In his novel Donau abwärts (1992) the Hungarian writer Péter Esterházy discussed the problems of intercultural experiences at a time, when these questions started to become important for the states of the former Yugoslavia: They had just broken up, communist rule in Eastern Europe had come to its end, and no one knew how to define Central and Eastern European identities. Esterházy’s novel takes the river Danube which crosses the Balkan states as the background for encounters of travelers from different countries at this historical moment in the early 1990s. According to the structure of the historical genre of the roman fleuve which was particularly popular in 17th and 18th century England, France, and the Netherlands, characters meet each other mostly on ships, talking, playing, searching for new ideas, and new identities in a mental as well as in a sexual manner. Questions of nationality are intertwined with questions of corporeality and social norms. Existing spaces of orientation, perception, knowledge and feeling are set in motion, and a new concept of living in transit spaces emerges.
Title:Danube Passages: Interculturality and the Experience of Transit in Péter Esterházy’s Donau abwärts
Keywords:Esterházy, Péter (1950-2016); Danube; roman fleuve; transit spaces; orientation; perception
Der sich als Potamologe bezeichnende Triester Literaturwissenschaftler Claudio Magris äußerte 1993 im Vorwort zu Predrag Matvejevićs Studie Der Mediterran, dass er in seinem Buch Donau. Biographie eines Flusses (1988) »vor allem die große Sehnsucht nach dem Meer, insbesondere dem Adriatischen, beschworen habe«, und glücklich darüber sei, »daß die Donau ins Meer fließt, wenn auch leider ins Schwarze und nicht in den Mediterran« (Magris 1993: 11). Damit wird einerseits das Grenzen überwindende, transkulturelle Element des Donauverlaufs benannt, andererseits das Schwarze Meer gegenüber dem Mittelmeer abgewertet. Was sind die Gründe hierfür? Hat es mit den geringeren historiographischen und mythologischen Einschreibungen, v.a. aus der Zeit der Antike, zu tun – soweit diese uns bis heute im abendländischen Denken überliefert sind? Oder welche anderen kulturellen Codes könnten dieser Bewertung zugrunde liegen?
Bei Claudio Magris’ Donautext wie auch bei Péter Esterházys Roman Donau abwärts (1992), um den es im Folgenden gehen wird, handelt es sich um Texte aus den 1980er und frühen 1990er Jahren des letzten Jahrhunderts, die zu einer Zeit großer politischer Umbrüche entstanden sind: dem Aufbrechen der Ost-West-Grenzen in Europa, dem Niedergang der sozialistischen Systeme, dem Entstehen neuer gesellschaftlicher und politischer Krisenkonstellationen, die damals schon vermehrt religiösen Ursprungs waren. Bereits ein Vierteljahrhundert vor den großen Flüchtlingsbewegungen aus dem Nahen Osten nach Mitteleuropa wurde der Balkan durch den Konflikt zwischen muslimischen und christlich geprägten Denk- und Glaubenssystemen erschüttert, sodass er als Vorhof für große europäische Veränderungen betrachtet werden kann – ähnlich, wie es zu Beginn des Ersten Weltkriegs der Fall war. Die Donau als einer der größten europäischen Flüsse floss mitten durch die osteuropäische Szenerie der politischen Veränderung. Sie transportierte altes Kulturgut vor neuem Setting, sie stand für Veränderung wie für Kontinuitäten zugleich. Damit sind nicht nur Deutungen und Interpretationen von Geschichte und Gegenwart gemeint, geprägt von traditionellen wie von innovativen Ideen, sondern auch deren rekursive Umkehrungen – zu einer Zeit also, in der, wie es bei Handke später heißt, noch Geschichten übrig waren, die »dem Hirngespinst von einem zusammenhängenden großen Land auf dem Balkan, in einem anderen Europa, nachhingen« (Handke 2008: 506). Die Donau wurde in diesem Zusammenhang nicht selten semantisch funktionalisiert oder als Trägermedium kulturell geprägter Ideen-, Politik- und Geographiegeschichte benutzt.1 Besonders in der Reiseliteratur (Reisehandbücher etc.) sowie in der Literatur von Reisenden selbst zeigt sich dies deutlicher als in belletristischen Texten, in denen die Donau nur eine ›Nebenrolle‹ spielt oder sich den Semantiken von Küste und Meer unterordnen muss.
Nach der Jahrtausendwende ist ein anderer, rekurrierender und verarbeitender Modus des Donaudiskurses des 20. Jahrhunderts zu beobachten, der noch nicht historisch kategorisiert werden kann, jedoch eine Vielzahl von Fahrrinnen und Gebrauchsspuren aufweist; Handke charakterisiert dies in metaphorischer Kartierung wie folgt: »Zurück […] im Binnenland, durchströmt von Flüssen, alle bestimmt für die Donau und das Schwarze Meer. Stehendes Wasser? Kaum eins. Und all die Einbäume auf den Flüssen.« (Ebd.: 524) Die Handke’schen Einbäume sind Friedensgefährte; sie stehen für den Versuch, Archetypisches mit verändertem politischem Blick auf die Gegenwartssituation zu konstituieren (vgl. Seiderer 2006). Es sind Heterotopien im Foucault’schen Sinne, da sie sich wie abgegrenzte Inselchen und gleichsam interkulturelle Gefährte auf den Balkanflüssen wie auf der Donau entlang bewegen und ihren Passagieren den Schutz eines unantastbaren Transitraums gewähren. Doch genau genommen erfüllt bereits der Fluss selbst diese Funktion, insbesondere die Donau. Daher zunächst Definitorisches.
Als interkultureller Transitraum ließe sich ein Zwischenraum definieren, der zwischen kulturellen und politischen Grenzen verläuft, der vorherrschende Identitätskonstruktionen in ihrer Diversität weder in Frage stellt noch gefährdet, sondern sie anerkennt. Dabei werden Identitäten nicht abgebildet oder zum Ausdruck gebracht, sondern (in unserem Zusammenhang) durch Sprache / Poesie erst performativ hervorgebracht. Ein Fluss, der die Grenze zwischen zwei Ländern markiert, wäre für sich genommen bereits ein solcher Transitraum. Unter einem transkulturellen Raum ließe sich dagegen eher ein Brücken schlagender, Grenzen negierender Raum definieren, weniger ein Zwischenraum als ein – mit Homi Bhabha gesprochen – ›dritter Raum‹, in dem sich jenseits der vorhandenen Nationalstaatlichkeiten und vorgängigen Identitäten neue Formen der Identität bilden können (vgl. Bhabha 2000). Begegnungen in Transiträumen wären demnach nicht gleichzusetzen mit transkulturellen Begegnungen. Es hinge davon ab, inwieweit die genannten Autoren entweder eine multikulturalistische Perspektive einnehmen, mit deren Hilfe die jeweils andere Kultur als eine Art homogener Block gedacht wird, der der eigenen Kultur gleichberechtigt gegenübersteht, oder eher eine nichtkulturalistische Interpretation des ›dritten Raumes‹ und des »gespaltenen Subjekts« vorgenommen wird, d.h. ohne einen festgezurrten Identitätsbegriff (Müller-Funk 2012: 131-133). Der Donautransitraum, mit dem wir es im vorliegenden Text zu tun haben und der vor der Jahrtausendwende konzipiert worden ist, entspricht nicht – so meine These – der Idee des ›dritten Raums‹, sondern ist weitestgehend noch einer multikulturalistischen Perspektive verpflichtet.
Im Spannungsfeld zwischen Identität und Differenz bewegt sich Péter Esterházys Roman Donau abwärts insofern, als er sein Sujet, die Donau, zum Hauptprotagonisten erhebt, sie von der Quelle bis zur Mündung porträtiert und in Beziehung zu den reisenden Figuren setzt. Dies wirft nicht nur diverse Identitätsfragen zu den sog. realen Personen auf, sondern auch zur Donau selbst, die auf diese Weise anthropomorphisiert wird. Man kann daraus bereits ableiten, dass sich Identitäten und Identitätsdifferenzen nicht nur auf Personelles beziehen. Das Werk ist weder linear (im Sinne des Flusslaufes) noch chronologisch aufgebaut, sondern es wird – je nach Topographie – auf historisch bedeutsame Konstellationen für den jeweiligen Ort zurückgegriffen, die mit reellen und fiktiven Figuren ausstaffiert sind (Goebbels, Hitler, Eva Braun, Stauffenberg u.a.).2 Außerdem stehen multikulturelle ›Kunstfiguren‹ im Zentrum, die sich auf dieser Reise begegnen und aus deren Perspektive erzählt wird. Das Thema der interkulturellen Begegnung auf / an der Donau wird mit Raumfragen, Bewegungsformen und den Modi der Orientierung im Raum kombiniert und um die Dimension des Politischen wie des Privaten erweitert.
Auch in seinem späteren Familienepos Harmonia Celestis (2001) hat Péter Esterházy ein vielgestaltiges, ungarisches und europäisches und damit interkulturelles Panorama entfaltet, das er anhand der Geschichte seiner eigenen Familie, eines ungarischen Adelsgeschlechts, erzählt. An Donau abwärts jedoch lassen sich die Aspekte des Interkulturellen und des Transitorischen deutlicher explizieren. Dafür liegen sowohl strukturelle als auch inhaltliche Gründe vor: Zum einen bildet das Element Wasser, das nie gleich bleibt und stets seine Form verändert (wie wir von Heraklit wissen), eine geeignete Hintergrundfolie für alles Transitorische; zum anderen erlaubt das Genre Reiseliteratur von vornherein eine Art Metasprache, die das Vorübergehende, Passierende als Beschreibungs- und Selbstbeschreibungstechnik mit einschließt. Im Besonderen lässt sich Esterházys Roman über die Donau und eine Gruppe von Reisenden, die sich um einen Ich-Erzähler scharen, in die Nähe der alten Gattung des ›roman fleuve‹ rücken, den ich kurz skizziere:
Der ›roman fleuve‹ war ein Genre des 17. und 18. Jahrhunderts, im englischsprachigen Raum als ›river novel‹ oder ›polyphonic novel‹ bezeichnet, ebenfalls in Frankreich und in den Niederlanden verbreitet (dort ›riviergedicht‹ genannt), und zwar als eine besondere literarische Gattung: Diese war dem Bildungsroman des späten 18. Jahrhunderts vom Aufbau ähnlich; die Erzählzeit erstreckte sich oft über Generationen und sie galt als unabgeschlossen (vgl. Fáj 1980: 69). Der oft aus mehreren Bänden bestehende ›roman fleuve‹ vereinte verschiedene Formen der Fiktion, hatte also synthetischen Charakter. Inhaltlich kennzeichnend war das ausgeprägte Interesse an zeitgenössischen Kontexten, an soziologischen und historischen Prozessen, die aber dem Fiktionsstrang nicht als Subtext untergeordnet, sondern gleichbedeutend behandelt wurden. Als Vorläufer des ›roman fleuve‹ und literarische Erwiderung auf spezifische Kulturlandschaften wie z.B. die der Themse gelten das englische ›river poem‹ (›Flussgedicht‹) im frühen 17. Jahrhundert (James Maxwell, Phineas Fletcher, John Milton, William Browne) und Sigmund von Birkens Text Der Donau-Strand (1664) sowie Eberhard W. Happels Ungarischer Kriegs-Roman (1685-89). Beide bildeten eine intermediale Gattung zwischen Buch und Periodikum (vgl. ebd.: 51-53).
Esterházys Text weist viel davon auf; die changierende Ungewissheit der Genrezuordnung wird durch seine Hauptfigur bereits antizipiert: Der Ich-Erzähler dekonstruiert relativ früh sämtliche Vorstellungen davon, was man als Leser zu erwarten glaubt: »Halten Sie mich nicht für blöd! Das soll ein VERKAPPTER ENTWICKLUNGSROMAN sein? KAMPF GEGEN DAS VERGESSEN? DAS HANDBUCH DER TOLERANZ? Etwa gar ein ANARCHISTISCHER REISEFÜHRER? Wünschen Sie sich nicht, daß ich Ihnen auf den Kopf zu zitiere: REISEN IST LÜGEN!« (Esterházy 1995: 51 [Hervorh. im Original]). Als Momentaufnahme Europas zum Zeitpunkt der Beendigung des Kalten Krieges, also der Neuordnung Europas in den Jahren nach 1989, wird der Haupttext, d.h. die Rahmenerzählung, immer wieder durch historische Einschübe in Form von Reflexionen oder Überblendungen unterbrochen. Personen aus vergangenen Jahrhunderten, besonders aus der Zeit der Donaumonarchie, kommen zu Wort. Die zeitliche Kartierung des Textes ist keine chronologische, sondern mäandert wie ein Fluss von Gedankenschleife zu Gedankenschleife. Die Donau, als Schlagader des Kontinents und Sinnbild für ein kollektives Gedächtnis (vgl. Müller-Funk 2007), tritt auch als Subjekt in Erscheinung, in thematischer Verknüpfung mit ihren alpinen, pannonischen und balkanischen Nebenflüssen.
Der Fluss spiegelt also den zentraleuropäischen Raum in komplexer Weise wider,3 ist durch Ungleichzeitigkeit und Mehrfachcodierung charakterisiert. Die Reise auf der Donau folgt dem Impetus einer inneren Reise (»Jede Reise ist eine innere Reise, das heißt, Reisender sucht sich selbst«; Esterházy 1995: 41), und zwar abhängig von den wechselnden Definitionen des Ortes (»Was die Donau ist, das bestimme ich«; ebd.) und der eigenen Identität: »Reisender ist verpflichtet, nicht eine Persönlichkeit zu sein, irgend jemand zu sein, er hat also umherzuirren zwischen Jemand und Niemand, hat das Unendliche oder, scheinbar bescheidener, das Seiende zu sein, die Form zu sein, ein Kännchen zu sein, ein Köfferchen, ein Kittchen« (ebd.). Die Variabilität der Ich-Konstitution wird hier zentral. Ich werde darauf später noch zurückkommen. Fest steht, dass das Verhältnis von Subjekt und Raum zu hinterfragen ist; zuvorderst gilt: »Reisender ist verpflichtet zu Wachsamkeit, Aufmerksamkeit, Feinfühligkeit – gegenüber dem Fluß. Jeder kann die Donau sein!« (Ebd.)
Jeder kann die Donau sein, heißt, Erfahrungen sind übertragbar und verallgemeinerbar. In diesem Sinn wird der Diskurs relativiert. Strukturell werden die einzelnen Stationen der Flussreise historisch und kulturkritisch kommentiert, wobei sich der Erzählstrang in den verschiedenen Perspektiven sowohl der Mitreisenden als auch der historischen Personen verfängt. Die Frage danach, was einen Reisenden genauer definiert, wird immer wieder ins Visier genommen. Zu Beginn ist es die Abgrenzung gegenüber dem Touristischen: »Dieses Jahrhundert ist nichts für Reisende. Wir sind ein Jahrhundert des Tourismus.« (Ebd.: 39) D.h.: »Der Tourist reist nicht, er wechselt den Ort.« (Ebd.) Er hat sich »in einem der überall gleichen Hotels ausgepackt und legt sich an den für derlei vorgesehenen Strand« (ebd.). Der »touristische« Ort wird mit Marc Augé (vgl. 2012) als »Nicht-Ort« beschrieben, d.h. als ein Ort, der im Sinne des Transitorischen eine Menge von Personen fasst, die kommen und gehen, die keine relevanten Spuren hinterlassen und bei deren Ausbleiben sich der Ort ebenso gleichbleibend und gesichtslos präsentiert wie vor ihrer Ankunft. Im Laufe des Romans wird deutlich: Es geht um mehr, um Reisen als einen interkulturellen Akt, um neue räumliche Bezugssysteme, um das Verhältnis von Mobilität im Raum und die dazugehörigen gefühlten und konstruierten Identitäten – Aspekte, die weit über einen bloßen Reiseroman hinausreichen.
In Donaueschingen (vgl. Esterházy 1995: 36-38) schlüpft Esterházys Ich-Erzähler in die Rolle des Reisenden und wechselt seine Identitäten. Fortan spricht er meist von sich als »er«. Er beginnt seine realtopographische Flussfahrt an der Quelle des Stroms im Schwäbischen, zu einem Zeitpunkt, da »daheim«, in seinem Land, die »surrealistische, aber zentnerschwere Seifenblase des Sozialismus« platzt: »wir haben das Gesicht jetzt noch voll mit der schmutzigen Seifenbrühe« (ebd.: 64). Er erlebt die politische Wende über die Fernsehnachrichten in seiner Landhausunterkunft in Biberach, in der er ursprünglich Fußball schauen wollte, nimmt mit distanzierter Gelassenheit wahr, dass die Berichterstattung dazu ins Persönliche, ja Gefühlvolle abgleitet. Dies sei eine ungarische Eigenart.
Heimatverbundenheit zeigt sich an dieser Stelle durch einen neuen, verwunderten Blick auf die eigene Identität. In den ersten fünf Kapiteln ist Donau abwärts von familiären Erinnerungen überlagert – Figuren aus der Kindheit und Jugend werden vorgestellt, z.B. der geliebte Onkel Roberto, der den Erzähler, bei Antritt der Reise noch Teenager, begleiten wird. Nach und nach versteht man, dass die Donaureise nicht nur einmal angetreten wurde, als Ferien- und Sommererlebnis des Jugendlichen (vgl. ebd.: Kap. 1-5), sondern wiederholt, in verschiedenen Etappen, jedoch meist imaginär. »In Wirklichkeit war er ausschließlich Donaureisender; er könnte die Zahl nicht nennen, wie viele Male er droben bei Donaueschingen stand, sie kannten ihn schon, der Ungar ist da, wisperten sie sich zu.« Und: »Sie warteten, wann er käme, sie erwarteten ihn wie den Frühling nach einem langen Winter.« (Ebd.: 40) Auf wen sich das Pronomen »sie« bezieht, bleibt ungeklärt. Elemente der Introspektion, in der ungarische Szenen aus dem Elternhaus dominieren, verbinden sich mit Bildern aus medialen Zusammenhängen, die in die kollektive Erinnerung Mitteleuropas eingegangen sind (z.B. die Gräuel von Temesvár, Rumänien, 1989); sie vermischen sich vor dem inneren Auge des Erzählers. Einzelschicksale aus den Donau-Anrainerstaaten werden dabei miteinander verwoben.
Die nationale Frage wird angesichts des Flusses zur transnationalen. Erinnerungsorte fügen sich wie in einem Kartogramm zusammen, mit dem nicht nur Vergangenheit sichtbar gemacht, Gegenwart abgebildet und Zukunft entworfen wird (vgl. Schlögel 2003: 88), sondern das über die nationalen Grenzen hinweg ein räumlich-zeitliches Narrativ erfasst, welches der ideologischen Autorschaft des Erzählers folgt. Dieses Narrativ impliziert überzeitliche Interessen: Esterházy kritisiert die »problematische Orientierung des mitteleuropäischen Raums« auf den Rhein und die Donau (Esterházy 1995: 18), d.h. auf Transitstrecken mit vorwiegend deutscher Kulturprägung, und sieht diese beschränkte Hydrographie als Folge der Geschichte der letzten hundert Jahre (vgl. ebd.), was an Magris’ Bedauern erinnert, dass die Donau nicht ins Mittelmeer mündet. Die mentalitätsgeschichtliche Konstruktion Mitteleuropas basiere demgemäß auf einer perspektivischen Schieflage.
Das Wasser des Flusses sei jedoch »LINEAR« (ebd.: 67 [Hervorh. im Original]), und in dieser Linearität über die Ländergrenzen hinweg habe es transnationalen Charakter: »Die Donau ist der führende Fluß Mitteleuropas, Schwarzwald, Schwarzmeer, Informationen, fertig.« (Ebd.: 71) Fast wie Homonyme stehen die Orte der Quelle und der Mündung des Flusses nebeneinander, und der Transitraum bekommt sogleich etwas Transitorisches dadurch, dass seine Passage vom Anfang bis zum Ende als gedanklich verkürzt erscheint. »Fertig«, das besagt: Mehr ist nicht zu sagen. Eine Reise ist eine Reise ist eine Reise, und »Gott« wohne »nicht in den Einzelheiten« (ebd.). An dieser Stelle ist nichts zu spüren von der Zeitkoordinate, die wir mit Flüssen auf philosophischer Ebene verbinden. Zudem widersetzt sich Esterházys Reisender »dem Pathos, das die Donau umgibt«,
der aufgebauschten Wichtigtuerei, dem modischen Rabatz. Die Donau als Gedächtnis. Wiederentdeckung des Faktors der Zusammengehörigkeit. Landstraße, die die Völker verbindet. […] Die Donau als sine qua non Europas. Flüssiger Code der kulturellen Vielfarbigkeit. […] Geschichtsfluß. Zeitfluß. Kulturfluß. Liebesfluß. Fessel, die Völker verbindet. Freiheitsfessel. (Ebd.: 71f.)
»Das alles fiel ihm schwer.« (Ebd.: 72) Dessen ungeachtet wird im Transitraum des Donauverlaufs in zunehmendem Maße eine imaginäre Kartographie entwickelt, deren Charakter sich darin zeigt, dass die nationalen Fragen mehr und mehr in den Hintergrund geraten bzw. vergessen werden. Stattdessen drängen sich individuelle, persönliche, körperliche Fragen in den Vordergrund. Die Donau wird von Esterházys Reisendem bereits zuhause in Budapest mit der Intention avisiert, sie »um jeden Preis« zu »personifizieren«, und zwar als »Frau, und dann in ihr [zu] zerschmelzen. […] Er stellte sich das Ziel, diese Frau kennenzulernen. Ein ehrgeiziger Plan, nicht sie unterwerfen, nicht sich unterwerfen: kennenlernen« (ebd.: 66).
Wie Karten, die per se nicht »neutral, sondern in einem fundamentalen Sinn ›parteilich‹, selektiv« (Schlögel 2003: 94) sind, wird das Netz der Stationen, das der Reisende mit seinen Aufenthaltspunkten am Fluss, später auch an Bahnhöfen in der Nähe des Flusses entwirft, zu einem Netz, das vor allem durch die Begegnungen und Dialoge der Figuren geprägt ist. Dabei geht es zunehmend weniger um die Gegenüberstellung politischer Räume, weniger um außenliegende Grenzräume, sondern um verwirrende, beunruhigende und persönliche Momente. Im Donau-Transitraum entstehen neue räumliche Bezüge, Entortungen der Subjekte, Neukartierungen und neue Metaphoriken, mit de Certeau: gelebte Räume durch Handlungsabläufe (vgl. de Certeau 1988: 218). Aber wie jeder Transitraum ist auch dieser nicht nur eine Schwebezone, sondern hat ein räumliches Zentrum: das Gefährt.
Auf der Höhe von Wien bewegen sich die Reisenden auf größeren Schiffen, mit eigenen Kabinen, und während sie auf dem Fluss gleiten, wird in Form von Kurzberichten und Telegrammen die Habsburger Monarchie anhand ausgesuchter Persönlichkeiten reflektiert. Erotische Phantasien und Tagträume des Onkels wechseln sich mit realen Szenen ab, in denen er Passanten und Verehrerinnen trifft. Hinter Wien beginnt das »Schiffstagebuch« (vgl. Esterházy 1995: ab Kap. 18). Mit Bezug auf frühere Donauromane und Donautagebücher (von Grillparzer, Martin Fiegl, H.C. Artmann, Italo Calvino und Magris) wird dem Fluss nun noch größere Aufmerksamkeit zuteil, seine »explorierend neue, aufwühlende und furchterregende und unbekannte Kraft, Hochwasser und Eisdrift, Wirbel und Strudel« (ebd.: 141) werden geschildert, die »betrunkene Donau, die pöbelhafte Donau« (ebd.: 142) bei Novi Sad erwähnt. Doch es gelingt immer weniger, die richtigen Worte zur Beschreibung des Flusses zu finden, oder im Gegenteil – so Dalma, eine Reisebegleiterin – »eine Donau aus Wörtern [zu] bauen« (ebd.).
Die Reisenden beziehen Kabinen auf der »Theodor Körner«, mit Dusche und WC, Klimaanlage und anderem Komfort, bis zum Schwarzen Meer. Die Reise hat inzwischen beinahe luxuriöse Ausmaße angenommen im Vergleich zu den Ruderbooten und kleinen Kähnen des Anfangs. Je größer die Gefährte, desto schneller verläuft die Fahrt. Landschaften sausen im Handumdrehen vorbei; die Strömung des Wassers befördert die Geschwindigkeit des Schiffes. Bewegung dominiert den Blick nach draußen, ans Ufer, in die umgebende Landschaft. Parallel dazu verändert sich auch das Narrativ: Die assoziativen Rückblenden in die Geschichte werden kürzer und unvermittelter – Gedanken zu den Fuggern, zu Kaiser Augustus, zu Flaubert und Sophokles treten miteinander in Konkurrenz. Die Korrespondenz in den Außenraum über Telegramme wird wirrer und bruchstückhafter; die Donau »verändert sich ständig« (ebd.: 145). Auch das Schicksal Europas verändert sich, eingebeult zwischen zwei »Schraubstockbacken«, den Großmächten Russland und Amerika, »und weiter geht es irgendwie so, daß sie die Donau zwischen die Beine nehmen und pressen, pressen« (ebd.). Wieder prägen die Räume der transnationalen Erinnerung den Imaginationsraum.
Foucault hat das Schiff als Heterotopie schlechthin bezeichnet, als einen Ort, der einerseits keinem bestimmten Raum angehört, aber andererseits trotzdem realisierbar und dingfest zu machen ist, eine Art Gegenraum und lokalisierte Utopie, ein vollkommen anderer Raum (vgl. Foucault 2005: 9-11), der in Verbindung mit besonderen zeitlichen Brüchen stehe. Er besitze ein System der Öffnung und Abschließung zugleich und stelle alle anderen Räume in Frage (vgl. ebd.: 18f.). Die »Theodor Körner« als »ein Stück schwimmender Raum« ist – mit Foucault – im doppelten Sinn »größte[s] Reservoir für die Fantasie« (ebd.: 21), da es, in Bewegung, alles um sich herum von einem Augenblick zum nächsten in anderem Licht erscheinen lässt und zugleich für sich genommen einen festen und unveränderten Standpunkt gewährt. Es bietet Schutz und bewahrt die Verlässlichkeit der Illusion. Während es selbst seinen Standort – je nach Wasserlage – variiert, bietet es nach innen einen gesicherten Standpunkt zur Orientierung im Raum.
Mit dem Fluss und dem Schiff sind in Donau abwärts zwei transitorische Elemente gleichermaßen konstituiert: die Donau als Raum, auf dem das Schiff als Ort existieren kann, und zwar in Abgrenzung zur übrigen Welt, auch zu den politischen Systemen. Der Transit durch Mittel- und Osteuropa verläuft ohne größere Komplikationen, d.h. ohne die Gefahr der Wiedereinholung durch vergangene Machträume. Im Schutzraum des heterotopen Ortes werden damit einschneidende Erlebnisse möglich.
Neben der Intention, den Fluss zur geographischen Matrix für eine postmoderne Poetik des Schreibens zu machen (»Die Donau ist ein Sonett, eine Sprechart, ein Diskurs.« – »Nicht Sonett, eher Roman.« [Esterházy 1995: 20 u. 29]),4 unternimmt Esterházy den Versuch, ›Transitorik‹ im Bereich der Leiblichkeit selbst zu konstituieren. Zugleich stellt er herkömmliche Ordnungssysteme aus dem Bereich der Perzeption in Frage (»es gibt keine solche Ordnung, es gibt Strudel, Gischt und Strömung […], die Ordnung entdecken wir nicht, sondern wir haben sie hineingetan […]; unser Hirn erkennt eine Kategorie unseres Hirns«; ebd.: 81) oder, um eine seiner Figuren zu zitieren: »Wer ist es … wer ist es, der zwischen Donau und Nicht-Donau unterscheiden könnte?!« (Ebd.) Ungeachtet des Schiffes als festem Bezugspunkt werden die Kategorien der Wahrnehmung des Fließenden und damit auch des Transitorischen ad absurdum geführt, allen voran der feste Bezugspunkt, von dem aus Bewegung erst erkennbar ist. Dies gilt vor allem für das 23. Kapitel, das von einem ausgeprägt assoziativen und emphatischen Sprachfluss zeugt, der Fluss- und Strömungsmetaphern aufweist, und in dem das Fluidale selbst als Subjekt in Erscheinung tritt; das Verhältnis zwischen Mensch und Natur wird dadurch auf paradoxale Weise neu definiert.
Das Begehren des Mannes steht dort im Zentrum, das sich jedoch nicht auf eine Person – etwa eine Frau – richtet, sondern eine anatomische Projektion darstellt: die Sehnsucht danach, selbst flüssig und damit transitorisch zu sein, gewissermaßen eine Identitätsauflösung vorzunehmen. Onkel Roberto tut, als ob er Fluss, in diesem Fall: die Donau, sei, »eine Mannes-Donau«, »eine Körper-Donau« (ebd.: 245). Mimesis und Aisthesis paaren sich in diesem Bild. Von diesem Verlangen sind sowohl die Phantasie des Ich-Erzählers als auch die weiterer männlicher Figuren besetzt: »Wollen Sie mich?! … Gut, ich kenne Ihre Antwort … Aber was dann? Die Donau? Wollen Sie die? Hoffen Sie wieder, ja, daß die Donau etwas mehr ist?! Was mehr? Mehr als was?« (ebd.: 243), lauten die Fragen der Reisebegleiterin Dalma, die selbst gern Objekt der Begierde wäre.
Esterházy verkehrt hier das Erfahrungsspektrum mit fluidaler Materie innerhalb und außerhalb des menschlichen Körpers. Nicht von fluidalen Prozessen im Körper ist die Rede, sondern vom »Fluß-Körper« eines Mannes, der von einer Frauenhand erkundet wird. Der Körper erscheint als Erde, als Strömung, als materielle Grundlage der Versuchsanordnung. Der Körper liegt flach, ausgestreckt, er bietet sich dar, er dient als Spielvorlage, als Spielbrett. Das Spiel heißt: »Die Hand auf der Donau«, der Einsatz lautet: tausche Mensch gegen Natur. Auch das Als-ob der Rahmensituation ist gegeben: Ein Mann gibt sich als Fluss aus – ein Akt der Entgrenzung. Das Spielinteresse: Wie fühlt es sich an, vollkommen ›Natur‹ zu sein, einen gewissermaßen ›idealen‹ Zustand zu leben; welche Chancen der Begegnung hat dann der ›Andere‹ gegenüber diesem Zustand? Der Spielort ist, wie bereits erwähnt, der Körper des Mannes. Das Fluidale (die Körper-Donau) übernimmt den Part des Festen, um den sich die Hand als bewegliches Element schmiegt. Die Hand, eine »alte Hand, gequälte Hand, frauliche Hand, verräterische Hand, zärtliche Hand, jüdische Hand […], Hand des Erinnerns, Hand der Vergangenheit, Hand des Schweigens, der Stille, der Lüge, Hand der Liebe, Hand der Einsamkeit […], die Hand fliegt die Donau entlang« (ebd.: 244f.) und bewegt sich fließend zwischen den Stationen ihres Aufenthaltes. Die Hand »gleitet […] hinter das Ohr« (ebd.: 246), »die Frauenhand fliegt, wer weiß, wo sie zur Ruhe kommt (sie verschwindet im Sumpf der Achselhöhle)« (ebd.: 247), »ist fortgeglitten aus dem Schoß der Karpaten, diesem ungebetenen Schutz, und die Donau trieb so glatt, so sanft in ihrem uferlosen Bett« (ebd.: 249), »die Hand ist nicht ungeduldig, sie ist zwar nicht ohne Ziel, doch ihr Ziel ist nicht benennbar, selbst wenn wir ›Dinge‹ nachträglich beim Namen nennen« (ebd.: 251).
Der Transit, um den es hier geht, entsteht durch den Austausch von Energien im schwerelos anmutenden Zwischenraum der Körper, die einer Zweckenthobenheit folgen, welche Unwissenheit oder Irritation über den Ausgang des Geschehens mit sich bringt. In seinem Buch zum Homo Ludens siedelte Johan Huizinga den damit verbundenen Seinszustand »außerhalb der Vernünftigkeit des praktischen Lebens, außerhalb der Sphäre von Notdurft und Nutzen« (Huizinga 2001: 173) an und beschrieb ihn als »begleitet von Gefühlen der Spannung und Freude, der Entrücktheit oder Begeisterung«, als ein »Bewußtsein des ›Andersseins‹ als das ›gewöhnliche Leben‹« (ebd.: 37). Momente identitätsloser Körperpräsenz vermischen sich mit Bildern der Imagination (Wasser, Wellen, Geräusche) und Körperempfindungen (die Hand ist die Donau, die Donau als das Bett etc.), wobei auch die Zeitorientierung aus den Fugen gerät.
Durch das Spiel werden die bekannten Strukturen der Eigenwahrnehmung, der Fremdwahrnehmung und der Raumwahrnehmung auf nicht vorhersehbare Weise unterlaufen. Sehen und Tasten funktionieren nach vollkommen veränderten Kriterien. Da die Beschaffenheit der Körper in ihrer ursprünglichen Unterschiedlichkeit nicht mehr verlässlich ist, sind absolute und begrenzte Räume nicht mehr auszumachen; stattdessen sind diffuse und fluide Räume entstanden, die dem Gesetz des Transitorischen folgen.
Aber folgt das Spiel, das Ludische, nicht immer einer Eigenlogik, die nicht vorhersehbar ist, birgt es nicht etwas Ungesichertes mit offenem Ausgang? Es nimmt einen Weg, der qualitativ zwar bestimmten Ordnungsregeln gehorcht, aber letztlich nicht bestimmbar, d.h. nicht auf eine berechenbare Formel zu bringen ist und mit dem Verlust der ratio verbunden sein kann. Was sich in diesem Fall dann abzeichnet, entspricht einer der vier klassischen Spielkategorien, wie sie Roger Caillois in den 1950er Jahren aufstellte: dem Rausch. »Die Verwirrung, die der Rausch hervorruft«, so Caillois, wird zumeist lediglich um ihrer selbst willen gesucht«; er spricht von »Sensationen« der Körperwahrnehmung, hervorgerufen durch »Sturz oder Schweben im Raum, rapide Rotation, Gleiten, Geschwindigkeit, die Beschleunigung einer geradlinigen Bewegung oder ihre Kombination mit einer kreisförmigen«. (Caillois 1960: 19, u. 32-34) Um die »seltsame Erregung«, die »gleichzeitig organische wie physische Verwirrung bedeutet«, näher zu bezeichnen, schlägt er den Terminus ›ilinx‹ vor (ebd.: 32-34), was im Altgriechischen nichts anderes als ›Wasserstrudel‹ bedeutet.
Eine zweite, auf Esterházys Text zutreffende Kategorie Caillois’ zur Definition von Spiel ist die ›mimicry‹ oder Verwandlung, Maskierung, d.h. der »Eintritt ins Spiel« (›in-lusio‹), die Annahme einer Illusion oder, mit Caillois, eines »geschlossenen, konventionellen und in gewisser Hinsicht fiktiven Universums«, in dem es darum geht, »selber zu einer illusionären Figur zu werden und sich dementsprechend zu verhalten.« Das Subjekt glaube oder möchte andere dabei glauben machen, »daß es etwas anderes als es selbst sei. Der Mensch vergißt, verstellt sich, er entäußert sich vorübergehend seiner Persönlichkeit, um dafür eine andere vorzutäuschen.« (Ebd.: 27f.)
Nun handelt es sich in Esterházys Text zwar nicht um einen Austausch von Persönlichkeiten, aber um eine Form der Verwandlung und Interaktion im Sinne einer Entäußerung, Entgrenzung, die auch den Zeitbegriff sprengt (auch diesen Aspekt hat das Fluidale mit dem Ludischen gemeinsam) und zugleich die Voraussetzung dafür bildet, dass ein Zustand wie Rausch überhaupt erst entstehen kann. Existenz besteht in der Ausdehnung, heißt es bei Merleau-Ponty (vgl. 2003); bei der Vergegenwärtigung der Szene sind keine Blicke, keine Mimik in Sicht, nur Hand und Körper füllen das Bild. Fusion, Konfusion und Transfusion von Körper und Materie bestimmen den Raum; in ihm ist keine »reine Anschauung« (Kant 1977) mehr möglich; libidinöse Zonen prägen das Koordinatensystem dieser Szenerie. Raum, Zeit und Zustand sind in einer Weise miteinander verbunden, bei der selbst de Certeaus Verständnis vom Raum als gelebtem Raum durch Handlungsabläufe an seine Grenzen stößt.
Der Transit erfolgt in Esterházys Text also auf verschiedenen Ebenen: zunächst durch die Wasserstraße, die Donau als Transitraum zwischen den Ländern und Kulturen (= 1. Ebene), danach durch das Schiff bzw. die Fahrmittel auf dem Wasser als geschützten Orten des Transitorischen (= 2. Ebene), des Weiteren durch die oft zufälligen, transitorischen Begegnungen der Personen an diesem Ort (= 3. Ebene) und ganz speziell durch ihre Raum-Körper-Erfahrungen, die sie in Zustände der Identitätsauflösung versetzen, als Erlebnis des Transitorischen (= 4. Ebene). Bis zuletzt bleibt die multikulturelle Folie als Hintergrund bestehen. Alle vier Ebenen bleiben Bestandteil des einen großen interkulturellen Transitraums, für den die Donau in diesem Roman steht.
Die Begegnungen auf dritter Ebene symbolisieren die Hoffnung auf eine transkulturelle Utopie. Der Text bleibt jedoch bis zuletzt der Konkretion im geo- und topographischen Sinne verhaftet. Selbst durch die Erlebnisse der Figuren auf der vierten Ebene entsteht, mit Homi Bhabha, kein ›dritter Raum‹, da es zwar zu Identitätsauflösungen kommt, jedoch zu keinen neuen Identitätsbildungen. Die Sehnsüchte, die ausgesprochen werden, bewegen sich im Bereich der Projektion und des Wunsches; auf Spiel und Rausch folgen in der Regel Ernüchterung und Rückfall bzw. ein Sich-wieder-Einfinden im alten Status. Die Textabschnitte zur Geschichte der Donau sowie die Beschreibung der Reisesituation selbst, die Esterházy dem Spiel im Transitraum immer wieder gegenüberstellt und die damit sowohl das Spiel als auch die Konstanz erzählter Zeit unterbrechen, haben dabei die Funktion, den Spielverlauf zu verlängern, die Balance zwischen dem ›Universellen‹ und dem ›Individuellen‹ aufrechtzuerhalten.
Die Räume, die außerhalb des Transitraums Donau liegen, sind die repräsentativen Räume der politischen Veränderung. Esterházys interkulturell angelegter Roman, der einer Ästhetik der Bewegung und Poetik des Veränderlichen folgt, konstruiert die Räumlichkeit des Daseins als offenes Gebilde und als Gegenpart zu dem, womit Claude Lévi-Strauss einst die kommunistischen Gesellschaften charakterisierte, als er von »statischen Gesellschaften« sprach, »ausgestattet mit einer Kultur, in der die Zeit gleichsam eingefroren war« (Lévi-Strauss zit. n. Müller-Funk 2007). Je weiter die Reise nach Osten geht, desto irritierender werden die Eindrücke. Von multilingualen Verständigungen ist wenig zu erkennen; die Kulturen bleiben getrennt – selbst im Transitraum.
Wenn man den Transit als etwas definiert, das einen klaren Anfang und ein klares Ende hat, so muss in diesem Fall einschränkend erwähnt werden, dass das Ende in der rumänischen Dobrudscha an der »ölig-schwarzen Donau« (Esterházy 1995: 262) zwar eine deutliche Formulierung findet, jedoch durchaus fortsetzbar wäre: dann jedoch nicht mehr am Fluss, sondern am Meer. Das Meer ist aber – so der Erzähler – »nicht Ziel, sondern Feind. Tod. Das Meer ist nicht unendlich, im Gegenteil, es ist die Endlichkeit selbst. Die Donau ist das Unendliche. Wie kann das Ende eines Unendlichen endlich sein?« (Ebd.: 263) Diese Frage bleibt unbeantwortet. Der Transitraum Fluss hört an dieser Stelle auf: »Wenn man nicht mehr weiter kann, hört man einfach auf, sprach die Donau in ihrer deutschen Muttersprache und strömte in das schwarz genannte Meer.« (Ebd.: 263)
1 | Vgl. hierzu u.a. Buffe 2011 und Stratenschulte / Setzen 2011.
2 | Esterházys Roman ist damit ähnlich aufgebaut wie Claudio Magris Donau-›Biographie‹ (vgl. 1994). Vgl. darin einige Kapitelabschnitte zu Wien: »Wittgensteins Haus« (197-198), zu Passau: »Kriemhild und Gudrun oder Die beiden Familien (138-142), zu Ungarn: »Ein Stück Stalin« (325-326) etc.
3 | In den 1990er Jahren befassten sich nicht nur Esterházy, Magris oder Peter Handke in seinen politisch-literarischen Serbienschriften – Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Sawe, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (1996), Abschied des Träumers vom Neunten Land und Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise (1998) sowie Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg (1999) u.a. –, sondern auch diverse Ausstellungsmacher, u.a. Marie-Luise von Plessen, mit den ›Lebensläufen‹ von Flüssen (Rhein, Elbe etc.); dies zeigt, wie über die internationalen Fließgewässer der politische Bruch, der in Europa entstanden war, noch einmal vergegenwärtigt wurde.
4 | Vgl. hierzu Király 2006.
Augé, Marc (32012): Nicht-Orte. Aus dem Franz. v. Michael Bischoff. München.
Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur. Aus dem Engl. v. Michael Schiffmann u. Jürgen Freudl. Tübingen.
Birken, Sigmund von (1664): Der Donau-Strand. In dreyfacher Land-Mappe vorgestellt. Nürnberg.
Buffe, Noël (2011): Les marines du Danube. 1526-1918. Mit einem Vorw. v. Jean Béranger. Panazol.
Caillois, Roger (1960): Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. Ins Dt. übertragen v. Sigrid von Massenbach. Stuttgart.
Certeau, Michel de (1988): Kunst des Handelns. Aus dem Franz. v. Ronald Voullié. Berlin.
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Fáj, Attila (1980): The Prehistory of the River Novel and its Reappearance in Contemporary Fiction. In: Adam J. Bisanz / Raymond Trousson (Hg.): Elemente der Literatur. Beiträge zur Stoff-, Motiv- und Themenforschung. Elisabeth Frenzel zum 65. Geburtstag. Bd. II. Stuttgart, S. 49-74.
Foucault, Michel (2005): Die Heterotopien / Les hétérotopies [1966]. In: Ders.: Die Heterotopien / Les hétérotopies. Der utopische Körper / Le corps utopique. Zwei Radiovorträge. Zweispr. Ausg. Aus dem Franz. v. Michael Bischoff. Mit einem Nachw. v. Daniel Defert. Frankfurt a.M., S. 7-22.
Handke, Peter (2008): Die morawische Nacht. Erzählung. Frankfurt a.M.
Happel, Eberhard W. (1685-89): Der Ungarische Kriegs-Roman, oder Außführliche Beschreibung, deß jüngsten Türcken-Kriegs. 6 Bde. Ulm.
Huizinga, Johan (182001): Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. In engst. Zusammenarb. mit dem Verf. aus dem Niederländ. übertr. v. Hans Nachod. Mit einem Nachw. v. Andreas Flitner. Reinbek b. Hamburg.
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Schlögel, Karl (2003): Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München / Wien.
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Stratenschulte, Eckart D. / Setzen, Florian H. (Hg.; 2011): Der europäische Fluss. Die Donau und ihre Regionen als Strategieraum. Berlin.