Klaus Merz: Der Argentinier. Novelle

(Innsbruck/Wien: Haymon 2009, ISBN 978-3-85218-580-4, 14,90 €)

Dass ein Autor den Stellenwert des Erzählens für ein gelingendes Leben reflektiert, ist in der Dichtung nicht ungewöhnlich und hat gerade in der deutschsprachigen Schweiz eine große Tradition. Doch wie der von dort stammende Klaus Merz es tut, ist ebenso einzigartig wie brillant. Welch eine Trouvaille: Wer hätte schon je Sprechen und Zuhören mit dem Tanzen verglichen? Natürlich ein bestimmtes Sprechen mit einem bestimmten Tanz, wie in Gattungsbezeichnung und Titel angezeigt. In beiden Sphären bedarf es eines Gegenübers und damit des Gespürs, des Taktes, der Empathie, mithin des entwickelten Tastsinns in konkreter wie in übertragener Bedeutung, soll der ›Tanz‹ gelingen, gerade auch derjenige von Autor und Leser. Wie hätte der Autor folglich die Semantik von »berühren« (lat.: tangere) nicht zum Leitfaden dieser Erzählung wählen und in einem virtuosen Finale gipfeln lassen können? Ein Finale, das zudem so ganz nebenher den argentinischen Tango als Kulturgegenstand adelt.

Doch ihm gelingt noch mehr. Denn auch in formaler Hinsicht hat er sich in einem wahrhaft schöpferischen Umgang mit erzähltechnischen Charakteristika der Novelle darauf verstanden, deren hoch entwickelte Tradition um eine für unsere Zeit veritable Nouvelle zu bereichern und somit im etymologischen Sinne fortzuschreiben – ein Bravourstück allererster Güte. So setzt man neue Maßstäbe. Schon deshalb tangiert Der Argentinier über das Zielpublikum hinaus auch unbedingt den von Hause aus an Fragen der Gattungsentwicklung interessierten Literaturhistoriker.

Ungeachtet der sinnbildlichen Qualitäten seines so vortrefflich gewählten Vergleichsgegenstands verkürzt Merz diesen jedoch nie auf ein Mittel zum Zweck, im Gegenteil. Der argentinische Tango kommt so zum Zuge, dass der Leser wertvollste Entdeckungen über berührenden Dialog machen kann. Soviel steht fest: Diesen zu erreichen ist ›Arbeit‹, denn besondere Qualität stellt sich nicht von selbst ein. Wie er gelingen könnte, hat Merz auf ansprechendste Art erschrieben – elektrisierendes Glücksmoment inklusive. Mehr sei nicht verraten.

Zum Inhalt nur so viel: Am Rande eines Klassentreffens erzählt Lena einem interessierten Schulkameraden, beide noch nicht 40-jährig, von ihrem kürzlich verstorbenen Großvater und verlebendigt diesen in ihrem Erinnern so stark, dass er – wieder einmal – ihr Ratgeber wird. Er hatte als junger Schweizer dem 1945 kriegszerstörten Europa den Rücken gekehrt, auch wegen einer ihn liebenden Frau, um Gaucho in Argentinien zu werden. Dort angekommen gibt er, realitätsernüchtert, seinen freiheitsromantischen Wunsch bald auf und kehrt nach Buenos Aires zurück. Hier lernt er den Tango kennen und somit auch eine Frau. Sie führt ihn in die Sprache dieses Tanzes ein – das krasse Gegenteil des zuvor erlebten rohen Umgangs unter gewissen Viehtreibern.

Mit dem Geheimnis ihrer Beziehung kehrt er nach ungefähr zwei Jahren in seinen Heimatort zurück, in dem er fortan als Lehrer wirkt und von den Einheimischen »der Argentinier« genannt wird. Erst sein Tod gibt der Enkelin die Gelegenheit, sein Leben in den prägenden Momenten wiedererstehen zu lassen und das Geheimnis seiner Zeit in Buenos Aires zu enthüllen. Ihr Zuhörer, zugleich der Erzähler der gesamten Geschichte, versteht sich sowohl auf taktvolle Zurückhaltung als auch darauf, im richtigen Moment das Richtige zu sagen. Das berührt in dieser so sehr dem Tastsinn gewidmeten Erzählung.

Kann man ein solches Sprechen und Zuhören einüben? Je nach persönlicher Voraussetzung so gut oder schlecht wie den argentinischen Tango selbst. Ohne Mitgefühl und Takt geht es jedenfalls nicht und ohne Erinnerung an fremde Erfahrung als Orientierungshilfe für die eigene Daseinsgestaltung auch nicht. Der Autor seinerseits weiß sich, mit wachem Blick auf unsere Zeit, in der diesbezüglich hervorragenden Novellentradition seines Landes stehend. »Sprecht wesentlich und hört einander zu«, tönt es aus ihr.

Sprechen als Berührungskunst jenseits allen Nützlichkeitskalküls: Mit dem Argentinier hat der renommierte Autor Klaus Merz eine angenehm zu lesende, mit geistreichem Witz und treffender Zivilisationskritik gewürzte Erzählung von hohem Erkenntniswert für das alltägliche Miteinander vorgelegt. Dass er die anderen Künste in ihrem je spezifischen Beitrag zur Persönlichkeitsbildung einbezogen hat, unterstreicht den grundlegenden Stellenwert der gesprochenen und geschriebenen Sprache. Als einzige stehen sie jedem jederzeit zur Verfügung, als einzige umfassen und verflechten sie verschiedene Modi und Tempora. Wie z.B. Vergangenes gegenwartsrelevant werden und damit in die Zukunft weisen kann, ist hier für den Bereich des Gesprächs virtuos erzählt und sehr gut nachvollziehbar. Faszinierend ist nicht zuletzt, wie sparsam und dennoch genau die Figuren konturiert sind: zügig und zielorientiert, dabei stets in sich ruhend und gelassen – so wie die Erzählung insgesamt.

Drei ansprechende Pinselzeichnungen von Heinz Egger illustrieren herausragende Stationen im Leben des Großvaters. Kurz: Ein ebenso engagiertes wie belebendes, rundum gelungenes Buch. Deshalb: Chapeau!

Grazia Lindt