findet Kopp in einem Bahnhofscafé beim Besuch der Kleinstadt, in der er aufgewachsen ist, wobei dieser Hafen für ihn allerdings vor allem »Essen, Trinken, Internet« bedeutet – »rundherum kann (fast) sein, was will« (ebd.). Diese Trias: Essen, Trinken, Internet ist das, was auch körperlich zu ihm gehört.16 Bei der Beschreibung des Cafés, das als Hafen apostrophiert und mit dem Heimischen assoziiert wird, werden die Schönheit der »saubere[n] Wassertoilette» (295), der Barhocker und die »langstieligen Kaffeelöffel« (ebd.) genannt, Allgemeinheiten also, die keinesfalls zur Identifikation des Ortes beitragen können. An diesem Ort ist Kopp, obwohl er in »der falschen Stadt« (ebd. [Hervorh. im Original]) ist, »unterwegs ins Behagen« (ebd.). Wenn er durch das Fenster auf den Bahnhofsvorplatz blickt, sieht er immer »dasselbe Bild und daher war es möglich, darin nichts Konkretes zu sehen, also auch nicht zu sehen, wo er genau war. In einer wohlhabenden Gesellschaft auf hohem technischen Entwicklungsstand« (ebd. u. 130). Bekannt klingt dieser Schlusssatz, denn mit ihm wurde bereits die Hauptstadt charakterisiert, in der er wohnt.

Die eigentlichen Bedeutungen von Hafen, Heimat und Zuhause werden zudem dadurch verfremdet, dass sie mit dem Internet und der eigenen Firma in Verbindung gebracht werden. Im Café in der Heimatstadt surft er im Internet, »bis er ein wenig regeneriert« ist (296). Beim Öffnen des Internetbrowsers in der Hauptstadt geht Kopp gewohnheitsmäßig auf die Homepage von Fidelis, er beginnt »›zu Hause‹« (133) und schaut, was »im Hause« (ebd.) los ist. Wie die Anführungszeichen zeigen, verweist der Text hier ironisch auf Kopps Vorstellung der Firma als ein Zuhause. Denn was der Protagonist mit Heimat und Zuhause verbindet, bietet keine Möglichkeit der Identifikation. Seine Firma ist der globalisierungsbedingten Instabilität unterworfen, sie geht eine Fusion ein, kann ihre Identität nicht wahren. Genauso wie sein ursprüngliches Heimatland, die DDR, durch eine Fusion verschwand, kommt ihm auch seine Firma Fidelis abhanden. Treue, eine dauerhafte Bindung, wie es ihr Name verspricht, kann die Firma nicht gewährleisten. Weder das Land noch die Stadt noch der Arbeitsplatz können ihm als eine Art Zuhause einen Ankerpunkt bieten, denn sie alle sind dem Transitorischen anheimgefallen. Sein Name, dessen versichert sich Kopp doppelt, steht zwar auf der Homepage, er spricht in der Wir-Form von der Firma, jedoch bietet sie ihm nicht den Rahmen für wirkliche Beziehungen – weder zu seinen Mitarbeitern, die nur virtuell präsent sind, noch zur Firma selbst, da auch sie nicht greifbar ist. Er ist der einzige Mann auf dem Kontinent und alle Medien versagen, wenn er Kontakt mit Übersee aufnehmen will. In der technisierten Kommunikationsgesellschaft, dem Einzigen, womit er sich identifiziert, funktionieren gerade Technik und Kommunikation nicht. Kopp verbindet sich ausschließlich mit egalisierten, unspezifischen Orten, also Nicht-Orten, die ihm keine Identifikation anbieten können.

3. Modelle der Subjektkonstitution

Kopp meint anfangs, voll im Leben und in der Berufswelt zu stehen. Er fühlt sich als Gewinner der Wende, da er gerade in der Wendezeit sein Diplom in Elektrotechnik erwarb und ihm so »alle Wege offen« (100) standen für einen geglückten Eintritt ins Berufsleben. In der Selbstinterpretation seines Lebensweges sieht er sich immer als den Glücklichen, dem alles gelingt. »Der einzige Mann auf dem Kontinent« ist sein »eigener Chef« (ebd.), und sein Beruf und die darin erforderliche Vorgehensweise zitieren Konstruktionsprinzipien von Identität und Bewusstsein und damit ein ganz bestimmtes Subjektkonzept. Diese zeigen sich auch im Aufbau des Romans. Kopp muss planen, ein Forecast erstellen, den Plan erfüllen und dann berichten. Diese Konstellation impliziert eine Ordnung und Linearität durch die Folgerichtigkeit von zielgerichteter Handlung, ein teleologisches Prinzip also und somit die Konsistenz des Handlungsverlaufs. In diesem Fall scheint das Subjekt das Organisationszentrum der Geschehnisse zu sein, denn das Subjekt ist die autonome strukturierende Instanz der Handlung und eigentlich seiner ganzen Welt. Das ist der gedankliche Rahmen, in dem sich die Hauptfigur bewegen sollte. Obwohl diese Konstellation ins Blickfeld gerückt wird, korrespondiert der Erzähl-, aber auch der Handlungsverlauf nicht mit diesem Konzept, sondern führt ein von diesem grundsätzlich abweichendes Modell vor Augen. Ein Telos und ein ordnendes Individuum stehen dennoch, wenn auch ex negativo, im Fokus der ganzen Textarchitektur. »Schließlich bin ich nicht das Orakel von Delphi« (39), heißt es beim Forecast, womit das ganze Modell ironisch gebrochen und unterminiert wird. Im Spannungsfeld dieser Denkansätze gilt es nun zu schauen, wie die divergierenden Modelle, das zitierte und das exemplifizierte, im Text in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander stehen und zum ständigen Kippphänomen werden.

Handlung, Weg und Ziel sind die klassifikatorischen Prämissen und evozieren ein Subjektkonzept, in dem das Individuum sich mit dem Willen auf den Weg macht, durch seine Handlungen an ein bestimmtes Ziel zu gelangen. Diese traditionellen Konzepte kann man mit dem vorliegenden Roman Moras rekapitulieren, denn Der einzige Mann auf dem Kontinent reflektiert bestimmte Konstellationen der Gattung, wie z.B. Konsistenz und linearen Handlungsverlauf, durch die Problematisierung des Helden und seiner Wege, Ziele und Lösungen.

Zu Beginn des Romans erhält Kopp von armenischen Kunden einen Pappkarton mit einer großen Summe Bargeld für die von der Firma gelieferte Ware. Dem Protagonisten wird hier eine Aufgabe gestellt, die es zu lösen gilt. Möglicherweise erinnert das Paket ihn daran, dass er eine ganze Reihe Probleme hat, die er längst hätte lösen sollen. Obwohl Kopp »Dinge zu Ende bringen« (124) will, handelt er nicht danach und verstaut den Pappkarton stattdessen unter vielen anderen in seinem Büro. Im Verlauf der Woche trägt er das Paket wie eine unsichtbare Last in seinen Gedanken herum. Es ist die Zuspitzung, der Kulminationspunkt für seine Art, mit Problemen umzugehen. Das Paket und Kopps Umgang damit nehmen so eine symbolische Funktion an. Denn sein Credo lautet oftmals »aussitzen« (28 u. 163) und »wegsortieren« (139) und somit nicht zur Kenntnis nehmen.

Im Text wird eine Oppositionsstruktur aufgebaut, die aus den Gegensatzpaaren Ordnung vs. Unordnung, tun vs. getrieben werden, Weg vs. Verirrung, Zeit vs. Raum besteht. Reflektiert werden diese Zusammenhänge in Bezug auf den Kalender, in dem, »anders als außerhalb, alles in schönster Ordnung ist« (41). Die Zeit als Ordnungskategorie wie auch als Gestaltungsmuster des Romans soll helfen, eine Reihenfolge herzustellen. Im Roman wird dazu die Wegmetapher17 als Fortschreiten im Raum verwendet. Dies bedeutet für den Protagonisten Bewegung, Suche, Ziel, Fortgang, Ende, Lösung, die zum einen für Ortsveränderungen in Raum, aber auch für das teleologische Prinzip des Lebens- und des Erzählweges stehen. Obwohl der Roman nach Tagen bzw. Tageszeiten wie Nacht und Tag gegliedert ist, was einen Fortlauf und eine Art kalendarische Ordnung impliziert, täuschen die Überschriften, denn die Erzählung unterminiert diese Ordnung. Trotz der Angabe der Wochentage gibt es im Text keine Vorwärtsbewegung, sondern ein bizarres Durcheinander der Zeiten.

Die Möglichkeit einer zeitlichen Ordnung ist nur im Kalender vorhanden. Außerhalb dessen gelten die Prinzipien nicht, da das Leben der Hauptfigur nicht durch Kategorien der Zeit, sondern durch die des Raumes bestimmt wird. Nicht das Nach-, sondern das Nebeneinander, die Simultaneität bestimmen die Geschehnisse, so dass statt Linearität, statt geradliniger Wege eine labyrinthische Struktur entsteht, in der es kein zielgerichtetes Streben mehr gibt, sondern nur ein Herumirren. Der Weg, gekoppelt mit der Idee der ›Taten‹ und des ›Helden‹ (vgl. 126, 167 u. 216), auf die sich der Roman mehrfach beruft, ist signifikant und konstitutiv – sowohl für die Identifikation der Figur als auch für die Reflexion der Sinnmuster des Romans. So zeigt sich, dass der Protagonist des Romans nur noch eine Parodie seiner Ahnen ist. Die großen Taten (vgl. 216) erscheinen hier in Form von Telefonieren und E-Mailen, dies sind die »Heldentaten« (ebd.) der neuen Zeit.

Der gesamte Text konstituiert sich aus Kopps Suche nach Lösungswegen. Egal in welche Richtung er geht, immer stößt er auf Wände, die ihn daran hindern, weiter zu kommen und sein Ziel zu verfolgen. Dabei kommen sowohl die Wege als auch die Hindernisse in der poetologischen Metapher des Fadens zum Ausdruck. So heißt es etwa: »Die Dinge sind wieder dabei, sich zu verknäulen« (120), der »Tag zerfasert« (123). Das Sichauftürmen der Hindernisse erscheint am eindrücklichsten, wenn Kopp zu einem wichtigen Geschäftstermin muss. Es geht darum, eine Strecke zu bewältigen (vgl. 201), doch er gerät bald in einen Stau. »Ab da lief es dann überhaupt nicht mehr« (202). Es kommt zu einer »allgemeinen Verknäulung« (ebd.), der er zu entkommen sucht, indem er in die Seitenstraßen abbiegt. Auch da gibt es immer wieder Hindernisse. Egal wie Kopp fährt, immer hat er »den Stau vor der Nase« (203). Das Taxi fährt in fast alle Himmelsrichtungen, findet aber nicht die richtige Richtung, »als wäre mitten in der Stadt eine Mauer« (ebd.). Dieser konkrete Fall stellt den allgemeinen Zustand der Figur dar, ihren Modus, Probleme zu lösen bzw. nicht zu lösen.

Der Protagonist versucht immer wieder, sich neu zu orientieren, er kann aber keinen Fixpunkt, keinen festen Standpunkt mehr finden, von dem aus er die Fäden fassen, die Geschehnisse auffädeln und die sich zerfasernde Textur seines Lebens und seines Ich in eine konsistente Struktur zurückführen könnte. Sein physischer Bewegungsraum ist durch Wände, Mauern und Türen eingeengt, dem als Bewegungsmöglichkeit der unendliche Raum des Internets gegenübergestellt wird, wo ihm tatsächlich alle Wege offenzustehen scheinen. Das Internet bietet scheinbar die Möglichkeit zur Problemlösung und wird dabei mit der dominierenden Wegmetaphorik in Verbindung gebracht. Steht Kopp vor einer Aufgabe, geht er ins Internet. Wege beschreitet der Protagonist nicht im wirklichen, sondern allein im virtuellen Raum. In der realen Welt ist er wie gelähmt oder verirrt sich auf Wegen wie »Essen, Trinken, Internet« (294), die ihn nie zum gewünschten bzw. einem erkennbaren Ziel führen können.18 Der Grundimpetus der Figur – und damit korrespondierend auch des Erzählens – ist das Vorwärtskommen. Um die nötigen Schritte tun zu können, braucht es aber Orientierung. Die allgemein um sich greifende Konfusion und das Fehlen von Anhaltspunkten wird der Tradition entsprechend auch hier in die Metaphorik von Dunkelheit und Sehen sowie andere Erkenntnismetaphern wie Schleier oder Nebel gefasst. Der Protagonist tappt im Dunkeln, immer wieder leuchtet aber in Form der neuen Medien eine Lichtquelle auf, die verspricht, dass damit der richtige Weg, d.h. die Lösung für die jeweilige Situation, gefunden werden kann. Die modernen Medien erhalten demnach die Aufgabe, den Weg zu zeigen. Beim Handy führt der Weg meist nicht weit. Der Protagonist stößt auf eine unsichtbare Wand, da kein Strom oder keine Netzverbindung vorhanden ist. Das eigentliche Medium der Wegsuche ist das Internet, d.h. der Browser, der auch mit der Wegmetaphorik verbunden wird. Die von Kopp eingeübte Taktik der Problemlösung enthält als ersten »Schritt« (228) immer das Öffnen des Browsers. Kopp sucht im Internet Informationen zu dem Paket, das er bekommen hat, findet aber nichts, was ihm helfen und ihn damit vorwärtsbringen würde. Die Informationen sind unbrauchbar, nur »Kraut und Rüben« (298). Dennoch wird die Suchmaschine zu seinem wichtigsten Begleiter: »[W]eil er nachdenken wollte, öffnete er den Browser« (230). Die moderne Kommunikation und ihre Medien werden janusköpfig dargestellt. Sie suggerieren, der Weg zum Ziel zu sein, entpuppen sich aber als Hindernisse. Das unendliche globale Netz zeigt eine rhizomatische Struktur, in der es keine konkreten, vorgegebenen Wege mehr gibt, in der aber die Wege und Verbindungen unendlich potenziert werden können. Zudem geht es hier nicht um einen physischen, sondern um einen virtuellen Raum. Dadurch aber, dass das Gegenüber unsichtbar und anonym ist, ist die Unbestimmtheit noch markanter.

Der eigentliche Ort des Verirrens sind die neuen Medien und im Besonderen das Internet. Die Analogie zu traditionellen Konnotationen wird im Text explizit angesprochen, wenn es mit dem Wald, mit den – »klassisch« (116) – dort verborgenen Ungeheuern in Verbindung gebracht wird (ebd.). »Das Grassieren in den Foren [war] amüsant, brachte aber seit einer Weile keine neuen Erkenntnisse mehr. Nur die Zeit verging« (231) – heißt ein summierender Satz. Es ist ein Zustand wie im »Rausch« (300). Man geht »ins Netz«, lässt »sich ein wenig treiben« oder fängt an »gezielter zu suchen« (296), das Endergebnis ist aber »zusammengefasst: Nichts, nichts, nichts, nichts, nichts« (299). Die Bewegung im Internet führt nicht zum gewünschten Ziel, nicht zur Ordnung, sondern vielmehr zu Konfusion.

4. Abschließende Bemerkungen

Der Protagonist bewegt sich den ganzen Roman hindurch zwischen Heldenhaftigkeit und Ohnmacht, Größenphantasien und Lähmung. Diese zwei Extreme und das Oszillieren zwischen ihnen zeigen, dass die Figur ihre Balance verloren hat. Der Übergang vom einen zum anderen Pol kann kein konzises Ich mehr herstellen, es kommt zur Zerfaserung. Das Ich ist sogar für sich selbst ein anderer, ein Fremder und ständig anderswo.

Die Figur ist im Koordinatensystem der Raum-Zeit-Bezüge nicht mehr zu verorten. Es gibt kein Jetzt, das Ich wird zu einer Transitzone von Zeitbezügen, was unaufhaltsam seine Konsistenz auflöst. Wendet man den Blick auf das Hier, kommt man schnell zu der Feststellung, dass es keinen Bezugspunkt gibt, von dem aus alles geordnet oder aufgefädelt werden könnte. Die Grenzen von Räumen und Zeiten werden flüssig, weder das Hier noch das Jetzt sind verfügbar, da sie von früher / später, anderswo / überall / irgendwo / nirgendwo infiltriert werden. Diese Beschaffenheit ist ein allgemeines Charakteristikum des Romans. Die Auflösung von Grenzen erscheint aber nicht allein auf der inhaltlichen Ebene, sondern auch in der Systemreferenz auf herkömmliche Gattungen des Romans und im daraus resultierenden Widerspiel tradierter Vorstellungen des Subjekts, des Raumes und der Zeit. Die inhaltliche Präsenz und zugleich sinnstiftende Absenz historischer Modelle ist auch eine Figur der unaufhörlichen transitorischen Bewegung im Textganzen.19 Ein ähnliches Oszillieren ist in den zahlreichen intertextuellen Verweisen festzumachen, in den Bedeutungen, die im Drittland des Transits zwischen dem Prä- und Folgetext entstehen. Der Roman ist eine Fusion vieler unterschiedlicher Diskurse, Sprachen und Fremdsprachen, die zur weiteren Diffusion des Textgeflechts führen. Die so entstehende Vielstimmigkeit und Multiperspektivität20 bringt ein Stimmengewirr zustande, in dem das Subjekt seine eigene Stimme nicht mehr finden, nicht mehr hören kann. Es gibt im ganzen Roman keine konkrete Erzählinstanz, nur transitorische Perspektiven, wodurch die Möglichkeit von Identitäten suspendiert wird. Die Kontingenz als Motor des Erzählverfahrens hält den Erzählfluss aufrecht, wobei aber nichts von Dauer ist und auch das Subjekt unverfügbar, verflüssigt wird. Das Subjekt kann sich aus dem es umgebenden und überwältigenden Dickicht nicht mehr befreien. »Lost in Links« (138 [Hervorh. im Original]), verschwindet die Figur im Nicht-Ort des Netzes und seiner rhizomatischen Irrwege.

Anmerkungen

1 | Es würde den Rahmen dieser Analyse sprengen, wollte ich all die Rezensionen und Studien erwähnen, die sich seit 1999, dem Erscheinungsjahr des ersten Erzählbandes der Autorin, dieser Problematik widmen und mit diesem Fokus Seltsame Materie oder Alle Tage analysieren. Der in diesem Beitrag zur Diskussion stehende Roman Moras wurde dagegen weniger unter dem Aspekt der Migration und des Transitorischen gelesen. Man konzentrierte sich vielmehr auf die schillernde Medienwelt und die globale Arbeitswelt während der Wirtschaftskrise als Welten, in denen sich der ›kleine Mann‹ nicht behaupten kann.

2 | Bereits die ersten Rezensenten lasen den Roman als Zeitroman. Die oben erwähnten Themen wie die globale Arbeitswelt, die Dominanz der neuen Medien, das Leben in globalisierten Metropolen usw. sind die Aspekte, auf die man sich bei der Kategorisierung berief. Eine tief greifende Analyse dieser Problematik nimmt Monika Shafi in ihrem Aufsatz vor (vgl. Shafi 2013).

3 | Um Berlin als den Schauplatz des Romans zu wissen, bedeutet nicht, dass man in Bezug auf diese Stadt im Roman nicht von einem Nicht-Ort sprechen kann. Die Charakteristika der Nicht-Orte werden im Folgenden noch erklärt. Genügen soll an dieser Stelle, dass nach den neueren Raumtheorien der Raum nicht als etwas Bestehendes, sondern als etwas performativ Hervorgebrachtes gesehen wird. Die Art und Weise, wie hier die Hauptfigur den Raum konstituiert, entspricht der Kategorie der Nicht-Orte. Darüber hinaus gehört m.E. die Gegenüberstellung von Berlin als emblematische Chiffre für die Geschichte des 20. Jahrhunderts auf der einen und die Konstituierung dieser Stadt durch die Erzählung als identitätsloser, ahistorischer Nicht-Ort auf der anderen Seite zur Doppelstruktur des ganzen Romans, worauf noch einzugehen ist. Die Unterminierung und dadurch gegenseitige Auslöschung der beiden Positionen ist m.E. kein Widerspruch, sondern markanter Teil der Textarchitektur.

4 | Im Weiteren werden bei Verweisen auf diesen Primärtext lediglich Seitenangaben in Klammern angegeben.

5 | Vgl. zum Rauschen Seel (2000: 233). Auch Hiepko und Stopka nennen das Rauschen das Gegenstandslose und Diffuse, was jenseits von allem Konkreten liegt, und sprechen in diesem Zusammenhang von einem Bedeutungsüberschuss (vgl. dazu Hiepko / Stopka 2001: 9 u. 11).

6 | Die Dissoziation des Subjekts manifestiert sich im Roman häufig durch die einander widersprechenden Sichtweisen der verschiedenen Perspektivträger sowie durch die Tatsache, dass fast jede Aussage und Feststellung durch eine andere Betrachtungsweise gebrochen wird, so dass eigentlich nichts fest stehen bleiben kann. Dieser Darstellungsmodus kann nicht zur Festigung des Subjekts beitragen, spaltet es vielmehr auf, so dass statt Identitätsfindung seine Dissoziation manifest wird. Nach der Kategorisierung von Nünning / Nünning entsteht hier echte Multiperspektivität, denn die einzelnen Sichtweisen sind widersprüchlich, sie relativieren einander. Zum Widerspiel der Einzelperspektiven trägt in hohem Maße bei, dass die einzelnen Blickpunkte nicht hierarchisch angeordnet werden und inhaltlich nicht kongruent sind, wodurch verhindert wird, dass man sie zu einer Einheit zusammenführt (vgl. Nünning / Nünning 2000b bzw. Nünning / Nünning 2000a).

7 | Bereits die Moderne profilierte sich durch das Flüchtige und demontierte mit diesem Impetus vehement die Figuren des Sesshaften. Seitdem bevölkern nomadische Existenzen die Literatur. Dieses Motiv ist heute im Zuge von Globalisierung und Migration sowohl in der Theoriebildung als auch in Textwelten allgegenwärtig.

8 | Ganz speziell gilt dies für die zeitgenössischen Berlin-Romane, denen auch Moras Der einzige Mann auf dem Kontinent zuzuordnen wäre.

9 | Corbineau-Hoffmann weist darauf hin, dass Döblin und Joyce, die beiden großen Klassiker der Moderne, die auch heute noch als Kartographierer der Metropole gelten, zwar zahlreiche erzählerische Innovationen mit der modernen Großstadt gekoppelt haben, ihre Figuren aber noch in einem konkreten, nachvollziehbaren Raum situieren und Wege entwerfen, die auf der Karte verfolgt werden können, da sie konkrete realweltliche Elemente angeben. Corbineau-Hoffmann betont zugleich, dass Döblin mit den Benennungen nur bloße Namen und keine Orte mit einer »eigenen Atmosphäre« hervorbringt. Die Orte sind nicht in ihrer »Eigenart wahrnehmbar«, sie sind nicht mit einer »bestimmten Physiognomie« versehen, da sie sich der Deutung entziehen (Corbineau-Hoffmann 2003: 157f.). Diese Momente können als eindeutige Korrespondenzen zum Roman Moras gelesen werden. Bei Mora wird aber nichts mehr konkret benannt, selbst der Name Berlins wird nur als »Hauptstadt« erwähnt, und erst aus dem Gesamtkontext kann erschlossen werden, dass es hier um die deutsche Hauptstadt geht. Viel wichtiger ist es im Roman, dass alles – wie später noch zu erläutern ist – (fast) überall stattfinden könnte.

10 | Bolz (vgl. 1990; 1993) zeigt entsprechende Techniken, mit denen der Roman der Gegenwart Linearität aufbrechen und Komplexität steigern kann. Dieses Moment erscheint im Roman von Mora, wie im Verlauf des Beitrags noch gezeigt wird, nicht zuletzt im Spiel mit der Zeit und fluktuierenden Perspektiven, in Inter- und Architextualität und im dadurch entstehenden Stimmengewirr.

11 | »So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt, einen Nicht-Ort.« (Augé 1991: 92) Orte sind demnach benennbar, geographisch markiert, einzigartig und unverwechselbar, während Nicht-Orte sich dadurch auszeichnen, dass sie diese Eigenschaften nicht besitzen, also nicht benennbar und zusätzlich austauschbar sind.

12 | Augé zählt auch das »komplizierte Gewirr der verkabelten und drahtlosen Netze« (ebd.: 94) der Kommunikation zu den Nicht-Orten.

13 | Anikó Ramshorn-Bircsák liest den Roman nicht in diesem Kontext, denn sie spricht in Bezug auf den »Platz«, der im Zentrum des Romans steht, im Text jedoch nie beim Namen genannt wird, explizit vom Potsdamer Platz (vgl. Ramshorn-Bircsák 2011).

14 | Das radikal Fremde wird hier im Sinne von Waldenfels verstanden, als etwas, was jenseits unserer bekannten Ordnungen steht (vgl. Waldenfels 1997: 16-65, hier bes. 52f.).

15 | Nach Augés Auffassung sind Nicht-Orte, da sie keine Geschichte haben und so in keine Relationen eingebunden sind, Orte der Einsamkeit, der Entleerung der Individualität (vgl. Augé 1991: 103f.). An diesen Orten agieren Personen miteinander, deren Präsenz sich nicht zeigt (vgl. ebd.: 113). Diese Nicht-Orte bringen keine Individuen, sondern nur Durchschnittsmenschen oder höchstens provisorische Identitäten hervor (vgl. ebd.: 118).

16 | Das Internet kann insofern körperlich zu Kopp gehören, da es auch da um das Einverleiben geht.

17 | Die Problematik der Wegmetapher und die daran gekoppelte labyrinthische Struktur ist auch in Alle Tage bzw. in Moras ›road novel‹ Das Ungeheuer ein zentrales Motiv. Zur Funktion und zu den Deutungsmöglichkeiten dieser Metaphorik vgl. Hammer 2007.

18 | Obgleich mit einem ganz anderen Fokus stellt auch Szilvia Gellai in ihrer Studie die Verstrickungen des Protagonisten in die Medienwelt dar (vgl. Gellai 2013).

19 | Durch die Re-Zitation von bekannten Mustern des Romans, also durch poetische Verfahren, entstehen hier zusätzliche Sinnschichten, die miteinander konkurrieren und damit ein Spiel mit Identität und Differenz in Gang setzen. Dieser dialogischen Koexistenz zufolge findet fortwährend eine Verschiebung statt, die als transitorische Bewegung gedeutet werden kann.

20 | Dieses Stimmengewirr manifestiert sich in einer Darstellungsform, die in der Forschung »heterogenes Perspektivenangebot« und die »Dominanz zentrifugaler Kräfte« genannt wird (Nünning / Nünning 2000a: 54 u. 62).

Literatur

Augé, Marc (1991): Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Aus dem Franz. v. Michael Bischoff. Frankfurt a.M.

Bolz, Norbert (1990): Abschied von der Gutenberg-Galaxis. Medienästhetik nach Nietzsche, Benjamin und McLuhan. In: Jochen Hörisch / Michael Wetzel (Hg.): Armaturen der Sinne. Literarische und technische Medien 1870 bis 1920. München, S. 139-156.

Ders. (1993): Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse. München.

Corbineau-Hoffmann, Angelika (2003): Kleine Kulturgeschichte der Großstadt. Darmstadt.

Fähnders, Walter (2007a): Vagabondage und Vagabundenliteratur. In: Ders. (Hg.): Nomadische Existenzen. Vagabondage und Boheme in der Literatur und Kultur des 20. Jahrhunderts. Essen, S. 33-54.

Ders. (2007b): Vorwort. In: Ders. (Hg.): Nomadische Existenzen. Vagabondage und Boheme in der Literatur und Kultur des 20. Jahrhunderts. Essen, S. 7-12.

Gellai, Szilvia (2013): ›Helles Nichts auf hellem Grund‹. Ein Netz-Held an Nicht-Orten in Terézia Moras »Der einzige Mann auf dem Kontinent«. In: Miriam Kanne (Hg.): Provisorische und Transiträume. Raumerfahrung: Nicht-Ort. Berlin, S. 231-258.

Hammer, Erika (2007): Ohne Ort und jenseits von Sprache. Fremdheit und Identität in Terézia Moras Roman »Alle Tage«. In: Harald Gröller / Andrea Horváth / Gert Loosen (Hg.): Neue Reflexionen zur kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft. Debrecen, S. 79-104.

Hiepko, Andreas / Stopka, Katja (2001): Einleitung. In: Dies. (Hg.): Rauschen. Seine Phänomenologie und Semantik zwischen Sinn und Störung. Würzburg, S. 9-18.

Mora, Terézia (2004): Alle Tage. Roman. München.

Dies. (2009): Der einzige Mann auf dem Kontinent. Roman. München.

Nünning, Vera / Nünning, Ansgar (2000a): Multiperspektivität aus narratologischer Sicht. Erzähltheoretische Grundlagen und Kategorien zur Analyse der Perspektivenstruktur narrativer Texte. In: Dies. (Hg.): Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts. Trier, S. 39-77.

Dies. (2000b): Von ›der‹ Erzählperspektive zur Perspektivenstruktur narrativer Texte. Überlegungen zur Definition, Konzeptualisierung und Untersuchbarkeit von Multiperspektivität. In: Dies. (Hg.): Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts. Trier, S. 3-38.

Ramshorn-Bircsák, Anikó (2011): Dialogizität und Kontinuität im Roman »Der einzige Mann auf dem Kontinent« von Terézia Mora. In: Stephan Krause (Hg.): ›Die Mauer wurde wie nebenbei eingerissen‹. Zur Literatur in Deutschland und Mitteleuropa nach 1989 / 90. Berlin, S. 129-138.

Seel, Martin (2000): Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt a.M.

Shafi, Monika (2013): ›Mit der Wende kam der Appetit‹. Food, Work and Gender in Terézia Mora’s novel »Der einzige Mann auf dem Kontinent«. In: John Pustejovsky / Jacquline Vasant (Hg.): »Wenn sie das Wort Ich gebraucht«. Festschrift für Barbara Becker-Cantarino, S. 307-324.

Waldenfels, Bernhard (1997): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a.M.