Germanisten-Bashing

Eine Replik auf Jürgen Kaube

Georg Mein

Unter dem Deckmantel einer Kritik der jüngst erschienenen Zeitschrift für interkulturelle Germanistik hat Jürgen Kaube in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wieder eine Philippika gegen den Betrieb der Germanistik gehalten.1 Dabei scheint Kaube zu unterscheiden zwischen einer Idee des Faches, die an und für sich gut ist, und einer depravierten Schwundform, die im gegenwärtigen Prozessieren des Faches zutage tritt. Schlecht ist die Germanistik immer dann, so der Tenor des FAZ-Feuilletons, wenn die Disziplin »unzählige Paradigmen umarmt – Sozialgeschichte, Mentalitätsgeschichte, Konstruktivismus und Dekonstruktivismus, Gendertheorie, Systemtheorie, Diskursanalyse, Performativitätskonzepte« –, um sich dann gänzlich überformen zu lassen »durch die Pantheorien Kultur- und Medienwissenschaft«.2

Die positive Gegenseite, die gute, die richtige Germanistik, ist freilich sehr viel schwieriger zu bestimmen. Hier geht es offenbar um die Geschichte eines Versprechens, dessen Wurzeln bis in die disziplinäre Konstitution des Faches am Anfang des 19. Jahrhunderts zurückreichen. Jacob Grimm brachte in seiner Akademie-Schrift Über den Ursprung der Sprache (1851) dieses Versprechen auf eine bündige Formel: »die kraft der sprache bildet völker und hält sie zusammen, ohne ein solches band würden sie sich versprengen« (S. 30). Auf geheimnisvolle Weise scheint die Germanistik als Nationalphilologie auch gegenwärtig noch zu suggerieren, sie könne in solch hektisch globalisierten Zeiten das Versprechen von Einheit aufrechterhalten, um diese der allgegenwärtigen Entgrenzung und Grenzüberschreitung allein kraft der disziplinären Ausrichtung entgegenzusetzen. Vorausgesetzt denn, sie ist bereit, ihre disziplinäre Ausrichtung zu begrenzen – und eben dies ist das Anliegen von Kaube: die Disziplinierung der Disziplin.

Man kann dieses Anliegen begrüßen, denn es ist unmittelbar evident, dass die Germanistik von einem – wie auch immer zu definierenden – philologischen Kern ausgehen muss. Ob damit allerdings eine konstruktive Öffnung des Faches sowohl über Nationen- und Kulturgrenzen wie auch über Fachgrenzen hinweg generell ausgeschlossen ist, muss bezweifelt werden. Zudem dürfte es einleuchten, dass sich auch eine Nationalphilologie wie die Germanistik gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen oder Paradigmenwechseln in den Nachbardisziplinen nicht gänzlich verschließen darf.

Es ist vor allem das Präfix »inter«, das Kaube auf die Palme bringt. Interdisziplinarität – vulgo: Verbundforschung – oder Interkulturalität in den Geisteswissenschaften sind eben das genaue Gegenteil von seinem im 19. Jahrhundert situierten Fachverständnis. »Einfach nur doof« findet Kaube daher das erste Heft der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, das zudem, angesichts der 200 schon existierenden germanistischen Fachzeitschriften, ohnehin niemand lesen würde. Philologisch sauber gearbeitet im Sinne einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung ist Kaubes Kritik freilich nicht. Vielmehr werden in wenigen Zeilen sämtliche Beiträge und Beiträger des 170 Seiten umfassenden ersten Heftes mit Polemik überzogen. Dabei kommt das Germanisten-Bashing kaum über die bloße Nennung der Titel hinaus. So äußert sich Kaube über den Beitrag eines in Australien lehrenden Germanisten wie folgt: »Ein Bericht über Germanistik in Australien macht dann neugierig auf weitere Berichte über Germanistik in, sagen wir: Uru- und Paraguay, Oman sowie Helgoland.« Stimmt schon, die Auslandsgermanistik kann ja per se keinen sinnvollen Beitrag für den Erkenntnisfortschritt im Fach leisten. Solche Leistungen bleiben allein der Inlandsgermanistik vorbehalten – immer vorausgesetzt, sie besinnt sich auf ihre philologischen Kernkompetenzen.

Nebenbei nur ein Satz zu der Germanistik in »Uru- und Paraguay«: In Lateinamerika wird an rund 300 Hochschulen Deutsch als Fremdsprache bzw. Germanistik als Studienfach angeboten. Diese Hochschulen kommen insgesamt auf über 3.500 Studierende der Germanistik und über 25.000 Studenten, die die deutsche Sprache dort studienbegleitend lernen. Es dürfte unmittelbar evident sein, dass es in solchen Ländern die Germanistik ist – und man denke, statt an Helgoland, an Israel, Polen, Korea, Japan usw. –, die in enger Zusammenarbeit mit dem DAAD und den Goethe-Instituten einen zentralen Beitrag für die Vermittlung deutscher Sprache, Literatur und Kultur im Ausland leistet und durch diese Arbeit auch dazu beiträgt, ein positives Deutschlandbild zu vermitteln. All dies spielt in den Erwägungen von Herrn Kaube, dessen chauvinistische Rhetorik einfach nur ärgerlich ist, freilich keine Rolle. Und daher spielt für ihn natürlich auch das Paradigma der Interkulturalität keine Rolle, so dass sich in seinen Augen hinter einer Zeitschrift für interkulturelle Germanistik nicht viel mehr verbergen kann als »das pseudomoralische Ansinnen, inter sei irgendwie wichtig, verständigungsmäßig und so.« Ist es auch – nur ist dieses Ansinnen nicht pseudomoralisch. In der Tat aber ist es so – hier ist Kaube zuzustimmen –, dass die Germanistik an der Universität Luxemburg, die »den ganzen Spaß herausgibt«, über solch »monokulturelle Spitzfindigkeiten«, wie Kaube sie im Sinn hat, »längst hinaus« ist. Und zum Glück nicht nur dort!

Nota bene: Wer über Kaubes ›Stil‹ mehr erfahren möchte, der lese in der Tageszeitung den sehr unterhaltsamen Artikel von Mark Terkessidis.3

Doch was ist mit Interkulturalität nun eigentlich genau gemeint? Auch wenn, wie bei allen Paradigmen, eine bündige Antwort naturgemäß schwierig ist, sollen mit Blick auf das Interesse der Germanistik am Interkulturalitätsparadigma hier zumindest drei zentrale Leitlinien angedeutet werden.

  1. Interkulturalität meint zunächst eine heuristische Dimension, in deren Zentrum das Phänomen der Alterität steht. Das Fremde bzw. Andere sind keine beliebigen Erscheinungsformen unter anderen, sondern fordern zu einer Reflexion auf die eigenen Denkmuster und Kategorien heraus, die für die Bewältigung von Fremdheitserfahrungen unabdingbar sind. Das zentrale Problem lautet hier, wie man auf Fremdes eingehen kann, ohne schon durch die Art des Umgangs seine Ansprüche zu neutralisieren? Alteritätserfahrungen sind dabei nicht nur auf den zwischenmenschlichen Bereich beschränkt, sondern treten überall dort zutage, wo Automatismen im Sinne von spontanen Deutungsmustern nicht mehr greifen. Dies kann auch dort der Fall sein, wo sich der Bezugsrahmen ändert und Vertrautes in unvertrauter Umgebung begegnet, wo Kontexte verschoben werden oder wo das Verstehen große Zeitabstände überbrücken muss.
  2. Alteritätserfahrungen implizieren stets auch eine ethische (und keine pseudomoralische) Dimension, nämlich die Öffnung auf das Fremde hin, verbunden mit der Bereitschaft, das eigene Kulturverständnis in Frage zu stellen und stellen zu lassen. Das heißt nicht, dass man keine Kritik an fremden Kulturen mehr üben dürfte; diese ist gerade dort unabdingbar, wo solche Kulturen nach innen wie nach außen hegemonial auftreten. Mit anderen Worten, Interkulturalität bedeutet nicht, die Intoleranz tolerieren zu müssen.
  3. Schließlich ist Interkulturalität vor allem ein Phänomen der Sprache. Die Einheit einer Kultur basiert zu großen Teilen auf dem Gebrauch einer gemeinsamen Sprache. Insofern sind Kulturgrenzen häufig auch Sprachgrenzen, die in dieser Funktion instrumentalisiert werden können. So werden, um nur ein Beispiel zu nennen, die Demarkationslinien in dem Konflikt zwischen den (französisch sprechenden) Wallonen und den (niederländisch sprechenden) Flamen in Belgien vor allem auf sprachlicher Ebene gezogen. Gleichzeitig aber ist die Sprache auch der zentrale Ort, wo Alteritätserfahrungen bewältigt werden können, z.B. durch Übersetzung, durch Kommunikation und eben auch durch die Literatur. Literatur ist nicht nur Medium und Schwellenraum zwischen den Kulturen; Literatur kann durch ihre spezifischen Darstellungstechniken Alterität inszenieren und reflektieren. Die Begegnung mit dem Fremden wird im sanktionsfreien Handlungsraum der Literatur gleichsam unter privilegierten Bedingungen ermöglicht.

Anmerkungen

1 | Jürgen Kaube: Multiple Paradigmatase. Eine neue Zeitschrift für Germanistik liegt vor. In: FAZ, Nr. 125 v. 02.06.2010, S. N5.

2 | Oliver Jungen: Der hat die Kokosnuss geklaut! Wohl vom Affen gebissen: Zum Abschluss des Germanistentages in Marburg. In: FAZ, Nr. 226 v. 28.09.2007, S. 41.

3  | Mark Terkessidis: Kampf der falschen Minderheit. Der Feuilletonist Jürgen Kaube stört sich an Schwulen, Kopftuchträgerinnen und Gläubigen. Vor allem aber will er seine Privilegien behalten. In: taz v. 10.10.2007 (online unter: www.taz.de/?id=digitaz-artikel&ressort=li&dig=2007/10/10/a0018&no_cache=1&src=GI [30.09.2010]).