Sprachliche Höflichkeit

Eine Perspektive für die interkulturelle Sprachdidaktik

Eva Neuland

Abstract

Politeness is a current topic of public discussions and empirical research and has developed to an important part of intercultural communication and didactics. An analysis of tendencies in some selected textbooks for German as a foreign language demonstrates that linguistic politeness is depicted as an integrated instead of an independent theme, and that despite increasing interculturalization of textbooks simple models of culture contrasts still dominate. Impulses in recent research and fields of applications are as rare as the aim of reflecting politeness even in the most current textbooks.

1. Höflichkeit: Ein aktuelles Thema in öffentlichen Debatten1

1.1 Knigge als ›Säulenheiliger‹ der neuen Benimmfibeln

Höflichkeit − im alltagssprachlichen Sinne verstanden als Verhaltenskodex − ist wieder ein Thema von hoher gesellschaftlicher Bedeutung, wie ein Blick in die Kataloge deutschsprachiger Verlage und in die Regale von Buchhandlungen zeigt. Dabei wird der Name des Freiherrn von Knigge werbewirksam zum ›Säulenheiligen‹ der deutschen Benimmliteratur funktionalisiert. Viele Titelformulierungen enthalten Erfolgsversprechen für gesellschaftliche Problemsituationen in Beruf und Alltag. Dies demonstriert die folgende kleine Auswahl einschlägiger Publikationen für bestimmte Zielgruppen, Kulturkreise, Verhaltens- und Erscheinungsformen:

In den öffentlichen Debatten, in der Ratgeberliteratur und in Zeitschriftenrubriken werden in den allermeisten Fällen ›Prêt-à-porter-Lösungen‹ angeboten. So werden z.B. Hinweise darauf gegeben, wie man in einer anderen Kultur einen Gesprächspartner begrüßt oder verabschiedet, wie man sich bei einer Einladung verhält, ob man Geschenke mitbringen sollte oder nicht, was in Bezug auf Hygiene zu beachten ist oder welche Körperdistanz zum Gesprächspartner als angemessen gilt. Höflichkeit wird dabei zumeist reduziert auf allgemeine Verhaltensstandards und auf ein Inventar rezeptologischer Handlungsanweisungen, die oft in schlichten Vermeidungstechniken münden (z.B. nicht die Hände schütteln, nicht die Schuhsohlen zeigen).

1.2 Modernisierungsschübe als Indikatoren kultureller Umbrüche

Solche Tendenzen entstehen aber nicht zufällig; vielmehr können sie kulturanalytisch als Indikatoren kultureller Umbrüche gesehen werden. Wie der Kulturwissenschaftler Thomas Macho (2002) hervorhebt, verweist das Reflexions- und Diskursobjekt Höflichkeit als »Sprache einer Weltgesellschaft« auf Übergänge, Brüche und Auflösungen soziokultureller Ordnungen. Jede epochenspezifische Wiederaufnahme der Reflexionen über Höflichkeit in alltagssprachlichen Diskursen indiziert Verschiebungen in der Lebenswelt, die von Individuen wahrgenommen und thematisiert werden; die Formulierung von neuen Verhaltensstandards – wie Anweisungen zum höflichen Umgang mit Mitmenschen – kann immer auch als Antwort auf Unsicherheiten, kulturelle Umbrüche und Übergänge interpretiert werden, die sich durch sozialgeschichtliche Entwicklungen und Modernisierungsschübe ergeben haben (ebd., 10).

Wenn in den letzten Jahren in Deutschland also vermehrt öffentliche Debatten über Höflichkeit oder auch Disziplin (Schule) geführt worden sind, so deshalb, weil die entsprechenden Werte – auch in Abgrenzung zur anti-autoritären Bewegung der 1970er Jahre – eine Renaissance erfahren haben und wieder besonders hoch geschätzt werden. Überdies kristallisieren sich neue Probleme heraus, die für das alltägliche Leben zunehmend an Relevanz gewinnen, sowie Probleme in neuen Anwendungsfeldern, für die entsprechend neue Verhaltensstandards formuliert werden müssen. Die oben angeführte Liste der Knigge-Literatur gibt einen ersten Eindruck von Themen, Tendenzen sowie neuen rekurrenten und zentralen Interaktionssituationen, die offensichtlich vom gesellschaftlich etablierten Repertoire an Verhaltensstandards nicht vollständig abgedeckt werden und deswegen neuer Formen der Bewältigung bedürfen. Höflichkeit ist ein außerordentlich dynamisches soziales Konstrukt. Was jeweils als höfliche Handlung, Geste oder Äußerung gilt, unterliegt einem permanenten soziokulturellen Wandel.

1.3 Aktualisierungen

Eine dieser neuen Tendenzen ist zweifellos die Entwicklung des Sprachgebrauchs in den neuen Medien. Mit der weitgehenden Verlagerung sowohl der privaten als auch der geschäftlichen Post ins elektronische Medium (E-Mails) stellen sich neue Fragen über die Angemessenheit von z.B. Anredeformen, Layout, Stil oder Abkürzungsformen. Für das Verhalten in Chats und Foren hat sich eine ›Netiquette‹ entwickelt; für die Betreiber und Nutzer solcher Kommunikationsformen bildet sie einen Orientierungsrahmen, wenn es darum geht, die Akzeptabilität und Angemessenheit von Äußerungen zu beurteilen. Es handelt sich hier also um eine domänenspezifische Ausprägung von Etikette.

Eine weitere Verunsicherung ergibt sich aus der zunehmenden Internationalisierung vieler Lebensbereiche: Begegnungen mit Menschen aus fremden Ländern und Kulturen, deren Verhaltensstandards von den eigenen zum Teil erheblich abweichen, werden im Rahmen gestiegener und steigender Mobilität immer häufiger. Mit ihnen wächst die Zahl von Situationen, in denen in der interkulturellen Kommunikation Ambiguitäten auftreten (vgl. dazu Kotthoff 2003).

Schließlich ist heute vor allem in westlichen Gesellschaften eine Veränderung des Sprachgebrauchs zu beobachten, der auf eine zunehmende Tendenz der Informalisierung schließen lässt. Das Wegfallen der Anreden mit Titel, die Verwendung salopperer Grußformeln (vgl. dazu Besch 21998) sind in Verbindung mit einer stärk er umgangssprachlich geprägten Lexik nur einige Indikatoren für mögliche Verschiebungen innerhalb des Stilspektrums, und zwar nicht nur in den Domänen privater Kommunikationspraxis überwiegend jüngerer Sprachteilhaber, sondern zunehmend auch bei Vertreterinnen und Vertreter der offiziellen Sprachkultur in den Domänen der Medien und der Politik.

Sprachliche Höflichkeit ist demnach ein Thema von hoher inter-kultureller und darüber hinaus auch intra-kultureller Relevanz.

2. Höflichkeit und interkulturelle Kompetenz

Unter interkultureller Kompetenz kann man nach Bolten (2007, 214) »das erfolgreiche ganzheitliche Zusammenspiel von individuellem, sozialem, fachlichem und strategischem Handeln in interkulturellen Kontexten« verstehen. Sie lässt sich nach Lüsebrink (2008, 9) als das Vermögen definieren, mit fremden Kulturen und ihren Angehörigen in adäquater, ihren Wertesystemen und Kommunikationsstilen angemessener Weise zu handeln (Verhaltenskompetenz), mit ihnen zu kommunizieren (Kommunikationskompetenz) und sie zu verstehen (Verstehenskompetenz).

Interkulturelle Kompetenz besteht zu einem beträchtlichen Teil auch in der Fähigkeit, das, was in der kulturspezifischen und auch intrakulturellen Kommunikation als höfliches Beziehungsmanagement verstanden wird, auf interkulturelle Kontexte zu übertragen. Viele der immer wieder beschriebenen und analysierten Critical Incidents in der interkulturellen Kommunikation beschreiben Situationen, in denen ein Sprecher in der Interaktion mit Partnern aus anderen Kulturen Themen anspricht, die dort Tabu sind, oder nonverbale Handlungen vollzieht, die in der betreffenden Situation als unangemessen oder beleidigend angesehen werden (jemandem die Schuhsohle zuwenden, Umgang mit der Visitenkarte, Nase schnäuzen, Geschenke austauschen usw.), Äußerungen zu direkt oder zu indirekt formuliert oder bei der Ausführung von Sprechhandlungen Fehler macht. In vielen Fällen handelt es sich um eine Nicht-Beachtung der Höflichkeitsstandards der anderen Kultur. Sprachliche Höflichkeit kann daher als eine Schlüsselkompetenz für die interkulturelle Kommunikation verstanden werden.

2.1 »Weltweit sicher auftreten«: Dos und Taboos

Verbreitete Ratgeber in Form eines Auslands-Knigge für den richtigen Umgang mit anderen Kulturen zielen denn auch darauf ab, den Rezipienten die ›richtigen Regeln‹ für rekurrente Kommunikationssituationen im Kontakt mit fremden Kulturen zu vermitteln. Häufig beschränken sich die Autoren auf vermeintlich allgemeingültige Listen mit »Dos and Taboos«, die zur ersten Orientierung in einer fremden Kultur sinnvoll sein mögen. Interkulturelle Kompetenz kann aber sicherlich nicht auf eine Anpassung an fraglos gegebene und zu befolgende Verhaltenstandards und auf ein Repertoire von bloßen Vermeidungstechniken beschränkt werden.

Dies veranschaulicht die folgende Begegnungssituation, die hier aus dem Lehrwerk studio d aus dem Jahre 2007 entnommen wird:

Abbildung 1: studio d B1 (2007, 126)

Das Komische dieser Darstellung beruht auf dem Effekt einer »doppelten Vermeidungsstrategie«, die die kulturtypischen Differenzen im Begrüßungsverhalten gerade nicht aufhebt, sondern paradoxerweise wieder herstellt!2

2.2 Vom beschränkten Erklärungswert von ›Kulturstandards‹ und Kulturkontrast-Modellen

Vorausgesetzt werden in der Fachdiskussion über kulturspezifische Kommunikationsstile und Formen von Höflichkeit in sehr vielen Fällen Modelle zur Beschreibung und Analyse von kulturellen Unterschieden, wie die Kulturdimensionen (Hofstede) oder Kulturstandards (Thomas). Während Dos and Taboos als Verhaltensvorschriften oft zu konkret formuliert sind, erscheinen diese Modelle demgegenüber zu abstrakt, um praktisch verwertbare Beschreibungen von Kulturen liefern zu können. Beispiele für polare Differenzen sind etwa: Individualismus versus Kollektivismus, Vergangenheitsorientierung versus Zukunftsorientierung, Demokratie versus Hierarchie usw. In der Anwendung auf unterschiedliche Kulturen werden generelle Typisierungen vorgenommen, die durch Korrelationen mit anderen Parametern zur Ausprägung von Kulturstandard-Profilen verschiedener Gesellschaften führen. Dazu bemerkt Heringer im Anschluss an einen Überblick über solche Modelle kritisch:

Die vorgestellten Aspekte, Kontraste und Dimensionen werden sozusagen als Basiswissen der Interkulturellen Kommunikation angesehen. Sie erscheinen eher wie kulturwissenschaftliche Beschreibungen von außen in einer scheinobjektiven Beschreibungssprache. […] Es bleibt immer der Blick von oben und von außen. (Heringer 2004, 158)

Der Weg vom Konstrukt des Kulturstandards zum Stereotyp ist also nicht weit (ebd., 196). An der kontrastiven Gegenüberstellung vermeintlich klar abgrenzbarer Kulturen wurde schon verschiedentlich Kritik laut (vgl. dazu Hinnenkamp 1994), vor allem von Vertretern des Transkulturalitätskonzepts wie Wolfgang Welsch. Als Erklärungsmodell für die interkulturelle Kommunikation scheinen solch bi-polar angelegte Modelle jedenfalls unzureichend (vgl. dazu Neuland 2008).

Dies sei an einem Beispiel aus einem Lehrwerk veranschaulicht: In Stufen 3 aus den 1990er Jahren wird in vorgeblich eindeutiger tabellarischer Kontrastierung angeführt, wie man »hier« und »bei uns« sagt – ohne Bezug zum jeweiligen Interaktionskontext, zur Kommunikationssituation und zur Partnerorientierung im konkreten Fall.

Abbildung 2: Stufen 3 (1989, 121)

2.3 Interkulturelle Kommunikation ›ohne Sprache‹?

Zudem fällt bei diesem Beispiel ein Effekt auf, den ich als interkulturelle Kommunikation ›ohne Sprache‹, also als bloße ›Realienkunde‹ bezeichnen möchte. Dies zeigen auch weitere Aufgaben zu »Begrüßungen« aus dem oben genannten Lehrwerk: Es geht um begrüßende Handreichung, kaum aber um sprachliche Begrüßungsformen. Was in der Tat in der Diskussion und vor allem in der Forschung über interkulturelle Kommunikation fehlt, ist die empirisch fundierte, konkrete Beschreibung von kulturbedingten Unterschieden im Kommunikationsverhalten von Individuen und die präzise Analyse der Dynamik von interkulturellen Kommunikationssituationen und den damit verbundenen Prozessen des interaktiven Aushandelns einer angemessenen Kommunikationsebene. Hier lässt sich eine wichtige Aufgabe für kulturvergleichende Ansätze in der Linguistik und Semiotik ausmachen. Lüsebrink (2005, 176) folgert:

So liefert z.B. die noch in den Anfängen steckende vergleichende Forschung zu Kommunikationsstilen wichtige Erkenntnisse auch über den Verlauf und die potentiellen Missverständnisse in interkulturellen Kommunikationssituationen. Dies gilt etwa für Höflichkeitsstile […].

3. Höflichkeit als Gegenstandsfeld der interkulturellen Sprachdidaktik

3.1 Interkulturelle Kompetenz als Leitziel und die Stellung der GER/Profile Deutsch

Mit der Entwicklung der interkulturellen Sprachdidaktik wurde die interkulturelle Kompetenz und noch spezifischer: die Kommunikationsfähigkeit zum Leitziel erhoben, und zwar zum Teil kontrastiv, zum Teil aber auch korrespondierend zur kommunikativen Kompetenz. Als Lernziele für die Sprachdidaktik werden genannt:

Auch der GER/Profile Deutsch (Glaboniat u.a. 2002, 37) greift die interkulturelle Kommunikation als Schlüsselbegriff auf.3 In einem Abschnitt zu kulturspezifischen Aspekten im Referenzrahmen wird die Bedeutung der kulturellen Adäquatheit von Äußerungsformen, insbesondere sogenannten Alltagsroutinen wie Begrüßen und Verabschieden, Bedanken oder Hilfe anbieten, hervorgehoben. Die Termini ›soziokulturelles Wissen‹, ›soziolinguistische Kompetenzen‹ und ›interkulturelles Bewusstsein‹ sowie ›interkulturelle Fertigkeiten‹ werden eingeführt und Skalierungen der soziolinguistischen Angemessenheit vorgenommen, in denen auch die Höflichkeit berücksichtigt wird, z.B.:

Angesichts dessen verwundert aber die grundsätzliche Aussage, dass sich die Niveaubeschreibungen »nicht direkt mit dem deklarativen Wissen (Weltwissen, soziokulturelles Wissen, interkulturelles Bewusstsein) in Verbindung bringen« lässt, »da dieses Wissen nichts über die effektive sprachliche Kommunikationsfähigkeit aussagt. Profile deutsch konzentriert sich vielmehr – wie der Referenzrahmen – auf die Beschreibung von Aktivitäten und Aufgaben, die nicht in einem direkten Zusammenhang mit dem Wissen stehen (Glaboniat u.a. 2002).

In der Tat ist bei den Kernbeschreibungen in den relevanten Rubriken Interaktion mündlich bzw. Interaktion schriftlich von Interkulturalität und Höflichkeit auch keine Rede mehr, bis auf die denkwürdige Ausnahme:

Dieses Beispiel ist wirklich von ›gestern‹!

Insgesamt wird der problematische Eindruck erweckt, dass im Hinblick auf die Entwicklung einer interkulturellen Didaktik noch erhebliche Diskrepanzen, wenn nicht gar Widersprüche zwischen Ansprüchen und Realisierungsformen bestehen. Eine interkulturelle Didaktik ist – trotz einiger beeindruckender Ansätze (vgl. etwa Roche 2001, Müller-Jacquier 1999, Rößler 1994) – bis heute durchaus noch nicht systematisch, das heißt für alle Lernbereiche und Kompetenzfelder entwickelt.

3.2 Sprachliche Höflichkeit Vermittlung von sprachlichem und kulturellem Wissen

In einem Deutschunterricht, der darauf abzielt, die Fähigkeit zu vermitteln, in relevanten Kommunikationskontexten angemessen kommunizieren zu können, ist die Reflexion der Besonderheiten der eigenen wie der fremden Kultur unverzichtbar. Realisierungsformen der interkulturellen Sprachdidaktik finden sich neben dem Sprachunterricht mit der Kulturgebundenheit sprachlicher Ausdrucksformen und der interkulturellen Kommunikation auch im Literaturunterricht sowie in der Landeskunde (vgl. dazu Krumm 2007).

Dabei ergibt sich allerdings oft der Eindruck einer unzureichenden Verbindung von Sprach- und Landeskundeunterricht, denn letzterer beschränkt sich oft auf die Vermittlung von reinem Sachwissen.

Als ein mögliches Bindeglied zwischen Spracharbeit im engeren Sinne und Vermittlung von kulturellem Wissen bietet sich das Thema sprachliche Höflichkeit an.

3.3 Reflektierte Höflichkeit als Lernziel

Der Umgang mit sprachlicher Höflichkeit ist für Fremdsprachenlerner besonders schwierig, insofern es hierbei nicht mehr allein um Wortschatz- und Grammatikerwerb geht, und auch nur beschränkt um den Erwerb eines Inventars von Routineformeln, obwohl ein solches zunächst eine wichtige Hilfsfunktion erfüllen kann.

Folgen wir der neueren Höflichkeitsforschung, wie sie z.B. durch den Sammelband von Lüger (2001) mit dem Titel Höflichkeitsstile programmatisch skizziert wird, so geht es in der didaktischen Vermittlung hauptsächlich um die Wahl der je angemessenen Stilebene, die dann durch unterschiedliche sprachliche Mittel gehalten wird. Höflichkeit ist demnach als Handlungskompetenz vor allem, aber nicht nur in interkulturellen Kommunikationssituationen zu verstehen, wobei die textuelle Einbettung und die adressatenorientierte Gestaltung höflichkeitsrelevanter Phänomene eine zentrale Rolle spielen. Das Konzept von Stil als bewusster Gestaltungsform sprachlichen Handelns integriert einzelne sprachliche Merkmale, wie z.B. die grammatische Realisierung von Sprechakten, die Verwendung von Modalpartikeln oder den Ausdruck von Direktheitsgraden. Daneben spielen aber auch merkmalsübergreifende Gesprächstaktiken, wie z.B. Fokusverschiebungen, thematische Umleitungen, Depersonalisierungen und Abschwächungen sowie die Verwendung von Witz und Ironie, eine besondere Rolle.

Im didaktischen Kontext sollte ein angemessener Umgang mit Höflichkeit daher stets auch einen Ermessensspielraum und eine Bandbreite von Entscheidungsmöglichkeiten für die sprachliche Realisierung von Höflichkeitsstilen aufzeigen. Ein solches Verständnis von Höflichkeitsdidaktik könnte von einem Lernziel ausgehen, das ich (in Anlehnung an Haferland/Paul 1996 sowie Dieckmann u.a. 2003) als reflektierte Höflichkeit bezeichnen möchte. Dazu gehört das Bewusstmachen unterschiedlicher Sprachhandlungsmöglichkeiten, die den Lernern die Möglichkeiten für die Arbeit am sprachlichen Detail eröffnen. Für solche Reflexionen bieten wiederum die trans- und interkulturellen Erfahrungen der heutigen Lerner hervorragende Anlässe.

Lerner haben bereits transkulturelle Vorerfahrungen über kulturtypische Umgangsformen in der Zielkultur gewonnen, sei es durch eigene Aufenthalte oder durch den Austausch im Internet. Auch haben sie ein Wissen über die Koexistenz intrakulturell unterschiedlicher Höflichkeitsformen in der eigenen Kultur und über die Folgen kulturellen Wandels erworben. Belege für diese Thesen sind auch einer kleinen Studie zu entnehmen, die ich zum Kritisieren und Komplimentieren deutsch/türkisch kontrastiv durchgeführt und auf dem türkischen Germanistentag in Izmir vorgestellt habe. Dabei überraschte insbesondere, dass wir zwischen den beiden Probandengruppen türkischer DaF-Studierender aus Istanbul – und zwar einmal mit und einmal ohne Migrationshintergrund – in Deutschland nicht die erwarteten großen Unterschiede im Umgang mit sprachlicher Höflichkeit gefunden haben (vgl. dazu Neuland 2010b). Eine Erklärung für diesen Befund bietet ein aufschlussreicher Kommentar eines türkischen Studenten mit Migrationserfahrungen:

Ich bin 28 Jahre alt und in Nürnberg geboren (türkische und deutsche Staatsangehörigkeit). Kurzum kann gesagt werden, dass ich Bilingualist bin und Bikulturalität aufweise. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich in einer globalisierten Welt Menschen mit solchen »Kriterien« den Anfang eines Meilensteins ausmachen, weil sie die Brücke zwischen Kulturen sind. Ich kann mit Gewissheit und reinen Herzens sagen, dass ich weder Deutscher noch Türke bin […]. Ich schätze mich als glücklich, wie ich zwei Kulturen ganz gut kenne und Menschen verbinden kann.

4. Ein Blick in die Lehrwerkwirklichkeit

Werfen wir nach dieser programmatischen Sicht nun einen Blick in die derzeitige Lehrwerkwirklichkeit (vgl. zum Folgenden Neuland 2010b).

4.1 Analysemöglichkeiten

Die Suche nach entsprechenden Lehrwerkeinheiten und deren kritische Analyse kann nach unterschiedlichen Kriterien erfolgen:

Eine solche Analyse kann hier zwar nicht systematisch erfolgen; gleichwohl werden einige der Kriterien im Folgenden mitberücksichtigt, wenn es um die vordringliche Frage nach möglichen Entwicklungstendenzen bei der Behandlung des Themas sprachliche Höflichkeit in DaF-Lehrwerken geht.

4.2 Entwicklungstendenzen

Aufschlussreich erscheint als leitende Fragestellung, ob in den letzten 30 Jahren, das heißt seit dem ersten Höhepunkt der Höflichkeitsforschung und der kontrastiven Pragmatik in den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, Veränderungen in der Thematisierung von sprachlicher Höflichkeit in DaF-Lehrwerken zu erkennen sind, ob also der Renaissance des Bedarfs im Alltag (siehe Kapitel 1) und dem Aufschwung der neuen Höflichkeitsforschung auch eine entsprechende didaktische Berücksichtigung folgt. Diese Frage haben wir durch eine kleine Auswahl von Lehrwerken aus den 1980er und den 90er Jahren sowie den Jahren 2000 bis heute zu beantworten versucht.

Zusammenfassend können folgende Tendenzen als Ergebnisse der stichprobenhaften Analyse festgehalten werden:

Lehrwerke der ersten Generation (1980-1990) enthalten eine ertragreiche Ausbeute eigenständiger Unterrichtseinheiten, für die hier das Beispiel Höflichkeit und Etikette im Lehrwerk Stufen (1986ff.) im Umfang von ca. 20 Druckseiten angeführt werden soll. Zehn Aufgaben sind den Aspekten Wortschatz, Wortbildung und Redemittel gewidmet, eine umfangreiche Aufgabe dem Informationsaustausch und drei Aufgaben der Grammatik mit dem Schwerpunkt Konjunktiv II.

Für die Einübung von Redemitteln werden u.a. Multiple-Choice-Aufgaben präsentiert, deren Auswahlantworten nicht gerade wirklichkeitstreu sind:

Abbildung 3: Stufen 3 (1989, 116)

Wie auch schon das in Kapitel 2.2 aus diesem Lehrwerk angeführte Beispiel zum Informationsaustausch zeigte, liegt vielen Aufgaben in Orientierung an die damals vorherrschende kontrastive Grammatik ein bipolares Kulturkon-trastmodell zu Grunde, das in tabellarischer Auflistung zwischen »hier« und »bei uns« unterscheidet.

Auch im Lehrwerk Sprachbrücke 1 (1987) findet sich zur Höflichkeit ein eigenständiges Kapitel, Menschliches – allzu Menschliches, das Aufgaben enthält wie: »Höflich – aber unverständlich« (A1), »Höflich oder unhöflich?« (A3), »Höflich sein = lügen?« (B1). Es geht weiterhin um »Wahrheiten – nicht ausgesprochen« (B3), auch beim »Schimpfen« (B5), womit auf das ethische Problem von Höflichkeit und Wahrhaftigkeit angespielt wird.

Abbildung 4: Sprachbrücke 1 (1987, 196)

In der folgenden Generation, für die hier die beiden Lehrwerke Themen neu 3 (1994) sowie Sichtwechsel neu 3 (1996) stehen mögen, sucht man vergeblich nach eigenständigen Lehreinheiten. Themen neu 3 bietet zwar ein Kapitel über sprachliche Konventionen, in dem u.a. Anredeformen behandelt sowie Rollenspiele mit Hilfe von Redemitteln durchgeführt werden sollen. Daneben geht es aber auch um Männer- und Frauensprache und um Sprache der Gefühle, so dass sich der Eindruck eines ›Gemischtwarenladens‹ einstellt. In einer Aufgabe sollen vorgegebene Äußerungen im Hinblick auf Höflichkeitsgrade eingesetzt werden, allerdings ohne Berücksichtigung von Adressaten und Situationstypen, z.B.:

Dürfte ich bitte mal das Salz haben?

Das Salz!

Ich brauche mal das Salz. (S. 71)

Im Lehrwerk Sichtwechsel neu 3 stoßen wir in einem Unterkapitel auf das Stichwort »höflich« mit der Aufgabenstellung, in vorgegebenen Situationen erwartungsgemäße und zugleich höfliche Antworten zu formulieren (S. 87), ohne dass weitere Begründungen und Reflexionen angeregt werden.

Wie geht nun die Entwicklung nach der Jahrhundertwende weiter? Dazu lässt sich überblicksartig festhalten, dass die Tendenz zur Integration des Themas weiter zuzunehmen scheint. Im Lehrwerk Berliner Platz finden wir in einem Kapitel über Jung und Alt, Unterkapitel Im Alltag, die Aufgabe »Fragen besonders höflich formulieren«, die mit Hilfe einer vorgegebenen Liste von Redemitteln gelöst werden soll. In einem Abschnitt über Essgewohnheiten finden sich Beispiele für das Komplimentieren (z.B. »Mensch, ich habe gar nicht gewusst, dass du so gut kochen kannst?«) immerhin in dialogischer Einbettung (»Ach, weißt du, ich koche einfach gern«), die von den Lernern zu rekonstruieren ist (S. 30). Ähnliche disparate Beispiele finden wir in den Lehrwerken Aspekte und Optimal.

Betrachten wir nun zum Abschluss das Lehrwerk studio d mit Beispielen aus dem Kapitel Peinlich – Peinlich, das aufschlussreich für die künftige interkulturelle Entwicklung von Lehrwerken scheint. Nach einer Einleitung über Pleiten, Pech und Pannen (1) wird gefragt »Was sagt der Knigge?« (2). Leider beziehen sich die Ausführungen nur auf allgemeines Verhalten, und die darauf bezogene sprachliche Übung (Nebensätze mit obwohl) ist nicht sonderlich mit dem Inhalt verbunden. Im nächsten Schritt geht es um Knigge international (3), wobei u.a. »Smalltalk-Regeln« für »Andere Länder, andere Sitten« nach dem Arm-Zonen-Modell des Biologen Desmond Morris angeführt werden (z.B. sei alles Private in »Ellenbogenländern« ein treffendes Smalltalk-Thema, während in »Fingerspitzen-Staaten« Gespräche über das Privatleben teilweise tabu seien; S. 125). Auch die folgenden Beispiele für Critical Incidences, von denen wir bereits eines in Kapitel 2.1 demonstriert haben, legen nahe, dass den Aufgabenstellungen immer noch ein Kulturkontrastmodell zu Grunde liegt, wenn z.B. gefragt wird: »Worauf müssen Ausländer in ihrem Land achten, formulieren sie Ratschläge z.B. das macht man bei uns nicht … bei uns sollte man«.

4.3 Desiderate

Sowohl die Tendenz zur Integration als auch die zur Interkulturalisierung von sprachlicher Höflichkeit in Lehrwerken sind zunächst einmal begrüßenswert. Doch ist zugleich auf folgende Probleme hinzuweisen:

Diese Desiderate sollten bei der künftigen Lehrwerkentwicklung als produktive Herausforderung angesehen werden.

Anmerkungen

1 | Im Rückgriff auf Ehrhardt/Neuland 2009.

2 | Földes (2007, 21) nennt eine solche interkulturelle Kommunikation »invers«.

3 | Vgl. hierzu Europarat. Rat für kulturelle Zusammenarbeit: Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen. Strassburg 2001 (online unter: www.goethe.de/z/50/commeuro/deindex.htm [30.09.2010]).

4 | Anregungen dazu im Themenheft »Interkulturelle Kommunikation – Interkulturalität« der Zeitschrift »Der Deutschunterricht« (2008) sowie im Sammelband Ehrhardt/Neuland 2009.

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