Cargo-Kulte

Magie im Zeitalter der Globalisierung

Wilhelm Amann

Als moderne Variante magischer Praktiken sind die auf der melanesischen Inselwelt nordöstlich von Australien seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verbreiteten sogenannten Cargo-Kulte seit geraumer Zeit ein bevorzugter Untersuchungsgegenstand der Ethnologie. Die Kulte sind eng mit der Geschichte der Disziplin verbunden, da die Beschäftigung mit ihnen über die Erprobung von Techniken der Feldforschung und Methoden teilnehmender Beobachtung hinaus auch die Inversion des ›ethnologischen Blicks‹ und die Öffnung der Disziplin hin zu einer interpretierenden Wissenschaft im Rahmen der Kulturwissenschaften begleitet hat. Für das Profil der Kulturwissenschaften als eine »Form der beweglichen Verschaltung« zwischen ansonsten abgeschotteten Einzeldisziplinen sind gerade die auf vermeintlich periphere Kulturphänomene ausgerichteten ethnologischen Fragestellungen von erheblicher Bedeutung, zudem haben sie zu »Gewichtsverschiebungen in der Kartographie der Weltkultur« beigetragen und eurozentristische Fixierungen aufgebrochen (Böhme / Scherpe 1996: 12 u. 18f.). So können Cargo-Kulte als Ausdruck einer besonderen Relation zwischen lokalen Gemeinschaften und abstrakten weltweiten Prozessen verstanden werden, deren komplexe symbolische Dimensionen in den sozialwissenschaftlich orientierten global-local Postulaten kaum Berücksichtigung gefunden haben (vgl. Robertson 1998: 192-220).

Der Ausdruck ›Cargo-Kult‹ vereinheitlicht ein Spektrum von prophetischen Bewegungen in Melanesien, die zunächst als Schwarmgeisterei oder als Besessenheitsphänomene galten. Ein Blick in die umfangreiche ethnologische Forschungsliteratur zum Thema zeigt allerdings, dass es recht schwierig ist, ein einheitliches Bild dieser Kulte zu bekommen (vgl. Jebens / Kohl 1999; Jebens 2004). Die teilnehmende Beobachtung ist dabei offenkundig an Grenzen gestoßen, detaillierte Beschreibungen über den Ablauf der Kulte fehlen, statt dessen spielen Mutmaßungen und Gerüchte eine wichtige Rolle, die auch von den Beteiligten selbst als latente Ausdrucksformen eines kollektiven Bewusstseins in Umlauf gebracht worden waren.

Angesichts einer Vielzahl von Abwandlungen soll im Folgenden eine Deutungsperspektive für einen Kult im Kontext von Globalisierungsprozessen entwickelt werden. Größeres, nicht nur wissenschaftliches Interesse hat der sogenannte John-Frum-Kult auf der zu den Neuen Hebriden gehörenden Insel Tanna auf sich gezogen. Grundlegend sind die Ausführungen von Peter Worsley in seiner Studie The Trumpet Shall Sound von 1957 über Cargo-Kulte als chiliastische Bewegungen, die später in der für die intellektuellen Debatten in Westdeutschland gewichtigen Theoriereihe des Suhrkamp-Verlages aufgenommen wurde (vgl. Worsley 1973: 215-255). Wie bei den meisten Cargo-Kulten reichen Vorformen bis in die Zeit um 1900 zurück, seine größte Wirkung entfaltete der John-Frum-Kult jedoch in der Mitte des 20. Jahrhunderts.

Zu Beginn des Jahres 1940 wurden auf Tanna Zeichen eines Aufruhrs sichtbar, der sich zunächst gegen die rüde Kolonialherrschaft der Missionare und Plantagenbesitzer richtete. Es wurden Versammlungen abgehalten, von denen Weiße wie Frauen ausgeschlossen waren. Im Zentrum standen Botschaften eines gewissen John Frum, als der ein etwa 30-jähriger Einheimischer namens Manehivi auftrat. John Frum gab sich als Prophet des Gottes vom höchsten Vulkan der Insel aus und forderte die Rückkehr zu den von den Missionaren verbotenen Bräuchen wie Polygamie, Tanzen oder Kava-Trinken. Er stellte darüber hinaus die Rückkehr der Ahnen und ein kommendes Zeitalter des Überflusses und des Reichtums in Aussicht, das die mühselige Landarbeit entbehrlich machen würde. Als Hindernis galt die Anwesenheit der Weißen, von denen man sich abwenden müsse, und als ersten Schritt empfahl er, den Gebrauch von Geld aufzugeben. In der Folge wurden Konsumorgien gefeiert, um das Zahlungsmittel der Weißen loszuwerden, manche sollen ihre gehorteten Ersparnisse ins Meer geworfen haben in der Annahme, dass – wie Worsley schreibt – »die Weißen fortgehen müßten, wenn es auf der Insel kein Geld mehr gab« (ebd.: 217). Viele der Einheimischen verließen die Kirchen, Schulen und Dörfer, zogen ins Innere des Landes und ließen in Zeremonien und Festen ihre Traditionen wieder aufleben.

Aufgrund dieser Ereignisse wurde der Führer der Bewegung, Manehivi, verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Die Bewegung florierte aber weiter, denn einige Anhänger behaupteten, Manehivi sei nicht der wirkliche John Frum gewesen, dieser befinde sich noch auf freiem Fuß. Im Vorfeld des heraufziehenden amerikanisch-japanischen Krieges im Pazifik verbreitete sich dann eine andere Legende in unterschiedlichen Versionen: John Frum sei König von Amerika oder werde seinen Sohn nach Amerika schicken, um den König zu suchen, oder sein Sohn komme aus Amerika, oder seine Söhne sollten John Frum in Amerika suchen. Jedenfalls würden John Frum und seine Söhne bei ihrer Rückkehr, die eine Rückkehr der Ahnen bedeutete, mit ihren Flugzeugen die Berge der Insel bedecken.

Als dann die ersten australischen Flugboote auftauchten, verbreitete sich das Gerücht, dass drei Söhne John Frums auf der Insel eingetroffen seien, und die Hysterie brach vollends aus, als einige Zeit später die Amerikaner mit 300.000 Mann auf der Insel landeten. Die Prophezeiung John Frums schien sich aber nicht nur durch die Errichtung eines Luftwaffenstützpunkts zu bestätigen. Ein wichtiges Zeichen wurde von Beginn an darin gesehen, dass viele der US-Soldaten dunkelhäutig wie die Ahnen waren und Geschenke wie Colaflaschen, Zigaretten oder Konserven verteilten. Die freundliche Behandlung durch die amerikanischen Militärärzte führte dazu, dass das rote Kreuz zum Symbol der John-Frum-Bewegung wurde.

Auftrieb erhielt die Bewegung schließlich dadurch, dass die Amerikaner die Einheimischen als Arbeitskräfte anheuerten. Besonderes Interesse erregten die zahllosen Frachtgüter, die auf der Insel landeten, und das Verhalten der Soldaten, die neben Tätigkeiten wie dem Exerzieren, dem Schreiben und dem Besuch von Gottesdiensten auch Schiffs- oder Flugzeugladungen von Gütern unter Ritualen wie Salutieren, Fahnenhissen und Händeschütteln entgegennahmen. Während die Missionare bis dahin die Einheimischen zu harter Arbeit angehalten hatten, ohne dass sie dadurch zu irgendwelchem Reichtum gekommen wären, erschien ihnen dieser Überfluss an Gütern nun nicht mehr als Erzeugnis menschlicher Arbeit, sondern als Auswirkung eines überlegenen Kultes, der einen direkten Kontakt mit den Ahnen möglich macht. In der Folge dehnten sich die rituellen Versammlungen aus, während die Missionen und Plantagen boykottiert wurden. Ziel der John-Frum-Bewegung war es nun, mittels magischer Praktiken die Geheimnisse zu ergründen, wie man sich Ladungen dieses Reichtums aus der Welt der Ahnen verschaffen könnte.

Als die Amerikaner den Stützpunkt aufgaben und die Insel verließen, kursierten Vorstellungen, sie seien zu den Ahnen zurückgeflogen, um in noch größerer Zahl zurückzukehren. Trotz harter Repressionsmaßnahmen der Kolonialregierung setzte sich der Kult danach in heimlichen Ritualen fort, die dann sporadisch öffentlich ausbrachen. So begannen die Anhänger John Frums, eigenhändig Flugplätze anzulegen, um die Landung der Güter zu ermöglichen. Man traf sich auf dem Gelände und suchte den Himmel nach den anfliegenden Ahnen ab. Es wurden Flugzeuge aus Holz angefertigt, Funksimulationen mit selbst gebauten Kopfhörern wurden zum Bestandteil von Beschwörungen, bei denen Fragmente von Funkcodes (Roger, Foxtrott, clear for landing etc.) in die Litanei eingingen, um die Ahnen anzulocken.

Der John-Frum-Kult weist eine Reihe von Merkmalen vieler lokal begrenzter Kultbewegungen im Pazifikraum auf, deren Gemeinsames im Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe zusammengefasst worden ist: Demnach sind

bei fast allen »Cargokulten« […] Führer oder Propheten ausgemacht worden, die den Inhalt ihrer Versprechungen und Anweisungen in Träumen oder Trancezuständen aus übernatürlichen Quellen empfangen haben wollten. Zu den Anweisungen gehörte vielfach das Gebot, die Feldarbeit einzustellen, Landeplätze für die Ahnen zu bauen, eine Gebühr an den Kultführer zu errichten und an kollektiven Tänzen und Veranstaltungen teilzunehmen. (Luchesi 1993: 191)

Danach würden die Ahnen zurückkehren, oder Gott oder eine andere befreiende Macht würde erscheinen, all jene Güter bringen, nach denen die Menschen verlangen, und eine Herrschaft ewiger Glückseligkeit errichten.

Unter den Anhängern des Kultes haben Ethnologen im Verlaufe der Jahrzehnte Interviews geführt und dabei auch nach den begehrten Gütern gefragt. Lamont Lindstrom hat aus den Angaben eine »cargo list« zusammengestellt, die den westlichen Beobachtern auf den ersten Blick als naiver Konsumfetischismus erscheinen musste:

»Enough food for everybody, prefabricates houses, washing machines, refrigerators, and blondes for the chief men«;

»Jeeps and refrigerators and canned food«;

»Fabulous shiploads of refrigerators, jeeps, bulldozers, bottles of Coca Cola«;

»Radios and refrigerators«;

»Material goods such as refrigerators, television sets and washing machines«;

»Radio sets, refrigerators, cartons of cigarettes« (Lindstrom 2004: 20).

Zum Kern des Cargo gehört also der Kühlschrank, der auf diese Weise als Fundament der amerikanischen Konsumkultur gleichsam ›von außen‹ noch einmal seine Bestätigung erfährt.

Allerdings leisten solche Listen auch eindimensionalen, akkulturationstheoretischen Deutungsmustern Vorschub, in denen mehr oder weniger offen die Unkenntnis der indigenen Bevölkerung über Herstellungsprozesse und Verteilungsregularien der Segnungen der westlichen Zivilisation herausgestellt wird: Der Cargo-Glaube erscheint als irrationale Reaktion auf die Überlegenheit der rationalen westlichen Kultur und ihrer wirtschaftlichen Entwicklung.

Tatsächlich bewahrte die ethnologische Metapher durch eine Reihe von Transformationen in die Funktionsbereiche der modernen Gesellschaft ihre Bedeutung als kaum verhüllter Ausdruck eines Hegemonialbewusstseins. Relativ bekannt ist ein Aufsatz des Physikers und Nobelpreisträgers Richard Feynman, der zur Zeit der Vorkommnisse auf Tanna Anfang der 1940er Jahre Mitarbeiter am Manhattan Project zum Bau der Atombombe in Los Alamos war und in späteren Jahren in einer Rede den Begriff »Cargo-Kult-Wissenschaft« in Umlauf brachte:

In der Südsee gibt es bei bestimmten Völkern einen Cargo-Kult. Während des Krieges sahen sie, wie Flugzeuge mit vielen brauchbaren Gütern landeten, und nun möchten sie, dass das wieder geschieht. So sind sie übereingekommen, Landebahnen anzulegen […], und sie warten darauf, dass die Flugzeuge landen. Sie machen das jede Nacht. Die Form ist perfekt. Es sieht genauso aus, wie es früher aussah. Aber es funktioniert nicht. Es landen keine Flugzeuge. All das nenne ich Cargo-Kult-Wissenschaft, weil es anscheinend allen Rezepten und Formen der wissenschaftlichen Forschung folgt, aber etwas Wesentliches verfehlt, denn die Flugzeuge landen ja nicht. (Feynman 2008: 451)

Fragwürdig ist Feynmans Bestimmung nicht nur, weil er in der Pose des aufklärerischen Rationalisten auf die mimetischen Praktiken der Naiven herabblickt, sondern auch, weil er im Verlauf seines Essays diese Einstellung in den Wissenschaftsbereich verlängert und damit Charles Percy Snows berühmt-berüchtigte These von den ›zwei Kulturen‹ noch einmal zuspitzt: Aus der Perspektive eines naturwissenschaftlich-technischen Verständnisses von Wissenschaft erscheinen alle geistes- und sozialwissenschaftlichen Ansätze von vornherein als »Cargo-Kult-Wissenschaften«, weil sie formal am Wissenschaftssystem partizipieren, ohne in ihren Verfahren und Methoden die Maßstäbe von Wissenschaftlichkeit zu erfüllen, und statt dessen die Logik von Ursache und Wirkung durch Rituale ersetzen. In ähnliche Richtung weist im Übrigen auch der Ausdruck cargo-cult programming, der aus dem Hackerjargon in das Vokabular der Softwareentwicklung übergegangen ist und eine nutzlose, bloß gewohnheitsmäßige Installierung von Programmstrukturen bezeichnen soll. Durch den Rückgriff auf frühe ethnologische Deutungen von Cargo-Phänomenen wird hier wie in Feynmans Wissenschaftspolemik auf die humanities der Unterschied zwischen den Verständigen und Unverständigen, den Spezialisten und den Laien, als unüberbrückbarer zivilisatorischer Abstand zwischen Primitiven und Modernen semantisiert.

Gegen diese simplifizierenden Sichtweisen auf Cargo-Kulte sind in der Ethnologie mittlerweile Neubewertungen vorgenommen worden. Der Titel des von Holger Jebens und Karl Heinz Kohl 1999 publizierten Forschungsberichts Konstruktion von »Cargo«. Zur Dialektik von Selbst- und Fremdwahrnehmung in der Interpretation melanesischer Kultbewegungen zielt bereits auf eine Revision bisheriger Deutungsmuster: Die »Cargo«-Vorstellungen haben nicht nur auf der indigenen, sondern auch auf westlicher Seite dazu gedient, »das Fremde kategorisierbar und damit kontrollierbar zu machen« (Jebens / Kohl 1999: 16).

Ein wichtiges Indiz für die Notwendigkeit eines solchen Perspektivwechsels bietet der Ausdruck »Cargo-Kult« selbst, in dem auf ebenso plastische wie rätselhafte Weise das Dinghafte, Profan-Reale mit dem Bereich des Rituellen und Symbolischen zusammengeschlossen erscheint. Bekannt ist der Ausdruck aber erst seit 1945. Zum ersten Mal wurde er offenbar in einem von einem Australier namens Norris Bird verfassten Zeitungsartikel verwendet, der sich gegen eine Bewaffnung der Melanesier wandte; er ersetzt seitdem die bis dahin geläufige Bezeichnung »Vailala Madness«, nach einem der ersten auf Papua-Neuguinea um 1900 beobachteten Kulte, der bis dahin als Sammelbezeichnung für das Phänomen fungierte. Es spricht vieles dafür, dass diese Umwidmung in »Cargo Kult« überhaupt erst eine breite Aufmerksamkeit für die Kultbewegungen in Melanesien hervorgerufen hat, und zwar nicht nur unter ethnologischen Experten, die den Ausdruck als »a surprisingly sexy term within anthropology’s dry lexicon« (Lindstrom 2004: 18) gerne aufgegriffen hatten.

Es wäre sicherlich reizvoll, diese Karriere von »Cargo« im Einzelnen weiterzuverfolgen, in welchen Formen für die westliche Kultur die Faszination an der Fremdwahrnehmung allmählich in Facetten ihrer Selbstwahrnehmung umschlägt und welche Einstellungen, von der reflexhaften Abwehr bis zur wissenden Ironie, dabei evoziert werden. Hartmut Böhme geht in seiner umfangreichen Studie über Fetischismus und Kultur zwar nicht auf melanesische Cargo-Kulte ein, deren Rezeption folgt jedoch der »für die Moderne charakteristischen Strategie im Umgang mit dem, was als ›vormodern‹ oder ›unaufgeklärt‹ galt, eine Strategie indes, die eben die Phänomene verlängerte oder gar erst hervorbrachte, die sie bekämpfte« (Böhme 2006: 488).

An die Ambivalenzen der Moderne lässt sich anknüpfen, es liegt in diesem Fall jedoch näher, statt von der Moderne von einem historisch und räumlich breiter angelegten Konzept von Globalisierung als Bezugsrahmen auszugehen. Denn die Signifikanz von Cargo-Kulten für die westlichen Beobachter ergibt sich nicht zuletzt aus den eigentümlichen Koinzidenzen mit markanten Zäsuren, die zwischen den welthistorischen Globalisierungsschüben auszumachen sind.

Der als Globalisierungstheoretiker bekannt gewordene Sozialwissenschaftler Martin Albrow hat mit dem Begriff »Global Age« zum Ausdruck gebracht, dass für uns in der Gegenwart eine neue Stufe der Globalität erreicht sei, die sich qualitativ von dem vorhergehenden, fast 500-jährigen »Age of Globalization« unterscheidet (Albrow 1998: 285-287). Dieses vergangene »Zeitalter der Globalisierung« ist im Anschluss an Albrow von Peter Sloterdijk als Phase der »terrestrischen Globalisierung« (Sloterdijk 2006: 9) bezeichnet worden. Als eine auch in der Globalgeschichte geläufige Langzeitepoche entspricht dieser Zeitraum dem Ereigniskomplex der europäischen Expansion, die von zwei Eckdaten begrenzt wird: der Entdeckung der neuen Welt 1492 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945. Vor dieser Folie könnte man nun die am Ende dieser terrestrischen Globalisierung aufkommenden Cargo-Kulte als eine Art Vexierbild verstehen, in dem die Antipoden dieser Epoche, die Kolonisatoren und die Kolonisierten, die Modernen und die Primitiven, die Akteure der Globalisierung und ihre Objekte, noch einmal die ihnen zugewiesenen Plätze einnehmen. Denn was die Cargo-Kulte zumindest auf den ersten Blick mit der frühneuzeitlichen Entdeckung neuer Welten verbindet, liegt auf der Hand: Es ist die Wiederholung einer ›First-Contact-Szene‹, die erste Berührung mit der fremden Kultur, die den Ausgangspunkt ethnologischer Forschung schlechthin darstellt (vgl. Scherpe 1998).

Für den späteren Ort des John-Frum-Kults auf der Insel Tanna ist dieses Ereignis übrigens durch Georg Forsters Bericht über seine Reise um die Welt mit James Cook aus dem Jahr 1774 gut dokumentiert, ein Bericht, der wie alle anderen schriftlich tradierten Szenarien dieses Typs sein Vorbild in Kolumbus’ Landung in der Karibik hatte (vgl. Forster 1983). Es ist hier nicht weiter auf Forster einzugehen, interessant ist allerdings, dass sein Bericht indirekt einen Hinweis auf die mögliche Herkunft des Ausdrucks ›John Frum‹ enthält. Nach Forster gehörte es zum Brauch auf den Südseeinseln, »durch gegenseitige Vertauschung der Namen, Freundschaft mit einem andern zu errichten« (ebd.: 746). Der Führer der John-Frum-Bewegung mag seinen Namen also aus einem Kontakt mit einem John aus dem angloamerikanischen Kulturkreis (John from …) übernommen haben.

Versucht man die Encounter-Szene der Cargo-Kulte aus den 1940er Jahren mit der epochalen Encounter-Szene von 1492 übereinanderzuschieben, so fallen einige Aspekte besonders auf. Stephen Greenblatt hat in seiner Studie über die Marvelous Possessions gezeigt, wie sehr Kolumbus daran gelegen war, die Vorstellung der Indianer über die überirdische Herkunft der Spanier zu befördern, und wie bei den Europäern der an sich offene Zustand des eigenen Staunens und der Verwunderung über das Fremde in ein sprachlich-juristisches Ritual der Besitzergreifung und in Gleichgültigkeit gegen die andere Kultur umschlägt (vgl. Greenblatt 1994). Zu den Belegen Greenblatts gehören Passagen wie diese aus Kolumbus’ Schiffstagebuch: »In der Tat, sowenig wir ihnen auch gaben, sie hielten unser Kommen nichtsdestoweniger für ein großes Wunder, und sie glaubten, wir seien vom Himmel gekommen.« (Zit. n. ebd.: 260)

Der Satz impliziert eine traumatische Erfahrung, die dann alle indigenen Völker im Zeitalter der terrestrischen Globalisierung machen müssen: Die Götter erscheinen zwar, aber sie geben nichts oder zu wenig. An dieser vermeintlichen Erscheinung der Götter und ihrem Verhalten stößt die von Marcel Mauss beschriebene soziale Logik des Gabentausches als das Charakteristikum archaischer Gesellschaften an ihre Grenzen (vgl. Mauss 1990). Der Zyklus des Gebens, Annehmens und Erwiderns, der es gestattet, dass sich die sozialen Beziehungen horizontal unter Gleichen reproduzieren, und in dem sich – zumindest nach Mauss – Freiwilligkeit und sozialer Zwang, Uneigennützigkeit und Eigennützigkeit, in einer Balance halten, wird in dieser vertikalen Beziehung, die eine ungleiche der Macht und Gewalt ist, außer Kraft gesetzt. Die vom Himmel gefallenen Götter mit ihren maßlosen Besitzansprüchen bedeuten für eine dem Gabentausch verpflichteten Kultur auch insofern einen Bruch, als sich mehr und mehr das diesem Tausch inhärente ökonomische Kalkül aufdrängt und nach dem Nutzen der starken Götter gefragt werden wird: »Vom Gesetz der Gegen-Gabe gezwungen, das befiehlt, immer mehr zu erwidern, müssten sie eigentlich das Zehn- oder Hundertfache zurückgeben.« (Caillé 2002: 158)

Vor diesem Hintergrund vermag man sich gut die Funktion von Missionierung und christlichen Heilslehren vorstellen: Sie gewähren den Kolonisatoren u.a. den notwendigen Freiraum, um sich weiterhin ihren Geschäften widmen zu können. In den Narrativen vom verlorenen Paradies und der Wiederkunft Christi werden allerdings auch Erwartungen geschürt, die sich dann im Millenarismus, also den End- und Neuzeiterwartungen der Cargo-Kulte, regelrecht entladen.

In der Gegenüberstellung relevanter Encounter-Szenen ist allerdings das Unterschiedliche im Gemeinsamen beider Szenarien am Anfang und am Ende des Zeitalters der terrestrischen Globalisierung nicht zu übersehen: Am Anfang erscheinen die Götter ohne Gaben, am Ende erscheinen sie mit einem Überfluss an Gaben. Damit fügen sie sich zum einen scheinbar einer Kultur des Gabentausches und demonstrieren zugleich ihre gehobene Stellung, zum anderen scheinen sich aber auch christliche Prophezeiungen der nahen Erlösung zu erfüllen.

Das auch heute noch Irritierende wie Faszinierende an den Cargo-Kult-Bewegungen speist sich aus der Beobachtung des schroffen Nebeneinanders verschiedener Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung. Daraus versuchen ja die bereits erwähnten Kultrezeptionen, so bei Richard Feynman, Kapital zu schlagen. Allerdings offenbart der wirkungsmächtige Topos von der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹, mit dem Randerscheinungen einer unabwendbaren Modernisierung erfasst werden sollten, in der Ausdehnung auf globale Verhältnisse unvermutete neue Kombinationsmöglichkeiten, die eher auf »plurale Gleichzeitigkeiten« (Landwehr 2012: 34) hindeuten.

Als eine Konkretion solcher pluralen Gleichzeitigkeiten kann man den Umstand betrachten, dass die Kultbewegungen auf den Neuen Hebriden ihren Höhepunkt erreichten, als im Juli 1944 in Amerika die Konferenz von Bretton Woods stattfand – eine Konferenz, die nicht nur bis heute als diskursives Ereignis im ökonomischen Diskurs erörtert wird (vgl. Vogl 2010: 84-86), sondern auch als Datum für den endgültigen Abschluss terrestrischer Globalisierung gilt, verstanden als Phase der Entdeckung fremder Welten und Völker. Bekanntlich trafen sich auf der Konferenz Politiker und Experten aus über 40 Nationen und begründeten mit dem Abkommen über die Goldparität des Dollars und des britischen Pfunds »die erste verbindliche Weltwährung des Global Age« (Sloterdijk 2006: 249). Diese Etablierung eines goldbasierten Weltwährungssystems sorgte 30 Jahre lang für ein stetiges Weltwirtschaftswachstum und verhalf der Konsumgesellschaft, so wie wir sie heute kennen, zu ihrer weltweiten Dominanz. Ob das von der Konferenz angestoßene Weltwirtschaftssystem mitsamt seiner globalen Infrastruktur durch die Cargo-Kulte die höheren Weihen erhielt oder nicht doch in seinem erhabenen Anspruch zumindest relativiert wurde, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls zeigt sich die visionäre Kraft des Kultes und ihres Namens – von wem auch immer er geprägt wurde – in der Konzentration auf die vom US-amerikanischen Militär erprobte Containerlogistik, die nach Bretton Woods die Grundlage eines weltumspannenden Systems der Produktion und des Konsums bildete. Der westliche Cargo- respektive Güter-Kult beruht auf dem Prinzip der ›Containerisierung‹, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Medium und Symbol der Globalisierung avancierte und sie zumindest in ökonomischer Hinsicht vollendete (vgl. Klose 2009: 9).

Und schließlich: Die aus vielen Cargo-Kulten bekannte Vorstellung, es gäbe so etwas wie einen geheimen Schlüssel, durch den man unbegrenzten Zugang zum Wohlstand erlangt, entspricht genau der durch Bretton Woods geweckten Hoffnung von Generationen von Konsumenten. Offenkundig verraten die Cargo-Kulte an der Peripherie des Marktgeschehens in einem frühen Stadium sehr viel über die Geheimnisse des Konsums und seiner magischen Wirkung. Sie stellen sich die Erlösung als Ankunft von Warenladungen vor, und entscheidend dabei ist: ›Cargo‹ war nicht einfach nur eine Ware, der refrigerator – eine der ersten Containergestalten – hatte nicht nur einen Gebrauchswert, sondern ihm wurde auch Macht als eine Art spiritueller Mehrwert zugesprochen, der in zivilisierten Weltzonen schon längst auf andere Objekte übergegangen war. In diesem offen zur Schau getragenen Warenfetischismus spiegeln die Cargo-Kulte materielle und ideelle Grundlagen der westlichen Konsumgesellschaft, die ihre permanente Wiederverzauberung in Form von Kultmarken und Kultprodukten betreibt und sich dadurch selbst als Forschungsobjekt der Ethnologen empfiehlt.

In der Gegenwart ist der John-Frum-Kult auf den Neuen Hebriden, aus denen 1980 der souveräne Inselstaat Vanuatu hervorgegangen ist, zu einer Touristenattraktion geworden (vgl. Paoli 2002). Die argwöhnische Obrigkeit und die religiösen Eiferer hatten sich nach jahrelangen Auseinandersetzungen auf die Bedeutung der indigenen Nachahmungen militärischer Rituale als folkloristisches Spektakel einigen können, dessen philoamerikanische Züge vor allem zahlungskräftige amerikanische Touristen in die exotische Inselwelt gelockt haben. Dennoch scheint die subversive Kraft des Kultes diese Metamorphose überstanden zu haben. Dem Reiseschriftsteller Paul Theroux verkündete Anfang der 1990er Jahre ein Bewohner auf der Hauptinsel Tanna über John Frum: »[E]r ist zurückgekommen. […] Jetzt haben wir Waren. Geh mal in die Läden […]. Da wirst du sehen, daß wir haben, was wir brauchen. Wir haben Kava. Wir tanzen. Er ist im Geist zurückgekehrt. Er weiß, daß er gewonnen hat!« (Theroux 1993: 274) Das Gespür für die skurrile Konstellation und das Potenzial des John Frum als Sagengestalt der Globalisierung, die zur Annihilation des übermächtigen Fremden aufruft, hat zuletzt Christian Kracht dazu veranlasst, seine Sicht des Kultes in einem 2006 erschienenen Band mit Reiseskizzen aufzunehmen (vgl. Kracht 2006: 213-226).

Fast möchte man das Ergebnis einer Studie aus dem gleichen Jahr als eine Bekräftigung der Wirksamkeit des Kultes verstehen. Die britische New Economics Foundation hatte für 2006 erstmals einen viel beachteten happy planet index erstellt. Anders als bei anderen etablierten volkswirtschaftlichen Indizes standen hier Parameter wie Zufriedenheit, Lebenserwartung und Umgang mit der Umwelt im Mittelpunkt. Von den 178 in die Untersuchung einbezogenen Ländern erreichte Deutschland den 81., Luxemburg den 74. Rang. Auf dem ersten Platz dieser globalen Rankingliste landete die Inselrepublik Vanuatu und durfte sich zumindest für dieses Jahr mit dem Titel happiest place on earth schmücken (vgl. HPI o.J.). Allerdings zählt die Inselgruppe auch zu den weltweit am stärksten gefährdeten Regionen für Naturkatastrophen, im März 2015 ist Vanuatu durch einen verheerenden Tropensturm verwüstet worden.

Literatur

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