René Kegelmann’s contribution introduces the German author of Bulgarian origin, Dimitré Dinev, and describes his reception as a migrant author in Austria and Germany. The major part of this article consists of a text analysis of the short story Spas schläft from Dinev’s volume of short stories Ein Licht über dem Kopf (2005). The author describes herein, in a realistic and detailed way, elements of migration to Austria; yet he manages to lift his comments to an exemplary literary level. The word »labour« is at the center of the tale relating to its every aspect.
The author fashions hierarchical structures of power with vertical lines and the polarity of darkness and light which affect migrants and which they generally manage to spiritualize. Language and communication appear to be mostly instrumentalized within such structures. Yet, one can find elements and moments of a magic suspension of these compulsive mechanisms. The »train community« and the getting to know with a female professor of literature shows that there is a spark of light to be found even in the darkest moments.
In seinem Kurzessay In der Fremde schreiben (2006, 209f.) modelliert Dimitré Dinev einige der zentralen Elemente, die das moderne Migrantendasein prägen. Charakteristisches Kennzeichen der Migration ist demnach der Zwang zur bedingungslosen Bereitschaft, sich auf sämtliche physischen und psychischen Belastungen (wie illegale Ausreise und Grenzübertritt, Arbeitssuche in den verschiedensten Bereichen etc.), einzulassen, um der ständig drohenden Abschiebung im neuen Land entgegenzuwirken. Wie weit der Weg zum Schreiben literarischer Texte, zumal in einer fremden Sprache, unter solchen Umständen sein kann, hat der 1968 in Plovdiv/Bulgarien geborene und im Alter von 22 Jahren nach Wien emigrierte Autor hautnah erfahren. 1990 gelangte Dinev unter schwierigen Umständen als Migrant in die österreichische Hauptstadt und hielt sich jahrelang mit diversen Gelegenheitsjobs über Wasser. Dennoch gelang es ihm, ein Studium der Philosophie und russischen Philologie in Wien zu absolvieren. Dinev, der in Plovdiv das zweisprachige Bertolt-Brecht-Gymnasium besucht hat, publiziert in Bulgarien bereits seit 1986 in verschiedenen Sprachen (Bulgarisch, Russisch und Deutsch). Seit 1991 schreibt er vorwiegend in deutscher Sprache: Erzählungen, Romane, Essays, Theaterstücke. In seinem Essay betont der Schriftsteller einen wichtigen Aspekt des Schreibens in der Fremde, nämlich zu erkennen, »dass das Wort seine Heimat ist« (Dinev 2006, 210). Nach der Veröffentlichung seines umfangreichen Romans Engelszungen (2003)1 bekam Dinev 2005 den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis zugesprochen und wird seitdem auch in Deutschland von einem größeren Publikum rezipiert. Sein Erzählband Ein Licht über dem Kopf (2005), der in diesem Aufsatz im Zentrum der Überlegungen stehen soll, stieß ebenfalls auf großes Interesse. Darin bearbeitet Dinev auf vielfältige Weise und in literarischer Form das Thema Migration. Seine deutschsprachigen Erzählungen beschreiben einerseits in sehr realistischer Weise die ausgesprochen schwierige Situation von (oft illegalen) Flüchtlingen und Migranten in Wien nach der Wende (illegaler Grenzübertritt, täglicher Kampf ums Überleben und mit dem Gesetz etc.), andererseits entwickeln sie eine eigene Form des magischen Realismus, die durch einen starken Hang zur Form des Gleichnisses charakterisiert ist. Gerade diese ästhetische Repräsentation ist es, die den Blick für grundsätzlichere Fragen weitet und von einer rein autobiografischen Deutung weglenkt, wie sie – wenngleich in Teilen nicht völlig von der Hand zu weisen – in der Rezeption vorherrscht.
Dinev wurde lange in Österreich und etwas verzögert auch in Deutschland im Kontext der deutschsprachigen Migrantenliteratur gesehen. Im Gegensatz zu etlichen Chamisso-Preisträgern2 wie Yōko Tawada (1996), Emine Sevgi Özdamar (1999), SAID (2002) oder Feridun Zaimoğlu (2005), deren Texte seit vielen Jahren fester Bestandteil der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und seit den 1990er Jahren im literarischen Feld der Bundesrepublik zu einer Art »Definitionsmacht« (Hielscher 2006, 207) geworden sind, war Dinev in Österreich zunächst mit völlig anderen Ausgangsbedingungen konfrontiert. An dieser Stelle soll kurz erwähnt werden, dass in der deutschen Rezeption, trotz oben skizzierter Entwicklung hin zu einer Etablierung, nach wie vor die Gefahr einer verengten Wahrnehmung der »Chamisso-Autoren« (Weinrich 2008, 16) im Sinne einer starken Tendenz zur Festlegung auf deren Herkunft besteht. Das gilt insbesondere für noch weitgehend unbekannte Autorinnen und Autoren, die über den Chamisso-Preis ins Licht der Öffentlichkeit gerückt werden. Im literarischen Feld bereits etablierte Autoren wie Zaimoğlu oder Terézia Mora grenzen sich in ihrer Außendarstellung daher zunehmend deutlich von einer Etikettierung als ausländische Autoren deutscher Sprache bzw. von Migrantenliteratur ab, weil sie befürchten, auf diese Weise in eine Nische abgeschoben zu werden, die letztendlich zum Ausschluss aus der »großen« deutschen Literatur führen könnte (ebd.).
In Österreich, wo Dinev seit Ende der 1990er Jahre rezipiert wird, beginnt die öffentliche Wahrnehmung von deutschsprachiger Migrantenliteratur deutlich später als im Nachbarland. Unabhängig von einer langen »österreichisch-ungarischen Tradition« (Ackermann 2000, 55) der Mehrsprachigkeit, Mehrkulturalität und des Sprachwechsels im 19. und 20. Jahrhundert und engen Verbindung Österreichs zum mittelosteuropäischen Raum kommt erst in den letzten Jahren langsam eine auch wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Strang der österreichischen Literatur in Gang (vgl. Schweiger 2003). Dinev ist wohl einer der Vorläufer einer solchen Tendenz in Österreich, nachdem er im Jahre 2000 einen der Preise bei »Schreiben zwischen den Kulturen« zugesprochen bekam, der vom »Verein Exil« an schreibende Migrantinnen und Migranten vergeben wird. Dinev hat sich verschiedentlich darüber geäußert, dass eine auf Migrationsvorgänge verengte Rezeption dieser Literatur sie einerseits in Nischen innerhalb des literarischen Marktes (kleine Verlage, limitierte Öffentlichkeit), andererseits zu einer prekären Festlegung auf bestimmte Positionen (Herkunft, Migration, Sprachwechsel etc.) drängt (vgl. Schweiger 2003, 12).
Zu fragen ist nun im Folgenden, in einer Textanalyse einer Erzählung von Dinev, wie interkulturelle Begegnungen unter den Bedingungen von Migration mit ihren vielfältigen Asymmetrien bearbeitet und in welcher Form sie literarisch repräsentiert werden? Daran könnte sich dann auch zeigen, dass es sich bei den Texten keinesfalls um eine rein autobiografische Verarbeitung handelt, sondern um eine eigenständige literarische Form, die freilich in komplizierter Weise mit dem Werdegang des Autors verknüpft ist.3 Das kommunikative Verhalten von Figuren, »die flüchten, emigrieren, die zwischen zwei und mehreren Ländern hin- und herpendeln und deren Identitäten sich zumeist als instabil und veränderbar erweisen« (Schweiger 2003, 2), muss zwangsläufig abweichen von idealtypischen Formen des Dialogs und des Umgangs miteinander. Das gilt umso mehr für Situationen, in denen Zwänge oder Machtstrukturen im Spiel sind, die einen freien Umgang miteinander eher behindern als fördern.
Die Erzählungen von Dinev spielen teilweise in Wien und behandeln das Leben und Schicksal von Migranten und Flüchtlingen, vorwiegend aus Osteuropa. Manche Texte enden mit der illegalen Ankunft der Protagonisten in Wien. So »reist« Lazarus in der gleichnamigen Erzählung bspw. mit anderen Ausländern in einem Sarg über die Grenze. In Die neuen Schuhe aus dem Erzählband Ein Licht über dem Kopf wird ein Mädchen versteckt in einem Reifenstapel im Laderaum eines Lastwagens über die Grenze geschmuggelt und kommt schließlich in Wien an. Den Hintergrund der Erzählungen bildet zumeist der Umbruch der Wende (Zusammenbruch des kommunistischen Systems, Inflation, Jobsuche etc.), die chaotischen, undurchschaubaren und ganz und gar instabilen Verhältnisse im Heimatland und der Wunsch, ins ›gelobte‹ Land, also Österreich zu gelangen.
Das ›gelobte‹ Land Österreich mit dem Ziel Wien erweist sich in aller Regel nicht als das, was sich die Einreisenden vorgestellt haben. Innerhalb kürzester Zeit müssen alle Träume von einer besseren Welt, in der sich die Protagonisten frei bewegen könnten, zerplatzen. Stattdessen setzt sich schnell ein Wort durch, um das herum sich alles Weitere gruppiert und auf das sich alles andere bezieht: »Arbeit war ein magisches Wort. Alle anderen waren ihm unterworfen. Es allein bestimmte alles. Arbeit war mehr als ein Wort, es war die Rettung.« (Dinev 2005, 95). Vor allem anhand der langen Erzählung Spas schläft4 – aus dem Band Ein Licht über dem Kopf –, der das Zitat entstammt, möchte ich die fatalen Konsequenzen einer solchen Zentrierung, wie sie bei Dinev ausgestaltet wird, zeigen und dabei auch die Frage im Blick behalten, ob überhaupt, und wenn ja wie, sich menschliche und interkulturelle Begegnungen unter solchen Bedingungen entfalten (können).
Die lange und durch literarische Mittel wie Wiederholung und Entgegensetzung eindringlich wirkende Erzählung Spas schläft ist als profane Schöpfungsgeschichte gestaltet, die aus dem Blickwinkel der Außenseiter und Benachteiligten das Zauberwort der westlichen Gesellschaft (in den Erzählungen von Dinev eben Österreich) – nämlich »Arbeit« in den Mittelpunkt des Lebens rückt. Eine solche Fixierung ist freilich staatlich erzwungen und entwickelt sich für die Migranten schnell zu einem kaum lösbaren Paradox:
Die offizielle Information lautete: Man bekommt Arbeit nur dann, wenn man eine Arbeitsbewilligung hat. Und eine Arbeitsbewilligung bekam man erst dann, wenn man eine Arbeit hatte. Viele Herzen zerbrachen an diesem Paradoxon (Dinev 2005, 96).
Selbst im Traum flüstert Spas das Wort »Arbeit« vor sich her. Damit beginnt die Erzählung. Ein Passant findet den träumenden 36-jährigen Spas an einem kalten Januarabend verwahrlost auf der Straße liegend und will den Notdienst verständigen. In der Folge wird dem Leser aus der Perspektive eines omnipotenten Erzählers das Schicksal des Bulgaren Spas Christov, der elf Jahre vorher aus Bulgarien (der Ausgangspunkt ist das Jahr 2001) als Flüchtling nach Wien gekommen war, als Gleichnis vor Augen geführt. Auch Spas hatte die Lektion mit der Arbeit schnell gelernt, verlor jede Illusion bzw. hatte keine Zeit mehr, irgendwelchen Illusionen nachzuhängen. Ein möglicherweise religiöser Glaube wird auch von ihm (wie von allen anderen) erzwungenermaßen durch den Glauben an Arbeit ersetzt, denn diese bedeutet in der Welt der Migranten5 Erlösung. Das Wort ist sozusagen das Urwort der Asylanten und Immigranten. Ihm ordnet sich alles andere unter:
Arbeit war das erste Wort, das Spas auf deutsch gelernt hatte. Es war weder das Wort Liebe noch das Wort Hoffnung, geschweige denn Glaube. Denn ohne Arbeit gab es nichts als Angst. Dies war das Wort am Anfang. Erst dann kamen die vielen anderen (Dinev 2005, 94f.).
Die Folge der Dominanz eines Wortes ist weitreichend und wird in der Erzählung nach verschiedenen Richtungen hin entfaltet. Die sichtbarsten Spuren hinterlässt es innerhalb der Kreise der Flüchtlinge und Migranten selbst, die als Schattenexistenzen modelliert sind (Schweiger 2003, 7). Spas und sein Freund Ilija verkehren auch in diesen Kreisen, wobei deutlich wird, dass die Grenzlinie, die zwischen denen, die Arbeit haben, und denen, die Arbeit suchen, zugleich eine strikte Hierarchie bezeichnet. Innerhalb der polaren Grobeinteilung gibt es schließlich weitere Hierarchisierungen und zwar bemessen im Verhältnis von Herkunft und Chance auf Arbeit. Stufenförmig finden sich auf einer Art Himmelsleiter, die von der Dunkelheit ins Licht führt, ganz unten die Schwarzafrikaner (sozusagen ohne jede Aussicht auf Arbeit), weiter aufsteigend die Rumänen und Bulgaren (die oft in einem Atemzug genannt werden und ebenfalls recht wenig Chancen haben), dann kommen die Polen (deren relativer Erfolg auf dem Arbeitsmarkt als Ergebnis von Solidarität beschrieben wird) und noch etwas weiter oben die Griechen. Ganz oben (als nahezu unerreichbarer Orientierungspunkt) die Österreicher: »Ein Österreicher zu sein, war eine Erlösung« (Dinev 2005, 99). Ins Groteske kippt die Erzählung, wenn darin ausgerechnet die Straßenkehrer in ihren »orangefarbene[n] Gewänder[n]« (Dinev 2005, 100) als Erlöste wie »von einem anderen Stern« (ebd.) – an deren »Fingern glänzten Goldringe« (ebd.) – erscheinen und sich Spas und sein Freund Ilija danach sehnen, »von solchen Händen bekehrt zu werden« (ebd.). Denn bei der Müllabfuhr durften zu dieser Zeit laut Erzählung nur Österreicher arbeiten (im Gegensatz zu Deutschland, wo ja gerade in diesem Arbeitsumfeld seit den 1960er Jahren verstärkt Gastarbeiter angeworben wurden). Die Steigerung der österreichischen Arbeiter ins nahezu Göttliche findet in folgender Passage ihren Höhepunkt: »Wunderschön waren diese Österreicher. Wunderschön wie eine Erleuchtung.« (Ebd.) In solchen (für die Erzählweise Dinevs charakteristischen) repetitiven Passagen bewegt sich die Erzählung haarscharf auf einem schmalen Grenzstreifen zwischen Komik und Tragik, die das Geschehen ins Groteske verzerrt. Die Strukturen und Regeln, wie sie sich für Migranten wie Spas darstellen, erscheinen aus einer Außenperspektive lächerlich-komisch, kippen aber beim Perspektivwechsel auf die Ebene der Betroffenen ins Tragisch-Groteske. Bei diesen führt das vorgegebene Gefüge eben zu einer erzwungenen Verbiegung der Wirklichkeitsstrukturen, deren Willkür oberstes Prinzip ist.
Der Wert, der bestimmten Gruppen von der Gesellschaft zugeteilt wird, ist tief verwurzelt auch im Bewusstsein derjenigen, die auf der Leiter ganz unten stehen. Ihr Blick ist nach oben gerichtet, und um dorthin zu gelangen, sind fast alle Mittel zulässig. So gibt sich Spas einmal am Telefon als Grieche aus und bekommt daraufhin prompt Arbeit. Ähnlich verhält er sich, um eine Wohnung zugesprochen zu bekommen: In diesem Falle ist es vorteilhaft, sich als Jude auszugeben. Das heißt zugespitzt: Sein Verhalten bemisst sich zunehmend an den Erfolgschancen, denen alles andere radikal untergeordnet werden muss.
Besonders interessant ist die Frage, wie Sprache und Spracherwerb/Kommunikation im Verhältnis zu dem »Urwort« (Arbeit) gesetzt werden. Einmal kommt Spas in einem Asylantenheim in den Bergen, wo viele Flüchtlinge aus Rumänien untergebracht sind, mit den dortigen Bewohnern ins Gespräch. Sie können sich kaum flüssig in deutscher Sprache artikulieren und Spas erkennt schnell ihren gleichermaßen bequemen wie aussichtlosen Zustand als einen die Sprachlosigkeit verstärkenden Wartesaal:
Sie warteten. Warten war für sie einfacher. Warten konnte man sprachlos. Suchen nur auf deutsch. Spas hatte schon begriffen, dass eine Arbeit wichtiger ist als ein Dach über dem Kopf für sechs Monate. Nur wer Arbeit hatte, durfte bleiben. Wer Arbeit hatte, hatte ein Zuhause. Er verließ das Asylantenheim. Er brauchte ein Zuhause (Dinev 2005, 98).
Der Zusammenhang ist Spas schnell klar: Arbeit als Basis kann man in einem solchen Asylantenheim, abgeschieden in den Bergen und gemeinsam mit Leidensgenossen aus demselben Land, nicht finden, also muss man suchen. Das aber geht nur, wenn man die Sprache halbwegs beherrscht und wenn man bereit ist, auf ein Dach über dem Kopf temporär zu verzichten. Die deutsche Sprache spielt bei dieser Suche nach Arbeit eine wichtige Rolle, gewinnt aber in der Erzählung – auch für Spas – keine souverän unabhängige Kraft, sondern bleibt dem Ziel weitgehend untergeordnet. So kommt es dazu, dass bestimmte Wörter schneller gelernt werden als andere – nämlich dann, wenn sie hilfreich sind (z.B. bei der Arbeitssuche grundsätzlich mit »Ja« auf Fragen nach den gewünschten Fertigkeiten zu antworten) – und dass Spas und sein Freund Ilija lernen, Sprache zu instrumentalisieren, so einzusetzen, dass der Gesprächspartner die sprachlichen Lücken nicht bemerkt, und in gegenseitiger Solidarität (beispielsweise bei ihrer Tätigkeit als Kellner) sprachliche Schwachstellen zu überspielen. Das Verstecken sprachlicher Mängel wird bis zur Perfektion entwickelt, um den von außen herangetragenen Erwartungen genügen zu können.
Ein Extrembeispiel für die Tendenz, Sprache zu instrumentalisieren und ein daraus zwangsläufig folgender Reduktionismus stammt aus der kurzen Erzählung Kein Wunder – ebenfalls aus dem Band Ein Licht über dem Kopf. Darin kommt der 28-jährige, seit sieben Jahren illegal in Wien lebende rumänische Arbeiter Dan vor, der zwar bereits recht gut Deutsch spricht, aber das Wort »Wahrheit« noch nie gehört hat. Als das herauskommt, wundern sich die anderen, aber es fehlen die Erfahrungen, um ihm das Wort zu erklären oder gar nahezubringen: »Karel versuchte eine Weile, ihm die Bedeutung des Wortes zu erklären, aber bald gab er auf. Es war nicht so wichtig.« (Dinev 2005, 185)
In dieser Szene zeigt sich nicht nur die Unmöglichkeit, Wörter in ihrer tieferen Bedeutung zu vermitteln, sondern vor allem die Reduktion einer instrumentalisierten Sprache, deren Wurzeln aber im Zwang, funktionieren zu müssen, zu suchen sind.
Trotz der auch für Spas charakteristischen Tendenz der Sprachinstrumentalisierung unterscheidet er sich signifikant von vielen anderen Migranten soweit, dass er viele Strapazen auf sich nimmt, um – auch neben den teils erniedrigenden Jobs und der permanent von Neuem beginnenden Arbeitsuche – ein Studium aufzunehmen. Spas erkennt im Laufe der Jahre immer klarer den Zusammenhang zwischen Sprachkenntnissen und verbesserter Lebenslage, was in der Erzählung in das Gegensatzpaar von Licht und Schatten gefasst wird. Durch seine zunehmend souveräneren Sprachkenntnisse beginnt er sich nicht nur von vielen anderen Migranten zu unterscheiden, sondern ihm gelingt es sogar, ein Stück weit dem Halbdunkel einer ausschließlich auf Arbeitssuche fixierten Existenz zu entrinnen und so – auch im übertragenen Sinne – in ein helleres Licht zu gelangen: »[J]e mehr er sagen konnte, desto besser sein Licht.« (Dinev 2005, 100f.) Sprache ist der Schlüssel, um Arbeit zu finden, aber auch, um die Umgebung in ihrer Komplexität genauer wahrzunehmen und damit eine Chance auf Integration in die Gesellschaft zu haben.
Gleichwohl bleiben Spas die erniedrigenden Erfahrungen der Migranten in Wien nicht erspart. So wandelt er (als ein Beispiel für seine vielen verschiedenen Jobs) als »Bierhaube« durch die Kärntner Straße. Dinev verdeutlicht bei der Schilderung dieser Szene in bewusster Doppeldeutigkeit die gegenläufigen Wahrnehmungen von »Werbefläche« und Adressat, die dann zynischerweise doch in eins fallen:
Es war Winter. Ihm war kalt. Ein Bier soll kalt sein. Er hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Ein Bier soll bitter sein. Seine Augen waren vom Wind beschlagen wie Biergläser. Er war das, was er sein sollte (Dinev 2005, 102).
Die Absurdität der Jobs, bis hin zur völligen Entwürdigung, wird auf dem »Arbeiterstrich« bis an die Grenze des Erträglichen gesteigert. Hier wird die Notwendigkeit, Arbeit zu finden, pervertiert und rückt in die unmittelbare Nähe von Prostitution der Arbeitsuchenden, die sich frühmorgens tage- oder stundenweise an Unbekannte (Arbeitgeber) verkaufen, die wie Zuhälter vorbeifahren und den Daumen senken oder heben: »Autos fuhren langsam vorbei. Manchmal hielten sie an und nahmen einen aus der Reihe mit. Es waren wichtige Autos. Drinnen saß jemand, der wählte und Gnade verteilte.« (Dinev 2005, 106)
Das Motiv der Abhängigkeit und Willkür wird an dieser Stelle (wie auch in anderen Passagen) greifbar. Denn so entwürdigend die Arbeit auch sein mag, so notwendig ist sie für die Arbeitsuchenden, um weiter als Ball im ›Spiel‹ zu bleiben, als das die gesamte Existenz der Migranten innerhalb der Erzählung gestaltet wird, und nicht abgeschoben zu werden. Dinevs Erzählung ist in solchen Passagen stark verdichtet, zugespitzt auf charakteristische Elemente, die den Migranten in ein unentwirrbares und kaum durchschaubares Netz von Zwängen eingesponnen modelliert, gleichsam von dem Willen getrieben, wenigstens noch einen kleinen Bewegungsspielraum zu behalten: »Das Gesetz verkürzte und beschränkte alles. Orte, Flächen, Fristen und vor allem Bewegungen. Es schob alle immer näher zur Grenze.« (Dinev 2005, 113)
So verkürzt Kommunikation und menschliche Begegnung unter solchen Verhältnissen zwangsläufig sich gestalten muss, so gibt es doch in Spas schläft einige Lichtblicke, die inmitten der Aussichtslosigkeit der Situation aufscheinen. Vor allem sind es Ausländer und Außenseiter, mit denen kurzzeitig so etwas wie eine andere Form von sprachlicher Kommunikation und Solidarität möglich ist. Zum Beispiel die Kellnerin Vesna. »Sie half ihm. Sie war eine Serbin. Ihre Sprache war der seinen näher. Ihre Worte verstand er viel besser. Hilfreich und gütig waren sie. Erleichternd und gütig, die Worte, die wir verstehen.« (Dinev 2005, 101)
Eine Art ›Insel der Seligen‹ ist auch für eine kurze Zeitspanne der Ort, an dem zahlreiche Flüchtlinge (geschützt von einem gutmütigen Georgier) in fünf ausrangierten Eisenbahnzügen im Hof eines Depots illegal ›wohnen‹.6 Dort lernen Spas und Ilija den Rumänen Jakob und seine sechsjährige Tochter Anka kennen, auch den Nigerianer Sunday, den Ghanesen Samuel und den Russen Mischa. Die Welt im Hinterhof unterscheidet sich signifikant von allen anderen Erfahrungen mit Einheimischen und ermöglicht so etwas wie Familienersatz, Gemeinschaft, Solidarität, Humor und Liebe. Doch wird von Dinev ein solcher Ort nicht als Idyll gestaltet, sondern vielmehr als Möglichkeit und utopisches Element, auch in den schwierigsten Phasen der menschlichen Existenz Lichtblicke zu erfahren. Gerade die Außenseiter der Gesellschaft sind es, die sich gegenseitig stützen und auf diese Weise die Belastungen des Migrantendaseins erträglicher machen. Solche ›Inseln‹, wie sie hier in Form des ausrangierten Zuges modelliert werden, bestehen bei Dinev nur vorübergehend und nicht unabhängig von der Außenwelt. So zerfällt auch die Zuggemeinschaft eines Tages und ihre Bewohner zerstreuen sich in alle Winde.
Sehr positiv erscheint innerhalb der Erzählung auch die Literaturprofessorin Nadeschda Osipovna, die in Wien auf ihre Ausreise nach Amerika wartet und als menschlich, großzügig und humorvoll präsentiert wird. Spas und Ilija sind oft bei ihr zu Besuch und tauchen kurzzeitig in ein völlig anderes Kraftfeld (eines der Literatur) ein. In ihrem Umfeld »schafften sie es, sich zumindest für kurze Zeit von dem Phantom der Arbeit zu befreien« (Dinev 2005, 116). Pekuniäre Interessen werden vorübergehend auf literarische Weise außer Kraft gesetzt.
An solchen Stellen zeigt sich bei Dinev die Öffnung der Realität für magische Momente, die kurzzeitige Aufhebung der Realität in der Literatur. Interessant ist dabei, dass solche Momente nicht in den Traum verlagert werden, sondern sich in Form von ›Inseln‹ des Glücks inmitten einer als erbarmungslos geschilderten Wirklichkeit zeigen. »Unerhört sind die Wunder der Wirklichkeit.« (Dinev 2005, 121) So endet folgerichtig die Erzählung von Dimitré Dinev.
Dinev verarbeitet in seinen Erzählungen in differenzierter und realistischer Weise detailliert Themen der Migration. Doch zeigte die Analyse der Erzählung Spas schläft, wie stark der Autor dabei literarisch gestaltet. Migrationsvorgänge werden in der Erzählung um das Themenzentrum der Arbeit herum gruppiert, die Züge von Religiosität annimmt bzw. als Religionsersatz in der westlichen Welt dargestellt wird. Um dieses Zentrum herum kreisen die Handlungen der Menschen, Faltern vergleichbar im Licht einer Lampe, in dem diese unweigerlich früher oder später verglühen werden. Dabei verläuft die Orientierungslinie vertikal, wobei der stufenförmige Aufstieg nicht nur ein hierarchischer, sondern zugleich einer von der ›Dunkelheit‹ ins ›Licht‹ ist.
Die Orientierung der Migranten an den österreichischen Straßenkehrern erscheint in der Erzählung als bewusst doppeldeutiger grotesker Höhepunkt, der in sich – je nach Perspektive – sowohl komische als auch gleichermaßen tragische Elemente enthält. Das Netz, in das Migration als Existenzzustand eingesponnen ist, wirkt sich zwangsläufig auch auf Sprache und Kommunikation der Menschen aus, die weitestgehend instrumentalisiert und dementsprechend verkürzt eingesetzt wird. Doch entspringt gerade ihrer Instrumentalisierung ein ihr gleichzeitig innewohnendes positives Element. Das zeigt sich nicht nur in der profanen Erkenntnis, dass sich die Chancen auf dem Arbeitsmarkt mit zunehmenden Sprachkenntnissen verbessern, sondern insbesondere in den magisch zu nennenden Begegnungen, die die Beteiligten aus der Härte der Realität kurzzeitig zu entrücken vermögen. In solchen Momenten wird sichtbar, wie sehr Dinev die Realität künstlerisch überformt, geradezu zuspitzt in Richtung eines Modells menschlicher Existenzweise, in der selbst den dunkelsten Momenten noch ein Lichtblick inhärent ist.
1 | Interessant ist, dass dieser Roman bereits in den Studienplan für moderne deutschsprachige Literatur in den österreichischen Gymnasien aufgenommen wurde (vgl. online unter: www.public-republic.de/?s=Dimitré+Dinev [30.09.2010]).
2 | Seit den 1960er Jahren entsteht in Deutschland eine zunehmend beachtete Migrantenliteratur, die seit den 80er Jahren und der Einrichtung des Adelbert-von-Chamisso-Preises 1985 mittlerweile auch literaturinstitutionell fest verankert ist. Der Preis wird »an deutsch schreibende Autoren nicht deutscher Muttersprache« vergeben, deren Texte zu einem »selbstverständlichen Bestandteil der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur« geworden sind. Vgl. dazu online: www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/14169.asp [30.09.2010]. Jüngst wurden die Preisstatuten erweitert und ein Hinweis auf die »Einwandererfamilie« oder den »nichtdeutschen Sprach- und Kulturraum«, in dem das Deutsche erlernt wurde, aufgenommen (vgl. dazu Esselborn 2004, 318f., sowie Kegelmann 2010).
3 | In diesem Zusammenhang mag ein Hinweis auf den aus Russland ebenfalls nach Österreich emigrierten Vladimir Vertlib genügen, der sich 2006 in seinen Dresdner Chamisso-Poetikvorlesungen »Spiegel im fremden Wort« (2007) ausführlich mit dem Verhältnis von Autobiografie und Fiktion (v.a. in »Die Erfindung des Lebens als Literatur. Emigration und ›autobiographisches Schreiben‹«) auseinandergesetzt hat. Seine Ausführungen ließen sich auch auf das Werk von Dinev übertragen.
4 | Die Erzählung erschien erstmals in Dinev 2001.
5 | Es gibt auch einige wenige einheimische Figuren, die in ähnlicher Weise wie die Migranten durch das Kraftfeld Arbeit geprägt sind. Der Obdachlose Johann beispielsweise kann nach einem schweren Arbeitsunfall (Folge: eine verstümmelte Hand) keine Arbeit mehr finden und gerät auf diese Weise an den Rand der Gesellschaft.
6 | Vgl. etwa folgende Textpassage: »Es war kalt im Zug. Schlafen konnte man nicht, aber lachen konnte man.« (Dinev 2005, 109)
Ackermann, Irmgard (2000): »Exterritoriales Schreiben. Das Phänomen des Sprachwechsels in der deutschsprachigen Literatur«. In: Neue Sirene. Zeitschrift für Literatur 13, S. 54-69
Dinev, Dimitré (2001): Die Inschrift. Erzählungen. Wien [darin: »Die Handtasche«, »Die Inschrift«, »Ein Licht über dem Kopf«, »Spas schläft«, »Lazarus«]
Ders. (2003): Engelszungen. Roman. Wien
Ders. (2005): Ein Licht über dem Kopf. Erzählungen. Wien [darin: »Wechselbäder«, »Die Handtasche«, »Laß uns Radio hören«, »Lazarus«, »Spas schläft«, »Von Haien und Häuptern«, »Die neuen Schuhe«, »Ein Licht über dem Kopf«, »Die Totenwache«, »Kein Wunder«]
Ders. (2006): In der Fremde schreiben. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Literatur und Mi-gration. München [= Text und Kritik, Sonderbd. IX], S. 209f.
Esselborn, Karl (2004): Der Adelbert-von-Chamisso-Preis und die Förderung der Migrationsliteratur. In: Klaus Schenk/Almut Todorov/Tvrdik Milan (Hg.): Migrationsliteratur. Schreibweisen einer interkulturellen Moderne. Tübingen, S. 317-325
Hielscher, Martin (2006): »Andere Stimmen – andere Räume. Die Funktion der Migrantenliteratur in deutschen Verlagen und Dimitré Dinevs Roman »Engelszungen«. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Literatur und Migration. München [= Text und Kritik, Sonderbd. IX], S. 196-208
Hörisch, Jochen (2005): Grenzüberschreitungen. Laudatio auf den Träger des Chamisso-Förderpreises 2005 Dimitré Dinev (online unter: www.bosch-stiftung.de/content/language1/downloads/LAUDATIO___DINEV.pdf [30.09.2010])
Kegelmann, René (2010): Türöffner oder Etikettierung? Der Adelbert-von-Chamisso-Preis und dessen Wirkung in der Öffentlichkeit. In: Silvie Grimm-Hamen/Fraçoise Willmann (Hg.): Die Kunst geht auch nach Brot! Wahrnehmung und Wertschätzung von Literatur. Berlin, S. 13-28 (online unter: http://books.google.de/books?id=x-r685iyHm0C&printsec [30.09.2010])
Schweiger, Hannes (2003): Entgrenzungen. Der bulgarisch-österreichische Autor Dimitré Dinev im Kontext der MigrantenInnenliteratur. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15 (Mai) (online unter: www.inst.at/trans/15Nr/03_1/schweiger15.htm [30.09.2010])
Vertlib, Vladimir (2007): Spiegel im fremden Wort. Die Erfindung des Lebens als Literatur. Dresdner Chamisso-Poetikvorlesungen 2006. Dresden
Weinrich, Harald (2008): Ein Rinnsal, das Fluss und Strom werden wollte. Zur Vorgeschichte des Adelbert-von-Chamisso-Preises. In: Uwe Pörksen/Bernd Busch (Hg.): Eingezogen in die Sprache, angekommen in der Literatur. Positionen des Schreibens in unserem Einwanderungsland. Göttingen [= Valerio 8], S. 10-18