Liesbeth Minnaard: New Germans, New Dutch. Literary Interventions

(Amsterdam: Amsterdam UP 2008, ISBN 978-90-8964-028-4, 45,00 €)

Literatur der Migration ist fraglos ein globales Phänomen, das dazu herausfordert, das Konzept des Nationalen grundlegend zu hinterfragen. Dies tut auch die an der Universität Leiden tätige Literaturwissenschaftlerin Liesbeth Minnaard in ihrer Studie zur Migrationsliteratur in Deutschland und den Niederlanden. Ihre Schlussfolgerung ist allerdings, dass trotz aller Transnationalität nationale Kategorien für die Analyse von Migrationsliteratur immer noch von Bedeutung sind. Zum einen wegen der gegenwärtigen Renaissance des Nationalen in Europa als Reaktion auf Globalisierungsphänomene, zum anderen wegen der bei Migranten zentralen juristischen Frage der Staatsangehörigkeit, die nach wie vor national geregelt ist (S. 16). Hinzuzufügen ist, dass auch die Entstehung, Verbreitung und Rezeption von Literatur durch nationale Rahmenbedingungen geprägt ist. Die Weltrepublik der Literatur mag eine berückende Idee sein, für die allermeisten literarischen Texte, und insbesondere solche, die nicht in der Weltsprache Englisch geschrieben sind, sind die nationalsprachlichen Grenzen des literarischen Feldes nur schwer überwindbare Hürden. Migrationsliteratur, die ihre Zugehörigkeit und ihren besonderen Platz im literarischen Feld erst etablieren muss, ist der Heteronomie der jeweiligen nationalen Diskurse zu Sprache, Identität und Literatur in besonderem Maße unterworfen.

Das Verhältnis von Literatur und diskursivem Kontext ist allerdings keine Einbahnstraße: Migrationsliteratur schreibt sich ein in ihren Kontext, sei es durch Aneignung, Imitation, Verfremdung oder Resignifikation, in einem Prozess ständiger Neuverhandlung von Identitäten, Werten, Ideen und nicht zuletzt der Sprache selbst, in der diese Verhandlungen geführt werden. Grundlage eines komparatistischen Ansatzes ist dann nicht der Vergleich von literarischen Werken oder kulturellen Kontexten an sich, sondern ein Vergleich der Austauschprozesse, in denen sich Text und Kontext gegenseitig konstituieren.

So formuliert auch Minnaard:

New Germans, New Dutch scrutinises and compares the interaction and mutual constituency between these two particular semantic fields – literature and public discourse – in two Western European nation states. (S. 56)

Dieser Logik folgt der Aufbau ihrer Studie. In einem ersten Kapitel erörtert sie zusammenfassend zentrale Diskurse über Migration und nationale Identität in den Niederlanden und in Deutschland. Dabei ist aus deutscher bzw. germanistischer Sicht in erster Linie interessant, wie Minnaard die Entwicklung in unserem Nachbarland beschreibt: von einer frühen pragmatischen Integrationspolitik, die sich in der ›minderhetennota‹ von 1983 manifestiert, zu einem deutlichen Klima- und Politikwechsel im neuen Jahrtausend. Beginnend mit der Debatte um Paul Scheffers Zeitungsartikel über das »multikulturelle Drama« (2000) und radikalisiert im Kontext der Morde an dem Rechtspopulisten Pim Fortuyn und dem Filmemacher Theo Van Gogh gewinnen nationale und insbesondere anti-islamische Diskurse die Oberhand. In Deutschland hingegen skizziert sie eine entgegengesetzte Bewegung: von der konservativen Anti-Integrationspolitik der Kohl-Ära zu einer, wenn auch zaghaften, Öffnung und Anerkennung des multikulturellen Charakters der deutschen Gesellschaft, die etwa in der erleichterten Einbürgerung (gesetzlich verankert im Jahr 2000) Ausdruck findet. Allerdings bleibt die Autorin skeptisch, ob dies generell zu einer multikulturellen Öffnung der deutschen Gesellschaft führen wird:

However, the alarming increase of racist violence in 2006 and 2007 as well as the disse-mination of discriminatory and racist opinions in the political and public mainstream forestalls any premature conclusions about inclusive, multiethnic notions of German national identity. (S. 49)

Die zentralen vier Kapitel der Studie (zu Texten Emine Sevgi Özdamars, Hafid Bouazzas, Feridun Zaimoğlus und Abdelkader Benalis) widmen sich der Fragestellung, wie sich diese politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in ausgewählten literarischen Texten und ihrer Rezeption niederschlagen – oder, um dem Untertitel zu folgen, der Frage nach den literarischen Interventionen in die relevanten kulturellen und politischen Diskurse. Minnaard konzentriert sich jeweils auf einige wenige Texte und verbindet eine genaue Lektüre mit der Analyse des Rezeptionskontexts. Auf diese Weise kann sie die Wechselbeziehungen von Text und Kontext nachzeichnen und, im besten Fall, einen Prozess nachvollziehen, in dem zentrale Konzepte wie kulturelle Identität, Authentizität, Sprache, nationale Semantisierungen von Raum und Geschichte oder Konstruktionen des Anderen verhandelt werden.

Dies gelingt besonders überzeugend in den niederländischen Fallbeispielen. Sowohl für Bouazza als auch für Benali skizziert Minnaard eine Entwicklung vom literarischen Debüt Mitte der 1990er Jahre mit zwei Erfolgsbüchern, deren enthusiastische Aufnahme sie mit der positiven Haltung zum multikulturellen Aspekt der niederländischen Gesellschaft in Verbindung bringt, zu späteren Texten, mit denen die Autoren sowohl auf die exotistische und ethnifizierende Schieflage der ersten Rezeption reagieren als auch auf das mittlerweile gewandelte gesellschaftliche Klima. Sie zeigt, wie Bouazzas Erzählband De voeten van Abdullah (›Die Füße Abdullahs‹, 1996) in der ergänzten Ausgabe von 2002 bewusst Akzente setzt, um eine orientalisierende und biografische Lesart zu problematisieren. Die neu hinzugefügte Erzählung De oversteek (›Die Überfahrt‹) bringt nicht nur eine klar politische Dimension ins Spiel, sondern schlägt auch eine Brücke vom Raum der exotischen Fremde (Marokko), in dem die Erzählungen angesiedelt sind, hin zur sozialen Gegenwart des niederländischen Lesers. Auch für Benali kann Minnaard die Einbindung in die zeitgenössischen politischen Diskurse anschaulich vorführen. Während sie seinen Debütroman Bruiloft aan Zee (›Hochzeit am Meer‹, 1996) als eine raffiniert konstruierte Entlarvung unkritischen ›Multikulti‹-Relativismus liest, endet sein Theaterstück Onrein (›Unrein‹, 2006) auf einer skeptischen Note und stellt die Möglichkeit von Verständigung zwischen Kulturen (ebenso wie zwischen den Generationen und den Geschlechtern) grundlegend in Frage.

Auch die Özdamar und Zaimoğlu gewidmeten Kapitel zeigen deutlich die wechselseitige Verstrickung von literarischem und sozio-politischem Diskurs. Hier lässt sich allerdings weniger als in den Fallbeispielen aus den Niederlanden ein prozessualer Verlauf ablesen, in dem die Verhandlung diskursiver Positionen deutlich würde. Theoretisch könnte die Ursache hierfür sein, dass sich die Diskurse zu Identität, Migration und Multikulturalität im betrachteten Zeitraum in Deutschland nicht im gleichen Maße verändert haben wie in den Niederlanden, sondern trotz der tendenziellen Verbesserung des politischen Klimas und einiger Gesetzesänderungen in Bezug auf Einbürgerung und Einwanderung in der Phase der rot-grünen Regierung im wesentlichen konstant geblieben sind. Grundsätzlich wäre eine komparative Studie geeignet, Licht auf solche Veränderungen bzw. Kontinuitäten zu werfen. Dass New Germans, New Dutch dies aber nur in begrenztem Maße tut, liegt an der Textauswahl. Bei Özdamar beschränkt sich die Analyse auf die drei Erzählungen Mein Berlin, Mein Istanbul und Fahrrad auf dem Eis aus dem Band Der Hof im Spiegel (2001). Anhand dieser Erzählungen kann Minnaard zwar einleuchtend zeigen, wie die Autorin Einschreibungen ins deutsche nationale Gedächtnis vornimmt (durch die türkisch-deutsche Minderheitenperspektive in der Wende-Erzählung Mein Berlin) und wie sie durch Perspektivverschiebungen und Grenzüberschreitungen wesentliche Konstituenten des nationalen Identitätsdiskurses reflektiert – die Beschränkung auf den einen Erzählband gibt aber keine Auskunft über mögliche diachrone Verschiebungen im Werk Özdamars.

Ähnliches gilt für das Kapitel zu Feridun Zaimoğlu. Es konzentriert sich ganz auf die frühen Texte Kanak Sprak (1995) und Abschaum (1997). Dieser Fokus rechtfertigt sich natürlich aufgrund der durchschlagenden literarischen ebenso wie identitätspolitischen Wirkung von Zaimoğlus Debüt und der Aneignung und Resignifikation des ›Kanaken‹-Begriffs. In diesem Zusammenhang geht Minnaard mit gutem Grund besonders ausführlich auf die Rezeption der Texte ein, auf die Bedeutung des Authentizitätspostulats für die öffentliche Wirkung der literarischen Protokolle in Kanak Sprak und ihre Identitätskonstruktionen. Abschaum liest sie als eine modifizierende Fortschreibung, zugleich aber implizite Hinterfragung der monolithischen Kanaken-Identitäten des Debüts. Für eine Analyse von Zaimoğlus Autorschaft im Zusammenhang der bundesrepublikanischen Multikulturalismus-Diskurse wäre aber ein Blick auf die Entwicklung der letzten zehn Jahre wichtig gewesen.

Gleichwohl kommt Minnaard zu Schlussfolgerungen, die für die Frage nach der Integrations- und Wandlungsfähigkeit von Identitätskonstruktionen in unterschiedlichen nationalen Kontexten interessant sind und zu weiteren komparativen Studien Anlass geben können. Sie zeigt nämlich, dass trotz weitgehend paralleler Entwicklungen der deutschen und der niederländischen Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten (als hochentwickelte, global verflochtene europäische Wirtschafts- und Einwanderungsnationen) die untersuchten literarischen Texte je ganz unterschiedliche Vorstellungen von deutscher und niederländischer nationaler Identität entwickeln.

Imagined identities range from trans- and counter-national in the German case to hyper-national and multiethnic in Dutch literature. […] Despite clear parallels between the two neighbouring countries […] the specificity of the German and Dutch national contexts – the distinctive juridical and discursive constructions of national identity and citizenship – proves to be of overriding importance. (S. 231)

Wolfgang Behschnitt