Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2016 – ISBN 978-3-8253-6586-8 – 58,00 €
Die vorliegende Studie von Laura Said widmet sich den Fiktionalisierungen der historischen Person Walther Rathenau und deren Biographie. Dabei sollen »die fiktionalen ›Doppelgänger‹ Rathenaus« analysiert und erfasst werden, wobei im Mittelpunkt der Untersuchungen »weniger die realgeschichtliche Person und ihr biographischer Werdegang, sondern vielmehr ihre literarischen Gegenbilder« (12) stehen. Dennoch bleibt die Biographie Walther Rathenaus immer als Folie präsent, vor deren Hintergrund die unterschiedlichen Fiktionalisierungen als Deutungsvarianten gelesen werden, an denen zum einen unterschiedliche zeitgeschichtliche Beurteilungen Rathenaus – ausgehend von zeitgenössischen Darstellungen bis hin in die Gegenwart – sowie entsprechende Wertungen von dessen Ermordung, zum anderen aber auch eher persönlich motivierte Auseinandersetzungen von Autoren mit dieser ambivalenten Figur sichtbar gemacht werden sollen.
Die Arbeit schließt an Studien von Pierre Giraud (vgl. 1975), Dieter Heimböckel (vgl. 1996) und Martin Sabrow (vgl. 1998) an, die sich bereits mit ausgewählten Fiktionalisierungen und der Mythisierung der komplexen geschichtlichen Person des Industriellen, Schriftstellers und Reichsaußenministers der Weimarer Republik sowie dessen Ermordung auseinandergesetzt haben. Die Zielsetzung von Laura Said ist dabei weniger detailanalytisch als vielmehr auf »eine umfassende Überschau der literarischen Texte in Bezug auf die fiktionalen Abbilder Rathenaus« (51) ausgerichtet. Insofern finden hier nicht nur literarisch hochstehende Werke Beachtung wie etwa Hugo von Hofmannsthals Der Schwierige, Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften oder Ernst Weiß’ Ich, der Augenzeuge, sondern auch unbekanntere Kriminalromane wie Karl-Heinz Henses Zwei Schüsse, Friedrich Karl Kauls Mord im Grunewald oder Gunnar Kunz’ Organisation C. »Eine strukturierte, nach Vollständigkeit strebende Arbeit, die versucht, alle diese mehr oder weniger bekannten Rathenau-Figuren zusammenzubringen, sie in direkter Verbindung zueinander und zum Politiker zu untersuchen, ist das Ziel der vorliegenden Arbeit.« (50f.) Dieser Zielsetzung entsprechend findet nicht nur die relativ geringe Zahl an Werken Beachtung, in denen fiktionale Rathenau-Figuren als Protagonisten auftreten. Vielmehr bestimmt sich die Korpuswahl dadurch, dass in den entsprechenden Texten »Rathenau verschlüsselt oder namentlich eine bedeutende Rolle als tragende Figur, Neben- oder Randfigur spielt.« (58) Der Umstand, dass eine fiktionale Rathenau-Figur innerhalb eines Textgefüges eine »periphere Position« einnimmt, relativiert nach Ansicht der Autorin nicht deren »Wert für die Handlungsentwicklung oder die Aussage des Textes«, da »[a]llein das Auftreten einer fiktionalisierten Rathenau-Figur im Erzählzusammenhang, allein die Erwähnung des Namens ›Rathenau‹, der von vornherein auf bestimmte Informationen hinweist,« grundsätzlich »weder zufällig noch irrelevant« sei (59).
Die Analyse der »literarischen anderen ›Doppelgänger‹ Rathenaus« erfolgt genreübergreifend. »Romane, Erzählungen und Dramen [werden] anhand des Prinzips der gegenseitigen Erhellung zusammengestellt und in Bezug auf ihre Fiktionalisierung der realgeschichtlichen Persönlichkeit analysiert.« (72) Dabei werden die jeweiligen literarischen Darstellungen Rathenaus nach Thematiken und Deutungsmustern sowie zeitgeschichtlich gruppiert. Die Anordnung erfolgt nach folgenden Gliederungspunkten: 1. der Vielseitigkeit Rathenaus (vor allem im kritischen Werk zeitgenössischer Literaten), 2. der jüdischen Thematik, insbesondere der Assimilationsversuche Rathenaus, 3. der Darstellung des »Märtyrers der Weimarer Republik«, 4. Rathenau aus der Täterperspektive, 5. Fokussierung auf die Opferperspektive in der Kriminalliteratur, 6. Darstellung des Mords als Fanal innerhalb der Weimarer Republik, 7. Rathenau als Parallel- oder Kontrastfigur, 8. literarische Darstellungen im autobiographischen Werk seiner Freunde und 9. im autobiographischen Werk anderer Zeitgenossen, ergänzt durch 10. die Perspektive ausländischer Autoren. In den Einzelanalysen wird insbesondere das Verhältnis der Figur zur Handlung sowie deren Verhältnis zu anderen Figuren geklärt, woraus die jeweilige »literarische Aussage« (59) in Bezug auf die Deutung Rathenaus deduziert wird.
Ins Auge fällt, dass es in der literarischen Auseinandersetzung mit Walther Rathenau zwei Hauptstränge gibt: einen, der sich auf die ambivalente Person Walther Rathenau, und einen anderen, der das Attentat auf den Reichsaußenminister und die politischen Implikationen fokussiert. Im ersten Fall regt die komplexe, vielschichtige Persönlichkeitsstruktur die literarische Phantasie an, im zweiten Fall ist es das von der Organisation Consul verübte Attentat, das schon als reales Geschehen »etwas Dramatisches, vielleicht sogar Romanhaftes« (256) an sich hat. Während die Fiktionalisierung und literarische Reflexion einschneidender realgeschichtlicher Ereignisse an sich nichts Überraschendes ist, werfen die Faszination, die die Person Walther Rathenau nicht nur auf ihre Zeitgenossen ausübte, und ihre vielfältigen, divergierenden literarischen Adaptionen die spannende Frage auf, worin genau deren poetisches Potential liegt.
Das große literarische Interesse an der Person erklärt sich für Said aus der Ambivalenz und Vielschichtigkeit des realgeschichtlichen Walther Rathenau, einem »Phänomen wie ein Regenbogen« (Musil 1987: 90) – wie es in Musils Mann ohne Eigenschaften über Dr. Paul Arnheim, die literarische Adaption Rathenaus in diesem Roman, heißt. Als Gegenfigur zum Protagonisten Ulrich ist Arnheim hier ein »Mann mit vielen Eigenschaften« (vgl. Buddensieg u.a. 1990). »Er spricht von Liebe und Wirtschaft, von Chemie und Kajakfahrten, er ist ein Gelehrter und Gutsbesitzer und ein Börsenmann; mit einem Wort, was wir alle getrennt sind, das ist er in einer Person, und da staunen wir eben.« (Musil 1987: 190) In dieser Vereinigung des Gegensätzlichen gründet insbesondere die Faszination der Zeitgenossen für den »Epochenmann« (71). Er wird zu einer schillernden Figur, die sich den gewohnten Zuordnungskategorien entzieht und stellt insofern – etwa für Thomas Mann – eine »kulturelle Neubildung von hoher Merkwürdigkeit« (Mann, zit. 14) dar. Dieses »Präfix ›Neu‹« markiert dabei »seine Andersartigkeit, seine Fremdheit und dadurch seine Unzulänglichkeit« (15), wie Said schreibt. ›Andersartigkeit‹ und ›Fremdheit‹ müssen hingegen nicht grundsätzlich mit ›Unzulänglichkeit‹ konnotiert sein, vielmehr ist doch gerade das, was sich gewohnten Ordnungsmustern entzieht, eine Inspirationsquelle für literarische Produktivität, die der Faszination für den vielschichtigen Charakter des realhistorischen Walther Rathenau sicher in nichts nachsteht.
Mit Dieter Heimböckel lässt sich Rathenau als ein »Wanderer zwischen den Welten« (Heimböckel 1993: 67) beschreiben, als eine Figur des Dazwischen, die aufgrund ihrer ambivalenten »Doppelheit« (Rathenau, zit. 17) für interkulturelle Fragestellungen interessant sein könnte. Diese Ambivalenz zeigt sich gerade auch im jüdisch-deutschen Kontext, veröffentlichte Rathenau doch 1897 mit Höre Israel! eine, aufgrund der hier artikulierten Bewunderung des Preußentums und der ›germanischen Rasse‹, überaus polarisierende Schrift, die in den 1930er Jahren zur Beantwortung der Frage herangezogen wurde, ob denn »Juden Nationalsozialisten sein« (Bon, zit. 29) können, und den »antisemitischen Intellektuellen und Journalisten […] massenhaft Argumente für die Begründung ihrer rassischen Ideologie« (30) lieferte. Die ›preußisch-jüdische Hybridität‹ (vgl. 104) Rathenaus wird zudem in den Werken seiner Zeitgenossen zum Charakteristikum des »modernen deutschen Juden«, der »auf der Brücke zwischen beiden Welten« (Anonymus, zit. 32) steht. Wie Said zeigt, findet über die Fiktionalisierung Rathenaus – dem »Prototyp des Assimilationsjuden« (197) – in Carl Hauptmanns Ismael Friedmann, Carl Sternheims Der Snob und John Pierpont Morgan, Jakob Wassermanns Etzel Andergast sowie in Jan Christs Anna Wentscher eine gezielte Auseinandersetzung mit der jüdisch-deutschen Identitätsproblematik statt. »[D]iese Autoren […] begründen den inneren Kampf Rathenaus viel deutlicher aus der jüdischen Problematik heraus und thematisieren bewusst die Identifikationsversuche bzw. die Anpassungsmöglichkeiten des Industriellen; einige […] finden sogar eine Lösung für die vorhandene Zerrissenheit.« (106)
Augenscheinliche Parallelen zum postkolonialen Identitätsdiskurs bleiben hier allerdings unerwähnt, wie überhaupt theoretische Positionen (etwa zum poetischen Potential realhistorischer Personen, zur Mythologisierung, zum Verhältnis von Fakten und Fiktion etc.) kaum Erwähnung finden, und auch ein Vergleich mit anderen ›mythologisierten‹ Figuren der Zeitgeschichte – wie etwa Bismarck (vgl. Parr 1992) – findet nicht statt. Die Beschäftigung mit den Rathenau-Fiktionalisierungen verbleibt generell eher auf einer narrativen Ebene. Insgesamt hat man den Eindruck, dass über die Analyse der literarischen Rathenau-Figuren ein komplexes Porträt der realen Person gewonnen werden soll und die analysierten Werke diesbezüglich als Schlüsseltexte gelesen werden, was sich u.a. auch in einer starken Tendenz dazu zeigt, bei den Kontrastfiguren zu den Rathenau-Fiktionalisierungen die Protagonisten als ›Alter Ego‹ des jeweiligen Autors zu lesen (vgl. 442, 454 u.a.). Es scheint, als wolle die Autorin aus den unterschiedlichen literarischen Werken, die ihrer Ansicht nach jeweils »unterschiedliche Facetten« von »Rathenaus Persönlichkeit« ins Werk setzten, »ein Mosaik« (494) zusammensetzten, das ein komplexes Bild der realhistorischen Person ergibt. Die Autorin resümiert, dass alle Autoren sich »Aspekte aus Rathenaus Persönlichkeitsmosaik« auswählen und dabei »nur diejenigen Charakterzüge auf[greifen], die ihren ganz persönlichen Vorstellungen entsprechen.« (497) Die literarische Vielfalt von Rathenau-Porträts wird dabei im Grunde mit dessen facettenreicher Persönlichkeit kurzgeschlossen:
Die komplexe realhistorische Persönlichkeit führt dazu, dass auch sein literarisches Porträt ein stark wandelbares ist. Vom Kaiserreich bis in die Gegenwart ergibt die Zusammenstellung der literarischen Darstellungen Rathenaus zumindest ein Faktum: Der Mensch und Politiker Rathenau stellt die Inspiration für eine literarische Figur dar, die zu einer sich immer wieder verändernden Deutbarkeit und Interpretation auffordert. (494)
Eine eingehendere Berücksichtigung literarästhetischer Fragestellungen wäre wünschenswert gewesen, da diese doch zweifelsohne aus literaturwissenschaftlicher Perspektive nicht die unbedeutendste Rolle unter den »vielen Aspekten der Fiktionalisierungen Rathenaus« (498) spielen.
In der umfangreichen Auseinandersetzung mit Fiktionalisierungen Walther Rathenaus hat das Buch dennoch den Charakter eines Nachschlagewerks. Die übersichtliche Gestaltung und Gliederung sowie die hilfreichen Zusammenfassungen am Ende jeden Kapitels und am Schluss der Arbeit unterstreichen dies.
Bon, Fred (1931): Können Juden Nationalsozialisten sein? In: Der nationaldeutsche Jude. Mitteilungsblatt des Verbandes nationaldeutscher Juden 1, S. 7.
Buddensieg, Tilmann u.a. (1990; Hg.): Ein Mann vieler Eigenschaften. Walther Rathenau und die Kultur der Moderne. Berlin.
Giraud, Pierre (1975): L’image de Walther Rathenau dans la presse et la littérature allemandes. Sa légende historique, ses métamorphoses littéraires. Paris.
Heimböckel, Dieter (1993): Im Dialog. Walther Rathenau und die Literatur seiner Zeit. In: Hans Wilderrotter (Hg.): Die Extreme berühren sich. Walther Rathenau 1867-1922. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Zusammenarbeit mit dem Leo Baeck Institute (New York). Berlin, S. 67-98.
Ders. (1996): Walther Rathenau und die Literatur seiner Zeit. Studien zu Werk und Wirkung. Würzburg.
Musil, Robert (1987): Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes und zweites Buch. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg
Parr, Rolf (1992): »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust«. Strukturen und Funktionen der Mythisierung Bismarcks (1860-1918). München.
Sabrow, Martin (1998): Die Macht der Mythen. Walther Rathenau im öffentlichen Gedächtnis. Sechs Essays. Berlin.