Exterritorial

George Steiner

Wiederabdruck nach: George Steiner: Exterritorial [1969]. In: Ders.: Exterritorial. Schriften zur Literatur und Sprachrevolution. Dt. v. Michael Harro Siegel. Frankfurt a.M. 1974, S. 17-27. © 1974 Suhrkamp Verlag Frankfurt a.M.

Die romantische Theorie behauptet, daß unter allen Menschen der Schriftsteller am offenkundigsten den Genius, den Geist, die Essenz seiner Muttersprache verkörpere. In jeder Sprache kristallisiere sich die innere Geschichte, die besondere Weltsicht des Volkes oder der Nation. Diese Theorie ist ein natürlicher Bestandteil des romantischen Historismus, und mit ihr entdeckte das Neunzehnte Jahrhundert die formende Kraft der linguistischen Entwicklung. Die indo-europäische Philologie schien nicht nur einen Weg in die sonst nicht zurückzuholende Vergangenheit, in die Zeit des erwachenden Bewußtseins zu weisen, sondern auch eine unvergleichlich tief eindringende Betrachtungsweise ethnischer Qualitäten zu sein. Diese Vorstellungen, so beredt bei Herder, Michelet, Humboldt, scheinen dem gesunden Menschenverstand zu entsprechen. Der Schriftsteller ist ein besonderer Meister der Sprache. Bei ihm treten die Kräfte des idiomatischen Gebrauchs, der etymologischen Zusammenhänge mit aller Deutlichkeit zutage. Er kann, wie D. W. Harding an einer berühmt gewordenen Stelle sagt, »die Sprache auf einen keimenden Gedanken in einem früheren Zustand von dessen Entwicklung Einfluß gewinnen lassen« als gewöhnliche Sprecher. Es ist jedoch seine Sprache, die er zum Tragen bringt, es ist seine nachtwandlerische, genetische Vertrautheit mit ihr, die den Einfluß radikal und erfinderisch macht. Umgekehrt spiegelt die Sprache die Präsenz des Schriftstellers mehr als die jeden anderen Berufs wider: »Wir müssen frei sein oder sterben, die in der Zunge sprechen / in welcher Shakespeare sprach.«

So ist die Vorstellung von einem sprachlich »unbehausten« Schriftsteller a priori befremdlich – von einem Dichter, Romancier, Dramatiker, der in der Sprache seines Schaffens nicht völlig zu Hause, sondern vertrieben ist oder unschlüssig an der Grenze zaudert. Und doch ist dieses Gefühl des Befremdens jüngeren Datums als man denkt. Vieles in der allgemein anerkannten europäischen Literatur steht unter dem aktiven Druck von mehr als einer Sprache. Ich möchte behaupten, daß ein Großteil der Dichtung von Petrarca bis Hölderlin in einem ganz materiellen Sinne »klassisch« ist: sie bildet einen langen Akt von imitatio, eine innere Übertragung griechischer und lateinischer Sage- und Fühlweisen in die eigenständige Landessprache. Literarische Strömungen des Griechischen, Lateinischen und Italienischen durchziehen Miltons Englisch. Racines vollkommene Ausgewogenheit beruht zum Teil auf dem ergänzenden Echo der Passage bei Euripides – einem Echo, das dem Geiste des Dichters gegenwärtig war, und, wie man annehmen darf, bis zu einem gewissen Grade auch dem seines gebildeten Publikums. Zweisprachigkeit im Sinne einer ebenso flüssigen Ausdrucksfähigkeit in der eigenen Sprache wie im Lateinischen und / oder Französischen war bei der europäischen Elite bis ins späte Achtzehnte Jahrhundert eher die Regel als die Ausnahme. Nicht selten fühlte sich der Schriftsteller im Lateinischen oder Französischen mehr zu Hause als in seiner eigenen Sprache: Alfieris Memoiren berichten von seinem langen Kampf um die natürliche Beherrschung des Italienischen. Auch weiterhin und fast bis in unsere Tage wurden lateinische Dichtungen geschrieben.

Und doch steckt mehr als nationalbewußte Mystik hinter der Vorstellung vom eingewurzelten (enraciné) Dichter. Das Lateinische war letzten Endes ein besonderer Fall – eine sakramentale und kulturelle Zwischensprache, die ihre Funktion gerade deshalb beibehielt, weil die europäischen Landessprachen in ihrem sich vertiefenden Selbstbewußtsein auseinanderstrebten. Die Sprache von Shakespeare, von Montaigne, von Luther verkörpert eine äußerste regionale Kraft, den Anspruch eigenständiger, »unübersetzbarer« Identität. Damit ein Schriftsteller auf moderne Weise zwei- oder mehrsprachig werden konnte, mußten echte Verschiebungen seines Empfindungsvermögens und seines persönlichen Status eintreten. Sie zeigen sich, vielleicht zum ersten Mal, bei Heine. Binare Wertvorstellungen kennzeichnen sein Leben. Er war ein christlich erzogener Jude mit voltairischer Sicht auf beide Traditionen. Seine Dichtung alterniert zwischen romantischkonservativen und radikalen satirischen Akzenten. Politik und persönliche Laune machten ihn zum Pendler in Europa. Diese Lage bewirkte, daß er französisch und deutsch gleich fließend sprach, und gab seiner deutschen Dichtung eine besondere Originalität. »Die Flüssigkeit und Klarheit, die Heine sich aus der Umgangssprache zu eigen machte«, sagt T. W. Adorno, »ist das gerade Gegenteil angeborener ›Geborgenheit‹. Nur wer sich in seiner Sprache nicht wirklich zu Hause fühlt, verwendet sie wie ein Instrument.« Oscar Wildes Streben nach Zweisprachigkeit konnte noch subtilere Wurzeln haben. Da ist das anglo-irische Verhältnis mit seiner traditionellen Neigung zu exzentrischer, exhibitionistischer Meisterung des Englischen; da ist ferner die Nutzung Frankreichs durch die Iren als Gegengewicht zu den englischen Werten und Wildes eigene Anwendung französischen Denkens und Schreibens, um seine ästhetische, befreiende Polemik gegen den viktorianischen Standard zu stärken. Doch frage ich mich, ob die sprachliche Schaustellung, die es Wilde ermöglichte, seine Salomé auf französisch zu schreiben (oder die Lionel Johnsons lateinische Verse inspirierte), nicht auf Tieferes hindeutet. Wir wissen absurd wenig über die lebendige Kongruenz zwischen Eros und Sprache. Oscar Wildes Zweisprachigkeit konnte eine ausdrucksvolle Darstellung sexueller Dualität, ein Sprachsymbol für das neue Recht auf Experimentieren und Unbeständigkeit sein, das er für das Leben des Künstlers in Anspruch nahm. Hier, wie auch in anderen wichtigen Punkten, ist Wilde eine der echten Quellen unserer modernen Geisteshaltung.

Die Verwandtschaft mit Samuel Beckett ist augenfällig. Ein Ire auch er, phantastisch bewandert im Französischen wie im Englischen, wurzellos, weil an so vielen Orten daheim. Bei einem großen Teil von Becketts Werk wissen wir nicht, ob die englische oder die französische Version zuerst da war. Seine parallelen Texte sind von unheimlicher Brillanz. Beide Sprachströme scheinen in Becketts zwischen- und innersprachlichen Kompositionen gleichzeitig zu fließen; er übersetzt seine eigenen Witze, Wortspiele, Akrosticha und scheint in der anderen Sprache das einmalige, natürliche Analogon zu finden. Es ist, als gehe die Erfindung im Anfangsstadium in einer Geheimsprache vor sich, zusammengesetzt aus Französisch, Englisch, Anglo-Irisch und ganz persönlichen Phonemen. Wenngleich, soviel ich weiß, Borges keine Dichtungen oder Parabeln in einer anderen als der spanischen Sprache veröffentlicht hat, ist doch auch er einer dieser neuen »Esperantisten«, engvertraut mit dem Französischen, dem Deutschen und besonders dem Englischen. Sehr oft liegt ein englischer Text – Blake, Stevenson, Coleridge, De Quincey – der spanischen Aussage zugrunde. Die andere Sprache »scheint durch« und verleiht den Versen von Borges und seinen Ficciones (Fiktionen) die Wirkung der Leichtigkeit, der Universalität. Er verwendet die Alltagssprache und die Mythologie Argentiniens, um seiner sonst fast allzu abstrakten, allzu flüchtigen Phantasie Ballast zu geben.

Es ist nun so, daß diese Multilinguisten (auch Ezra Pound muß in diesem Zusammenhang genannt werden) zu den bedeutendsten Schriftstellern unserer Zeit gehören. Die Gleichsetzung von nur einem einzigen sprachlichen Angelpunkt, angeborener tiefer Verwurzelung, mit dichterischer Kraft ist wieder in Zweifel geraten. Und, wenn wir das Lateinische ausnehmen, vielleicht zum ersten Mal in echten Zweifel. Hier liegt ein entscheidender Aspekt von Nabokow.

Nabokows Bibliographie ist voller Fallen und Unklarheiten. Doch scheint festzustehen, daß er Originalwerke in mindestens drei Sprachen geschrieben hat. Ich sage »mindestens«, denn es mag sein, daß eine Erzählung, Mademoiselle O., die in Speak, Memory (Andere Ufer ) 1951 und später in Nabokov’s Dozen (Nabokows Dutzend) 1958 wieder aufgenommen wurde, zuerst unter demselben Titel auf französisch in Mesures (Paris, 1939) erschienen ist.

Dies ist nur eine Facette von Nabokows vielsprachigem Wesen. Seine Übersetzungen, Rückübersetzungen, Nachahmungen, mehrere Sprachen durchquerenden Imitationen usw. bilden ein schwindelerregendes Fadenspiel. Kein Bibliograph hat es bis jetzt ganz entwirren können. Nabokow hat Gedichte von Ronsard, Verlaine, Supervielle, Baudelaire, Musset, Rimbaud aus dem Französischen ins Russische übersetzt. Nabokow hat die folgenden englischen und irischen Dichter ins Russische übersetzt: Rupert Brooke, Seumas O’Sullivan, Tennyson, Yeats, Byron, Keats und Shakespeare. Seine russische Version von Alice in Wonderland (Berlin 1923) gilt seit langem als einer der Schlüssel zu dem ganzen Nabokowschen Œuvre. Zu den russischen Schriftstellern, die Nabokow ins Französische und Englische übersetzt hat, gehören Lermontow, Tjutschew, Afanasi Fet und der anonyme Verfasser von Das Lied von Igors Feldzug. Sein Eugen Onegin, in vier Bänden mit gigantischem Textapparat und Kommentar, mag sich als sein (verstiegenes) magnum opus herausstellen. Nabokow hat einen russischen Text des Prologs zu Goethes Faust veröffentlicht. Eines seiner bizarrsten Bravourstücke ist die Rückübersetzung von Konstantin Balmonts »erbärmlicher, aber berühmter« (Andrew Field: Nabokow, S. 372) russischer Version von Edgar Allan Poes The Bells (Die Glocken) ins Englische. Anklänge an Borges’ Pierre Menard!

Ebenso wichtig, wenn nicht noch wichtiger als diese Übersetzungen, Schnurrpfeifereien, kanonischen Inversionen und Nachahmungen anderer Schriftsteller – sie schnellen gleichsam hin und her zwischen Russisch, Französisch, Deutsch, Englisch und Amerikanisch – sind Nabokows multilinguale Umformungen von Nabokow. Nicht nur ist er, mit seinem Sohn Dimitri Nabokow, der Hauptübersetzer seiner eigenen frühen russischen Romane und Novellen ins Englische, sondern er hat auch Lolita ins Russische zurück(?) übersetzt(?), und es gibt Leute, die diese 1967 in New York erschienene Version für das alles andere in den Schatten stellende Meisterwerk des Romanciers halten.

Ich habe keine Bedenken, die polylinguistische Grundsubstanz für den bestimmenden Faktor in Nabokows Leben und Kunst zu erklären, oder, wie Field es zutreffender ausdrückt, »sein Leben in der Kunst«. Nabokows Leidenschaft für die Insektenkunde (ein Zweig der Theorie der Klassifizierung) und das Schachspiel – insbesondere für Schachprobleme – sind »metalinguistische« Parallelen zu seiner hauptsächlichen Obsession. Diese Besessenheit beruht natürlich nicht gänzlich auf Nabokows eigener Wahl. Wie er mit trauervoller Beharrlichkeit erklärt, hat ihn die politische Barbarei des Jahrhunderts zum Verbannten gemacht, zu einem Wanderer, einem Hotelmenschen, hat ihn abgetrennt nicht allein von seiner russischen Heimat, sondern auch von der makellosen russischen Sprache, in der seine Begabung ihr von Zwängen freies Idiom gefunden hätte. Das trifft offensichtlich zu. Doch während so viele andere aus ihrem Sprachraum Verbannte sich verzweifelt an das Kunstgebilde ihrer Heimatsprache klammerten oder in Stillschweigen versanken, trat Nabokow in eine Sprache nach der anderen ein wie ein reisender Potentat. Aus Fialta verbannt, hat er sich ein Haus aus Worten erbaut. Präziser gesagt: seine multilinguale Situation ist zugleich Stoff und Form von Nabokows Werk (ohne Zweifel sind die beiden nicht zu trennen, und Pale Fire (Fahles Feuer) ist die Parabel ihrer Fusion).

Es wäre keineswegs abwegig, wollte man den größten Teil von Nabokows Opus als Meditation – lyrisch, ironisch, technisch, parodistisch – über das Wesen der menschlichen Sprache lesen, über die rätselhafte Koexistenz verschiedener sprachlich begründeter Weltsichten und eine Tiefenströmung, die an der Basis der verschiedenen Sprachen wirksam ist und sie zuweilen auf unerklärliche Weise verbindet. The Gift (Das Geschenk), Lolita und Ada sind Geschichten über die erotischen Beziehungen zwischen Sprecher und Sprache, genauer gesagt, Wehklagen – zuweilen so formalistisch und hallend wie die Trauerreden des Barock – über Nabokows Trennung von der einzigen wahren Geliebten, »meiner russischen Sprache«. Zwei Meister dieser Sprache, Puschkin und Gogol, dazu sein Vorgänger im Exil, Bunin, sind es, als deren Zeitgenosse sich Nabokow vom Wesen her empfindet. Das Thema geistert in Andere Ufer, für mich das schlichteste und menschlichste von Nabokows Büchern. Doch auch in den mehr didaktischen, ausgesprochen technischen Aussagen Nabokows erscheint es deutlich. Wie er seinen Studenten 1945 in Wellesley sagte, »Sie können und sollten Russisch mit einem dauernden breiten Lächeln sprechen.« Im Russischen sei ein Vokal eine Apfelsine, im Englischen bloß eine Zitrone. Hierin liegt auch, nach meiner Auffassung, die Erklärung für das Inzestmotiv, das in Nabokows Erzählkunst eine so große Rolle spielt und in Ada das Zentralmotiv bildet. Für Nabokow ist der Inzest ein Tropus. Mit ihm stellt Nabokow seine niemals endende tiefe Liebe zum Russischen dar, die ihm vom Exil aufgezwungenen verwirrenden Treulosigkeiten und die einzigartige Vertrautheit mit den eigenen Schriften, die er als ihr Erzeuger, Übersetzer und Rückübersetzer gewonnen hat. Spiegelungen, Inzest und ein ständiges Verknüpfen von Sprachen sind die nahe verwandten Zentren von Nabokows Kunst.

Das führt unumgänglich zur Frage des »Nabokesischen«, der anglo-amerikanischen Zwischensprache, in der Nabokow seit den frühen Vierzigerjahren den Großteil seines Werkes abgefaßt hat. Die einen sehen in der Sprache von Lolita und ihren Nachfolgern ein Wunder an Erfindungsgabe, Eleganz und Witz. Für die Ohren anderer ist Nabokows Prosa ein makkaronisches, preziöses, aufreizend undurchsichtiges und unbehagliches Stück Zuckerwatte. Sie sei ausländisch, nicht nur in den Details der lexikalischen Gepflogenheiten, sondern in ihrem Grundrhythmus, der der natürlichen englischen und amerikanischen Sprechgewohnheit zuwiderlaufe. Im wesentlichen ist es bei dieser Meinungsverschiedenheit wie mit Oliven: man mag sie oder man mag sie nicht. Beim ersten Lesen kommt einem Ada (in so vielem eine Variation der Themen von Fahles Feuer) zügellos und an vielen Stellen unheilbar schwülstig vor. Die Neusprache von Ardor1 hat häufig das gleiche voraussagbare Niveau der Einfälle wie doppelte Akrosticha. Die Mischung aus Englisch, Französisch, Russisch und Privatesperanto hat etwas Bemühtes. Es ist, als sei Nabokow jenes multilinguistische Dilemma über den Kopf gewachsen, das er bis jetzt so spürbar meisterte. Doch wird die erste Lektüre einem Schriftsteller seines Formats niemals voll gerecht. Nach längerem Probieren konnte sich die Lagentorte Ada als kulinarische Entdeckung entpuppen. Im gegenwärtigen Stadium, so scheint mir, ist es weniger nützlich, über die Verdienste oder Schwächen des »Nabokesischen« zu debattieren, als Licht auf seine Quellen und seine Struktur zu werfen.

Wir brauchen in der Tat eine eingehende Untersuchung der Art und des Grades des vom Russischen auf Nabokows Anglo-Amerikanisch ausgeübten Druckes. Wie häufig sind seine englischen Sätze Rückübersetzungen (»meta-translations«) aus dem Russischen? Bis zu welchem Grade bilden russische semantische Assoziationen den Ausgangspunkt für die Bilder und die Kontur der englischen Redewendung? Insbesondere brauchen wir eine maßgebende Konkordanz von Nabokows russischer Dichtung und seiner englischen Prosa. Ich vermute, daß viele der für Nabokows Prosa seit seinem Sebastian Knight bezeichnenden stilistischen Wendungen Neuverkörperungen der von ihm zwischen 1914 und 1939 geschaffenen Dichtungen oder Variationen davon sind. Ganze Episoden in Lolita und Ada, und auch die augusteischen scheinepischen Nachahmungen in Fahles Feuer haben offenbar ihre eigentlichen Wurzeln in russischen Gedichten, von denen manche bis auf die frühen Zwanzigerjahre zurückgehen. Ist am Ende ein Großteil von Nabokows Englisch Schmuggelware, ein ungesetzliches Über-die-Grenze-Schaffen russischer Dichtung, die jetzt in der Gefangenschaft einer von ihm verachteten Gesellschaft lebt?

Ebenso bedarf es einer sorgfältigen Analyse des regionalen und literarischen Hintergrundes von Nabokows Englisch. Seine Ästhetik, seine ihm eigentümliche Rhetorik, die angestrebten Ideale exakter Überfülle und ironischer Pedanterie lassen sich örtlich bestimmen. Wir finden sie in Cambridge, wo Nabokow als Student weilte, und in dem dazugehörigen Bloomsbury. Auch unter Berücksichtigung all dessen, was das Buch Gogol schuldet, finde ich es schwierig, Lolita von der englischen Spielart des art nouveau, von der Palette Beardsleys, Wildes und Firbanks losgelöst zu sehen. Die für den Nabokowschen Ton so bezeichnenden apodiktischen Unverfrorenheiten und herablassenden glissandos kann man mit Lytton Strachey, Max Beerbohm und dem frühen Evelyn Waugh in Parallele setzen. In der Tat ist die ganze Haltung des begabten Amateurs / amatore, der sich kennerisch in einem Dutzend Zweigen der Geheimwissenschaft zu Hause fühlt, der sich immerfort den goldenen Nachmittagen und Spitzenjahrgängen der Vergangenheit zuwendet, nachweislich Spät-Edwardian und Georgian. Daß Nabokows früheste Übersetzungen und Skizzen sich mit Rupert Brooke und Cambridge befassen, ist bezeichnend. Vieles in seiner Kunst und vieles, was uns heute höchst idiosynkratisch oder originell erscheint, ist eine Neu-Erfindung jener vergangenen Welt der weißen Flanellhosen und des Honigs zum Tee. Im England der Virginia Woolf fand Nabokow die beiden Themen eingewebt, für die er besonders empfänglich war: die fliederduftenden Sommer einer vergangenen aristokratischen Ordnung und die erotischen Ambiguitäten von Lewis Carroll. Auch würde man gern wissen, welche Formen der amerikanischen Umgangssprache und der amerikanischen Literatur (falls er etwas davon gelesen hat) sich nach 1941 bei Nabokow abzeichnen.

All das waren vorläufige Richtlinien einer Untersuchung, die dahin zielt, die »Fremdheit«, das polysemische Wesen von Nabokows Gebrauch der Sprache(n) zu erfassen. Sie würde nicht allein sein eigenes erstaunliches Talent erhellen, sondern auch weiterführende Fragen wie die der Voraussetzung vielsprachiger Imagination, der nach innen verlegten Übersetzung, der möglichen Existenz eines privaten Mischidioms »unterhalb« der Lokalisierung verschiedener Sprachen oder dieser »vorausgehend« im sprachbegabten Gehirn. Wie Borges – über den er sich in Ada billig und selbstverräterisch lustig macht – ist Nabokow ein Schriftsteller, der ganz nahe an der schwer zugänglichen Schwelle der Syntax am Werke ist; er erlebt Sprachformen im Zustand vielfacher Potentialität; er bewegt sich quer durch die Landessprachen und ist so imstande, Worte und Satzgefüge in einem hochgespannten, nicht festgelegten Zustand der Lebendigkeit zu halten. Über den persönlichen Fall hinaus finden wir ferner die repräsentative Haltung, oder besser, Bewegung. Ein durch gesellschaftliche Umwälzungen und Krieg von einer Sprache zur anderen getriebener großer Schriftsteller ist das treffendste Symbol des Zeitalters des Flüchtlings. Kein Exil ist radikaler, kein Kraftakt der Anpassung und des neuen Lebens stellt höhere Anforderungen. In einer quasi barbarischen Zivilisation, die so viele heimatlos gemacht, so viele Sprachen und Völker mit der Wurzel ausgerottet hat, müssen die, die Kunst hervorbringen, wohl selber unbehauste Dichter und Wanderer quer durch die Sprachen sein. Exzentrisch, distanziert, heimwehkrank, bewußt unzeitgemäß, wie er zu sein strebt und es häufig auch ist, bleibt Nabokow dank seiner Exterritorialität ganz und gar ein Kind unserer Zeit und einer ihrer Wortführer.

Anmerkungen

1 | Orwell: 1984, A. d. Ü.