From the end of the 19th century until today, many Turkish writers have painted a picture of Germany and Germans. Although there has been a lot of imagological research conducted regarding the use of Turkish characters and Turkey in German fictional and non-fictional texts, the reverse has not been undertaken to any great extent. In the first chapter of this article I discuss the problems encountered in using an imagological approach for analysing fictional works. Following this the results of completed studies concerning images of Germany and Germans in Turkish writing are presented. Finally, as a case study, I analyse and interpret Zülfü Livaneli’s popular novel, Leyla’nın Evi, and in particular its Turkish characters’ perceptions of Germany and the novel’s German characters. This analysis shows two key distinctions and their usefulness when performing imagological research, namely: the perceptive and apperceptive consciousnesses of the characters, and the difference between the main characters’ individually attributed images versus commonly shared stereotypes.
Title:Peepshow and Perfection: The Genesis and Functionality of Images of Germany in Zülfü Livanelis’ Novel Leyla’nın Evi
Keywords:imagology; national stereotypes; image of Germany; Turkish literature; contemporary literature
Die Fragestellung, »welche ›Bilder der Anderen‹ in der Literatur vorkommen, mit welchen Mitteln und Effekten diese Bilder als ›Fiktionen des Fremden‹ literarisch, künstlerisch modelliert sind und welchen Beitrag Literatur damit zur interkulturellen Verständigung leistet oder auch verfehlt« (Mecklenburg 2008: 241), ist unter dem Begriff der »Interkulturellen Imagologie« (ebd.) ein anerkannter Untersuchungsgegenstand der interkulturellen Literaturwissenschaft geworden. Alternativ dazu ist auch von »komparatistischer Imagologie« die Rede, wenn »Fremdheit Züge einer nationalen Imago, eines Bildes vom anderen Land (und von dessen Bewohnern) annimmt« (Corbineau-Hoffmann 2004: 195).
An der Praxis imagologischer Untersuchungen in den Literaturwissenschaften kritisiert Florack (2007: 18–21) in Auseinandersetzung mit den Untersuchungen Leitners (1989), Blaichers (1992) und Zacharasiewicz’ (1998), dass aus verschiedenen Einzelbeobachtungen häufig ein Gesamtbild konstruiert werde, welches erst durch eine inadäquate »mosaikartige Zusammensetzung über Textgrenzen hinweg« (ebd.: 21) entstehe. Die Überschreitung der Textgrenzen führe dazu, dass »das Strukturgefüge des einzelnen Werks« vernachlässigt und »de[r] Blick auf die komplexen kulturellen Verweisungszusammenhänge, in denen jedes Strukturelement steht« (ebd.), verstellt werde. Sie betont die Notwendigkeit, die »stets besondere Funktion, […] die Motive des Fremden in den jeweiligen Texten haben« (ebd.), zu berücksichtigen. Es kann folglich nicht darum gehen, aus der Lektüre verschiedener Texte unter Vernachlässigung ihrer strukturellen Integration ein allgemeines Nationenbild – ›Deutschlandbilder‹ oder stereotype ›deutsche‹ Figuren – herauszuarbeiten, stattdessen ist zu analysieren, welche Gestalt und Funktion sie im jeweiligen Text haben. Das bedeutet mitunter die Möglichkeit, dass »es in Texten mit Nationalstereotypen überhaupt nicht um die Darstellung einer fremden Kultur« geht (Florack 2003: 37). Selbst wenn bestimmte Verhaltensweisen oder Typen immer wieder in verschiedenen Texten verwendet werden, bleibt bei der Analyse die Funktion entscheidend, welche ihnen im konkreten Textzusammenhang zukommt (vgl. Florack 2007: 60). Am Beispiel von ›Deutschlandbildern‹ hat Behrendt (2007: 146) zwei Ebenen der Konkretion nationaler Images identifiziert:
Definitorisch lässt sich festhalten, dass Deutschlandbilder mentale Konstruktionen sind, die sowohl wahrnehmungsnah (perzeptiv) als auch reflexiv (apperzeptiv) entstehen. Sie bestehen aus abstrakten Symbolen und Assoziationen, die Erkenntnis stützend und Orientierung gebend unser Denken und Handeln gegenüber dem beeinflussen, was in unserem Umfeld als Deutschland bezeichnet wird.
Die Unterscheidung zwischen perzeptiver und apperzeptiver Ebene, welche an der Entstehung von Nationenbildern beteiligt sind, lässt sich im Rahmen dieser Arbeit auf die Wahrnehmung und Reflexionen der Figuren in literarischen Texten übertragen. Was Figuren etwa als ›deutsch‹ wahrnehmen, ob und wie sie diese Wahrnehmung reflektieren und welchen Einfluss ihre Reflexionen im weiteren narrativen Verlauf haben, sind die wesentlichen Fragen, die bei der Analyse der Figuren zu beantworten sind. Dabei gilt es zugleich, die allgemeine Wahrnehmungs- und Reflexionsfähigkeit, die der Figur innerhalb der Erzählung zugestanden wird, für eine angemessene Beurteilung heranzuziehen. Gerade der Übergang von der perzeptiven zur apperzeptiven Ebene, also das kognitive Schlussfolgern aus den Erlebnissen und Wahrnehmungen z.B. in Hinblick auf ›Deutschland‹ und ›deutsche‹ Figuren, erscheint für interkulturelle Fragestellungen relevant.
Literarische Texte bieten dem Leser grundsätzlich die Möglichkeit, die Genese individueller »mentaler Konstruktionen« einzelner Figuren, also auch die Entstehung von Nationenbildern,2 zu beobachten und deren Auswirkungen auf die Haltung und das Handeln der Figur mitzuverfolgen. Dabei kann die Erzählinstanz die Erlebnisse und Reflexionen der Figuren relativieren, bestätigen oder unkommentiert lassen. Deshalb ist das Verhältnis der Erzählinstanz zu den Figuren zu berücksichtigen. Literarische Figuren bilden aufgrund ihrer perzeptiven Wahrnehmungen und apperzeptiven Reflexionen ein je spezifisches individuelles Bild über eine Nation aus, welches mit außerliterarischen, relativ stabilen und verbreiteten Stereotypen übereinstimmt oder diese relativiert.3 Für den Fall der Übereinstimmung lässt sich sagen, dass die Wahrnehmungen und Reflexionen der Figuren die außerliterarischen Stereotypen, welche sich als Formen »erstarrten Denkens« (Mecklenburg 2008: 239) gerade durch Erfahrungsarmut auszeichnen, mit den Erfahrungen der Figuren zumindest potentiell (re-)legitimieren, falls diese nicht anderweitig problematisiert werden.
Die Trennung zwischen Perzeption und Apperzeption bei der Analyse der Figuren sowie die Analyse des Verhältnisses zwischen Bildern und Stereotypen sind für eine adäquate Untersuchung der Funktion nationaler Images in fiktionalen Texten unverzichtbar.
Während für das Gebiet der ›Türkeibilder‹ und ›Bilder von Türken‹ in deutschsprachigen Texten eine Reihe von jüngeren Untersuchungen türkischer ForscherInnen vorliegen – z.B. Kula (1992, 1993, 1997), Öztürk (2000), Ünlü (2005), Karakuş (2006) und Coşan (2009) –, sind Untersuchungen zu Bildern von ›Deutschland‹ und ›deutschen‹ Figuren in erzählenden türkischen Texten bzw. Filmen hingegen ein bisher wenig untersuchtes Phänomen.4 Zwar bietet Hofmann (2013: 8) »ausgewählte Studien zur türkischen Gegenwartsliteratur«, die er als integralen Bestandteil seines Konzeptes der »deutsch-türkischen Literaturwissenschaft« (ebd.) betrachtet. Allerdings stehen im Mittelpunkt seiner Analysen der Übersetzungen türkischsprachiger Romane keine deutsch-türkischen Konstellationen,5 sondern der »Umgang […] mit Tradition und Moderne, mit der Bedeutung der Religion und mit Genderkonzepten« (ebd.: 11). Auch die turkologischen Beiträge in Hofmann/Pohlmeier (2013) behandeln diesen Aspekt nicht.6 Deshalb bilden die aktuellen Arbeiten von Karakuş (2010) zu Sabahattin Alis Roman Die Madonna mit dem Pelzmantel (2008; Kürk Mantolu Madonna [1943]) und von Kayaoğlu (2010) zur Darstellung Deutschlands in türkischen Yeşilçam-Filmen der 1960er bis 80er Jahre einen wichtigen Ansatz.7
Die bisher einzige umfassendere Arbeit auf diesem Gebiet wurde vor mittlerweile 30 Jahren publiziert: Riemann (1983) stellt zahlreiche Autoren vor, die seit Ende des 19. Jahrhunderts ihren Lesern literarische und nicht-literarische Deutschlandbilder vermittelt haben. Dazu zählen Reisebeschreibungen u.a. von Ahmet İhsan Tokgöz (vgl. ebd.: 1ff.), Ahmet Mithat (vgl. ebd.: 7f.) oder Ahmet Haşim (vgl. ebd.: 8ff.) ebenso wie literarische Texte von Sabahatin Ali (vgl. ebd.: 20), Haldun Taner (vgl. ebd.: 23ff.),8 Sevgi Soysal (vgl. ebd.: 27ff.)9 und Cengiz Dağcı (vgl. ebd.: 33ff.).10 An diesen AutorInnen wird deutlich, dass bereits lange vor dem Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei im Jahre 1961 türkisch-deutsche interkulturelle Konstellationen Thema in der türkischen Literatur waren. Darüber hinaus finden sich einschlägige deutschsprachige Texte aus der Zeit vor 1961.11
Dagegen haben Hofmann und Pohlmeier vorgeschlagen, die »deutsch-türkische Literatur« auf deutschsprachige Texte zu begrenzen und mit dem Jahr 1961 beginnen zu lassen. Sie definieren »deutsch-türkische Literatur« als
Literatur in deutscher Sprache, in deren interkultureller Konstellation es zuerst und dezidiert um die Überwindung klischeehafter Bilder des Deutschen wie des Türkischen geht. […] Die Geschichte der deutsch-türkischen Literatur beginnt mit dem Anwerbeabkommen […]. (Hofmann/Pohlmeier 2013: 8)
Im Widerspruch zu dieser sprachlichen Grenzziehung erkennt Hofmann (2013: 161ff.) mit seinen Studien zur türkischen Gegenwartsliteratur an anderer Stelle die Bedeutung der in türkischer Sprache verfassten Texte als Bestandteil der »deutsch-türkischen Literaturwissenschaft« an. Außerdem enthält die Priorisierung in der angeführten Definition ein weniger literarisches als pädagogisches und damit pejoratives Moment, das Texte marginalisiert, welche diese Maßstäbe nicht erfüllen. Wie problematisch dieses Vorgehen ist, zeigt sich, wenn Hofmann (2013: 161) für seine Analysen zur türkischen Gegenwartsliteratur erklärt: »Für ein anspruchsvolles Lesepublikum und für die Literaturwissenschaft von Interesse sind aber nicht islamistisch orientierte Autorinnen und Autoren, die mit der Rückwendung zu den vermeintlichen ›Wurzeln‹ der türkischen Kultur die Europäisierung und die Verwestlichung der Türkei rückgängig machen wollen.« Hier werden ohne eingehende Begründung Texte ausgeschlossen, die für das Verständnis bedeutender anti-›westlicher‹ Diskurse in der türkischen und deutschen Gesellschaft zentral wären. Dabei können und sollten solche Texte gerade aufgrund ihres Gehalts an offensichtlich als problematisch empfundener ›Fremdheit‹ für die interkulturelle Literaturwissenschaft ebenso wie für das anspruchsvolle Lesepublikum von besonderem Interesse sein.
Für die Zeit nach 1961 benutzt Riemann den Begriff der »Deutschlandliteratur«12 für die Literatur von bzw. über die Gastarbeiter in türkischer Sprache, welche er mit den Erzählband Almanya Almanya (1965) von Nevzat Üstün, dem Roman Türkler Almanya’da (1966) von Bekir Yıldız und dem Gedichtband Koca sapmalarda biz vardık (1968) von Yüksel Pazarkaya beginnen lässt (vgl. Riemann 1983: 41). Auf diese drei Autoren konzentriert sich auch seine Darstellung; er konstatiert, dass diese »Deutschlandliteratur« zu einer breiten Literaturströmung geworden sei, und führt weitere Autoren wie Fethi Savaşçı oder Adalet Ağaoğlu an (vgl. ebd.: 99ff.). Riemann publizierte zudem eine Bibliografie »literarische[r] Arbeiten türkischer Autoren, in denen es um Deutschland und die Türkei, um Deutsche und Türken geht.« (Riemann 1990: VII) Diese Bibliografie mit dem Titel Über das Leben in Bitterland enthält 1100 einschlägige Angaben, die – über die zitierte Selbstcharakterisierung hinausgehend – auch nicht-literarische Werke und nicht-türkische Autoren umfassen, und demonstriert damit eine reiche potentielle Quellenlage.
Diesen Pionierarbeiten zur Darstellung Deutschlands in der türkischsprachigen Literatur folgt erst 20 Jahre später ein Beitrag von Reckermann (2003). Sie behandelt kurz Bekir Yıldız, Füruzan und Adalet Ağaoğlu (vgl. ebd.: 330–333.), wobei sie die Texte von Yıldız und Füruzan als »Hasstiraden« (ebd.: 336) bezeichnet. Für Yıldız stellt sie beispielsweise fest: »Die Verderbtheit der [deutschen] Frau zieht sich wie ein Leitmotiv durch Yıldız’ Vorstellungswelt«, während der türkische Mann »einerseits den großen Frauenbeglücker« repräsentiere, andererseits der »Bewahrer menschlicher Werte« (ebd.: 331) sei, wohingegen Ağaoğlu in ihrem Roman Die zarte Rose meiner Sehnsucht13 »[a]nalytisch und differenziert«14 erzähle. Allerdings geht Reckermann bei ihren Ausführungen nicht auf den Unterschied zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten ein, zudem unterbleibt wohl aus Platzgründen in ihrem Überblick eine eingehendere Analyse der angeführten Textbeispiele. Als in Deutschland lebende, aber auf Türkisch schreibende Autoren stellt sie Aras Ören, Güney Dal und Fakir Baykurt (vgl. ebd.: 336–339) vor.
Lerch nennt die türkischsprachige Literatur von türkeistämmigen Autoren, die im Ausland, vorwiegend in Deutschland, leben, »gurbet edebiyatı« (Lerch 2004: 53), also ›Literatur der Fremde‹. Die deutschsprachigen Texte dieser Autoren zählt er hingegen zur deutschen Literatur. Für die erste Kategorie nennt er wie Reckermann Aras Ören und Bekir Yıldız.15 In der zweiten Kategorie, für die keine Beispiele angeführt werden, lassen sich Autoren wie Özdamar und Zaimoğlu verorten. Zur Bedeutung Deutschlands in der türkischen Literatur stellt er fest:
Das Thema Deutschland aber ist im Begriff, eine eigene Sparte der türkischen Literatur zu werden oder auch, sofern die Autoren Türken sind, aber deutsch schreiben, der deutschen. Wie sich diese Literatur, die vorerst noch eine Literatur der so genannten ›Deutschländer‹ ist, weiterentwickeln wird und in welcher Weise sie in Zukunft auf die in der Türkei geschaffene Literatur Einfluss nehmen kann, vermag noch niemand zu sagen. (Lerch 2003: 54)
Implizit sieht Lerch für die weitere Entwicklung die Möglichkeit einer Literatur, die ›Deutschland‹ thematisiert, ohne dass hier von »gurbet edebiyatı« im Sinne eines Migrationshintergrundes der Autoren die Rede sein muss. Die weitere Entwicklung der türkischen Gegenwartsprosa in den folgenden zehn Jahren zeigt, dass ›Deutschland‹ vor allem mit Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und die Judenverfolgung in den letzten Jahren tatsächlich von Autoren aufgegriffen wird, die nicht als ›Deutschländer‹ (»Almancılar«) oder dauerhafte ›Migranten‹ bezeichnet werden können.16
Von dem Komponisten, Sänger und Schriftsteller Zülfü Livaneli liegen verschiedene literarische und biografische Texte in deutscher Übersetzung vor,17 während der für die Untersuchung ausgewählte Text Leyla’nın Evi (»Leylas Haus«)18 bisher nur auf Türkisch publiziert ist. Der Roman ist inzwischen in türkischen Buchhandlungen in der 72. Auflage erhältlich. Er ist damit als ein Roman mit einem großen Lesepublikum einzuschätzen; das in diesem Text durch die Figuren vermittelte Deutschlandbild wird dementsprechend breit rezipiert. Deutschland und deutsche Figuren stellen lediglich Nebenaspekte dieses Romans dar, was den Text für eine in diesem Rahmen notwendigerweise begrenzte Analyse besonders geeignet erscheinen lässt, da die Funktionen für das Gesamtgefüge des Romans präzise und übersichtlich darstellbar sind.
Zunächst soll der Inhalt des Romans für das bessere Verständnis kurz vorgestellt werden: Die fast 80-jährige Leyla, die in dem Gartenhaus einer großen Bosporus-Villa wohnt, welche einmal ihrer Familie gehörte, wird durch ein fingiertes Gesundheitsgutachten entmündigt und von den neuen Hausbesitzern auf die Straße gesetzt. Der Zeitungsreporter Yusuf kennt Leyla seit seiner Kindheit und nimmt die obdachlose Frau in seiner Wohnung auf. Yusuf lebt mit Rukiye zusammen, die aus Deutschland nach Istanbul gekommen ist, um in der Stadt als Hip-Hop-Sängerin Karriere zu machen. Yusufs Bemühungen, die Entmündigung rückgängig zu machen, scheitern. Erst ein Mord in der Familie des neuen Besitzers ermöglicht die Rückkehr Leylas in ihr Gartenhaus, wo sie nach einiger Zeit stirbt. Yusuf und Rukiye heiraten; ihr Kind nennen sie Leyla.
Die aktuelle Handlung des Romans findet in der Türkei statt. Die Erfahrungen der Figuren Rukiye und Leyla mit Deutschland werden wie folgt dargestellt: Im siebten Kapitel wird überwiegend innenfokalisiert das Leben der türkischstämmigen Jugendlichen Rukiye in Duisburg in Form einer Analepse (vgl. Martinez/Scheffel 2012: 35f.) erzählt, nachdem im sechsten Kapitel geschildert wird, wie Rukiye sehr abweisend auf die Ankunft Leylas in ihrer und Yusufs Wohnung reagiert. Das darauf folgende Kapitel hat die Funktion, Rukiyes Verstoß gegen die Gebote der Gastfreundschaft und des Respekts gegenüber älteren Menschen durch ihre Kindheit und Jugend in Deutschland zu erklären. Leyla hingegen, deren beschränkter Lebensraum erst durch die Vertreibung über das ehemalige Anwesen ihrer Familie hinaus erweitert wird, wurde in ihrer Kindheit und Jugend von einer deutschen Gouvernante (»mürebbiye«) im Klavierspiel und in Deutsch unterrichtet. An diese Ausbildung erinnert sie sich mehrmals im Laufe der Handlung. Mit Rukiye und Leyla, die im Folgenden nacheinander behandelt werden, begegnen sich individuelle Erfahrungen mit der deutschen Kultur, zwischen denen über ein halbes Jahrhundert liegt.
Rukiye ist das älteste Kind einer türkischen Gastarbeiterfamilie in Duisburg. Sie lehnt ihren Namen ab, da er für sie ein Symbol für ihre ›Wertlosigkeit‹ als türkisches Mädchen darstellt. Der vorherrschende Kommunikationsstil ihrer Familie in Deutschland besteht aus Befehlen und Verboten:
Rukiye, Rukiye, Rukiye… Nefret ettiği bu isim, sanki kendi değersizliğinin, insanlar arasında beş para etmez bir Türk kızı olarak dolaşmasının simgesi gibi: Rukiye çay suyu koy, Rukiye evi temizle, Rukiye sofrayı kur, Rukiye yakanı kapat, Rukiye Alman oğlanlarla konuşma, Rukiye bana karşı gelme; Rukiye, Rukiye, Rukiye…19
Diese ständig auf die Ansprache mit ihrem Namen folgenden Befehle und Verbote führen dazu, dass Rukiye als Akt der Distanzierung den Namen »Roxy« übernimmt, mit dem ein Lehrer sie versehentlich anspricht (vgl. L 69).20 Sie hegt eine tiefe Abneigung gegen ihren brutalen und lieblosen Vater, welche sie in rebellische Handlungen treibt. So isst sie bewusst Bratwürste mit Schweinefleisch, obwohl ihr Vater in dieser Hinsicht eine bis ans Paranoide grenzende Vorsicht und Abscheu zeigt. Ebenso ignoriert sie das Gebot, sich von deutschen Jungen fernzuhalten: Ihren ersten Kuss erlebt sie mit dem deutschen Klassenkameraden Joachim, sie flüchtet aber plötzlich aus dieser Situation (vgl. L 68). In der Darstellung von Rukiyes Leben in Deutschland stellt Sexualität den dominierenden Aspekt dar. Andere Aspekte sind demgegenüber deutlich weniger präsent. In der Familie beschränkt sich der Umgang mit Sexualität auf Verbote und Drohungen: »Orana hiç dokunma, sonra kurtlar çıkar. Okulda Almanlara yaklaşma, sonra cehennemde yanarsın.«21 (L 71) Rukiye – hier noch als kleines Mädchen – wird gerade durch diese Warnungen der Frauen in ihrer Familie neugierig und erforscht den tabuisierten Teil ihres Körpers mit einem Spiegel im Bad (vgl. ebd.). Aufgeklärt wird Rukiye noch vor dem Aufklärungsunterricht in der Schule durch Pornohefte von Freunden. Als sie älter wird, verbietet der Vater ihr Disco-Besuche mit der Begründung: »Orospular gider oraya«22 (L 71). Nach dem Tod der Mutter, die im Roman kaum in Erscheinung tritt, heiratet der Vater die Deutsche Ute, gegen die Rukiye gleichermaßen rebelliert. Als Ute eines Tages den Vater darauf aufmerksam macht, dass Rukiye wegen ihrer gewachsenen Brüste eine passendere Kleidung braucht, schreit der Vater sie an: »Orospu olmak istiyorsun ha, orospu mu olmak istiyorsun?«23 (L 72) Ihr werden umgehend Kleidungsstücke gekauft, die ihre Brüste verbergen sollen.
In dieser Atmosphäre aus Demütigung und Tabuisierung überrascht sie das Interesse der deutschen Jungen in ihrer Klasse. Nach der Trennung von Joachim beginnt sie sich heimlich mit Mauritz zu treffen. Bereits lange vor dem eigentlichen Erlebnis hat sie die Entscheidung getroffen, mit Mauritz zu schlafen und somit ihre Jungfräulichkeit zu verlieren. Dabei erhofft sie sich eine Art ›Befreiung‹ von dem Druck der Jungfräulichkeit: »Bu bekâretten kurtulacak, bir an önce kurtulacak. Kendisini boğan, bağlayan, içine sıkıntılar salan her şeyin imgesi o bekâret denilen şey.«24 (L 74) Bei ihrem ersten Geschlechtsverkehr empfindet sie allerdings keine Lust, vielmehr ist sie von diesem Erlebnis enttäuscht. Wird die Biografie Rukiyes bis an diese Stelle als Rebellion gegen den familiären Druck vor allem des Vaters im Hinblick auf ihre sich entwickelnde Sexualität dargestellt, wird nun – aus dem Blickwinkel Rukiyes – der Umgang mit Sexualität am Beispiel ihrer deutschen Klassenkameraden wie folgt beschrieben:
Kendisinde bir eksiklik olduğunu, deli olduğu için aşkı hissetmediğini düşünüyor ama çevresine bakınca bütün kızların ve oğlanların böyle olduğuna karar veriyor. Birbiriyle öpüşüyor, yatıp kalkıyor, öz sularını birbirine karıştırıyorlar ama hiçbirinde öyle yanıp yakılan bir hal yok. Zaten sık sık değişiyor eşler. Bir hafta bir oğlanla yatağa giren kız, ertesi hafta beline sarılmış başka bir oğlanla eski sevgilisinin yanına gidiyor. Gülüşüyorlar. Aşk bu mu, diye düşünüyor Roxy.25 (L 74f.)
Die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen perzeptiver und apperzeptiver Ebene bei der Entstehung eines ›(Deutschland-)Bildes‹ zeigt sich an dieser Textstelle besonders deutlich. Um ihre eigene Empfindungslosigkeit beim Sex mit Mauritz nicht als individuellen Mangel sehen zu müssen, verallgemeinert sie auf apperzeptiver Ebene (kursiv) ihre Beobachtungen über das Verhalten ihrer deutschen Mitschülerinnen und Mitschüler (unverändert). Ihre Reflexionen werden in Form der indirekten Gedankenrede mit Verba credendi (»düşünüyor […] karar veriyor«), ihre Wahrnehmungen, die als Belege für ihre Überzeugung dienen, in der Form des direkten Gedankenzitats26 präsentiert. Die Trennung zwischen apperzeptiver und perzeptiver Ebene wird an dieser Stelle mithilfe dieser zwei Formen der Gedankenwiedergabe markiert. Die Generalisierungen werden sowohl in der indirekten Gedankenrede als auch im direkten Gedankenzitat verwendet, also auch auf der Ebene der Wahrnehmung, obwohl diese gedankliche Operation eigentlich nur in der Reflexion vollzogen werden kann. Die verallgemeinernde Schlussfolgerung Rukiyes erhält nachfolgend ihre anschauliche Rechtfertigung durch eindeutig als solche gekennzeichnete (»bakınca«) Beobachtungen. Diese Beobachtungen sind jedoch vermischt mit Imaginationen über die sexuellen Erlebnisse ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler (pseudoperzeptiv).27 Die Schlussfolgerungen beruhen auf vermeintlichen Beobachtungen, welche aber nicht vor, sondern nach jenen erzählt werden. Das heißt, dass die Reflexion vor den erklärenden Beobachtungen erfolgt, womit die logische Reihenfolge vertauscht wird. Es handelt sich deshalb wahrscheinlich nicht um aktuelle, sondern um erinnerte Beobachtungen, die ins Bewusstsein gerufen werden. Diese Lesart erklärt die festgestellte Vermischung mit Imaginationen. Im anschließenden Gedankenzitat wird mit dem Demonstrativpronomen »bu« in der rhetorischen Frage direkt auf diese Beobachtungen/Imaginationen verwiesen.
Die erinnerten und transformierten Wahrnehmungen sind nicht auf der perzeptiven, sondern auf der apperzeptiven Ebene anzusiedeln, auch wenn sie den Anschein konkreter Wahrnehmungen erwecken. Sie bieten die nur scheinbar empirische Basis für Rukiyes Verallgemeinerung über die sexuelle Lebensweise ihrer deutschen Klassenkameraden. Mit Martinez/Scheffel (2012: 65) lässt sich hier durch den Übergang von indirekter Gedankenrede zum Gedankenzitat eine Verlagerung vom narrativen zum dramatischen Modus feststellen. Dieser Wechsel suggeriert die Authentizität der Beobachtungen, erzeugt jedoch zugleich eine Spannung zwischen dieser scheinbaren Authentizität und der Unmöglichkeit, dass Rukiye diese Praktiken wirklich gesehen hat. Die Distanz zwischen der Perspektive Rukiyes und der Erzählinstanz wird innerhalb weniger Sätze stark verringert, dann jedoch abrupt durch das Verbum credendi »diye düşünüyor« unterbrochen. Die Erzählinstanz tritt wieder deutlich hervor und weist explizit darauf hin, dass es sich um Gedanken der Figur handelt. Damit rahmen zwei derartige Explikationen der Erzählinstanz die im dramatischen Modus wiedergegebenen mutmaßlichen Beobachtungen der Figur ein und lassen die Perspektivität der vermeintlichen Wahrnehmungen und der mit ihnen verbundenen Reflexionen erkennen.
An dieser intensiv analysierten Stelle wird das Stereotyp der promiskuitiven Sexualität der Deutschen aufgerufen. Es wird aber nicht als Stereotyp präsentiert, sondern als generalisierende Schlussfolgerung Rukiyes aus ihren Beobachtungen, Imaginationen und ihrer Enttäuschung mit Mauritz. Das auf diese Weise erzählte Verhalten – häufiger Geschlechtsverkehr ohne Gefühle mit ständig wechselnden Partnern – stellt das extreme Gegenteil zur sexualfeindlichen Erziehung des türkischen Vaters dar. Rukiyes Rebellion in dem Bereich, in dem sie die Wertvorstellungen des Vaters – freilich ohne dessen Wissen – am stärksten verletzen kann, hat bei ihr zu einer tiefen Desillusionierung geführt. Ihr Vater indes lebt die eigene Sexualität – allerdings erst nach der Heirat mit der Deutschen Ute – frei aus: »[…] evlendiği Alman kadınla gece sabahlara kadar bir domuz gibi düzüşüyor.«28 (L 72) Die exzessive Sexualität – bisher außerhalb der Familie lokalisiert – wird durch die ›deutsche Frau‹ in die Familie gebracht. Der Vergleich mit dem für Muslime unreinen Schwein, den Rukiye zieht, zeigt darüber hinaus ihre tiefe Verachtung für den Vater, dessen Schweinefleisch-Phobie sie als lächerlich empfindet.
Im Roman wird dieser Bereich noch in einem anderen Zusammenhang thematisiert: Rukiye fährt mit ihrer Freundin Naciye nach Düsseldorf, wo sie erfährt, dass Naciye in einem Sex-Shop viel Geld damit verdient, sich in einer Peepshow auszuziehen. Das Motiv des Interesses deutscher Männer an Türkinnen, das bereits durch Rukiyes Erfahrungen mit ihren Klassenkameraden eingeführt wurde, gewinnt in Form des Ausziehens und der simulierten Masturbation eine exotisch-enthüllende Dimension. Rukiye kommt zu dem Schluss: »Kapalı, dindar Türk kızlarının orasını burasını seyretmek istiyordur Almanlar.«29 (L 78) Die Möglichkeit, dass sich auch nicht-deutsche Männer in den Kabinen aufhalten könnten, wird weder von den Figuren noch vom Erzähler in Erwägung gezogen. Zunächst lehnt Rukiye ab, auf diese Weise Geld zu verdienen, aber ihr bietet sich damit die Möglichkeit, aus der Trostlosigkeit ihres Zuhauses entfliehen und ihre Leidenschaft, den Hip-Hop, ausleben zu können. Außerdem erscheint ihr die Zurschaustellung ihres Körpers durch die Anonymität der Kunden, die sie nicht sehen kann, erträglich, zumal sie von anderen türkischen Mädchen gehört hat, die ihren Körper ohne diese Anonymität verkaufen:
Zaten birçok Türk kızı bu işi yapıyor, hatta daha beterlerini de yapıyorlar. Akşam gazetelerinin küçük ilan sayfaları, müşteri arayan Türk kızlarını tanıtan ilanlarla dolu. Porno filmlerinde oynayan kızlar var. Bunlar okulda hep konuşuluyor; oğlanlar seyrediyor bu filmleri. Roxy böyle bir akşama hiç katılmadı ama kızlarla oğlanların birlikte seks filmi seyredip gülüştüklerini de duyuyor.30 (L 80)
Rukiye versucht, sich selbst mit dem Verweis darauf, dass andere türkische Mädchen in Form von Prostitution und Pornografie mit ihrem Körper Geld verdienen würden, zu überzeugen, auf das Angebot von Naciye einzugehen. Wieder lässt sich die Unterscheidung zwischen Perzeption und Apperzeption sinnvoll anwenden: Der gesperrt gedruckte Satz ist die einzige Beobachtung, welche Rukiye direkt selber macht. Die kursiven Textteile zeigen ihre Vorstellungen auf apperzeptiver Ebene an. Die unverändert gelassenen Textteile beschreiben die Quelle dieser Vorstellungen, nämlich die Gerüchte in der Schule. Es zeigt sich, dass außer den Zeitungsannoncen keine direkte Beobachtung stattfindet, wobei selbst die Zeitungsannoncen die vermeintliche Wirklichkeit nur mittelbar widerspiegeln. Da Rukiye nicht in das Sozialleben ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler integriert ist, kann sie sich nur aufgrund von Gerüchten und Zeitungslektüre ein ›Bild‹ machen, welches dementsprechend fragwürdig sein sollte, aber von Rukiye als authentisch erlebt wird. Im Lichte einer solchen ›Wirklichkeit‹ erscheint ihr das Sich-Ausziehen in einer Peepshow als weniger problematisch, weil sie sich gegenüber den anderen türkischen Mädchen, die sich direkt prostituieren oder in Pornofilmen mitspielen, positiv abgrenzen kann.
Deutschland wird durch die Perspektive Rukiyes als Land einer exzessiven Sexualität dargestellt, in dem Liebe keine Rolle spielt. Junge Türkinnen werden aufgrund ihrer Exotik von deutschen Männern begehrt. Dieses Begehren wird durch gefühllosen banalen Sex (mit Mauritz), durch Peepshows, Pornofilme oder türkische Prostituierte gestillt. In dieser Hinsicht nimmt der Roman stereotype Motive auf, die auch in anderen Texten türkischer Schriftsteller zu finden sind:
Die Deutschen werden vielfach als verständnislos, unkommunikativ, humorlos, ausländerfeindlich, opportunistisch, sexbesessen beschrieben. Auch in ihren Beziehungen zueinander sind sie einander entfremdet, Werte wie Freundschaft und Liebe haben sie längst vergessen, was gilt, ist nur das Geld. (Mecklenburg 2008: 499)
Allerdings hat die Analyse der zitierten Stellen gezeigt, dass die mit diesen Stereotypen übereinstimmenden Bilder, die bei Rukiye entstehen, eng mit ihrer individuellen Biografie verbunden sind und nur teilweise auf eigenen Beobachtungen beruhen. Außerdem wurde deutlich, dass Rukiyes Vorstellungen ihr dazu dienen, ihre Erfahrungen (mit Mauritz) zu bewältigen und ihre Pläne (mit Naciye) zu rechtfertigen. Die Tabuisierung (Verdeckung der Brüste) und Abwertung ihrer Sexualität (Beschimpfungen) durch den Vater und demgegenüber die von ihr so erfahrene banalisierende Allgegenwart und Käuflichkeit von Sexualität in der deutschen Gesellschaft stellen zwei Extreme dar, die erst in der Beziehung mit Yusuf überwunden werden:
Tuhaf bir çocuktu doğrusu. Bu kadar uysal, barışçı ve olgun bir Türk erkeği, bildiği hiçbir kalıba uymuyordu. Tanıdığı Alman gençleri ilgisiz ve bencil, Türk erkekleri ise kaba ve vahşiydi. Çevresinde gördüğü kızların çoğu erkek arkadaşlarından dayak yiyordu. (L 158)31
Die von ihr als typisch wahrgenommenen Verhaltensweisen von deutschen Jugendlichen und türkischen Männern wirken auf sie gleichermaßen abstoßend. Durch diese negative Beschreibung beider Kulturen unterscheidet sich der Roman von den einseitig abwertenden Darstellungen in anderen türkischen Texten. Die Darstellung des Umgangs mit Sexualität in Deutschland dient nicht dazu, ein alternatives und positiv bewertetes Selbstbild als Gegenentwurf zu einem negativen Fremdbild zu erzeugen, wie Mecklenburg dies für die Romane von Bekir Yıldız und teilweise für Fakir Baykurt konstatiert:
Die Deutschen sind den Türken in manchen Bereichen wie Technik, Industrialisierung, Arbeitsdisziplin usw. voraus, doch ethisch – das schließt auch traditionelle Werte ein wie Ehre, Familiensinn usw. – können sie sich nicht mit den Türken messen. (Mecklenburg 2008: 499)
Vielmehr wird Rukiye eines Morgens in Istanbul sogar Zeugin von Kinderprostitution, wobei ihr Versuch des Eingreifens durch brutale Schläge und Tritte des Zuhälters beendet wird (vgl. L 162f.). Auch im Alltag ist das Leben in Istanbul für sie mit negativen Aspekten verbunden:
Ama ne kadar uğraşırsa ugraşsın bir türlü kurtulamadığı muamele yine karşına çıkmıştı: Aşağılama, küçük görme, sen benim eşit değilsin tavrı. Almanya’da da aynen böyle olurdu. […] Almanya’daki aşağılanmalardan, küçük gören bakışlardan kurtulmak için buraya gelmişti ama burada karşılaştığı muamele nerdeyse daha beterdi. Kimi »Almancı« diye küçümsüyor, kimi boyalı saçlarına bakıyor, kimi yaptığı müziği dudak kıvırıyordu.32 (L 158)
Rukiye erfährt in beiden Kulturen Ablehnung aufgrund ihrer Herkunft (aus der Türkei bzw. aus Deutschland), ihres Aussehens oder ihrer Beschäftigung mit dem Hip Hop. In diesem Zitat werden beide Gesellschaften aus Rukiyes Sicht als einander ähnlich hinsichtlich ihrer Ausgrenzungsmechanismen beschrieben.
Geborgenheit und gegenseitige Achtung sind für Rukiye nur in ihrer Beziehung mit Yusuf möglich. Zugehörigkeit und Geborgenheit werden nicht über die Kultur oder Ethnie hergestellt, sondern in der intimen Interaktion zwischen dem Paar, die gerade im sexuellen Bereich durch Zärtlichkeit und Respekt geprägt ist: »Oysa Yusuf, daha ilk geceden itibaren ona büyük bir saygıyla yaklaşmıstı. Eski usul denebilecek bir mahremiyet duygusu, aşk fısıltıları, yumuşak okşamalar ve en önemlisi saygı, saygı, saygı.«33 (L 96)
Die deutschen Gouvernanten gehören »zu den allerersten deutschen Nebenfiguren in Yeşilçam-Filmen« (Kayaoğlu 2010: 98). Diese waren »in den 1960er Jahren als blonde, äußerst strenge, für türkische Verhältnisse nahezu grausam strenge und dadurch stark überzeichnete Figuren konzipiert […] und [sollten] auf simple Weise das deutsche Ordnungs- und Pflichtbewusstsein verkörpern« (ebd.). Dass dieser Typ nicht nur in Filmen, sondern auch in literarischen Texten verwendet wird, zeigt sich in der Figur ›Freulein Anneliese‹,34 welche die junge Leyla zu Hause in Musik und Deutsch unterrichtete, da diese als uneheliches Kind eines britischen Besatzungsoffiziers (der von ihrem Onkel ermordet wurde) den Kreis ihrer Familie nicht verließ:
Kendisine günler ve geceler boyu eziyet eden Freulein Anneliese’i hatırlayınca ister istemez kasıldı, kemikli parmakları belki binlerce saat tuşların üzerinde yaptığı etütleri hatırladı ve pozisyonları aldı. […] Leyla Hanım hiçbir insanın, hiçbir giysiyi freulein’in beyaz gömlekleri gibi taşıyamayacağını ve kolalı yakaların hiç kimsede bu kadar düzgün duramayacağını sanıyordu.35 (L 113)
Die Erziehung durch ›Freulein Anneliese‹, welche bereits Leylas Mutter ausgebildet hat, prägt Leyla bis in die Gegenwart des Romans. Diese Erinnerung, welche durch die mit deutschen Worten durchsetzten Unterhaltungen Rukiyes und ihrer Freunde bei ihr hervorgerufen wird, ruft selbst noch über 60 Jahre nach den Klavierstunden mit der deutschen Gouvernante eine unmittelbare körperliche Reaktion hervor. Dies zeigt die tiefe Prägung Leylas durch deren harten Erziehungsstil. Das wird auch von Rukiye wahrgenommen, die bei ihr ›etwas von den Deutschen‹ wiedererkennt: »Onda sanki, Almanlardan bir şey vardı. Duisburg sokaklarında yürüse kimse onun Türk olduğuna ihtimal veremezdi. Almanlar gibi dik duruyor ve üstüne giydiği hiçbir giysiyi buruşturmuyordu.«36 (L 147) Vor allem die aufrechte körperliche Haltung und die tadellose Kleidung, die bereits ›Freulein Anneliese‹ auszeichnen, erscheinen Rukiye als ›deutsch‹. Die Prägung durch ihrer Erzieherin geht so weit, dass Leyla auf Deutsch denkt (vgl. L 149) und ihr schriftliches Deutsch auf Rukiye »müthiş« (›vorzüglich‹) und »mükemmel« (›einwandfrei‹) wirkt (L 154). Die strenge und teilweise qualvolle Ausbildung durch ›Freulein Anneliese‹ führt zu einer auch noch im Alter erstklassigen Musizierfähigkeit, welche die jungen Musiker um Rukiye verblüfft und beschämt (vgl. L 148). In den Erinnerungs»bildern« Leylas wird das Stereotyp einer strengen deutschen Erziehung erkennbar, die auf penible Ordentlichkeit, Disziplin und Perfektion ausgerichtet ist. Dass Rukiye, die in der deutschen Gegenwartsgesellschaft sozialisiert wurde, bei Leyla Hanim so viel ›Deutsches‹ erkennt, dass ihrer Ansicht nach Leyla in Duisburg nicht als Fremde auffallen würde, konstruiert eine Kontinuität bezüglich der eben erwähnten Eigenschaften zwischen der Zeit von ›Freulein Anneliese‹ (deren Sozialisation vermutlich im Kaiserreich erfolgt ist) und dem Deutschland der 1980er und 90er Jahre, in dem Rukiye aufgewachsen ist. Zugleich wird bei beiden ein gegenseitiges Interesse über das sie verbindende deutsche Element hervorgerufen, was eine langsame Annäherung ermöglicht.
Der Gebrauch des Stereotyps der von strenger Disziplin geprägten deutschen Erziehung, die im Türkischen mit dem Ausdruck »Alman Terbiyesi«37 wiedergegeben wird, trägt dazu bei, die Widerstandsfähigkeit der Figur Leyla glaubwürdig in ihrer Biografie zu begründen. Denn die aus der ›deutschen‹ Erziehung durch ›Freulein Anneliese‹ herrührenden Eigenschaften haben ihren Anteil daran, dass Leyla Hanım, nachdem sie entmündigt und ihres Heims beraubt wurde, ihre (körperliche) Haltung und ihren Willen bewahrt, das erlittene Unrecht nicht hinzunehmen, sondern den Kampf um ihr Haus aufzunehmen.
›Deutsches‹ wird in Leyla’nın Evi im Wesentlichen durch zwei ›Bilder‹ repräsentiert: zum einen durch allgegenwärtige und gefühllose Sexualität, zum anderen durch den mit der deutschen Gouvernantenfigur personifizierten Erziehungsstil, der mit Disziplin und Strenge unbedingte Perfektion anstrebt. Die Bilder werden allerdings nicht dazu benutzt, der von Rukiye als negativ bewerteten deutschen Gesellschaft eine positive türkische entgegenzusetzen. Vielmehr werden für den Bereich der Sexualität und Partnerschaft die aus der Sicht Rukiyes vorherrschenden Praktiken sowohl in der deutschen als auch in der türkischen Kultur als abstoßend beschrieben; ihnen gegenüber distanziert sich Rukiye, die mit Yusuf zu einer auf gegenseitiger Achtung beruhenden Beziehung gelangt. Der Roman hebt sich dementsprechend von vielen anderen türkischen Texten ab, die das Leben in Deutschland und das Verhalten der Deutschen als negatives Gegenbild zur eigenen Kultur inszenieren. Zugleich bietet er Einblicke dafür, wie sogenannte »Almancılar«38 der zweiten Generation in der türkischen Gesellschaft wahrgenommen werden.39
Das Bild des von allgegenwärtigem Sex dominierten Lebensstils der Deutschen – als Prostitution, Pornografie und Striptease angeboten und konsumiert – wird ausschließlich durch ihre Perspektive präsentiert und an ihre individuelle psychische Verfassung gebunden. Die Analyse der verwendeten Formen der Gedankenwiedergabe hat verdeutlicht, dass die Schlussfolgerungen Rukiyes über den Umgang ihrer deutschen Mitschülerinnen und Mitschüler mit Sexualität – abgesehen von einer enttäuschenden Beziehung – kaum auf konkreten, eigenen Beobachtungen, sondern vielmehr auf Hörensagen, eigenen Fantasien sowie Zeitungslektüre beruhen und zur eigenen psychischen Entlastung dienen. Die Verba credendi und sentiendi und mit ihnen die indirekte Gedankenwiedergabe gewinnen damit eine entscheidende Signalfunktion für die Perspektivität von Wahrnehmungen und Reflexionen der Figur. Die Gedankenzitate geben den unmittelbaren Wahrnehmungsmodus Rukiyes wieder, der mit den Verba credendi und sentiendi eingeleitet und verlassen wird. Der Wechsel zwischen dem dramatischen und dem narrativen Modus der Gedankenwiedergabe erweist sich als Textstrategie, die es innerhalb weniger Sätze ermöglicht, die Wahrnehmung einer Figur authentisch nachvollziehbar zu machen und gleichzeitig fragwürdig erscheinen zu lassen.
Der Roman verwendet gängige sexuelle Stereotypen über die Deutschen, indem er sie als Resultat individueller Wahrnehmungen und Reflexionen der Figur Rukiye (also als Bilder) inszeniert. Damit scheint er sie zunächst zu bestätigen. Doch ihre Wahrnehmungen und Reflexionen sind stark von dem Versuch der Selbstbehauptung und Abgrenzung gegenüber als ›deutsch‹ und ›türkisch‹ aufgefassten sozialen Praktiken geprägt. Um ihre persönlichen Frustrationen in einen größeren Sinnzusammenhang einordnen zu können und damit nicht ein persönliches Defizit eingestehen zu müssen, schafft sie in ihrer Vorstellung eine Gesellschaft, in der Sex generell ohne Liebe erlebt wird. Gleiches gilt für die Überzeugung, dass viele türkische Mädchen ihren Körper verkaufen, um Geld zu verdienen. Wieder sieht sie sich als eine von vielen und legitimiert derart ihre Arbeit in der Peepshow. Diese Vorstellungen oder ›Deutschlandbilder‹ sind psychisch entlastende Imaginationen der Figur und dienen der Erhaltung der Selbstachtung.
Zur Leyla-Figur lässt sich abschließend sagen, dass der auf Perfektion abzielende ›deutsche‹ Erziehungsstil für sie als Kind zwar äußerst belastend gewesen ist, aber den auf diese Weise erworbenen Kenntnissen und Fähigkeiten von den anderen Figuren Respekt und Bewunderung entgegengebracht werden. Die stets tadellose Kleidung und bis in Alter aufrechte Haltung verweisen auf eine durch ›Freulein Anneliese‹ geprägte körperliche und mentale Disziplin, die es Leyla auf für den Leser überzeugende Weise ermöglicht, in bedrängenden Lagen Widerstand gegen das ihr zugefügte Unrecht zu leisten. Gerade diese Aspekte Leylas sind es, die Rukiye interessieren und schließlich zu einer Annäherung beider Figuren führen. Zusammenfassend kann man sagen, dass die verwendeten Bilder in Leyla’nin Evi eng in das Funktionsgefüge des Romans integriert sind und wesentlich zur Charakterisierung der beiden weiblichen Hauptfiguren beitragen.
Wendet man sich abschließend der Frage zu, wie Rukiyes Vorstellungswelt von einem türkischen Lesepublikum rezipiert wird, muss man berücksichtigen, dass sexuelle Stereotype über Deutsche in der türkischen Literatur (und im Film) seit Langem verwendet werden, was vermuten lässt, dass entsprechende Erwartungen bei großen Teilen des türkischen Publikums existieren.40 Da die Erzählinstanz im siebten Kapitel fast ausschließlich aus der Sicht der Figur erzählt und nicht mit eigenen Reflexionen in Erscheinung tritt, entfaltet der Text sein kritisches Potential gegenüber Rukiyes Vorstellungen nur dann, wenn diese in der ausgeführten Weise von den Lesern selbst als problematisch erkannt werden. Andernfalls ist es wahrscheinlich, dass diese ›Bilder‹ als Bestätigung tradierter Stereotype rezipiert werden.
1 | Ich möchte Prof. em. Dr. Şeyda Ozil für ihre kritischen Anmerkungen und Ersel Kayaoğlu für die Durchsicht der Übersetzungen danken.
2 | Anstatt Bilder einer ›Nation‹ lassen sich selbstverständlich auch die einer ›Religion‹ oder einer ›Kultur‹ mit dem gleichen Vorgehen untersuchen. Die konkrete Wahl sollte sich an den entsprechenden Bezeichnungen in den literarischen Texten orientieren.
3 | ›Bilder‹ und ›Stereotypen‹ lassen sich in einem ersten Zugriff definitorisch folgendermaßen unterscheiden: »Während sich ein Stereotyp gerade durch seine große Konstanz und Allgemeingültigkeit auszeichnet, kann ein ›Bild‹ (Image) stark variabel und sehr individuell geprägt sein.« (Stierstorfer 2003: 11)
4 | Die imagologische Untersuchung von Ahmet Koçak, die die Darstellung Europas in türkischen Romanen des 19. Jahrhunderts zum Thema hat, behandelt Deutschland sowie deutsche Figuren anhand von verschiedenen Romanen Ahmet Mithats sowie Halit Ziya Uşakligils Aşk-i Memnu (»Verbotene Liebe«) auf lediglich vier Seiten (vgl. 2013: 56ff.). Sein Interesse gilt jedoch stärker der Darstellung ›europäisch‹ verstandener sozio-kultureller Phänomene wie Hygiene, Einladungen usw. als nationalen Bildern.
5 | Hofmann behandelt von Orhan Pamuk die Romane Das schwarze Buch (1994; Kara Kitap [1990]), Das neue Leben (1998, Yeni Hayat [1994]), Rot ist mein Name (2001; Benim adım kırmızı [1998]) sowie von Nedim Gürsel Turbane in Venedig (2002; Resimli Dünya [2000]) und von Mario Levi Istanbul war ein Märchen (2008; Istanbul Bir Masaldı [1999]). Lediglich bei Levi wird kurz auf die Thematisierung des Holocausts eingegangen (vgl. 2013: 217f.).
6 | Einzige Ausnahme ist der Beitrag von Hendrich, in dem Mario Levis literarisches Werk vorgestellt wird. Sie geht wie Hofmann auf den Aspekt des Holocausts in Istanbul war ein Märchen ein (vgl. Hendrich 2013: 188f.). Wichtig ist ihr Hinweis, dass in der deutschen Übersetzung der Epilog fehlt (vgl. ebd.: 186), wodurch die Problematik deutlich wird, die entstehen kann, wenn lediglich auf Übersetzungen zurückgegriffen wird. Ünal (2013: 42ff.) zeigt am Beispiel von Wolfang Riemans Übersetzung von Livanelis Roman Mutluluk (Glückseligkeit [2008]) detailliert die Schwierigkeit der Übersetzung von Phraseologismen vom Türkischen ins Deutsche und kommt zu dem Fazit: »Während die autorisierte Übersetzung die türkischen Phraseologismen durch vermeintlich entsprechende Ausdrücke der deutschen Sprache wiedergibt, weicht deren konnotative Bedeutung in den meisten Fällen von derjenigen des türkischen Originals ab.« (Ebd.: 85) Auch Schweißgut (2013: 164) betont die Notwendigkeit der Arbeit mit den türkischen Originalen: »Übersetzungen, seien sie auch noch so gelungen, bleiben stets unzureichend, so dass Türkischkenntnisse nötig sind, um sich die sprachliche Ebene zu erschließen.«
7 | Kayaoğlu (2012) gibt einen Überblick über die filmische Darstellung Deutschlands als Ziel der Arbeitsmigration, der auch auf die Darstellung Deutschlands und deutscher Figuren eingeht.
8 | Riemann geht u.a. kurz auf die 1953 bzw. 1954 veröffentlichen Kurzgeschichten Fraulein Haubold’un Kedisi (»Frau Haubolds Katze«) und 45 Marka Seksapil (»Sexappeal für 45 Mark«) ein.
9 | Behandelter Roman: Tante Rosa (Originaltitel), veröffentlicht 1968.
10 | Dağcı erzählt in seinen 1956 und 1957 veröffentlichten Romanen Korkunç Yıllar (»Furchtbare Jahre«) und Yurdunu Kaybeden Adam (»Der Mann, der seine Heimat verlor«) den Krieg in Russland aus der Perspektive eines Krimtataren, der zunächst in der Roten Armee und dann in der »Legion Turkestan« kämpft.
11 | Ein bisher weitgehend unbeachtet gebliebener deutschsprachiger Text aus der Zeit vor dem Anwerbeabkommen ist der unter dem Pseudonym Kurban Said veröffentlichte Roman Das Mädchen vom goldenen Horn aus dem Jahr 1938 (vgl. Karakuş 2009).
12 | Riemann übersetzt den türkischen Begriff »Almanya Edebiyatı«, der sich im »Sprachgebrauch türkischer Literaten […] eingebürgert« habe (Riemann 1983: 40, Anm. 92).
13 | Türkischer Titel: Fikrimin Ince Gülü.
14 | Vgl. auch die Interpretation von Dayioğlu-Yücel (2005: 163–179).
15 | Lerch führt jedoch an, dass Yıldız lediglich vier Jahre in Deutschland gelebt hat und danach in die Türkei zurückgekehrt ist. Yıldız hat sich später anderen Themen zugewandt (vgl. Lerch 2003: 54).
16 | So besteht der Roman Dualar kalıcı (2007) von Tuna Kiremitçi aus den Dialogen zwischen einer jungen türkischen Auslandsstudentin und einer deutschen Jüdin, die wegen ihrer Heirat mit einem türkischen Juden aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Istanbul migrierte. Die Gespräche, in denen die alte Dame ihre Vergangenheit schildert, finden in einer nicht näher bezeichneten französischen Kleinstadt statt. Mit der Arbeit von deutschen Exilwissenschaftlern an der Istanbul Üniversitesi beschäftigt sich der Roman Sevgili Üniversite (2009) von Dehen Altıner. Im Roman Serenad (2011) von Zülfü Livaneli wird das Schicksal des Flüchtlingsschiffs Struma im Februar 1942 thematisiert, das im Schwarzen Meer mit Hunderten jüdischen Flüchtlingen an Bord von einem sowjetischen U-Boot versenkt wurde; im Roman Nefes Nefese (2002) der sehr populären Autorin Ayşe Kulin geht es um die Rettung französischer Juden, die von türkischen Diplomaten mit einem Zug durch das besetzte Europa in die Türkei gebracht werden.
17 | Serenade für Nadja (2013); Roman meines Lebens. Ein Europäer vom Bosporus (2011); Glückseligkeit (2008); Katze, Mann und Tod (2005); Der Eunuch von Konstantinopel (2000); Ein Kind im Fegefeuer (1983).
18 | »Ev« ließe sich auch als »Zuhause« oder »Heim« übersetzen. Im Laufe des Romans werden sowohl das konkrete Gartenhaus als auch die emotionalen Konnotationen von »ev« aktualisiert. Die Uneindeutigkeit des türkischen Titels wird in jeder der vorgeschlagenen Übersetzungen zugunsten eines Aspekts zurückgenommen.
19 | Die zitierten Textstellen aus dem Roman (2011) werden mit der Sigle »L« und der entsprechenden Seitenzahl in einfachen Klammern ausgewiesen und in den Fußnoten übersetzt; soweit nicht anders vermerkt stammen die Hervorhebungen und Übersetzungen vom Verfasser. »Rukiye, Rukiye, Rukiye… Dieser Name, den sie hasst, als wäre er das Symbol der eigenen Wertlosigkeit, des Herumlaufens eines nichtsnutzigen Türkenmädchens zwischen den Menschen: Rukiye, stell das Teewasser auf, Rukiye, mach das Haus sauber, Rukiye, deck den Tisch, Rukiye, mach deinen Kragen zu, Rukiye, sprich nicht mit deutschen Jungs, Rukiye, leg dich nicht mit mir an; Rukiye, Rukiye, Rukiye…«
20 | Hier wird ihre Ablehnung der Rolle als Tochter einer türkischen Familie deutlich. Mit der Rückkehr zu ihrem eigentlichen Namen nach der Heirat mit Yusuf und der Geburt ihrer Tochter Leyla wird das Ende ihres konfliktreichen Kampfes und ihrer Selbstbehauptung auch auf symbolischer Ebene vollzogen (vgl. L 265). In der Untersuchung wird aus Gründen der Übersichtlichkeit durchgehend der Name »Rukiye« verwendet.
21 | »Fass dich dort (am Körper) nicht an. Sonst kommen Würmer raus. Lass dich in der Schule nicht mit den Deutschen ein, sonst verbrennst du in der Hölle.«
22 | »[Nur]Huren gehen dorthin«
23 | »Du willst also Hure werden. Eine Hure willst du werden?«
24 | »Sie würde von dieser Jungfräulichkeit erlöst werden, so schnell wie möglich erlöst werden. Jene Jungfräulichkeit genannte Sache war das Symbol für alles, was ihr die Kehle zuschnürte, sie fesselte, sie ständig bedrückte.«
25 | »Sie denkt, dass ihr etwas fehlt, dass sie, weil sie verrückt ist, Liebe nicht fühlt, aber wenn sie sich umsieht, kommt sie zu dem Schluss, dass alle Mädchen und Jungen so sind. Sie küssen einander, schlafen ständig miteinander, vermischen ihre Körpersäfte, aber bei keinem von ihnen gibt es diesen Zustand, bei dem man sich in Liebe verzehrt. Es wechseln sowieso ständig die Partner. Ein Mädchen, das in der einen Woche mit einem Jungen ins Bett geht, geht in der nächsten Woche, mit einem anderen Jungen, der ihre Taille umschlungen hält, zu ihrem Ex-Freund. Sie lachen zusammen. Soll das die Liebe sein, denkt Roxy.«
26 | Der unmarkiert gelassene Teil des Zitats weist große Ähnlichkeit mit dem Phänomen der erlebten Rede auf, deren Definition jedoch gängigerweise die Verwendung im Präteritum beinhaltet (vgl. Martinez/Scheffel 2012: 55). Das Fehlen der ersten Person und der Verba credendi schaffen eine Nähe zwischen Erzähler und Figur, welche für die erlebte Rede typisch ist. Die Benutzung der Präsensformen im gesamten siebten Kapitel, die sich von der Benutzung der Vergangenheitsformen in den anderen Kapiteln unterscheidet, steigert diese Nähe zusätzlich.
27 | Da Rukiye bei den Aktivitäten nicht dabei war, sind diese Beschreibungen als lediglich vorgestellte, also als simulierte Wahrnehmungen zu klassifizieren.
28 | »Mit der deutschen Frau, die er geheiratet hat, bumst er nachts wie ein Schwein bis zum Morgen durch.«
29 | »Die Deutschen wollen unbedingt dieses und jenes [gemeint: Geschlechtsorgane] der verhüllten, frommen türkischen Mädchen betrachten.«
30 | »Eigentlich machen ja viele türkische Mädchen diese Arbeit, sogar noch Schlimmeres. Die Seiten mit den Kleinanzeigen der Abendzeitungen sind voll mit Anzeigen, die Reklame für türkische Mädchen machen, die nach Kunden suchen. Es gibt auch Mädchen, die in Pornofilmen mitspielen. Darüber wird ständig in der Schule gesprochen; diese Filme schauen die Jungs sich an. Roxy hat nie an einem solchen Abend teilgenommen, aber sie hört, dass Mädchen zusammen mit Jungen Sexfilme angeschaut und zusammen gelacht haben.«
31 | »Er war wirklich ein seltsamer Typ. Ein so umgänglicher, friedfertiger und reifer türkischer Mann passte in keine ihr bekannte Form. Die deutschen Jugendlichen, die sie kannte, waren gleichgültig und egoistisch, die türkische Männer hingegen grob und brutal. Die meisten Mädchen, die sie in ihrer Umgebung sah, wurden von ihren Freunden geschlagen.«
32 | »Aber wie sehr sie sich auch anstrengte, die Behandlung, der sie irgendwie nicht entkommen konnte, begegnete ihr wieder: Erniedrigung, Geringschätzung, Du-bist-mir-nicht-gleich-Verhalten. Genauso war es in Deutschland auch gewesen. Sie war hierher gekommen, um den Erniedrigungen, den geringschätzigen Blicken in Deutschland zu entkommen, aber die Behandlung, die sie hier erlebte, war beinah noch schlimmer. Einer wertete sie als ›Deutschländerin‹ ab, einer schaute auf ihre gefärbten Haare, einer verzog wegen der Musik, die sie machte, verächtlich die Lippen.«
33 | »Yusuf hingegen hatte sich ihr von der ersten Nacht an mit großem Respekt genähert. Eine Intimität, die man als altmodisch bezeichnen könnte, Liebesgeflüster, weiches Streicheln und am wichtigsten Respekt, Respekt, Respekt.«
34 | »Freulein« wird im Roman durchgehend mit »eu« statt »äu« geschrieben.
35 | »Sobald sie sich an Fräulein Annliese erinnerte, die sie tage- und nächtelang peinigte, nahm sie Haltung an, ihre knochigen Finger erinnerten sich an die Etüden, die sie vielleicht tausende Male auf den Tasten geübt hatten, und nahmen ihre Positionen ein. […] Leyla Hanım glaubte, dass kein Mensch irgendein Kleidungsstück so tragen könnte wie das Fräulein ihre weißen Hemden und bei niemandem die Kragen so glatt sitzen könnten.«
36 | »Es war so, als hätte sie etwas Deutsches an sich. Würde sie in den Straßen von Duisburg laufen, könnte niemand auf die Idee kommen, dass sie Türkin sei. Sie hielt sich gerade wie die Deutschen und zerknitterte keines der Kleidungsstücke, die sie anzog.«
37 | Mögliche Übersetzungen: »Deutsche Erziehung, Ausbildung, Zucht«. Dieser Begriff wird von Zafer Şenocak 2007 bezeichnenderweise als Romantitel benutzt.
38 | Zu dem Begriff erklärt Kayaoglu (2012: 90): »Die Wortprägung Alamancı, ins Deutsche oft übersetzt als ›Deutschländer‹, stellt einen pejorativen Terminus dar, der innerhalb der Türkei zur Beschreibung von türkischen Gastarbeitern verwendet wird.« [Kursivierung im Orig.] In dem Roman wird die heute gebräuchlichere Variante »Almancı« auch für die zweite Generation gebraucht.
39 | Im Medium des Films ist die (zeitweilige) Rückkehr der ›Deutschländer‹ der ersten Generation häufig Thema geworden (vgl. Kayaoglu 2012).
40 | Dass die Verwendung des Stereotyps sexueller Freizügigkeit kein Einzelfall in der populären türkischen Gegenwartsliteratur ist, zeigt sich in dem Roman Sis ve Gece (1996; Nacht und Nebel [2005]) des überaus populären Krimi-Autors Ahmet Ümit. Eine Figur erklärt dort: »Alman kadınlar Türk kadınlarına hiç benzemiyordu. Onlarla çok rahat ilişki kurabiliyordum.« (Ebd.: 59; »Die deutschen Frauen ähnelten den türkischen Frauen überhaupt nicht. Mit ihnen konnte ich problemlos intim werden.«) Ein passendes Filmbeispiel stellt Turist Ömer Almanya’da (1966) dar, zu dem Kayaoğlu (2010: 98f.) schreibt: »Das Bild der attraktiven, freizügigen Helga z.B. wurde insbesondere ab Mitte der 1960er Jahre so oft repetiert, dass dieses stereotype Bild von der deutschen Frau zu einem nachhaltig prägenden Phänomen, ja fast sogar zu einem Wunschtraum unter männlichen Zuschauern wurde. […] Dieses Muster ist auf Filme wie Ömer der Tourist in Deutschland (1966) von Hulki Saner zurückzuführen […]. Durch die Figur der deutschen Helga, die im Film begeistert ist vom witzigen und lässigen Gastarbeiter Ömer […] entstand ein Prototyp von später immer wieder eingesetzten Frauenfiguren, die oft Helga hießen.« Von großer Bedeutung ist hier auch der Hinweis, dass die pornografischen Filme in der Türkei der 1970er und 80er Jahre aus Deutschland kamen, sodass freizügige Sexualität von den Rezipienten in erster Linie mit ›deutschen‹ Frauen in Verbindung gebracht wurde (vgl. ebd.: Anm. 6). Noch Jahrzehnte später konnte der bekannte Komiker Cem Yılmaz in einer Standup-Show sagen: »Almancam daha iyidir. Çünkü ben onu video-kasetlerle geliştirdim.« (»Mein Deutsch ist besser [als Englisch]. Denn ich habe es mit Videokassetten [gemeint: mit pornografischen Inhalten] verbessert.« (Vgl. Yılmaz o.J.: 0:25)
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