Göttingen: V & R unipress 2016 – ISBN 978-3-84710-550-3 – 55,00 €
Der vorliegende Band dokumentiert die zweite internationale Konferenz zum Gesamtwerk des gebürtigen Franzosen und naturalisierten Deutschen, des romantischen Dichters und aufgeklärten Naturwissenschaftlers, des biedermeierlichen Preußen und (proto-)vormärzlichen Weltbürgers Adelbert von Chamisso. Zugleich eröffnet er mit der Reihe der »Chamisso-Studien« ein weiteres Forum für die Erforschung dieses Künstlers und Gelehrten, dessen Popularität gerade im interkulturellen Diskurs sich nicht zuletzt in der Verleihung des Adelbert-von-Chamisso-Preises der Robert Bosch Stiftung zeigt(e). Dass die Einstellung der Preisverleihung zum kommenden Jahr quasi zeitgleich mit der Veröffentlichung des Bandes angekündet wurde, demonstriert allerdings nachdrücklich, als wie schnelllebig sich die mediale Präsenz selbst eines Autors erweisen kann, dessen Biographie und Werk in so vielen Aspekten aktuelle Entwicklungen widerspiegelt.
Ob die positive Resonanz auf den Tagungsband der ersten Chamisso-Konferenz (vgl. Federhofer / Weber 2013), auf die Jutta Weber im Geleitwort verweist (vgl. 17), auch dem Nachfolger zuteilwerden wird, ist ungewiss. Unbestreitbar enthält der Band, dessen umfangreiche vierteilige Einleitung in ebenso wohlgesetzten wie wohlbekannten Worten die Zeitlosigkeit wie Aktualität von Chamissos Wirken beschwört, substanzielle Beiträge zur Forschung. Wie bereits die Korrespondenzen und Transformationen von 2013 gliedert sich auch Phantastik und Skepsis in drei thematisch angeordnete Blöcke und setzt zudem einen Schwerpunkt auf der editorischen Arbeit. Doch bereits die inhaltliche Füllung der drei Kategorien »200 Jahre Peter Schlemihls wundersame Geschichte«, »Das Unbekannte erfahren – Aufbruch in neue Welten« und »Lyrische Stationen« überzeugt weit weniger als noch die 2013 verwendete Einteilung in die Rubriken »Reisen und Forschen«, »Kommunikation und Korrespondenz« und »Musikalische Übertragung und literarische Transformation«, die zudem noch den Vorteil hatte, den Gesamttitel des Tagungsbandes transparent zu machen. Thematische Geschlossenheit wahrt begreiflicherweise am ehesten noch die erste Abteilung, die dem bekanntesten Text Chamissos gewidmet ist. Aber auch in Umfang und Qualität bewegen sich die Beiträge von Walter Erhart, Joseph Twist, Michael Schmidt und Nikolaus Immer auf einem einheitlichen Niveau: Alle vier Aufsätze sind konsequent an die aktuelle Forschungslage rückgebunden, präsentieren eine klare These und plausibilisieren diese mit ebenso nachvollziehbaren wie schlüssigen Argumenten. Erharts Untersuchung der Inszenierung von Zeit in der Novelle lenkt den Blick auf einen zentralen Parameter sowohl der inhaltlichen als auch der erzähltechnischen Komposition des Textes, indem zunächst die »Konfrontation ganz unterschiedlicher Zeitvorstellungen und Zeitwahrnehmungen« (50) nachgewiesen, die Handlung in »drei epochale Temporalitätserfahrungen«, nämlich »Beschleunigung, Stillstand, theatralisch-poetische Existenz« (54), sequenziert und schließlich die Installation einer naturwissenschaftlich fundierten Erdgeschichte behauptet wird, »deren Historie sich als Weltzeit längst von der Lebenszeit und der historischen Zeit gelöst hat« (57). Auch wenn Erharts Ausführungen nicht in allen Punkten vorbehaltlos zuzustimmen ist – so bleibt etwa unklar, warum die »Berliner Universität« als ein »die Menschenzeit überdauerndes Archiv« aufgefasst werden soll (57) –, leistet sein Ansatz einen wichtigen Beitrag zum vertieften Verständnis des narrativen Auf- wie des reflexiven Überbaus von Chamissos Novelle.
Um Letzteren geht es auch Twist in seiner Studie zur Verortung der Erzählung in den zeitgenössischen philosophischen Diskursen, die zahlreiche Stereotype der Schlemihl-Forschung in Frage stellen kann, wenn etwa die Erscheinung übernatürlicher Elemente wie des Teufels oder der Siebenmeilenstiefel durch die Rückbindung an den nachkantischen Skeptizismus als integraler Bestandteil der Novelle gedeutet wird (vgl. 66). Darüber hinaus gelingt Twist in der differenzierten Bestimmung der Position Chamissos zu Kant und Fichte eine fundierte Begründung für die Einordnung des Dichters in die geistesgeschichtlichen und literarischen Epochen der Aufklärung und der Romantik, die seit Beginn der Chamisso-Forschung einen festen Platz in deren Diskurs behauptet.
Der poetischen Komposition der Novelle widmet sich Michael Schmidt, indem er der Selbstinszenierung Chamissos als Autor in den Paratexten der Herausgeberfiktion, aber auch im bekannten Traum Schlemihls nachgeht. Wenn Schmidt am Ende seiner Ausführungen feststellt, dass »das Textuniversum der Erzählung vielleicht stärker als viele andere zeitgenössische Texte eng mit den Lebenswelten der Leser im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts verbunden« sei, und diese Behauptung durch die para- und intertextuellen Verweise weniger auf Haller, Humboldt und Linné als auf Goethe sowie insbesondere Fouqué und Hitzig belegt (87), stellen seine aus einer gründlichen Untersuchung der literarhistorischen Hintergründe gewonnenen Erkenntnisse einen wichtigen Ausgangspunkt für die weitere Erforschung der Verweisstrukturen im Schlemihl dar.
Der editionsphilologische Schwerpunkt der Tagung macht sich zum ersten Mal deutlich in Immers Untersuchung der Raumstrukturen bemerkbar, die das Manuskript der Novelle noch stärker prägen als die Druckfassung. Insbesondere Schlemihls Reise durch Afrika präsentiert sich in ihrer Endversion nicht nur weitgehend von allen Hinweisen auf bedeutende Afrikaforscher gereinigt; auch die Erwähnungen berühmter Bauwerke wie der Säulen des Memnon oder den Tempel des Jupiter Ammon sind verschwunden. Immer deutet diesen Befund dahingehend, »dass Schlemihl weder als Adept Lichtensteins […] noch als Konkurrent Mungo Parks […] vorgeführt werden soll«, während »die Tilgung einzelner Baudenkmäler auch den semantischen Kontexten geschuldet sein« könne, »die sie im frühen 19. Jahrhundert aufrufen« (104), d.h. konkret der symbolischen Aufladung derselben durch die romantische Poesie und Poetik.
Während die vier Beiträge der Schlemihl-Sektion durch ihre Untersuchung von Raum und Zeit, Aufbau und Gehalt der Novelle eine Einheit bilden, bietet der folgende Abschnitt ein buntes Sammelsurium aus Aufsätzen zu Chamissos Weltreisebriefen, ästhetischen Äußerungen, zoologischen bzw. botanischen Arbeiten und literarischen Strategien im Medium der Reisebeschreibung. Wie viele Verfasser von Untersuchungen, die Originalbriefe mit bearbeitenden Editionen vergleichen, erliegen auch Anna Busch und Johannes Görbert der Versuchung, mit maximalem Aufwand einen minimalen Erkenntnisgewinn zu produzieren – ein Umstand, der hier noch dadurch verschärft wird, dass man den beiden Autoren offenbar durch eine Zumessung des Aufsatzumfangs auch den nötigen Raum zum Zerreden der Ergebnisse eröffnet hat. Dagegen gelingt es Monika Sproll in ihrer Analyse der Briefzeugnisse zu Chamissos beratender Mitarbeit an Ludwig Choris’ Voyage pittoresque, das »Idyllische, das Charakteristische und das Erhabene, Schlüsselkonzepte klassizistischer und romantischer Ästhetiken« (156), als wichtige Aspekte einer Wirkungsästhetik Chamissos herauszuarbeiten, die auch für die weitere literaturwissenschaftliche Untersuchung des dichterischen Werkes, insbesondere der Lyrik, fruchtbar gemacht zu werden verdient.
Wolfgang Dohles informative Darstellung ordnet Chamissos bedeutendste zoologische Entdeckung, die des Generationswechsels der Salpen, vor dem Hintergrund der Diskurse in der zeitgenössischen Biologie wissenschaftshistorisch ein. Dagegen vermittelt Paul Hiepkos knapper Abriss kaum mehr als einen Einblick in die Arbeitswelt des sammelnden Botanikers Chamisso. Wenn Dorit Müller Chamissos Tagebuch in ihrem Beitrag immer wieder unspezifisch und unhistorisch als »Genremixtur« (218) oder »Gattungsmix« (226) bezeichnet, verrät ihr Ansatz eine terminologische wie konzeptionelle Schwäche, die verhindert, dass aus den vielen zutreffenden Einzelbeobachtungen zu verschiedenen Schreibverfahren in Chamissos Reisebericht – einer recht intensiv und inzwischen auch auf hohem Niveau erforschten Gattung – ein substanzieller Beitrag zum Verständnis von deren Spezifika abgeleitet werden kann.
Den dritten und letzten Teil des Sammelbandes, der sich der Lyrik Chamissos zuwendet, eröffnet ein kurzer Beitrag Volker Hoffmanns, der gleich zu Beginn als Addendum zu einem Aufsatz aus den 1970er Jahren deklariert wird und dessen Thesen weitgehend in gekürzter Form wiederholt (vgl. Hoffmann 1976). Leider verweist diese selbstironisch als »Gräberpflege auf dem Friedhof der Zeitschriften« (233) präsentierte erneute Hervorhebung der Bedeutung Uhlands für den Lyriker Chamisso auch vierzig Jahre später noch auf ein aktuelles Forschungsdesiderat – eines der vielen im Bereich von Chamissos Lyrik. So hat auch der Umstand, dass es sich bei dem Schloß Boncourt wahrscheinlich um Chamissos bekanntestes Gedicht handelt, nicht verhindert, dass man sich mit der Interpretation dieses autobiographischen Textes bis heute schwertut. Das geht leider auch Torsten Voß nicht anders, der bereits im Titel seines eher assoziativ reihenden als argumentativ verknüpfenden Beitrags auf die altbekannten Bahnen einschwenkt, wenn er seine Interpretation unter den Titel »[…] Realer und imaginärer Ort […] Die Sehnsucht nach der Kindheit als Utopie des Glücks […]« stellt. So muss es letztlich kaum verwundern, wenn seine Ergebnisse über die offensichtliche, hier allerdings erfreulicherweise eher aus dem Gesamtwerk als aus der Biographie Chamissos abgeleitete »Verknüpfung von Rastlosigkeit und Kreativität« (254) nicht entscheidend hinausgelangen.
Der Übersetzertätigkeit Chamissos widmen sich Marie-Theres Federhofer, die den Nachdichtungen der Béranger-Chansons einen bedeutenden Platz im Konzept der goethezeitlichen Weltliteratur anweist, sowie Caroline Gerlach-Berthaud, die in einem leider sprachlich wie orthographisch erschreckend nachlässig redigierten Aufsatz als Beispiel für Chamissos Übersetzung eigener Texte ins Französische neben dem Schlemihl auch das Schloß Boncourt heranzieht. Während Gerlach-Berthaud an der gut gewählten Textstelle aus dem Schlemihl demonstrieren kann, wie Chamissos Selbstübersetzung einen reflektierten und differenzierenden Kulturtransfer leistet, bleibt der Vergleich des Schloß Boncourt mit den beiden französischen Versionen en vers und en prose leider recht oberflächlich und daher auch wenig ergiebig.
Roland Berbig leitet mit einem kurzen Werkstattbericht eine Reihe äußerst knapper studentischer Beiträge ein, die aus der lobenswerten Integration von Archivarbeit und studentischer Lehre hervorgegangen sind. Zu begrüßen ist sicherlich auch der Ansatz, Studierende im Rahmen einer wichtigen Tagung und eines renommierten Sammelbandes erste Erfahrungen als eigenständige Forscher sammeln zu lassen; herausgekommen sind allerdings im vorliegenden Fall durchweg sehr kurze Beiträge, die meist bei einem vorsichtigen Anreißen der – durchaus gut gewählten – Problemkomplexe wie dem Schreibgerät, den verschiedenen Textarten oder den Blattverlusten verharren. Relevanz für die Forschung dürfte allenfalls den Fallstudien zu den Vorstufen des Dampfroß und des Mordthals zukommen, die jeweils von der Transkription einer Seite aus Chamissos Notizbuch begleitet werden. Ausführlicher meldet sich dann zum Abschluss des Sammelbandes Anne Baillot in einem Vergleich zwischen Chamissos Briefwechsel mit dem Freund de la Foye und dem ein Jahrzehnt später entstandenen Briefwechsel mit seiner Frau Antonie zu Wort. Dabei kann sie aufschlussreiche, zuweilen etwas überspitzt formulierte Parallelen aufzeigen und andeuten, wie diese insbesondere für die Analyse der Lyrik Chamissos fruchtbar zu machen wären (vgl. 365f.).
Auch angesichts eines Abgleichs mit dem Tagungsprogramm, das noch Vorträge von Michael Fisch, Bernd Ballmann oder Alexander Košenina ausweist, die im Sammelband fehlen, ist abschließend also ein durchaus gemischtes Fazit zu ziehen. Eine gründliche Lektüre nicht nur passionierter Chamisso-Forscher lohnt der Band allemal, einige Enttäuschungen bei der Lektüre werden jedoch voraussichtlich nicht ausbleiben. Gerade der Eindruck, dass sowohl auf der Tagung als auch im dazugehörigen Band letztlich immer wieder dieselben Texte Chamissos gewälzt und gewendet werden, sollte der germanistischen Literaturwissenschaft in jedem Fall als Warnung davor dienen, die Erforschung Chamissos allein der sich um die Chamisso-Gesellschaft herum positionierenden Forschergruppe zu überlassen, die derzeit die Tagungen und Publikationen zum Werk dieses bedeutenden Dichters des frühen 19. Jahrhunderts verantwortet. Gerade in interkultureller Perspektive, die bei der Präsentation Chamissos so eindringlich beschworen wird, bleibt beispielsweise in der Erforschung der nach wie vor weitgehend unbeachteten Lyrik noch vieles zu leisten – und gerade hier tritt der vorliegende Tagungsband bedauerlicherweise lediglich auf der Stelle.
Federhofer, Marie-Theres / Weber, Jutta (Hg.; 2013): Korrespondenzen und Transformationen. Neue Perspektiven auf Adelbert von Chamisso. Göttingen.
Hoffmann, Volker (1976): Drücken, Unterdrücken – Drucken. Zum Neubeginn von Chamissos politischer Lyrik anhand eines erstveröffentlichten Briefes an Uhland. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 20, S. 38-86.