Cornelia Zierau: »Wenn Wörter auf Wanderschaft gehen …« Aspekte kultureller, nationaler und geschlechtsspezifischer Differenzen in deutschsprachiger Migrationsliteratur

(Tübingen: Stauffenburg 2009 [= Stauffenburg Discussion 27], ISBN 978-3-86057-055-5, 34,80 €)

Was bedeutet es für einen Menschen, sich außerhalb der bekannten kulturellen Umgebung in einer neuen, fremden Gesellschaft wiederzufinden? Wie spiegelt sich die Suche nach der eigenen Position oder Identität im Zuge von Migration im Schreiben wider? Was ist ›Migrationsliteratur‹ und welche Rolle spielt sie für die Literaturgeschichtsschreibung?

Diesen Fragen versucht Cornelia Zierau in ihrer 2009 erschienenen Studie nachzugehen, indem sie Prosatexte von Alev Tekinay, Yoko Tawada und Emine Sevgi Özdamar hinsichtlich kultureller, nationaler und geschlechtsspezifischer Einflüsse und Hintergründe untersucht. Zu Beginn ihrer Arbeit versucht sie eine Methodik zu entwickeln, mit deren Hilfe sie Erzählungen der drei Autorinnen genauer analysiert. Im zweiten Teil dreht sie ihr methodisches Vorgehen um und wendet das entwickelte Instrumentarium auf einen Roman von Emine Sevgi Özdamar an.

Die Autorin stellt gleich am Anfang ihrer Analyse fest, dass die behandelten Texte unter dem Sammelbegriff »Migrantenliteratur« unpassend eingeordnet sind. Das Fehlen einer geeigneteren Kategorie zeige die Unbeholfenheit der Literaturtheorie mit einer Globalisierung der Literatur umzugehen. Für ihren Untersuchungsfokus entscheidet sie sich im Hinblick auf die ausgewählten Texte für den Begriff »transnationale Migrationsliteratur«. Hiermit beschreibt sie die inszenierten Differenzen als Grenzerfahrungen, denn die zu überschreitenden Grenzen werden, wie die Untersuchung zeigt, in der Literatur immer wieder neu definiert oder verschoben. Auf diese Weise umreißt sie ein zentrales Thema interkultureller Forschung: die Inszenierung von Eigenem und Fremdem, von Eigen- und Fremdidentität und die literarische Umsetzung von kulturell bedingten Zuschreibungen.

Die Einbindung von Ansätzen anderer Disziplinen ermöglicht es ihrer Un-tersuchung auf eine fassettenreiche theoretische Basis zurückzugreifen. Ihre Perspektive auf ein globales, soziales wie kulturelles Phänomen, das heute vor allem unter dem Begriff der Interkulturalität verhandelt wird, ist dabei nicht auf literaturwissenschaftliche Überlegungen beschränkt. Im Hinblick auf den Entstehungszeitraum der Arbeit von zehn Jahren wird der Leser gewahr, dass neue Erkenntnisse mit bereits vorhandenen literaturtheoretischen Überlegungen zu kultureller Begegnung in dieser Arbeit verbunden werden, um daraufhin neue Forschungsperspektiven aufzuzeigen.

Zierau versucht die Ansätze der in-terkulturellen Germanistik mit anderen Disziplinen zu verbinden. Sie zieht Derridas Différance, Aspekte aus Huntingtons Clash of Civilisations und Lacans Überlegungen zur Identitätsbildung heran und erreicht dadurch die Integration einer soziologisch-psychoanalytischen Perspektive in ihrer literaturwissenschaftlichen Arbeit. Die Verortung der transnationalen Migrationsliteratur in der Literaturgeschichtsschreibung, die sie vorbereiten möchte, gelingt auf diese Weise, jedoch macht sie dem Leser gleichzeitig deutlich, dass sich diese Vorgänge noch weiter ausbilden werden.

Methodisch entwickelt die Autorin eine Synthese aus zwei Ansätzen: Homi K. Bhabha und seine Vorstellung vom dritten Raum, der sich als Spannungsfeld zwischen Identität und Differenz ergibt, in dem sich Differenzen abseits jeglicher Hierarchisierung begegnen, wird mit einem literaturwissenschaftlichen Blick verbunden. Diesen liefert Azade Seyhan mit ihrer Explikation einer Zwitterrolle der Literatur, die aus der Archivfunktion und der Einflussnahme von Autoren auf das kulturelle Gedächtnis entsteht, also der Erinnerung und der Erzählung von Erinnerung. Die soziologische Problematisierung Bhabhas und die literaturwissenschaftliche Perspektive Seyhans verbinden sich zu einem Instrumentarium, dass der besonderen Charakteristik von transnationaler Migrationsliteratur gerecht werden kann. Dies zeigt die Autorin bereits in der ersten Hälfte ihres Buches anhand der Erzählungen von Emine Sevgi Özdamar, Yōko Tawada und Alev Tekinay.

Der zweite Analyseteil ist eine exemplarische Untersuchung von Emine Sevgi Özdamars Das Leben ist eine Karawanserei (1992) unter besonderer Berücksichtigung der drei Aspekte kulturelle Differenz, religiöse Identifikation und geografische Lebensräume. Ihre Interpretation soll »über das Was und Wie der kulturellen Vermittlung in diesem Roman Auskunft geben mit der Zielsetzung, sowohl den Prozess der Hybridisierung als auch der Identitätsbildung genauer zu erforschen« (S. 101). Ist die historische Analyse der Ursprünge kultureller Differenz in der Türkei aufgrund der präzisen Interpretation sehr gut nachvollziehbar, so wird beim religiösen Fokus deutlich, dass sich hier die eigentliche Basis der kulturellen Sozialisierung der Protagonistin des Romans finden lässt. Der Lebensraum ihrer Kindheit mitsamt seinen religiös-kulturellen und sprachlichen Einflüssen erscheint in Zieraus Analyse als Grundlage der Persönlichkeit. Jedoch wird der dann beginnende ständige Wechsel der Lebensräume zum neuen konstituierenden Moment und bleibt letztlich als nomadischer Lebensstil der wesentliche Identifikationsfluchtpunkt der Protagonistin. Hierbei präsentiert Zierau einen Migrationsbegriff, der durchaus stärker an Räume gebunden ist, als die Autorin es vielleicht beschreiben möchte. Die kulturelle und religiöse Differenz, die für die Protagonistin von je her Teil ihres Lebens war, macht im Zusammenhang mit ihrer Ich-Findung in einer neuen Gesellschaft den kleineren Teil aus, wenn sie selbst versucht sich als Migrantin zu finden. »Kulturelle Identitätsbildung« wird so zu einem »dynamischen Prozess der Veränderung«. (S. 186) Diese Veränderung scheint jedoch in Zieraus Analyse auf einer Basis zu gründen, die einer sprachlichen und kulturellen Prägung unterliegt und von Özdamar als ›Mutterzunge‹ benannt wird. Diese beschriebenen selbstreflexiven Vorgänge könnten hinsichtlich einer versuchten Kategorisierung zu einem Erkennungsmerkmal werden. Auf diese Weise wäre die Einordnung dessen, was hier in Ermangelung anderer Kategorien transnationale Migrationsliteratur genannt wird, für eine Literaturgeschichtsschreibung denkbar.

Die grundlegende Fragestellung der Arbeit nach der Verhandlung der drei Aspekte Kultur, Religion und Geschlecht in der Literatur, die sie als transnationale Migrationsliteratur benennt, wird vor allem im zweiten Teil der Untersuchung beantwortet. Der Begriff transnational wird im Laufe der Arbeit problematisiert, wenn Zierau am Beispiel der Türkei den einheitlichen Nationenbegriff dekonstruiert. Durch ihre Argumentation, es handele sich bei Özdamars Darstellung um ein nomadisches Lebensverständnis, zeigt sie außerdem, dass in allen präsentierten Texten die Verhandlung interkultureller Kontakte thematisiert wird, weniger die nationalen Hintergründe.

Cornelia Zierau schafft es im zweiten Teil ihrer Arbeit, mit Hilfe von Methoden unterschiedlicher Disziplinen einen differenzierten, allgemeinen Blick auf das Problemfeld zu werfen: die Veränderung der Gesellschaft und die Aushandlung eines Zusammenlebens unterschiedlicher Lebensweisen. Ihre spezifische Perspektive vor allem auf die Situation der türkisch-deutschen Autoren zeigt jedoch auf, wie viele Details und Aspekte berücksichtigt werden müssen bei der Interpretation eines solchen Textes. Durch die kulturellen Hintergründe, die einem Leser aus einem anderen Kulturkreis nicht oder nur unzureichend bekannt sind, sind intertextuelle Bezüge, Konnotationen oder ähnliches für ihn nicht nachvollziehbar.

In diesem Zusammenhang verlieren die ausgewählten Textbeispiele, die im ersten Teil die theoretischen Überlegungen begleiten, an Gewicht. Die zentralen Forschungsaspekte der Arbeit werden erst an dem Roman Das Leben ist eine Karawanserei im zweiten Teil dezidiert untersucht. Vielleicht wäre es für eine begleitende Analyse der drei Texte glücklicher gewesen, nicht autorengebunden, sondern in Bezug auf die theoretischen Fragestellungen vergleichend vorzugehen. Denn so scheint besonders der Text von Tawada nicht zur Perspektive der Untersuchung zu passen, da er auf einer japanisch-deutschen Migrationsgeschichte beruht und damit nicht mit der deutsch-türkisch geprägten Analyse des zweiten Teils harmoniert.

Insgesamt zeigt Cornelia Zierau mit ihrer soliden Untersuchung, dass interkulturelle Kontakte innerhalb der deutschsprachigen Literatur ihren Platz bereits gefunden haben. Die Einordnung dieser Texte ist aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit noch nicht gelungen. Dies bleibt eine Aufgabe der Literaturwissenschaft, die über das Unterfangen, dieser Untersuchung, verschiedene gemeinsame Aspekte der transnationalen Migrationsliteratur darzustellen, auf diese Aufgabe vorbereitet wird. Ihre detailreiche Interpretation, die Zierau mit Hilfe einer Synthese von zwei theoretischen Ansätzen entwickelt, zeigt, dass diese Literatur für die Rezipienten über die Konfrontation mit dem Fremden innerhalb der eigenen sozialen Umgebung einen Beitrag dazu leistet die Vorstellungen von Identität, Nation und Kultur zu verändern.

Marie-Christine Wehming