This article presents possibilities for making the academic teaching in the field of German medieval studies attractive and for keeping it up-to-date. For these purposes, the Middle High German Book of Nature by Konrad of Megenberg (1309-1374) dating from the 14th century provides suitable means. Like few others, the book as the first encyclopedia in the German language can be regarded as an ›intercultural intertext‹. Konrad’s Book of Nature draws upon the knowledge of centuries of natural history and natural philosophy. The numerous short articles reveal the complexity of cultural history combining Oriental pagan and Western Christian traditions.
Dieser Beitrag ist nicht zuletzt motiviert durch drängende Fragen wie diese: Welchen Stellenwert hat die Germanistische Mediävistik in aktuellen ›germanistischen‹ Studiengängen? Welche Kompetenzen soll ein Teilfach wie die Germanistische Mediävistik vermitteln?
Am Beispiel eines faszinierenden mittelalterlichen ›Intertextes‹, des frühneuhochdeutschen Buchs der Natur Konrads von Megenberg aus der Mitte des 14. Jahrhunderts (ca. 1348-1350), möchte ich verdeutlichen, welche Chancen die Lektüre und Analyse eines solchen Textes für einen modernen, attraktiven text- und kulturgeschichtlichen Unterricht im Rahmen eines Germanistik-Studiums bietet.
Dass ein solcher Beitrag in einer Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) erscheint, überrascht auf den ersten Blick vielleicht. Das liegt daran, dass der Begriff ›Interkulturalität‹, schaut man sich in der entsprechenden Fachliteratur um, einerseits recht neu und von daher noch wenig definitorisch gefestigt ist; so schreiben die Herausgeber der ZiG im Editorial zur ersten Ausgabe 2010: »Dass man nicht immer weiß, wovon eigentlich gesprochen wird, hängt mit der Vielstimmigkeit dieser Rede zusammen.« Andererseits weist ›Interkulturalität‹ eine gewisse sprachwissenschaftliche Lastigkeit auf (vgl. Földes 2009), meist verbunden mit schulpolitischen Forderungen nach Integration von Schüler/innen mit Migrationshintergrund (vgl. Auernheimer 2008). Darum geht es mir hier nicht.
Wenn ich das Buch der Natur (im Weiteren: »BdN«) als einen interkulturellen Text oder Intertext bezeichne, dann meine ich damit Folgendes: Das Buch der Natur ist wie kein anderes ein Dokument kultureller Längs- und Querschnitte. Es vereint – als ein mit zahlreichen Intertextualitätsmarkern durchsetztes Zitatengewebe – antikes und hochmittelalterliches Wissen sowie nahöstlich-muslimisches und westlich-christliches in stupender ›Harmonie‹. Sich damit auseinander zu setzen, öffnet Horizonte, schärft den historiografischen Blick und regt an, über Vorurteile nachzudenken.
Spätestens seit der »Bologna-Reform« und der Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge (deren Struktur auch auf die alten Lehramtsstudiengänge übertragen wird) sehen sich insbesondere die Geisteswissenschaften – unter ihnen selbstverständlich auch die Germanistik – (wieder einmal) Legitimationszwängen ausgesetzt. Insbesondere war und ist die Verankerung der ›Älteren Germanistik‹ in BA-/MA- und Lehramtsstudiengänge kein leichtes Unterfangen (gewesen). Das politische Zauberwort der ›Schlüsselqualifikation‹ stellt(e) viele traditionelle Studieninhalte in Frage. So musste sich der Autor dieses Beitrags etwa im Zuge der Akkreditierung des Lehramtsstudiengangs Deutsch an der RWTH Aachen fragen lassen, welchen tieferen Sinn es habe, dass sich angehende Deutschlehrerinnen und -lehrer mit unverständlichen und weltfernen Texten des Mittelalters beschäftigen müssen. Solche Fragen sekundieren vielen Studierenden, die, getrieben von Zeitdruck, Studiengebühren und engem Input-Output-Denken, ebenfalls an der Relevanz und ›Notwendigkeit‹ altgermanistischer Lehrinhalte (ver-)zweifeln.
Als Fachvertreter bezieht man selbstverständlich eine andere Position, schon aus Gründen der Selbsterhaltung. Dennoch ist es nötig, auf die veränderten Rahmenbedingungen und die veränderten studentischen Perspektiven angemessen zu reagieren. Das kann und muss auf vielerlei Wegen geschehen, darunter sicher auch hochschulpolitischen.
Hier aber möchte ich einen anderen Weg skizzieren. Es geht mir darum, zu zeigen, welche neuen Akzente ein germanistisch-mediävistischer Unterricht setzen kann, der sich zumindest partiell von traditionellen Inhalten löst und neuen Quellenparadigmen zuwendet. Den folgenden Ausführungen liegen mehrjährige praktische Lehr-Erfahrungen mit solchen ›neuen‹ Quellen zugrunde. Ich richte mich einerseits an Kolleginnen und Kollegen, die Interesse daran haben, den altgermanistischen Unterricht auch einmal mit anderen Themen als dem Minnesang oder dem Nibelungenlied zu füllen, und andererseits an Studierende unseres Faches, um sie darauf hinzuweisen, welche Möglichkeiten es gibt, sich quellenorientiert (und mit nicht wenig Unterhaltungswert) mit den verschlungenen Pfaden unserer Kultur-Geschichte auseinanderzusetzen. Ich habe besonders mit Blick auf die letztere Rezipientengruppe einen größeren Fußnotenapparat eingerichtet, der viele einschlägige Verweise auf Material enthält, das für ein selbstständiges Weiterarbeiten geeignet ist.
Im Laufe der Geschichte der Disziplin ›Germanistik‹ hat es zahlreiche Paradigmenwechsel sowohl methodologischer als auch quellentypischer Art gegeben. Zwar waren bereits die Anfänge im frühen 19. Jahrhundert von der Suche nach und der editorischen Aufbereitung von herausragenden ›poetischen‹ Meisterwerken dominiert, doch widmeten sich die Brüder Grimm und ihre Fachkollegen mit ähnlicher Intensität auch ganz anderen Quellen, etwa Rechtstexten, Legenden, Heiligenviten, religiösen Texten unterschiedlichster Art und auch der Fachliteratur1 im engeren Sinne, darunter besonders enzyklopädisch aufbereiteten naturkundlichen Texten.2
Einen Höhepunkt erlebte diese Aufarbeitung volkssprachlicher Fachliteratur 1861 durch die Edition von Konrads Buch der Natur durch Franz Pfeiffer (1815-1868). Dieser hatte den gewaltigen Wert des Buches erkannt: »[…] denn einem Werke, das eine frühere Zeit so hoch gehalten hat, muss ein mehr als bloss verübergehender Werth inne wohnen« (Pfeiffer 1994, VI). Und weiter:
Der Inhalt des Buches ist, wie man sieht, mannigfaltig und belangreich genug, um nach verschiedenen Seiten hin die Aufmerksamkeit zu erregen. Gewiss verdient es, vor vielen anderen Denkmälern des Mittelalters, der Gegenwart näher gerückt zu werden, und schon als erste deutsche populäre Naturgeschichte darf es auf Beachtung Anspruch machen in einer Zeit, die den Naturwissenschaften die ausgedehnteste, nachhaltigste Pflege zu Theil werden lässt. (Ebd., VII)
Nun war eine der bedeutendsten wissenschaftsgeschichtlichen Quellen einem universitären, vielleicht auch außeruniversitären Publikum leicht zugänglich und durch ein beachtliches Spezialglossar auch lexikografisch und semantisch erschlossen. Die Edition leitete aber (leider) nicht einen Siegeszug der Fachliteratur in den Kanon germanistischer Textwelten ein. Im Gegenteil: Mehr und mehr wurde diese Art von Textkultur aus dem akademischen Unterricht ausgeschlossen (sie galt teilweise gar als verpönt), und ihr gewidmete wissenschaftliche Studien wurden immer rarer. Bis in die 1960er Jahre ›dümpelte‹ die deutschsprachige Fachliteratur stiefmütterlich behandelt vor sich hin. Nur wenige Pioniere, darunter der Fachkollege Gerhard Eis und der äußerst umtriebige Medizinhistoriker Gundolf Keil, arbeiteten hartnäckig an der Erschließung der so wichtigen kulturgeschichtlichen Quellen weiter. Mit den Paradigmenwechseln im Zuge der Neukonstituierung der Germanistik in der ›Nach-1968er-Zeit‹ erhielt die Fachliteratur eine neue Chance.3 Der Textbegriff wurde erheblich erweitert: Nun rückten auch ›unschöne‹ Texte in den Fokus der Philologen (Jauß 1968) und solche wie die enzyklopädischen Mikrotexte im Buch der Natur (z.B. über das Gehirn, den Hasen, die Petersilie, das Einhorn usw.).
Prosatexte vielfältiger Art und ihre Überlieferung erweiterten das Quellenspektrum.4 Das Würzburger Medizinhistorische Institut unter der Leitung Keils5 konnte der volkssprachlichen Wissenschaftsprosa des Mittelalters mehr und mehr Beachtung verschaffen. Eine Menge neuer Texteditionen und Fachprosastudien entstanden. Hier herausgehoben seien die Editionen des Lucida-rius (1994) und des Buch der Natur (2003) von Georg Steer und Robert Luff. Mit Blick auf Konrad verfügen wir somit neben der Pionierausgabe von Franz Pfeiffer nun auch über eine modernen Prinzipien verpflichtete Neuausgabe (Bein 2008). Wünschenswerter können Rahmenbedingungen für die Beschäftigung mit Texten – in Forschung und Lehre – nicht sein.
Hinzu kommt, dass die Ausgabe von Pfeiffer als Pdf-Datei bei Google-Books kostenlos herunterzuladen ist.6 Zwar stellt sie nach Erscheinen der steer-luffschen Neuedition nicht mehr die ›erste‹ Wahl dar, doch hat sich gezeigt, dass die Differenzen im Detail nicht allzu groß sind,7 so dass es insbesondere für Schülerinnen/Schüler und Studierende nach wie vor möglich und auch wissenschaftlich vertretbar ist, über die alte Ausgabe einen guten Einblick in Struktur und Inhalt des Buches der Natur zu gewinnen (die neue Edition ist überdies so teuer, dass sie vornehmlich nur von Bibliotheken wird angeschafft werden können).8
Der Text liegt also bereit – man muss ihn nur zu lesen beginnen. Ich habe an der RWTH Aachen seit rund einem Jahrzehnt immer wieder das Buch der Natur in meinen akademischen Unterricht integriert – neben den ›Klassikern‹ Minnesang, höfische Epik oder Sangspruch-Dichtung. Der Erfolg war und ist groß. Studierende erkennen schnell das immense Potenzial und die (zumindest auf den ersten Blick so wirkende) Unmittelbarkeit des Textes; seine Realitäts-referenz erzeugt produktives Erstaunen, Sich-Wundern, Nachfragen. Der Wechsel von zum Lachen reizenden abstrusen bis ›abenteuerlichen‹ Vorstellungen (z.B. von der Funktionalität der Gebärmutter) mit erstaunlich ›modern‹ anmutenden Wahrnehmungen relativiert den eigenen Standort, regt an, über Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis überhaupt zu reflektieren und sich Gedanken darüber zu machen, wie so etwas wie ›Wissenschaft‹ funktioniert. Gleichzeitig kann über die gerade für Anfänger recht einfache Prosasprache Konrads auf sprachliche Eigenheiten des Frühneuhochdeutschen hingewiesen werden und weiter auf zaghafte Ansätze zu einer deutschen Fachsprache.9
Fachliteratur – und insbesondere das Buch der Natur – stellt eine große Chance für einen akademischen Unterricht dar, der kulturgeschichtliche Studiengänge (in einem umfassenden Sinne verstanden) versorgt. Die Germanistik ist eine Textwissenschaft; Texte sind kulturelle Artefakte in Raum und Zeit und somit kulturgeschichtliche Quellen. Der Textwissenschaftler und -historiker wertet seine spezifischen Quellen mit immer wieder neu konturierten Methoden aus, und diese Auswertung – man mag auch sagen: Analyse oder etwas traditioneller: Interpretation – geschieht nicht um ihrer selbst willen, sondern steht im Dienst einer umfassenden historiografischen Aufgabe der Menschheit: zu sichern und zu verstehen versuchen, woher man kommt, um besser einschätzen zu können, wohin man geht.10
Es gibt viele Textquellen, die für diese Aufgabe zu untersuchen sind – einen Typ stellt die (enzyklopädische) Fachliteratur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit dar.11 Sich mit ihr zu beschäftigen, ist besonders für Studierende von großem Wert, denn sie sollen ja während ihrer universitären Ausbildung (die im Falle eines ›Germanistikstudiums‹ ja keine Berufsausbildung ist12) vielfältige Sprach- und Kulturkompetenzen erwerben: Sie sollen verstehen lernen, welche Geschichte ihre Muttersprache hat, sie sollen die Bedeutung des gewaltigen medialen Schritts von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit erkennen, sie sollen die üppigen Leistungen des Schriftmediums für die Entwicklung zahlreicher kultureller Räume (im wörtlichen und übertragenen Sinn verstanden) ermessen können, sie sollen einschätzen lernen, welchen Ort sie selbst in welchem interkulturellen Netzwerk besetzen und wie sich dieses Netzwerk über viele Jahrhunderte bis Jahrtausende entwickelt hat.
Konrads von Megenberg Buch der Natur ist in herausragender Weise geeignet, den Erwerb solcher (inter-)kultureller Kompetenzen zu fördern. Denn: Wie in nur wenigen anderen Fällen können wir die zahlreichen (oft weniger als eine Druckseite umfassenden) Texte im Buch der Natur als ›Fenster‹ in reiche, vielfältige Kulturtraditionen betrachten. Indem wir die Texte lesen, bemühen wir uns, durch diese Fenster hindurch zu schauen – was nicht einfach, aber lohnenswert ist. Die Fenster sind teilweise blind, zerkratzt, verschmutzt, teilweise geben sie das, was hinter ihnen ist, nur verzerrt und prismenartig gebrochen wieder. All unsere philologischen und hermeneutischen Bemühungen dienen dem Zweck, die Text-Fenster durchsichtiger zu machen, so dass wir – sicher niemals in ganzer Klarheit – erkennen, was sich hinter ihnen verbirgt – in unserem Zusammenhang bedeutet das: Einblicke in Genesen und Zustände (inter-)kultureller Netzwerke zu erhalten.
Der Autor (geboren um 1309 in Mittelfranken, gestorben 1374 in Regensburg) darf zu den produktivsten Intellektuellen des 14. Jahrhunderts gerechnet werden. Er ist Verfasser bedeutender theologischer, staats- und kirchenpolitischer, moralphilosophischer und naturkundlicher Schriften, die meisten auf Latein verfasst,14 einige aber auch auf Deutsch.15 Er absolviert vor 1334 das Artes-Studium an der Pariser Universität und erwirbt dort den Magistergrad. 1342 bis 1348 ist er Rektor der Wiener Stephansschule und leitet das gesamte Wiener Schulwesen. Die längste und letzte Wirkungsstätte ist Regensburg, wo er seit 1348 bezeugt ist (vgl. Steer 21985).16
Konrads Interesse an naturkundlichen Dingen ist groß. Er übersetzt das astronomische Werk Sphaera mundi des Johannes von Sacrobosco ins Deutsche (Megenberg 1980), lässt sich aus über Gründe für Erdbeben und widmet sich schließlich – während einer der schlimmsten in Mitteleuropa wütenden Pestepidemien, der etwa ein Drittel der europäischen Bevölkerung zum Opfer fällt17 – der reflektierten Übersetzung des Naturkundebuchs Liber de natura rerum des Thomas von Cantimpré (auch Thomas Cantimpratensis genannt). Konrads Werk ist ein ungemein großer Erfolg beschieden, was man an den noch heute greifbaren über 150 nach Art, Alter, Umfang und Qualität zu differenzierenden Textzeugen erkennen kann18 (ein Erfolg, der weit hinausgeht über die handschriftliche Verbreitung fiktionaler Texte, etwa des Artus-Romans Iwein, des Gralsromans Parzival oder des Tristan-Romans). Von den zahlreichen Zeugen ist wohl die Münchner Pergamenthandschrift der Bayerischen Staatsbibliothek, der C[odex] g[ermanicus] m[onacensis] 38 aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, die autornächste; sie liefert für die beiden oben genannten Editionen (Pfeiffer 1994 u. Luff/Steer 2003) die Textgrundlage.
Der Verfasser von Konrads Hauptquelle ist rund ein Jahrhundert vor Konrad ein nicht minder produktiver Geist: um 1200 in der Nähe von Brüssel geboren, etwa 1270 gestorben, Augustinerchorherr und (seit 1232) Dominikaner; Studium in Köln bei Albertus Magnus (um 1200 bis 1280). Etwa eineinhalb Jahrzehnte lang sammelt er Material für eine enzyklopädische Großtat: den Liber de natura rerum, den er 1241 abschließen kann. Hier finden wir ein reiches »Netzwerk verschiedenartiger Informationen über die Natur« (Hünemörder 1999) vor, gespeist aus vielen Quellen unterschiedlicher Provenienz, darunter Plinius der Ältere († 79. n. Chr., Hauptwerk: die Naturalis Historia, eine gewaltige und lang nachwirkende Naturenzyklopädie19), Solinus (ein Grammatiker und Kompilator des 4. Jahrhunderts n. Chr., Hauptwerk: De mirabilibus mundi (›Von den Wundern der Welt‹), Ambrosius von Mailand (Kirchenvater, 4. Jahrhundert), Jakob von Vitry (um 1160/70 bis 1240, bedeutendes Werk in unserem Kontext ist die Orientalis et occidentalis Historia) und Wilhelm von Conches (um 1080/1090 bis nach 1154), einer der großen Naturphilosophen der berühmten »Schule von Chartres«.20 In den meisten genannten Quellen und ›Zwischenquellen‹ findet sich immer wieder eine besonders wichtige Autorität: Aristoteles. Seine Ansichten begegnen in zahlreichen Wissenskompendien wie z.B. in der Naturalis Historia des Plinius oder beim sogenannten Experimentator (s.u.). Thomas von Cantimpré selbst konnte aber auch – und damit unmittelbarer – zurückgreifen auf die lateinische Übersetzung einiger arabischer Aristoteles-Kommentare des Averroes (= Ibn Ruschd, 1126-1198) durch Michael Scotus (vor 1200 bis um 1235), ein in Toledo tätiger Gelehrter und Übersetzer, der nicht nur aristotelisches Gedankengut nach Mitteleuropa transferierte, sondern auch zahlreiche genuin arabische naturkundliche Erkenntnisse. Damit ist er ein wichtiger Vermittler nahöstlicher Wissenskultur, die die westliche in den folgenden Jahrhunderten insbesondere im Bereich der Medizin nachhaltig beeinflusste.21
Der Liber de natura rerum des Thomas war ungemein erfolgreich. Noch heute sind über 100 Handschriften bekannt; die Textkritik geht indes davon aus,22 das nur zwei den ursprünglichen Text bieten, während die übrigen bereits Ergebnisse produktiver Rezeption darstellen.23 Nach den Forschungen von Christian Ferckel (1912) und Annemarie Brückner (1961) nimmt man an, dass Konrad eine gekürzte Fassung des lateinischen Liber (die sogenannte Thomas III-Redaktion) als Vorlage für seine Übertragung benutzt hat.24
Thomas von Cantimpré hat aber nicht nur Einzelwerke studiert und exzerpiert, sondern – wie im Falle von Plinius dem Älteren – auch und exzessiv kleinere Exzerptensammlungen ausgewertet und verwendet. Hier ist ein anonymes Werk besonders herauszustellen: eine lateinische Naturkundesammlung des 13. Jahrhunderts, die Thomas benutzt und aus der er zitiert, wobei er die Zitate einem »Experimentator« zuschreibt, der seinerseits zahlreiche Quellen ausgewertet und zusammengestellt hat (vgl. Deus 1998).25 Janine Deus paraphrasiert:
Am Schluß [des Prologs] werden die Autoren der im Werk benutzten Quellen genannt: Isidorus, Gregorius, Beda, Dionysius, Basilius, Ambrosius; für Buch XII fälschlicherweise Plato (anstelle von Platearius); für Buch VI Aristoteles, Macrobius, Marcianus, Alphraganus, Ptolemaeus; für die Inhalte bezüglich der Komplexionenlehre (nach der das Überwiegen eines Saftes im menschlichen Körper, also Blut, Schleim, gelbe oder schwarze Galle, Aussehen, Charakter und Krankheitsdispositionen eines Menschen bestimmt) Aristoteles und Constantinus […]. (S. 11)26
Die knappe Tour d’Horizon zu den im lateinischen Liber des Thomas von Cantimpré und in der ›Experimentator‹-Sammlung bezeugten Gewährsleuten sollte Folgendes verdeutlicht haben: Mittelalterliche Natur-›Wissenschaft‹ ist ein kompilatorisches Geschäft – man sucht in der Vergangenheit nach ›berühmten‹ Männern, die sich mit dem Menschen, der Natur, dem Kosmos, dem Irdischen oder Überirdischen beschäftigt haben und trägt deren Erkenntnisse, die so gut wie nicht bezweifelt werden, zusammen. ›Wahrheit‹ ist über die schriftgestützte Auctoritas (die ›Autorität‹) der Gewährsleute garantiert.
Jahrhunderte und Jahrtausende werden auf drei, vier Pergamentblattzeilen mit der Nennung von Namen wie ›Hippokrates‹ (5./4. Jahrhundert v. Chr.), ›Aristoteles‹ (4. Jahrhundert v. Chr.), ›Galen‹ (röm. Arzt; 1./2. Jahrhundert n. Chr.), ›Plinius‹ (1. Jahrhundert n. Chr.), Experimentator (13. Jahrhundert) und vielen anderen durcheilt – ohne Bewusstsein um die Problematik solcher Zeitverdichtungen. Ebenso beeindruckend sind die weit gestreuten geografischen und damit kulturellen Räume, die scheinbar problemlos und harmonisch neben- und miteinander vereinbar sind: die antike griechische und römische Welt, die mittelalterliche arabische (besonders Nordafrika, heutiger Iran und Irak, Usbekistan), die spanische und mitteleuropäische Welt. Und schließlich begegnen wir großen ideologischen, als solche aber mit keinem Wort problematisierten Differenzen zwischen den oft unmittelbar nebeneinander platzierten Gelehrten: ›heidnische‹ Griechen neben christlichen Kirchenvertretern (z.B. Isidor von Sevilla, Bischof von Sevilla, 6./7. Jahrhundert n. Chr.27) und solche wieder neben muslimischen ›Wissenschaftlern‹ wie Abu Bakr Muhammad b. Zakariya ar-Razi (= Rhazes), einem persischen Arzt (9./10. Jahrhundert), der – in Spanien latinisiert – einen großen Einfluss auf die Medizin im mitteleuropäischen Hochmittelalter hat.
Dieses im Wortsinne weltumspannende Wissensnetzwerk wird nun im 14. Jahrhundert durch Konrad auch denen vermittelt, die des Griechischen, des Arabischen und des Lateinischen nicht mächtig sind.
Wie man Konrads (gereimtem [!]) Prolog entnehmen kann, scheint sein Übersetzungswerk auf Skepsis gestoßen zu sein (Str. 4),28 aber ähnlich wie viele Jahrhunderte vor ihm Otfrid von Weißenburg29 rechtfertigt er sein Tun selbstbewusst, hier mit Verweis darauf, dass auch vor ihm bereits ›gewagte‹ Übersetzungsarbeiten Fuß gefasst hätten (Bibelübersetzungen aus dem Hebräischen ins Lateinische; des Boethius lateinische Übersetzungen griechischer aristotelischer Schriften30).
Anfangs glaubt Konrad, der Autor seiner Vorlage sei Albertus Magnus, doch am Ende seiner Übersetzungstätigkeit – nach zahlreichen Zweifeln an dort verschriftlichten Welterkenntnissen – wird er sehr skeptisch:
[D]ar umb sprich ich Megenberger, daz ich zweifel, ob Albertus daz puoch hab gemacht ze latein, wan er in andern püechern verr anders redet von den sachen dan daz puoch redet, er hab ez dann gemacht in der jugent, ê er seinem aigen sin volgt, wan daz puoch, daz ich auz der latein in daz däutsch hân pracht, daz ist ain gesamnet dinch der alten maister, sam der maister selber bekent an dem ende des puochs. (BdN, 430)
[Deshalb sage ich, der Megenberger, dass ich daran zweifle, dass Albertus das Buch auf Latein geschrieben hat, denn in anderen Büchern spricht er deutlich anders von den Dingen als in diesem Buch gesprochen wird; es könnte höchstens sein, dass er es in seiner Jugend geschrieben hat, noch bevor er eine eigene Anschauung entwickelt hatte, denn das Buch, das ich vom Lateinischen ins Deutsche übersetzt habe, ist eine Sammlung (von Ansichten) alter Meister, wie der Autor es am Ende selbst sagt.]
Das Zitat zeigt, wie belesen Konrad ist, wie reflektiert er seine Quelle betrachtet, wie ›philologisch‹ er sie mit anderen Texten von Albertus vergleicht und schließlich an dessen Verfasserschaft zweifelt. Konrad erkennt das kompilatorische Wesen seiner Quelle und mag sich von daher manche Ungereimtheit erklären (»ain gesamnet dinch« – ein Werk [»dinch«], aus Texten vieler Gelehrter [»maister«] zusammengesetzt).31
Am Ende – in einer Art Epilog – skizziert Konrad das »gesamnet dinch«, also seine Hauptquelle, noch etwas genauer:
An dem puoch ze latein hât ein maister gearbaitt fünfzehen jâr, als vil und er sein gemacht hât, und hât ez gesament auz der geschrift der hôhen maister, die haizzent Aristotiles, Plinius, Solînus, Ambrosius, der grôz Basilius, Isidorus, Augustînus, maister Jacobus von Viatico, der ain puoch hât gemacht von etleichen wunderleichen dingen in den landen über mer, daz hât er gehaizen orientalem historiam. er hât auch gevolgt den maistern, die haizent Galiênus, Physiologus, und hât gevolgt ainem puoch von den dingen, daz ze latein haizt liber rerum, und hât gevolgt den maistern, die haizent Adelînus, Philosophus, und dem puoch, daz haizt der alten väter sag und haizt ze latein veterum narracio, und hât gevolgt dem puoch ains maisters von der jüdischait von den edeln stainen, der hiez Tethel (BdN, 494).
[An dem lateinischen Buch hat ein Gelehrter 15 Jahre gearbeitet, und er hat es zusammengestellt aus den Schriften der großen Gelehrten, die heißen Aristoteles, Plinius, Solinus, Ambrosius, der große Basilius, Isidor, Augustinus, Meister Jacobus von Viatico, der ein Buch geschrieben hat von vielen wundersamen Dingen jenseits des Meeres, das nannte er »Orientalische Geschichte«. Er folgte ferner Gelehrten, die heißen Galen, Physiologus, und er orientierte sich an einem Buch, das auf Latein »Liber rerum« (»Buch der Dinge«) heißt, und folgte Gelehrten namens Adelinus, Philosophus und dem Buch, das ›Erzählung der alten Väter‹ heißt und auf Latein den Titel »Veterum narracio« (»Erzählung der Alten«) trägt, und er folgte dem Buch über Edelsteine eines jüdischen Gelehrten namens Tethel.]
Eine Reihe von Autoren und Texten haben wir bereits kennen gelernt, ein paar neue kommen hier hinzu – und Konrad selbst nennt im Laufe seiner naturkundlichen volkssprachlichen Darstellungen noch einige andere. Das ist das Prinzip mittelalterlicher Wissenschaft – man könnte fast sagen: ein außerordentlich redliches System, das uns heute einen komplexen Einblick gewährt in die antik-mittelalterlichen Anstrengungen, die Welt verstehen zu können.
Wir wissen nicht genau, für wen Konrad das Buch der Natur angefertigt hat, denn seine Aussage, er habe es im Dienst der Gottesmutter und »guote[r] freunde[] volprâht« (BdN, 54), ist wenig aussagekräftig. Vielleicht hat er auch gar keine spezifische Adressatengruppe anvisiert – abgesehen davon, dass es eine gewesen sein muss, die weitgehend des Lateins unkundig war. Sicherlich richtete er sich nicht an ›das einfache Volk‹ (wie Studierende es oft gern nennen), sondern das Schriftmedium setzt nach wie vor eine gebildete soziale Schicht voraus, die Zugang zu Bibliotheken hat (in Einzelfällen mag es freilich auch partielle mündliche Verbreitungen von Kapiteln, Abschnitten oder kompakten Kurzinformationen gegeben haben). (Wund-)Ärzte, (Laien-)Prediger, Hebammen, Köche, frühe Apotheker … dies sind Beispiele für denkbare Rezipienten:32 Sie haben ein (teils auch berufliches) Interesse an der Natur, am menschlichen Körper, am Vorgang der Geburt, an Erkenntnissen über den Makrokosmos, an der Lebensweise von Tieren, an der Wirkweise von bestimmten Kräutern oder am Aussehen von ›Monstern‹ – Kreaturen am anderen Ende der Welt.
Im Folgenden möchte ich anhand einiger ausgewählter Beispiele aus dem Buch der Natur zeigen, welchen interkulturellen Diskursen wir begegnen und welche didaktischen Chancen sie bieten. Da ich nur eine kleine exemplarische Auswahl vorstellen kann, liste ich hier das breite Themenspektrum, das mit zahlreichen Einzeltexten (nach Pfeiffers Edition 1994 mit 61233) im Buch der Natur vertreten ist, in Stichworten auf:
In zahlreichen Artikeln referiert Konrad die Erkenntnisse von Naturgelehrten, die er einmal »maister« nennt, dann auch öfter »vorscher [Forscher] der nâtûr«, z.B.: »ez sprechent etleich vorscher, daz die jungen vögel mit den füezen des êrsten in die werlt gên« (BdN, 193) [›es sagen viele Forscher, dass die jungen Vögel zu allererst mit den Füßen voran in die Welt hineingehen‹]. Hiermit werden anonyme Gewährsleute bezeichnet, was zeigt, dass auch Konrad keinen vollständigen Einblick mehr hatte in das bunte Potpourri von antiken, östlichen und westlichen Naturphilosophen. Wo es aber geht, werden Namen genannt, immer wieder Aristoteles, der indes seine Weisheit teils auch anderen Gelehrten verdankt:
Aristoteles spricht, daz ain vorscher, der die haimlichait der nâtûr ervorschen wolt, legt hüenrair under ain küssein und sprach, er möht si sô lang dar under halten, unz hüendl dar auz würden (BdN, 195).
[Aristoteles sagt, dass ein Forscher, der die Geheimnisse der Natur erforschen wollte, Hühnereier unter ein Kissen gelegt hätte und behauptete, er könnte sie so lange darunter halten, bis daraus kleine Hühner entstünden (…).]
Neben Aristoteles finden wir freilich eine üppige Fülle weiterer Namen von »vorschern« der Antike, des arabischen Raums und des christlich-mitteleuropäischen. Viele von ihnen sind in den Eingangsabschnitten dieses Beitrags bereits erwähnt und knapp zeitlich und räumlich verortet worden. Wenn wir nur Konrads anthropologisches erstes Großkapitel mit insgesamt 50 Kurztexten (von denen der 49. noch in 33 Absätze differenziert ist) betrachten, so begegnen wir dort den folgenden »vorschern« (in der Reihenfolge ihres Erscheinens): Aristoteles (30 Nennungen), Galiênus (zwölf Nennungen), Plinius (18 Nennungen), Avicenna (vier Nennungen), Ambrosius (eine Nennung), Rasis (sechs Nennungen), Clemens »der maister« (eine Nennung).
Der Mensch, sein Wesen, seine Körperlichkeit (Anatomie) und Physiognomik werden einem Menschen in der Mitte des 14. Jahrhunderts unter Rückgriff auf Erkenntnisse von Persönlichkeiten vermittelt, die unterschiedlichsten Kultur-Zeit-Räumen angehören: Aristoteles der klassischen Antike (5. Jahrhundert v. Chr.), Galen der griechisch-römischen Spätantike (2. Jahrhundert n. Chr.), Plinius der römischen Antike (1. Jahrhundert n. Chr.), Avicenna (= Abū Alī al-Husayn ibn Abdullāh ibn Sīnā, 11. Jahrhundert) der hochmittelalterlichen arabischen Welt, Ambrosius (von Mailand, Kirchenvater, 4. Jahrhundert n. Chr.) der frühmittelalterlichen christlichen Welt, Rasis (= Abu Bakr Muhammad b. Zakariya ar-Razi, 9./10. Jahrhundert) wieder der arabischen Welt und schließlich Clemens »der maister«, der wohl dem mitteleuropäischen Raum zuzuordnen ist.34
Eindringlicher kann man einem studentischen Publikum die Wege und Umwege antik-mittelalterlicher Wissensevolution kaum näherbringen, wobei es von großem didaktischen Vorteil ist, dass diese Einblicke über die Analyse einer kleinen (aber aussagekräftigen) mittelalterlichen Quelle ermöglicht werden – und nicht durch die Lektüre eines Handbuch- oder Wikipedia-Artikels. Mit dem Buch der Natur sind die Studierenden ins 14. Jahrhundert versetzt und betrachten die Welt durch die Brille eines Enzyklopädisten, der wie ein Schwamm die Arbeit von »vorschern« aus eineinhalb Jahrtausenden aufsaugt.
Im ersten Abschnitt zur Anthropologie heißt es u.a.: »[A]uch ist der mensch gemischet auz den vier elementen, die dâ heizent feur, luft, wazzer und erd« (BdN, 3) [›auch ist der Mensch aus den vier Elementen zusammengemischt, die da heißen Feuer, Luft, Wasser und Erde‹]. Im Abschnitt über das Gehirn können wir lesen, dass es selbst kalt sei, um die Hitze des Herzens auszugleichen; und weiter: »[A]lsô sint auch andreu glider an dem menschen widerwärtig, wan ainz ist veucht, daz ander trucken, ainz kalt, daz ander warm« [›In dieser Hinsicht sind auch andere Körperteile des Menschen gegensätzlich geartet, denn eines ist feucht, das andere trocken, eines kalt, das andere warm‹]. Etwas später wird ausgeführt:
[D]az hirn hât minner pluotes wan kainerlai ander väuhten, die in dem menschen sint, wan man sicht kain pluot in im; iedoch vleuzt colera von im in die ôrn und melancolica datz den augen und fleuma datz der nasen (BdN, 6).
[Das Gehirn besitzt weniger Blut als irgendeine andere Feuchtigkeit, die im Menschen ist (gemeint: Im Gehirn befinden sich nur drei der vier Kardinalsäfte, s.u.), denn man sieht kein Blut in ihm (dem Gehirn); aber es fließt Cholera (= Galle) von ihm in die Ohren und Melancholia (= dunkle Galle) in die Augen und Phlegma (= Schleim) in die Nase].
In diesen wenigen Sätzen begegnen wir einem antik-mittelalterlichen Welterklärungsmodell, das seine Wurzeln in der griechischen Naturphilosophie bereits des 7. Jahrhunderts v. Chr. hat, insbesondere gefestigt wurde durch Empedokles (5. Jahrhundert v. Chr.) und von ihm ausgehend eine Jahrhunderte währende Erweiterung erfuhr, deren Auswirkungen bis in unsere Gegenwart reichen (grundlegend Schöner 1964). Es handelt sich um das Elementen- und Säftemodell: Ihm zufolge besteht alles Kreatürliche unterhalb der Mondbahn aus den vier Elementen Erde, Feuer, Wasser und Luft. Die Diversität der Dinge ergibt sich aus der je anderen Zusammensetzung der Elemente, denen je zwei Eigenschaften zugeordnet werden: So sei die Erde kalt und trocken, die Luft feucht und warm, das Feuer warm und trocken und das Wasser kalt und feucht. Die Elemente teilen also partiell Eigenschaften (z.B. ist sowohl die Erde als auch das Feuer trocken) und können darüber Verbindungen eingehen. Den Elementen (und Eigenschaften) werden im Laufe der Modell-Evolution vier im menschlichen Körper verortete Säfte zugewiesen: der Erde die ›schwarze Galle‹ (gr.: µελας, melas: ›schwarz‹, χολη, cholé: ›Galle‹), der Luft das Blut (lat.: sanguis), dem Feuer die (helle) Galle (gr.: χολη, cholé: ›Galle‹) und dem Wasser der Schleim (gr.: φλέγµα, ›Phlegma‹). Die Konstitution des Menschen, Gesundsein oder Kranksein ergibt sich aus dem je individuellen Mischungsverhältnis der Säfte, aus der Art und Weise, wie sie gemischt, das heißt ›temperiert‹ sind (lat. »temperare« bedeutet ›mischen‹; ›Temperatur‹ bezeichnet ein bestimmtes Mischungsverhältnis; unter ›Temperament‹ versteht man eine menschliche Grundeigentümlichkeit, je nach überwiegendem Saft spricht man vom ›Choleriker‹ (Übermaß: cholé), ›Sanguiniker‹ (Übermaß: sanguis), Phlegmatiker (Übermaß: phlegma) und Melancholiker (Übermaß: melas cholé).
Das Viererschema wurde in der Antike grundgelegt, von den Arabern im 10. und 11. Jahrhundert assimiliert rezipiert, über Spanien dem lateinischen Westeuropa vermittelt, dort in die Volkssprachen übertragen und immer wieder erweitert, z.B. um die vier Jahreszeiten, die vier mal drei Sternzeichen, die vier Lebensalter oder den Dualismus Männlich/Weiblich : Feuer/Wasser – hier gibt es eigentlich keine ›Verbindungen‹, kommen Mann und Frau doch zusammen, so ist dies ein im Wortsinne ›elementares Ereignis‹.
Im gesamten Buch der Natur begegnen wir Spuren dieses Welterklärungsmodells, zuweilen nur unscheinbar über die Zuordnung einer Eigenschaft wie ›Wärme‹ an eine ebenso unscheinbare Pflanze. Ist der Blick einmal geschärft, erkennen wir heute hinter diesen kargen Formulierungen ein gewaltiges interkulturelles, naturphilosophisches Denkgebäude, das jahrtausendelang bestens funktionierte – solange die basalen (und eben weitgehend falschen) Prämissen und bloßen Setzungen nicht erschüttert wurden. Dies geschieht erst allmählich in der Frühen Neuzeit und das Elementen- und Säftemodell stürzt von nun an (allerdings sehr langsam35) in sich zusammen. Seitdem mühen sich die (theoretischen) Physiker um ein neues Welt(-erklärungs-)modell, eine Weltformel, eine ›Theory of Everything‹: bislang vergebens.36
Konrad von Megenberg ist ein hochgebildeter Intellektueller. Er betrachtet seine Welt als gläubiger Christ und durch die Brille schriftgestützter Autoritäten. Er weiß das Schriftmedium zu schätzen – und kennt seine Tücken. Er steht in Traditionen und ist dabei doch nicht unmündig. Seine Quellen betrachtet er mit Ehrfurcht und Skepsis zugleich, nicht nur was ihren Wahrheitsgehalt, sondern auch was die Zuverlässigkeit ihrer Textüberlieferung angeht. Im Abschnitt über den Schwan (»swan«) hält er diese letzteren kritischen Reflexionen explizit fest:
Cignus haizt ain elbiz oder ain swan. daz ist ein weizer vogel und sprechent die maister, er sing gar schôn, aber daz hân ich nie gehoert und hân ir doch vil gesehen. Jacobus spricht, der swan hât weiz federn und hât doch swarzes flaisch. er waiz von nâtûr seinen tôt vor, wan er singet froeleich und lusticleich vor wenn er sterben schol. er hât sein sterk in den vetachen. sô der tôt her gêt, sô fleucht er sein pein in dem hirn und singt alsô süezicleich unz er stirbt. aber daz puoch hât ze latein: instante morte figit pennam in cerebro, daz spricht: wenne der tôt kümt, sô stekt er ain federn in daz hirn. daz hât niht sinnes, dâ von hât der schreiber gevaelt und schol sprechen: fugit penam in cerebro, daz spricht: er fleucht des tôdes pein in dem hirn mit seinem süezem gesang, wie daz sei, daz daz herz indes leid (BdN, 174).
[Cignus bedeutet Elbis oder Schwan. Das ist ein weißer Vogel, und die Gelehrten sagen, er würde sehr schön singen, aber das habe ich noch nie gehört, obwohl ich schon viele gesehen habe. Jakobus sagt, der Vogel habe weiße Federn und doch schwarzes Fleisch. Er kennt von Natur aus den Zeitpunkt seines Todes, denn er singt fröhlich und lustvoll, wenn er sterben muss. Er hat seine Stärke in den Federn. Wenn der Tod herannaht, dann flieht er seinen (des Todes?) Schmerz in seinem (des Schwans) Gehirn, denn er singt ganz sanft, bis er stirbt. An dieser Stelle aber steht im lateinischen Buch: Instante morte figit pennam in cerebro, das bedeutet: Wenn der Tod kommt, dann steckt er eine Feder in das Gehirn. Das ist Unsinn. Hier hat der Schreiber einen Fehler gemacht. Eigentlich muss es heißen: Fugit penam in cerebro, das bedeutet: Er flieht den Schmerz des Todes in seinem Gehirn mit seinem sanften Gesang, obwohl das Herz dennoch leidet.]
Konrad referiert zunächst – wie es sich ›gehört‹ – die Meinung der Meister, dann aber hält er inne und vergleicht das Gelesene mit seinen eigenen empirischen Erfahrungen – und kann beides nicht zur Deckung bringen. Seine reiche Erfahrung widerspricht den alten Meistern37: Er hat schon viele Schwäne gesehen, aber noch keinen singen gehört. Auf Zweifel solcher Art werde ich noch im folgenden Absatz näher eingehen. Konrad belässt es beim knappen Zweifel und fährt fort, den Schwan und seine Eigenheiten zu beschreiben, auch die tradierte ›Tatsache‹, dass er singen könne, wird nun wieder aufgenommen im Zusammenhang mit dem Tod des Schwans. Wenn dieser den Tod nahen spüre, stimme er einen schönen Gesang an. Hinter dieser Vorstellung verbirgt sich ein in die Antike reichender Mythos, der u.a. auch in Platons Phaidon Erwähnung findet. Daran stößt sich Konrad nun nicht mehr, jetzt hat er es auf die lateinische Formulierung abgesehen, die er ganz zu Recht als fehlerhaft entlarvt. Konrad hat die Fehlergenese messerscharf erkannt, obwohl es sich ›nur‹ um winzige Lautvarianten handelt: figit: Dahinter verbirgt sich die flektierte Form des Verbs »figere« = ›heften‹; Nominativ von »pennam« ist »penna« = ›die Feder‹. Statt »figit pennam« muss es aber heißen »fugit penam« (fugit: › fugere = fliehen; penam › pena: = poena = ›Qual‹). Der Schreiber von Konrads Vorlage hat also ›nur‹ die Grapheme »i« und »u« verwechselt und den Konsonanten »n« verdoppelt; er muss sich entweder verlesen oder – sollte man ihm den Text diktiert haben – verhört haben, ohne zu bemerken, dass der Text, den er aufschrieb, sehr merkwürdig war. Einen Vorwurf dürfen wir dem Schreiber aber nicht machen, denn gerade im Zusammenhang mit der Tierwelt begegnen im Buch der Natur zahlreiche ›abstruse‹ Vorstellungen. Umso beachtlicher ist es, dass Konrad nicht ›blindlings‹ etwas übersetzt, sondern die Vorlage und die daraus resultierende Übersetzung kritisch vergleicht und innehält, wenn er der Meinung ist, dass hier oder da etwas nicht stimmen kann – hier ist zu vermuten, dass Konrad vom Mythos des ›sterbenden Schwans‹ wusste.
Anhand dieses Beispiel lässt sich im akademischen Unterricht auf geradezu unterhaltsame Weise vermitteln, wie Übersetzungen (Kulturtransfers) im Mittelalter ›funktionierten‹, welche Rolle Schreiber spielten, wie anfällig das Schriftmedium für Fehler ist, welche Folgen die Verdopplung eines Graphems haben kann und wie wichtig es war (und ist), Medien mit einem kritischen Bewusstsein zu rezipieren.
Konrad von Megenberg und sein Buch der Natur sind nicht nur geeignet, um in die Gemengelage antik-mittelalterlicher ›Wissenschaft‹ einzuführen, sondern Konrads spezifische Stellung zu dieser Gemengelage macht auf faszinierende Weise deutlich, wie jahrhunderte- bis jahrtausendealte Wissens-, besser: Glaubensgrundsätze allmählich bezweifelt werden – und zwar zunächst überall dort, wo sie nicht mehr in Einklang gebracht werden können mit empirischen Wahrnehmungen. Allerdings wird man auch schon in sehr viel früherer Zeit Dinge gesehen, gehört, gefühlt, geschmeckt haben, die in den Texten der ›Meister‹ ganz anders beschrieben waren. Aber augenscheinlich ist die Macht der Autorität zu groß und die Wertschätzung der eigenen Wahrnehmung zu gering, als dass es über diesen oder jenen Widerspruch zum Zweifel an der Autorität gekommen wäre.
Das ändert sich nun im 14. Jahrhundert – zwar langsam, aber deutlich –, und Konrad führt uns diesen Wandel in der Wissenschaft an zahlreichen Stellen im Buch der Natur vor. Er repräsentiert den Typus des ›neuen Intellektuellen‹, der die Traditionen kennt wie kaum ein anderer, der aber auch Vertrauen in sich und seine Welterfahrung hat – und das Selbstbewusstsein (vielleicht gar den Mut), sich und seine Erfahrung gegen die heiligen Hüter des Weltwissens in Position zu bringen.38
Natürlich ist es noch kein radikaler Bruch mit der Tradition; Konrad ›steht‹ gleichsam mit einem ›Bein‹ noch tief im Mittelalter, mit dem anderen aber schon in der sich aufklärenden Frühen Neuzeit.
Zahlreiche Textstellen können zur Illustrierung dieser neuen »vorscher«-Perspektiven herangezogen werden; ich greife hier nur zwei heraus:
In einem anthropologischen Kapitel zählt Konrad – über seine Primärquelle Thomas von Cantimpré – verschiedene Anzeichen auf, die darauf schließen lassen, dass eine Frau schwanger ist (BdN, 38f.). Diese Anzeichen (Konrad nennt 15) gehen auf eine entsprechende Liste im medizinischen Werk des oben schon einmal genannten arabischen Arztes Ibn Sīnā (= Avicenna, 11. Jahrhundert) zurück. Als erstes Zeichen wird genannt die »zuosât paider sâmen weibes und mannes«, also das Zusammenkommen des männlichen und des weiblichen Samens, modern ausgedrückt: eine erfolgte Ejakulation in die Vagina der Frau.39 Nun wissen wir heute, dass dies allein noch nicht garantiert, dass eine Schwangerschaft entsteht – und so sieht es auch Konrad von Megenberg, wenn er das erste Zeichen des Avicenna wie folgt kommentiert: »[A]ber daz dunket mich ain ungewis zaichen, wan daz [Geschlechtsverkehr, Ejakulation] oft geschicht, daz doch die frawe niht swanger wirt«. Konrad scheut sich nicht, auch in diesem ›heiklen‹ Bereich seine Welterfahrung einzubringen und sie gegen eine große Autorität wie Avicenna zu formulieren.
Noch selbstbewusster mutet die folgende Stelle an, da Konrad sich namentlich nennt und seinen Zweifel personalisiert äußert und festschreibt. Es handelt sich um den in vielerlei Hinsicht interessanten Artikel über den ›Balsam (-baum)‹ (BdN, 358ff.). Hier wird u.a. lang und breit diskutiert, wie man echten von gefälschtem Balsam (Balsamessenz) unterscheiden könne. Eine Reihe von Vorschlägen von Dioscurides,40 Rabanus41 und Michael dem Schotten42 werden referiert. Dann erhebt sich Konrad und schreibt: »[D]es gelaub ich Megenberger niht, wan sô möht man in niht sô wol gevelschen sam man tuot.« (BdN, 360) [›Das glaube ich, der Megenbegrer, nicht, denn dann würde man ihn nicht so leicht fälschen können.‹] Er erklärt die vielen Methoden der Echtheitsprüfung für unzuverlässig und hält dagegen, dass bei einigem Erfolg solcher Proben nicht so viele Fälschungen kursieren würden.
***
Ich bin am Ende meiner kleinen Tour d’Horizon durch das Buch der Natur Konrads von Megenberg und hoffe trotz der darstellerischen Restriktionen und des nötigen Rückgriffs auf nur wenige aussagekräftige Beispiele gezeigt zu haben, welches Potenzial diese volkssprachliche Natur-Enzyklopädie hat. Den Menschen des 14. Jahrhunderts und der sich anschließenden Umbruchzeit (bis weit in das 16. Jahrhundert hinein) war das Buch der Natur ein Thesaurus von größtem weltöffnendem und ‑erklärendem Wert. Die Revolutionen in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit verliehen den im Buch der Natur versammelten Erkenntnissen weitgehend musealen Charakter: Man wusste es nun besser und ›richtiger‹. Uns heute aber zeigt das Buch der Natur eindringlich, wie Völker, Kulturen und Epochen in einem gebenden und nehmenden interkulturellen Austausch daran gearbeitet haben, sich und ihre Bedingungen zu beschreiben, zu erklären und zu verstehen.
1 | Vgl. zur ersten gattungstypologischen Orientierung Friedrich 1997; ferner: Assion 1973, Wolf 1987; die aktuellste monografische Aufbereitung für ein studentisches Publikum: Haage/Wegner 2007.
2 | Z.B. Plant/Rowlands/Burkhart 1972 u. Gottschall/Steer 1994.
3 | Das schlug sich schon bald in einem Lehrbuch nieder: Assion 1973.
4 | Vgl. besonders die Arbeiten von Kurt Ruh und seinen Schülern; zur ersten Information lesenswert: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung. Hg. v. Kurt Ruh. Berlin 1985.
5 | Hinzuweisen ist auf die reich bestückte Schriftenreihe: Würzburger medizinhistorische Forschungen, unter Mitwirkung von Josef Domes, Erhart Kahle, Peter Proff und Christoph Weißer hg. v. Gundolf Keil. Würzburg 1975ff. – Weitere Titel: Fachliteratur des Mittelalters. Festschrift für Gerhard Eis. Hg. von Gundolf Keil, Rainer Rudolf u.a. Stuttgart 1968. Fachprosaforschung. Acht Vorträge zur mittelalterlichen Artesliteratur. Hg. v. Gundolf Keil u. Peter Assion. Berlin 1974. – Ein für unser Thema einschlägiger Beitrag sei schon an dieser Stelle genannt: Johannes G. Mayer: Konrad von Megenberg und Paracelsus. Beobachtungen zu einem Wandel in der volkssprachlichen naturwissenschaftlichen Literatur des späten Mittelalters. In: Würzburger Fachprosa-Studien. Beiträge zur mittelalterlichen Medizin-, Pharmazie- und Standesgeschichte aus dem Würzburger medizinhistorischen Institut. Michael Holler zum 60. Geburtstag. Hg. v. Gundolf Keil. Würzburg 1995, S. 322-335.
6 | http://books.google.com/books?id=R_EEAAAAYAAJ&oe=UTF-8 [30.09.2010]; der Text ist auch als Txt-Datei zugänglich: http://titus.uni-frankfurt.de/texte/etcs/germ/mhd/konrmeg/konrm.htm [30.09.2010]. Zudem findet sich eine kunstvollgestaltete und vollständige Ausgabe mit farbigen Abbildungen aus der Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel im Internet unter: http://diglib.hab.de/wdb.php?dir=inkunabeln/45-1-phys-2f [30.09.2010]: Hie nach volgt das buch der natur. innhaltende zum ersten vo[n] eigenschafft vnd natur deß menschen. Darnach von der natur vn[d] eigenschafft deß hymels. d[er] tier. des gefügels. der kreüter. d[er] stein. vn[d] von vil andern natürlichen dingen / Cunrat [von Megenberg]. [Electronic Ed.]. Augspurg: Schönsperger 1499.
7 | In meiner Rezension der Neuausgabe habe ich folgendes Fazit gezogen: »Wer sich über die enzyklopädischen Texte Konrads von Megenberg informieren will, wer wissen will, welche Themen wie behandelt werden, war mit Pfeiffers Ausgabe gut bedient – und ist dies nach wie vor, denn die neue Ausgabe bietet keinen essentiell anderen oder ›besseren‹ Text. Was die neue Ausgabe freilich leistet (aber erst in Band I erläutern wird), ist eine fundiertere Entscheidung für die Basishandschrift, gewonnen durch eine über Pfeiffer weit hinausgehende Beschäftigung mit der Überlieferung, deren Geschichte durch ausgewählte Referenzlesarten im Apparat zum ersten Mal präsent ist – wenn auch sicherlich in dieser Weise schwer zu durchschauen« (Bein 2008, 101).
8 | Ich werde im Folgenden die Pfeiffer-Ausgabe zitieren, da sie für die hier anvisierten didaktischen Ziele völlig ausreichend ist. Für tiefgehende philologische Studien sollte man die neue Ausgabe heranziehen.
9 | Vgl. Manfred Günter Scholz: Quellenkritik und Sprachkompetenz im ›Buch der Natur‹ Konrads von Megenberg. In: Festschrift für Walter Haug und Burghart Wachinger. Hg. v. Johannes Janota u.a. Tübingen 1992, S. 925-941. Bernhard Dietrich Haage: Wissenstradierende und gesellschaftliche Konstituenten mittelalterlicher deutscher Fachsprache. In: Fachsprachentheorie. Bd. 1: Fachsprachliche Terminologie, Begriffs- und Sachsysteme, Methodologie. Hg. v. Theo Bungarten. Tostedt 1993, S. 228-268. Nina Berend: Konrad von Megenberg ›Buch der Natur‹: Schriftsprachliche Varianten im Deutsch des 14. Jahrhunderts als Ausdruck für regionales Sprachbewußtsein und dessen Reflexion. In: Das Frühneuhochdeutsche als sprachgeschichtliche Epoche. Werner Besch zum 70. Geburtstag. Hg. v. Walter Hoffmann. Frankfurt a.M. [u.a.] 1999, S. 43-58. Almut Schneider: Auffassungen von der Herkunft der Sprachen in deutschen Texten des Mittelalters. In: Internationalität nationaler Literaturen. Beiträge aus dem ersten Symposion des Göttinger Sonderforschungsbereichs 529. Hg. v. Udo Schöning unter Mitwirk. v. Beata Weinhagen u. Frank Seemann. Göttingen 2000, S. 148-162.
10 | Hinweise zu methodologischen Fragestellungen: Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Hg. v. Martin Huber u. Gerhard Lauer. Tübingen 2000. Claudia Brinker-von der Heyde: Mentalität, historische Anthropologie und Literatur. Zu den Möglichkeiten und Grenzen der Interdisziplinarität in der Mediävistik. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 12 (2000), S. 65-81.
11 | Vgl. zahlreiche einschlägige Beiträge zur Textsorte in: Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. Beiträge zu ihrer Erforschung. Hg. v. Franz Eybl u.a. Tübingen 1995.
12 | Zumindest nicht im Falle der BA-/MA-Studiengänge; aber auch die Lehramtsstudiengänge vermitteln zunächst einmal eine Text-Kultur-Kompetenz – eine spezifisch berufsorientierte Ausbildung übernimmt der Bereich der Fachdidaktik und Pädagogik.
13 | Zur Intertextualität vgl. Renate Lachmann (Hg.): Dialogizität. München 1984. Gerda Haßler (Hg.): Texte im Text. Untersuchungen zur Intertextualität und ihren sprachlichen Formen. Münster 1997.
14 | Viele lateinische Texte Konrads sind mittlerweise bequem online zugänglich über die Digitalisate der »Monumenta Germaniae Historica« (hier: »Staatsschriften des späten Mittelalters«) http://bsbdmgh.bsb.lrz-muenchen.de/dmgh_new/app/web?action=loadBook&bookId=00000647 [30.09.2010].
15 | Es handelt sich um ein spätes Mittelhochdeutsch/frühes Neuhochdeutsch mit deutlich oberdeutschem Einschlag (Bezug kann freilich nur die Basishandschrift der pfeifferschen und auch steer-luffschen Edition sein: die Münchner Pergamenthandschrift der Bayerischen Staatsbibliothek, Cgm 38, 2. H. d. 14. Jh.); sehr auffällig sind die oberdeutsch-bairischen Medienverschiebungen: z.B. »puoch« statt »buoch« (›Buch‹); »chraut« statt »kraut«.
16 | Vgl. auch (mit reicher Literatur) Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Johannes Hartlieb: Kräuterbuch. Farbmikrofiche-Edition der Handschrift Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. Germ. 311 und der Bilder aus Cod. Pal. Germ. 300. Einf. u. Beschr. der Handschriften v. Gerold Hayer. München 1997.
17 | Vgl. dazu den Überblick von Klaus Bergdolt: Der schwarze Tod in Europa. München 2000. – Während der Zeit des »Schwarzen Todes« entstehen sehr viele, auch volkssprachliche, medizinische Texte und sogenannte Pesttraktate. Sie spiegeln die Ohnmacht der Menschen gegenüber der Pest, deren Erreger sie noch nicht kennen und die sie daher nicht sinnvoll bekämpfen können. Das Interesse an der Natur dürfte durch Katastrophen wie diese befördert worden sein – wie auch allmähliche Skepsis gegenüber jahrhundertealtem Wissen, das sich hier als nutzlos erweist.
18 | Vgl. zur Überlieferung Gerold Hayer: Konrad von Megenberg: »Das Buch der Natur«. Untersuchungen zu seiner Text- und Überlieferungsgeschichte. Tübingen 1998. Walter Buckl: Megenberg aus zweiter Hand. Überlieferungsgeschichtliche Studien zur Redaktion B des ›Buchs von den natürlichen Dingen‹. Hildesheim 1993. Norbert H. Ott: Wege zur Landschaft. Randbemerkungen zu den Illustrationen einiger spätmittelalterlicher Handschriften, insbesondere von Konrads von Megenberg ›Buch der Natur‹. In: Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters. Colloquium Exeter 1997. In Zusammenarb. mit Frank Fürbeth u. Ulrike Zitzlsperger hg. v. Alan Robertshow u. Gerhard Wolf. Tübingen 1999, S. 119-136.
19 | Vgl. Ludwig von Jan/Karl Mayhoff (Hg.): C. Plini Secundi naturalis historiae libri XXXVII. Stuttgart 1967-2002; ND der Ausgabe 1892-1909. Roderich König u.a. (Hg.): C. Plinius Secundus d. Ä.: Naturkunde. 37 Bde. Zürich u.a. 1990-2004. Lenelotte Möller/Manuel Vogel (Hg.): Die Naturgeschichte des Gaius Plinius Secundus. Ins Deutsche übers.u. mit Anmerk. vers. v. Georg C. Wittstein. 2 Bde. Wiesbaden 2007. – Online-Text: www.hs-augsburg.de/~harsch/Chronologia/Lspost01/-PliniusMaior/plm_h000.html oder www.perseus.tufts.edu/hopper/text?-doc=Plin.+Nat.+toc&redirect=true [30.09.2010]. Arno Borst: Das Buch der Naturgeschichte. Plinius und seine Leser im Zeitalter des Pergaments. Heidelberg 21995.
20 | Vgl. L’École de Chartres: Bernard de Chartres, Guillaume de Conches, Thierry de Chartres, Clarembaud d’Arras. Textes traduits et présentés par Michel Lemoine et Clotilde Picard-Parra. Paris 2004.
21 | Vgl. dazu Heinrich Schipperges: Die Assimilation der arabischen Medizin durch das lateinische Mittelalter. Wiesbaden 1964. Sieben Bücher Anatomie des Galen. Zum ersten Male veröffentlicht nach den Handschriften einer arab. Übers. des 9. Jhs. n. Chr., ins Deutsche übertr. u. komm. v. Max Simon. I. Bd.: Arabischer Text, II. Bd.: Deutscher Text, Kommentar. Leipzig 1906.
22 | Vgl. Christian Ferckel: Die Gynäkologie des Thomas von Brabant. Ein Beitrag zur Kenntnis der mittelalterlichen Gynäkologie und ihrer Quellen. München 1912. Helmut Boese: Zur Textüberlieferung von Thomas Cantimpratensis’ »Liber de natura rerum«. In: Archivum Fratrum Praedicatorum 39 (1969), S. 53-68. Annemarie Brückner: Quellenstudien zu Konrad von Megenberg. Thomas Cantipratanus »De animalibus quadrupedibus« als Vorlage im »Buch der Natur«. Diss. Frankfurt a.M. 1961.
23 | Vgl. Thomas von Cantimpré: Liber de natura rerum. Hg. v. H[elmut] Boese. [Berlin] 1973.
24 | Insgesamt ist die Textgeschichte aufgrund defizitärer editorischer Leistungen noch nicht umfassend aufgearbeitet.
25 | Auf S. 119ff. eine schöne Sammlung von Quelleneditionen, die es erleichtert, bestimmte Zitate zu verifizieren (z.B. Aristoteles, Augustinus, Isidor, Physiologus usw.).
26 | In Fußnoten teilt Deus dankenswerterweise Referenzen mit: »Isidorus von Sevilla (um 570-636) u.a. ›Etymologiarum sive originum libri XX‹; Gregorius der Große (um 540-604) u.a. ›Moralia in Iob‹; Beda Venerabilis (672/73-735) u.a. ›De natura rerum‹; Pseudo-Dionysius Areopagita (um 500) u.a. ›Celestis Hierarchia‹; Basilius der Große (um 330-379), ›Hexaemeron‹; Ambrosius von Mailand (um 340-397) u.a. ›Hexaemeron‹; Johannes Platearius (Ende des 11. Jhs.) und Mattheus Platearius († 1161) ›Circa instans‹; Aristoteles (384-322) u.a. ›De celo‹, ›Meteorologica‹, Pseudo-Aristoteles u.a. ›De mundo‹, ›De proprietatibus elementorum‹; Macrobius (um 400) u.a. ›Commentarius in somnium Scipionis‹; Martianus Capella (Anfang des 5. Jhs. n. Chr.) ›De nuptiis Philologiae et Mercurii‹; Alphraganus = al-Fargani († 816) ›Rudimenta astronomica‹, ›Differentie scientie astrorum‹; Ptolemaeus (2. Jh. n. Chr.) u.a. ›Almagestum‹; Aristoteles (384-322), ›De animalibus libri XIX‹; Constantinus Africanus († 1087) u.a. ›Pantegni‹, ›Viaticum‹, ›De gradibus‹« (S. 11, Fußnoten 5-18).
27 | Isidor ist Verfasser der Enzyklopädie »Etymologiarum sive originum libri XX«, ein beachtlicher Versuch, antikes Wissen in das Mittelalter zu retten.
28 | BdN, 2, Str. 4: »Ez sprichet manig man, / mein tummer sin sei, daz ich trag / die kunst von lateinischer sprâch in däutscheu wort behüllet.«
29 | Otfrid (um 800 bis nach 870) war ein bedeutender und einflussreicher Intellektueller im ostfränkischen Reich des spätkarolingischen Herrschers Ludwigs des Deutschen; er ist Schüler des Rabanus Maurus (dieser wird im Übrigen auch Gewährsmann im »BdN« sein), Mönch, Gelehrter, ›Dichter‹, Schreiber, Bibliothekar, Exeget und Grammatiklehrer. Seine größte Leistung stellt die Übersetzung der Evangelien in einer (harmonisierten) Fassung in das Südrheinfränkische dar. Otfrid lässt der Übersetzung eine lange Vorrede vorangehen, in der er das ›ungeheuerliche‹ Unterfangen, das Wort Gottes in einer anderen als den drei heiligen Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein zu verbreiten, rechtfertigt.
30 | BdN, 2, Str. 5: »Ez truoc Jeronimus / von hebraisch in lateines wort / ganz waz diu wibel [= Bibel] sinnes hât und auch von andern zungen; / sam truog Boethius / von kriechisch in lateines hort / mit fleiz waz Aristotiles het in die kunst gedrungen.« [›Hieronymus übersetzte aus dem Hebräischen ins Lateinische / das, was die Bibel an Sinn transportiert und auch aus anderen Sprachen; / genauso übertrug Boethius aus dem Griechischen ins Lateinische / mit Fleiß, was Aristoteles der Wissenschaft geliefert hatte.‹]
31 | Vgl. dazu Annemarie Brückner: Quellenstudien zu Konrad von Megenberg. Thomas Cantimpratanus »De animalibus quadrupedibus« als Vorlage im »Buch der Natur«. Diss. Frankfurt a.M. 1961. Helgard Ulmschneider: Ain pouch von latein … daz hât Albertus maisterleich gesamnet. Zu den Quellen von Konrads von Megenberg »Buch der Natur« anhand neuer Handschriftenfunde. In: ZfdA 121 (1992), S. 36-63. Ders.: Ain pouch von latein. Nochmals zu den Quellen Konrads von Megenberg »Buch der Natur«. In: ZfdA 123 (1994), S. 309-333.
32 | Vgl. zu diesem Fragenkomplex auch Gerold Hayer: Zu Kontextüberlieferung und Gebrauchsfunktion von Konrads von Megenberg »Buch der Natur«. In: Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter 1100-1500. Regensburger Colloquium 1988. Hg. v. Nikolaus Henkel u. Nigel F. Palmer. Tübingen 1992, S. 62-73.
33 | Das Anthropologie-Kapitel weist noch weitere Untergliederungen auf; die Kapitel über Wundermenschen und Wunderbrunnen sind nicht formell untergliedert, wohl aber der Sache nach.
34 | Möglicherweise verbirgt sich hinter dem Namen der Grammatiker Clemens Scotus, erstes Viertel d. 9. Jhs.; dass Clemens von Alexandria (1./2. Jh. n. Chr.; frühchristlicher Theologe/Philosoph) oder einer der zahlreichen Päpste namens Clemens gemeint sind, ist eher unwahrscheinlich. In Konrads Vorlage (Thomas von Cantimpré; Edition Boese) wird nur von einem »Clemens« gesprochen; sollte auch die »Thomas III«-Redaktion (die angenommene direkte Vorlage für Konrad, vgl. Brückner 1961) nur den Eigennamen enthalten haben, hätte Konrad den Zusatz »maister« allein zu verantworten.
35 | In der Medizin z.B. halten sich bestimmte Vorstellungen, die auf der Humoralpathologie (Krankheit durch Säfteungleichgewicht) gründen, noch bis ins 18./19. Jh. und darüber hinaus (etwa die Praxis des Aderlasses besonders in der sogenannten Alternativmedizin).
36 | Vgl. Robert B. Laughlin: Abschied von der Weltformel – die Neuerfindung der Physik. München 2007. John D. Barrow: New theories of everything – the quest for ultimate explanation. Oxford 2007.
37 | Vgl. auch Walter Blank: »des geloub ich Mergenberger niht« – Konrads von Megenberg ›Naturwissenschaft‹ zwischen Tradition und Empirie. In: Vielfalt des Deutschen. Festschrift für Werner Besch. Hg. v. Klaus J. Mattheier u.a. Frankfurt a.M. 1993, S. 159-177.
38 | Vgl. Walter Buckl: »Dannoch waer dâ zweivel«. Das ›Buch von den natürlichen Dingen‹ des Konrad von Megenberg. In: Das 14. Jahrhundert. Krisenzeit. Hg. v. Walter Buckl. Regensburg 1995, S. 227-237.
39 | In Antike und Mittelalter kursieren zwei grundsätzlich differierende Zeugungslehren: zum einen die »Ein-Samen-Theorie«, der zu Folge nur der Mann einen Anteil an der Zeugung hat, und die »Zwei-Samen-Theorie«, die auch der Frau einen Anteil am entstehenden Kind zubilligt. Vgl. dazu: Erna Lesky: Die Zeugungs- und Vererbungslehren der Antike und ihr Nachwirken. Wiesbaden 1950.
40 | Gemeint ist Pedanios Dioskurides, ein römischer Arzt, der im letzten Drittel des 1. Jh. n. Chr. die sogenannte Materia medica verfasste, die umfassendste Bestandsaufnahme der medizinisch verwertbaren Pflanzenwelt. Im Mittelalter kursieren zahlreiche Handschriften.
41 | (H)Rabanus Maurus, 8./9. Jh., Gelehrter, zeitweilig am Hof Karls des Großen als »vorscher« tätig.
42 | Michael Scotus, 12./13. Jh., Gelehrter im Umfeld Friedrichs II., leistet im spanischen Toledo Kulturtransfers vom arabischen in den mitteleuropäischen Raum.
Assion, Peter (1973): Altdeutsche Fachliteratur. Berlin
Auernheimer, Georg (Hg., 2008): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. 2., aktual. u. erw. Aufl. Wiesbaden
Bein, Thomas (2008): Rez. »Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹. Band II. Kritischer Text nach den Handschriften. Hg. von Robert Luff und Georg Steer. Tübingen 2003«. In: Editionen in der Kritik. Editionswissenschaftliches Rezensionsorgan […]. Hg. v. Hans-Gert Roloff. Berlin, S. 97-101
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