By examining Jane Taylor’s Ubu and the Truth Commission (1997) and Peter Weiss’ Die Ermittlung (1965), this paper explores how public testimonies by survivors of atrocities perpetrated under Apartheid and National Socialism are converted into literary texts and staged in post-Apartheid South Africa and post-war Germany, respectively. It will be shown that there is a complex relation between witness accounts, the actual events and their public investigation. Both plays emphasise that the public nature of the testimony raises the question of (re-)defining values in a society that is subjected to confront historical memory while reshaping itself.
»Ich, der Überlebende, packe dich in Worte, so dass die Zukunft dich erben kann. Ich entreiße dich dem Tod des Vergessens. […] Ich habe dich aus dem Tod übersetzt« (Krog 1998, 27f.).1 Zeugnis ablegen bedeutet, wie dieses Zitat aus dem Roman Country of my Skull der Südafrikanerin Antje Krog zeigt, die eigene Person für die Wahrheit der Vergangenheit und der Geschichte einzusetzen. Das eigene Wort wird zum Bezugspunkt einer sonst vom Vergessen bedrohten Realität, die man selbst erfahren oder beobachtet, vor allem aber überlebt hat. Eine Aussage über erfahrene Gräueltaten wird erst dadurch zum Zeugnis, dass sich der Zeuge an einen anderen richtet und erwartet, dass man ihn hört. Erst in der Kenntnisnahme gewinnt ein vergangenes, scheinbar singuläres Erlebnis, das in Worte gefasst wird, um es vor dem Vergessen zu retten, seine Bedeutung. Es muss für die Zukunft bewahrt werden, weil es über den Einzelnen hinausweist und alle betrifft, daher nicht mehr singuläre, sondern universelle Wahrheit ist. Einerseits heißt das für den Zeugen, die Verantwortung für die Wahrheit der bezeugten Wirklichkeit zu übernehmen. Andererseits ist in jedem Zeugnis nicht nur die Aufforderung zum Zuhören enthalten, sondern auch die Aufforderung durch eine Antwort zu reagieren, die bezeugt, dass wir als Zuhörer bereit sind, die Wahrheit der bezeugten Erfahrung anzuerkennen und mitverantwortlich sind. Mitverantwortung haben alle in der Gesellschaft, denn der Umgang mit der zur Sprache gebrachten Wahrheit bestimmt den Wert der Zukunft aller und die Werte der gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaft.
Im Folgenden soll untersucht und problematisiert werden, wie und unter welchen Voraussetzungen authentische Zeugenaussagen über erlittene Erfahrungen unter einer Gewaltherrschaft (Nationalsozialismus und Apartheid) vor der Öffentlichkeit in zwei unterschiedlichen Gesellschaften literarisch verarbeitet und als Bühnenstücke zur Aufführung gebracht wurden. In Die Ermittlung dramatisiert und dokumentiert Peter Weiss (1916-1982) Zeugenaussagen des Frankfurter Auschwitz-Prozesses von 1963 bis 1965. Sein Stück wurde unmittelbar nach Abschluss der Verhandlungen 1965 in 15 verschiedenen deutschen Städten sowie in London uraufgeführt. Auch Ubu and the Truth Commission, das in einer gemeinsam konzipierten Bühnenproduktion von Jayne Taylor, die den Text verfasst hat, William Kentridge und der Handspring Puppet Company 1997 in Südafrika uraufgeführt wurde, bezieht sich auf eine unmittelbare, in der Öffentlichkeit ausgetragene Verhandlung, nämlich die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission. Sie tagte von 1996 bis 1998 und setzte sich mit Gräueltaten unter dem Apartheid-Regime auseinander. Obgleich in beiden Stücken eigene, beobachtete oder während der Verhandlung niedergeschriebene Leidenserfahrungen zitiert werden, ging es weder Weiss noch den Autoren des südafrikanischen Stücks darum, die Verhandlungen vor dem Gericht in Frankfurt a.M. bzw. vor der Kommission an unterschiedlichen Orten in Südafrika und damit die von Zeugen beschriebenen Ereignisse zu rekonstruieren. Vielmehr sollten die jeweiligen Ermittlungsverfahren in ihrer ganzen Tragweite und Wirkung auf die gegenwärtige Gesellschaft zur Diskussion gestellt werden. Schon allein die Tatsache, dass Dauer und Umfang beider Verhandlungen eine Komprimierung des jeweiligen Materials unumgänglich machten, führt in beiden Stücken, wenn auch auf unterschiedliche Weise, zu einem Konzentrat aus Fakten, das die Geschichten Einzelner weitgehend absorbiert und damit zur Anonymität der Figuren und insbesondere der auftretenden Zeugen beiträgt. Doch gerade diese sind in ihrer Annäherung an den NS-Genozid bzw. an die Verbrechen des Apartheid-Regimes von zentraler Bedeutung für beide Stücke. Deshalb soll der Frage nach dem Stellenwert und der Bedeutung von Zeugenaussagen nachgegangen werden. Es besteht nämlich ein komplexer Zusammenhang zwischen diesen, den beschriebenen Ereignissen, den öffentlich gehaltenen Verfahren, denn in beiden Stücken geht es auch um die Verhandlung von Werten in einer gesellschaftlichen Umbruchssituation. Dieser Zusammenhang wird in den Bühnenstücken von Peter Weiss und Jayne Taylor jeweils zur Diskussion gestellt.
Ausdruck eines gesellschaftlichen Umbruchs in der Nachfolge gewalttätiger und autoritärer politischer Formationen und des Versuchs der Neuorganisation staatlicher Strukturen und sozialer Einrichtungen sind vor allem in den letzten Jahrzehnten das Entstehen neuartiger Ermittlungsverfahren über Gräueltaten vormaliger Herrschaftsregime. Neben nationalen und internationalen Gerichtsverfahren, Tribunalen, Untersuchungskommissionen, Kriegsgerichten und anderen institutionalisierten Ermittlungsverfahren, ist – wie in Südafrika – ein Mechanismus in auf demokratischen Grundlagen aufgebauten Staaten entstanden, der ein sogenanntes Übergangsrecht (Transitional Justice) gelten lässt, das auf dem Diskurs der allgemeinen Menschenrechte aufbaut. Innerhalb dieses Rahmens gewinnen »Wahrheitskommissionen« an Bedeutung. Sie gelten als wichtiges Mittel eine politische Neuordnung zu legitimieren und ein Gefühl der Dazugehörigkeit zur neuen Staatsordnung zu kreieren. Wahrheitskommissionen zeigen die komplexen Zusammenhänge von Leiden, Gerechtigkeit, Menschenrechten, Wahrheit, Verantwortung, Geschichte und Zeugenschaft auf. In Verbindung mit juristischen Abläufen befassen sie sich mit Erinnerungskultur und narrativen Praktiken, die einen wichtigen Einfluss auf das Verständnis und die Neubildung von gesellschaftlichen Strukturen ausüben. So verstand sich die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission als Angebot an die südafrikanische Gesellschaft, den Untaten und Verbrechen der Vergangenheit unter dem Regime der Apartheid nicht mit einer allumfassenden Amnestie oder einem Nürnberger Prozess zu begegnen, sondern im Sinne eines 1995 verabschiedeten Gesetzes Opfer und Täter des Apartheid-Regimes aufzufordern, vor dieser Kommission auszusagen und dadurch Versöhnung und nationale Einheit zu fördern. Ausgehend von Grundprinzipien wie der Anerkennung von Menschenrechten, der Demokratie und friedlichen Koexistenz aller Südafrikaner unabhängig der Zugehörigkeit von Rasse, Klasse, Glauben oder sexueller Orientierung war es Ziel der Kommission, die Wahrheit über die Verletzung grundlegender Menschenrechte in der Vergangenheit aufzudecken, um Wiederholungen in der Zukunft zu verhindern. Man ging davon aus, dass Konflikte und tiefe Risse innerhalb der südafrikanischen Gesellschaft offen gelegt und erkannt werden müssten: Es ginge um Verständigung, nicht um Rache; um Wiedergutmachung, nicht um Vergeltung; um Menschenwürde (Ubuntu) und nicht darum Sündenböcke zu finden (vgl. Promotion of National Unity and Reconciliation Act, zit.n. Ross 2003, 8).
Einmalig und richtungweisend war die Kommission zu diesem Zeitpunkt aus mehreren Gründen. Viele der Anhörungen waren der Öffentlichkeit und den Medien zugänglich und wurden teils auch im Fernsehen übertragen. Tätern und Handlangern des Apartheid-Regimes gestand man das Recht auf Amnestie zu, insofern sie ihre Beteiligung an gewaltsamen Übergriffen als politisch begründet ausweisen konnten. Noch mehr überraschte die allgemeine Bereitschaft der Opfer den Tätern in den meisten Fällen ihre Vergebung auszusprechen, wodurch die Arbeit der Kommission ihrer Zielsetzung gemäß in vieler Hinsicht als erfolgreich bestätigt wurde. Eine ihrer Grundvoraussetzungen war nämlich die Vorstellung, dass Versöhnung durch Vergebung erreicht werden könne, aber nur, wenn die volle Wahrheit ans Licht käme. Dadurch, so hieß es, sei ein Heilungsprozess nicht nur persönlicher, sondern auch gesellschaftlicher Art erst möglich, der also persönliche wie auch nationale Wunden aufdeckte. Trotz der allgemeinen Anerkennung, die diese Lösung im Umgang mit den Gräueltaten der Vergangenheit international und auch in Südafrika fand, war die Kommission bzw. ihre Wirkung von Anfang an umstritten. Indem ein eng definiertes Verständnis Apartheid als ein System konstruierte, das Opfer und Täter produzierte, konnte die Kommission der Frage nach Handlungsspielraum (Agency) und Widerstand ausweichen, ebenso auch der Beurteilung der Frage, wie Macht Subjekte bzw. deren Handlungen konstituiert. Zwei weitere Einwände gegen ihre Arbeit waren auch, dass sich Täter durch ihre Aussagen sowohl einem zivilrechtlichen als auch kriminellen Strafverfahren entziehen konnten, und dass sich in Bezug auf den Umgang mit Opfern der Apartheid die Definition von Gewalt und Verletzung von Menschenrechten in erster Linie auf den Körper des Einzelnen beschränkte. Dabei wurde aber die strukturelle Gewalt und rassische Diskriminierung unter der Apartheid außer Acht gelassen.
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Ubu and the Truth Commission ist als ein Stück konzipiert, in dem Marionetten und Schauspieler nebeneinander auf der Bühne agieren, untermalt von Musik, angereichert durch auf die Bühne projizierte Zeichentrickfilme und dokumentarisches Filmmaterial. Das Stück bezieht sich, wie schon der Titel sagt, sowohl auf die Wahrheits- und Versöhnungskommission als auch auf den Skandal umwobenen, zügellosen, unmoralischen und gefräßigen Fettsack Ubu Roi, Hauptfigur des gleichnamigen Stücks von Alfred Jarry (1873-1907) von 1888. In dem aus fünf Akten bestehenden südafrikanischen Stück werden nur Pa Ubu und seine Frau Ma Ubu von Schauspielern dargestellt. Pa Ubu ist Repräsentant des Polizeistaates »für den Folter, Mord, Sex und Essen Variationen eines einzigartigen, maßlosen Appetits sind« (Handspring Puppet Company 2002). Aussagen Pa Ubus sind denen von Tätern vor der Kommission nachgebildet:
Ich stehe vor euch, ohne Scham, auch ohne Arroganz. Ich bin kein Ungeheuer. Ich bin ein ehrlicher Bürger und würde nie das Gesetz missachten. Wie ihr alle, esse ich, schlafe ich, und träume Träume. Diese abscheulichen Geschichten, sie machen mich krank. Wenn mir erzählt wird, was hier passiert ist, kann ich es nicht glauben. Diese Dinge, sie wurden von denen über mir, unter mir und neben mir ausgeführt. Auch ich bin betrogen worden! Ich wusste nichts. (Taylor 2001, 45)2
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In der Gegenüberstellung und im Vergleich mit Aussagen von Opfern sind Äußerungen wie diese von Pa Ubu ein reines Abstraktum. Sie zeigen nur »das Versagen moralischer Vorstellungskraft« (Taylor 1998, iv), offenkundig in der Weigerung vieler Südafrikaner, die Verantwortung für ihren Beitrag an dem Fortbestehen des Apartheid-Systems zu übernehmen, geschweige denn anzuerkennen. Pa Ubu repräsentiert somit den Aspekt des Versagens und die damit verknüpfte, weit verbreitete Tendenz der Rechtfertigung für unentschuldbares Verhalten. Am Beispiel Pa Ubus und seiner Frau wird im Gegensatz zu Jarrys burleskem Stück mithin demonstriert, dass Handlungen sehr wohl erkennbare und abscheuerregende Folgen haben. Pa Ubu zur Seite gestellt ist der dreiköpfige Hund Brutus, dargestellt von einer großen Marionette, die drei verschiedene, aber untrennbare Typen vereint: den Handlanger, den General und den Politiker. Nachdem sie grober Menschenrechtsverletzungen bezichtigt und für schuldig befunden wurden, werden sie alle drei – trotz der Angabe nur Befehlen Pa Ubus gehorcht zu haben – ihrer sozialen Rangordnung entsprechend verurteilt. Pa Ubus Berater und rechte Hand Niles wird von einer Krokodilmarionette verbildlicht, in deren enormen Rachen alle belastenden Dokumente und Akten vernichtet werden. Die Tiermarionetten sind im Stück mithin deutlich als Werkzeuge und Repräsentanten des Polizeistaates während der Apartheid erkennbar.
Auf den ersten Blick mag es verwundern, dass es gerade Zeugen aus der schwarzen Bevölkerung Südafrikas und nicht die Figuren Pa Ubu und seine Frau sind, die im Stück von zwei lebensgroßen, mit markanten menschlichen Zügen versehenen Holzmarionetten vertreten werden. In der Bühnenproduktion wurden jedoch bewusst Marionetten für gerade die Opfer aus der schwarzen Bevölkerung Südafrikas eingesetzt, um der ethischen Frage nach der Darstellbarkeit von Zeugenaussagen auf der Bühne zu begegnen. Wie Kentridge erläutert, war »die Kommission selbst ein Theater oder zumindest eine Art Ur-Theater.« (Kentridge 2002)3 Anhörungen waren nämlich für große Teile der Öffentlichkeit zugänglich, weil sie auch in verschiedenen Städten Südafrikas stattfanden. Die Raumanordung in verschiedenen Orten hingegen blieb gleich, denn die Anordnung der Tische, an denen Zeugen und Mitglieder der Kommission jeweils ihren Platz einnahmen, veränderte sich nicht, ebenso wenig wie die Aufstellung von Dolmetscherkabinen. Bei jeder Sitzung der Kommission hingen Spruchbänder mit Aufschriften wie etwa »Wahrheit durch Versöhnung« (»Truth through Reconciliation«) und ›Heilung durch Enthüllung‹ (»Healing through Revealing«). Ähnlich gestaltete sich auch der Ablauf in den jeweiligen Sälen, wenn Zeugen aussagten. Diese waren emotionsgeladen, während das Publikum meist jedem Wort gespannt und in vollkommener Stille lauschte. So entsprachen die Sitzungen der Kommission laut Regisseur Kentridge in vieler Hinsicht dem bürgerlichen (civic) Theater par excellence. Im Spannungsfeld zwischen Mitgliedern der Kommission, Aussagen von Opfern und Tätern, Dolmetschern sowie Zuschauern und Zuhörern aus der Bevölkerung und schließlich der nationalen und internationalen Presse kam es zur bühnengleichen Darstellung eines Konfliktpotenzials, das sich in dem diametral entgegengesetzten Verlangen nach Rache einerseits und dem Bedürfnis nach einer wie auch immer gearteten gesellschaftlichen Versöhnung andererseits äußerte. Der so in die Öffentlichkeit getragene Prozess der Wahrheitsfindung über begangene Gräueltaten und Menschenrechtsverletzungen unter dem Apartheid-Regime entfachte eine vor allem in der Presse ausgetragene, und damit weit verbreitete öffentliche Debatte um den Prozess der Wahrheitsfindung und die beschriebenen Ereignisse. Trotzdem wurde sie von vielen Bürgern nicht zur Kenntnis genommen oder sogar vehement zurückgewiesen. Somit waren auch Verweigerung oder Ignoranz wesentlicher Bestandteil dieser für Südafrika so wichtigen Debatte. Voraussetzung für die Gestaltung des Stücks Ubu and the Truth Commission war deshalb nicht der Versuch einer Rekonstruktion der Wahrheitsfindung vor der Kommission. Vielmehr ging es den Autoren in ihrem Theater um eine kritische Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Fassetten der in der Öffentlichkeit geführten Debatte selbst. Theater versucht, wie Kentridge erläutert, »der Erinnerung Bedeutung abzugewinnen, statt Erinnerung zu sein« (Kendridge 2002).4
Die meisten der mehr als rund 25.000 Zeugen, die vor der Kommission aussagten, benutzten eine der elf Landessprachen Südafrikas. Aussagen mussten deshalb in den meisten Fällen ins Englische, die Sprache der Verhandlungen, übersetzt werden. Dadurch wurde die Kommission vor ein Dilemma gestellt, denn es entstand bald der Eindruck, den Aussagen der Zeugen und ihren Emotionen nicht gerecht werden zu können. Anfänglich forderte man deshalb Dolmetscher auf, auch Emotionen und Gesten nachzuahmen. Die Folgen waren verheerend, so dass man diese Idee bald wieder fallen ließ. Es sind Widersprüche dieser Art, die in der Aufführung von Ubu and the Truth Commission produktiv umgesetzt wurden, indem zum Beispiel auf der Bühne authentische Zeugenaussagen einmal von einem der zwei Marionettenspieler, die eine Zeugenpuppe bedienten, auf isiXhosa und zum anderen von einer anonymen Stimme über Lautsprecher auf Englisch vorgetragen wurden. Damit kam klar zum Ausdruck, dass die Marionette nicht Zeugenschaft rekonstruiert, sondern nur Medium ist, durch das eine Zeugenaussage gehört werden kann. Die so erzählten Geschichten (wie die einer Mutter aus Queenstown, die nach wahllosen Erschießungen auf offener Strasse im Leichenschauhaus unter den Bergen von Leichen ihren Sohn zu identifizieren versucht, oder einer anderen Zeugin, die davon berichtet, wie sie versuchte, ihren Sohn vor der Verbrennung durch einen mit Benzin übergossenen Reifen zu retten) stellen durch diese bewusst theatralische Gestaltung komplexe Bedeutungszusammenhänge her. Zeugen wie diese stehen ein für alle, die vor der Kommission ausgesagt haben, genauso wie für jene, die es nicht (mehr) konnten. Als Zuhörer vor der Kommission oder Zuschauer im Theater werden wir aufgefordert, die Erfahrungen der Zeugen als Wahrheit anzunehmen, denn diese existiert erst in und durch ihre Mitteilung. Damit entsteht eine Art Zuhörerschaft, die zur Mitverantwortung gezogen wird und sich als »sekundäre Zeugenschaft, als Zeugenschaft durch Vorstellungskraft oder als Zeugenschaft der Erinnerung verstehen lässt« (Baer 2000, 11). Wie die theatralische Gestaltung des Stücks weiterhin zeigt, wird das Bezeugen der Geschichte nicht nur den Opfern und Betroffenen selbst überlassen, sondern fordert auch unser Bewusstsein über unsere fortwährend sich ändernde Aufnahmefähigkeit für die Grauen der Vergangenheit heraus. Dadurch werden wir gezwungen über unsere eigene Rolle und Verantwortung in der Geschichte und in der Gegenwart nachzudenken.
Zuhörerschaft und »sekundäre Zeugenschaft« bedeuten das Annehmen der Wahrheit des Verlustes und der von anderen erlittenen Traumata, auf die wir als Zuhörer mit Entsetzen, Empörung, Empathie, Verstörung oder sogar Unglauben reagieren. Hinterfragt werden muss deshalb nicht nur die verdeckte Zweideutigkeit der Reaktionen, sondern auch die Bedingungen von Zuhörerschaft an sich und der damit verbundenen Aufnahmefähigkeit für Gräuel der Vergangenheit. Wie Taylor bemerkt:
Unsere Reaktionen werden in Frage gestellt, denn was in unserem Inneren treibt uns eigentlich dazu, die Geschichten der Trauer anderer zu suchen? Oder, was noch problematischer ist, was bringt uns dazu die Geschichten von Folterern zu verfolgen? (Taylor 2002)5
In Ubu and the Truth Commission lenken die Zeugen-Marionetten unser Augenmerk auf ihre eigene Künstlichkeit. Damit werden wir als Zuschauer veranlasst, uns bereitwillig einem widersprüchlichen Prozess auszusetzen, nämlich die Realität, die wir wahrnehmen, zu verleugnen und gleichzeitig geltend zu machen. Einerseits vereinen die Zeugen-Marionetten im Vergleich zu den Figuren von Pa und Ma Ubu auf eindrückliche und zwingende Weise das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Zeugenaussage, Dolmetschen und Dokumentation. Andererseits legen sie das Verhältnis zwischen Zeugen, Tätern, Mitgliedern der Kommission, Zuhörern und Zuschauern offen, wie es in den Anhörungen und den damit verbundenen Abläufen selbst sichtbar wurde. In ›sekundärer Zeugenschaft‹ wird Geschichte gegenwärtig und Teil eines Gesellschaftsprozesses. In diesem Sinne standen individuelle Berichte und Geschichten vor der Kommission für die größere, nationale Geschichte Südafrikas ein. Wie Taylor bemerkt, sind individuelle Geschichten persönlicher Trauer, des Verlustes, des Triumphes und der Verletzung zu einem Nationalgut und mithin zu einem Bericht über Südafrikas jüngste Geschichte geworden, in der Autobiografie und Geschichte miteinander verschmelzen. Es ist dieser Aspekt, der für die Übergangsgesellschaft in Südafrika so äußerst wichtig war, denn vorher war persönliches Leiden entweder der Aufrechterhaltung oder dem Ziel der Befreiung vom Apartheid-Regime untergeordnet worden. Heute erst kann die individuelle sprachliche und gedankliche Gestaltung der Erinnerung und Trauer einer Zeugenaussage in ihrer Funktion als Gedächtnisträger in ihrer singulären und repräsentativen Erscheinung in aller Tragweite und als Teil eines gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses zur Kenntnis genommen werden.
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Gemäß den Anforderungen des dokumentarischen Theaters folgt Peter Weiss in Die Ermittlung weitgehend und oft wörtlich der Dokumentation des Frankfurter Auschwitz-Prozesses von Bernd Naumann (1904-1971) aus dem Jahre 1968 (Naumann 2004). Wie in Taylors Stück ging es bekanntlich Weiss nicht um eine Rekonstruktion der Verhandlungen vor dem Gericht, da sie ihm ebenso unmöglich schien, »wie es die Darstellung des Lagers auf der Bühne wäre«. Vielmehr handelt es sich bei der Ermittlung, wie Weiss in der Anmerkung zum Stück erläutert, um ein »Konzentrat«, das nichts anderes enthalten soll »als Fakten, wie sie bei der Gerichtsverhandlung zur Sprache kamen« (Weiss 1965, 7). Die Aussparung von Emotionen, die in der Gegenüberstellung von Zeugen und Angeklagten und damit von Reden und Gegenreden im eigentlichen Prozess eine bedeutende Rolle spielten, versucht Weiss durch eine Anonymisierung der im Stück auftretenden neun Zeugen zu erreichen, die ähnlich den Zeugen-Marionetten in Taylors Stück nur mehr als Sprachrohre fungieren. Sie stehen stellvertretend für Aussagen von Hunderten anderen, die genau wie sie während der Zeit, über die verhandelt wird, ihre Namen, ihre Identität und Individualität verloren hatten. Jeder der 18 Angeklagten dagegen stellt eine bestimmte Figur dar und trägt auch einen Namen, der aus dem realen Prozess übernommen wurde. Damit will Weiss ihre Individualität hervorheben und signalisieren, dass sie auch »als Symbole stehen für ein System, das viele andere schuldig werden ließ, die vor diesem Gericht nie erschienen« (ebd., 8).
Die weitgehende Anonymisierung des Geschehens, der Figuren – insbesondere der Zeugen – und der daraus resultierenden Universalisierung von Auschwitz hat dem Stück von Weiss scharfe Kritik eingebracht. Vor allem Kritiker aus den Vereinigten Staaten bemängelten Die Ermittlung im Rahmen eines sich seit den 1970er Jahren herausbildenden Diskurses über Ethik und Ästhetik der Auschwitz-Literatur. Im Zentrum der Auschwitz-Literatur stehen nämlich nicht nur »Debatten über Faktizität, Authentizität und Legitimität« sondern auch Fragen: »Wer darf für die Opfer sprechen? Wer für die Täter? Wer definiert die Opfer und Täter?« (Cohen 2000, 158). Weiss wurde vorgeworfen, dass die Anonymisierung vor allem der Zeugen dazu führte, dass undeutlich blieb, dass ein Großteil der Verfolgten und Opfer jüdischer Herkunft waren. Der Verzicht, den Zeugen der Anklage in Die Ermittlung Namen zu geben, soll indes offensichtlich an die systematische Entwürdigung der KZ-Häftlinge in den Lagern erinnern und muss, wie Robert Buch anmerkt, als Versuch gelten »der Namenlosigkeit der unzähligen Opfer gerecht zu werden und die tatsächliche Anonymität der Ermordeten nicht durch exemplarische Individualgeschichten vergessen zu lassen« (Buch 1997-2008). Es ging Weiss darum, für sein Stück universelle Gültigkeit zu erreichen und dadurch – hier folgte er den Konzepten des westdeutschen Dokumentartheaters der 1960er und 70er Jahre – in seine eigene Zeit einzugreifen und sie zu kommentieren. Weiss bezog sich hier auf die damaligen genozidartigen Vorgänge in Vietnam und in Südafrika. Mit dieser Zielsetzung entsprach Die Ermittlung dem von Theodor W. Adorno (1903-1969) neu formulierten kategorischen Imperativ, die Menschen hätten »ihr Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts Ähnliches geschehe« (Adorno, zit.n. Cohen 2000, 166).
Auch wenn das Universalisierungsbestreben in Die Ermittlung aus unterschiedlichen Gründen immer noch Unbehagen auslöst und vielleicht durch andere, individualisierende Darstellungstechniken hätte erreicht werden können, denn »die Opfer der nazideutschen Judenvernichtung waren einmalige historische Individuen, und gerade in der Konfrontation der Nachwelt mit dieser Einmaligkeit wird ihr Schicksal universalisierbar« (Cohen 2000, 167), hat das Stück bis heute an Aktualität nicht verloren. Indem das Gerichtsverfahren auf der Bühne in medias res beginnt und aufgrund fehlender Urteilsfindung offen bleibt, wird nicht nur der Umgang mit Auschwitz in Frage gestellt, sondern das juridische Verfahren selbst sowie der Versuch, die zur Verhandlung stehenden Verbrechen gesetzlich in den Griff zu bekommen. Dadurch wird auch erreicht, dass der Zuschauer in mehrfacher Hinsicht an der Ermittlung beteiligt wird. In der Konfrontation und Auseinandersetzung mit bezeugten Erfahrungen und Beschreibungen von Gräueltaten in der Vergangenheit stößt der Zuschauer an die Grenzen der Imagination. Sich das Geschehene vorzustellen, scheint unmöglich, denn es ist unvorstellbar. Dadurch entsteht eine »Vergegenwärtigung von beklemmender Intensität« (Buch 1997-2008). Insofern untergräbt Die Ermittlung
die Auffassungen von Literatur als einen von der Gesellschaft abgetrennten Bereich. Das Stück verwischt beharrlich die Grenzen zwischen der Wirklichkeit und ihrer Darstellung, zwischen Dokumentation und ihrer Interpretation, zwischen authentischen Personen und Bühnenfiguren (Cohen 2000, 159).
Auch hier werden Zuschauer/Leser zu ›sekundären Zeugen‹. Das bedeutet, dass sich die heutige Gesellschaft – genau wie die deutsche Nachkriegsgesellschaft – auch ethischen und juridischen Fragen und solchen nach verantwortlichem Handeln stellen muss.
Die Stücke von Jayne Taylor und Peter Weiss zeigen trotz der unterschiedlichen zeitlichen und kulturellen Bezugspunkte und gesellschaftlichen Kontexte, wie Theater gerade über Zeugenschaft und deren Problematisierung zum kulturellen Gedächtnis einer Nation beitragen kann. Sie zeigen außerdem, dass Zeugnis ablegen und bezeugen nicht bloß heißt,
etwas zu erzählen, sondern sich anderen gegenüber zu verpflichten und ihnen das Erzählte zu überantworten: im und durch das Sprechen selbst Verantwortung zu übernehmen für die Vermittlung der Geschichte und für die Wahrheit des Geschehens, für etwas, das seinem Wesen nach die Grenzen des Persönlichen überschreitet und allgemeine (nicht-persönliche) Gültigkeit und Konsequenzen hat (Felman 2000, 173).
Die Überantwortung macht Zeugenschaft zu einem dialogischen Prozess zwischen Zeugen, Zuhörern und der Gesellschaft. Welche Schwierigkeiten damit verbunden sind, ob und wie wir uns diesen öffnen und sie zu einem Anliegen der Gesellschaft machen, um damit zu der Aufrechterhaltung von vertretbaren Werten in der Gesellschaft beizutragen, wird in beiden Stücken eindrucksvoll thematisiert und zur Darstellung gebracht.
1 | Soweit nicht anders vermerkt stammen die Übersetzungen von der Verfasserin.
2 | Im Original: »I stand before you with neither shame nor arrogance. I am not a monster. I am an honest citizen, and would never break the law. Like all of you, I eat, and sleep, and dream dreams. These vile stories, they sicken me. When I am told of what happened here, I cannot believe it. These things, they were done by those above me; those below me; those beside me. I too have been betrayed! I knew nothing.«
3 | Im Original: »The Commission itself is theatre, or at any rate a kind of ur-theatre.«
4 | Im Original: »to make sense of memory, rather than be memory«.
5 | Im Original: »Our own reactions are questioned, because, after all, what is it in us that makes us seek out the stories of another’s grief? Or, even more problematically, what makes us follow the stories of the torturers?«
Adorno, Theodor W. (1980): Meditationen zur Metaphysik. In: Ders.: Negative Dialektik. Frankfurt a.M., S. 354-400
Baer, Ulrich (2000): Einleitung. In: Ders. (Hg.): Niemand zeugt für den Zeugen. Erinnerungskultur nach der Shoah. Frankfurt a.M., S. 7-31
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Cohen, Robert (2000): Identitätspolitik als politische Ästhetik. Peter Weiss’ »Ermittlung« im amerikanischen Holocaust-Diskurs. In: Baer 2000, S. 156-172
Felman, Shoshana (2000): Im Zeitalter der Zeugenschaft: Claude Lanzmanns »Shoah«. In: Baer 2000, S. 173-196
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Kentridge, William (2002): The crocodile’s mouth. In: Handspring Puppet Company 2002
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Naumann, Bernd (2004): Auschwitz. Bericht über die Strafsache gegen Mulka u.a. vor dem Schwurgericht Frankfurt. Berlin [11968]
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Ross, Fiona C. (2003): Bearing Witness. Women and the Truth and Reconciliation Commission in South Africa. London
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