Bericht über ein GiG-Colloquium im Dezember 2014 in Mumbai, Indien
Nicht nur aus Tönen und Schlägen,
auch aus Worten entstehen Brücken,
und immer wieder
sieht man, wie ein neuer Fluss
unter ihnen durchfließt.
Dieser neue Fluss ist, was wir suchen –
Doch nur schwimmend
Gelangen wir hin zu ihm!
Sachchidananda Hirananda Vatsyāyān
Das dem Programm der jüngsten Tagung der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik (GiG) in Mumbai (Bombay) vorangestellte Motto entstammt dem Werk des großen indischen Schriftstellers Sachchidananda Hirananda Vatsyāyān (1911-1987)1, genannt ›Ajneya‹ oder ›Agyeya‹ (Sanskrit bzw. Hindi für ›der nicht Erkennbare‹, ein Pseudonym, das er sich in der Kolonialzeit während seiner Zeit im Gefängnis Anfang der 30er Jahre zugelegt hatte, aus dem er seine Texte schmuggeln ließ). Es hätte nicht besser gewählt sein können. Der Reisende und Übersetzer, der Brückenbauer zwischen den Kulturen mit besonderer Beziehung zu Deutschland (wo er in Heidelberg als Gastprofessor wirkte und oft Berlin besuchte) hatte sich intensiv mit der deutschen Literatur auseinandergesetzt (besonders mit dem Werk von Hölderlin, Kleist, Benn und Kafka) und entwickelte vom Boden seiner eigenen ästhetischen Tradition aus nach der Begegnung mit solcher Lektüreerfahrung seine interkulturell-poetologische Position. Sie steht zugleich für das Programm der Tagung, die dem Thema »Komparative Ästhetik(en)« gewidmet war.
Zu diesem Thema hatten die indischen Germanistinnen VIBHA SURANA und MEHER BHOOT gemeinsam mit dem GiG-Präsidenten zu einem Kongress an ihrer Universität eingeladen, der angesichts des 2014 begangenen 100-jährigen Jubiläums der Germanistik in Indien noch innerhalb dieses Jahres stattfinden sollte. Wegen des Termins (15.-21.12.2014) unmittelbar vor Weihnachten waren die Veranstalter anfangs ein wenig in Sorge, ob sich nach dem großartigen Erfolg des Kongresses unserer Gesellschaft Ende Mai 2014 im irischen Limerick (s. den ausführlichen Bericht dazu im letzten Heft dieser Zeitschrift2) überhaupt genügend Teilnehmer zu dieser (von 2015 vorgezogenen) Tagung anmelden würden. Die Sorge erwies sich schnell als unbegründet. Es gab wieder mehr Anmeldungen als Zeiteinheiten für Vorträge im Programmraster. Das Thema hatte offensichtlich zahlreiche Interessenten angelockt, darunter über 50 Germanisten aus aller Welt, aber auch mehr als 20 Kollegen aus ganz Indien.
In unserer Einladung hatten wir das Thema kurz so umrissen3: Da Ästhetik nicht nur ein Teilbereich der Philosophie, sondern auch ein integraler Bestandteil der Produktion, Inszenierung, Rezeption und Funktion von Sprache, Literatur und Medien sei, gelte sie innerhalb der Germanistik seit je zu Recht als Reflexionsobjekt der Literatur- und Medienwissenschaft, der Linguistik und Mediävistik. Denn spätestens seit Baumgartens Aesthetica (1750) und Kants Aufruf zur Befreiung des Menschen aus seiner »selbstverschuldeten Unmündigkeit« (1784) lasse ›Ästhetik‹ sich als ein aufklärerisches Projekt verstehen, das (mit Ernst Cassirer) die »Emanzipation der Sinnlichkeit« zum Ziel habe. Während im 18. Jahrhundert Begriffe der ›Wahrnehmung‹ (Baumgarten), des ›Schönen‹ (Kant, Schiller) und der ›Kunst‹ (Hegel, Schelling) die Ästhetik in Europa prägten, entdecke das 19. Jahrhundert auch die ›Ästhetik des Hässlichen‹ (Rosenkranz, Baudelaire, Flaubert u.a.). Die Ästhetik der Moderne und Postmoderne schließlich sei nicht nur durch Widerstand, Verfremdung, Dissonanz, Gewalt oder Fragmentierung charakterisiert, sondern auch durch Kommunikation (Benjamin), durch die Herrschaft der Technik und den ›Tod des Subjekts‹ (Adorno, Foucault, Derrida usw.), aber auch durch die ›Rückkehr des Autors‹ (Fotis Jannidis, Martinez) und die Expansion des Mediensystems.
In den letzten Jahrzehnten hätten in den Kulturwissenschaften Begriffe wie ›Ästhetik‹, ›Literatur‹ oder ›Text‹ eine deutliche Erweiterung ihrer semantischen Extension erfahren. Seit den 1970er Jahren befasse sich die Ästhetik nicht nur mit philosophischen Fragen der Kunst und der Theorie des Schönen, sondern sie werde im weiten Sinne einer allgemeinen Wahrnehmungslehre zur »Begleiterscheinung jeder menschlichen Tätigkeit« (Joseph Beuys), ja zu einem ubiquitären Faktum des Alltags.4 Germanisten wie Hartmut Böhme oder Jost Hermand hätten mit ihren Schriften zur Ästhetik nach der Postmoderne den Paradigmenwechsel mitbegleitet. Uwe Timms Die Entdeckung der Currywurst (1993) habe »Trümmer und Neubeginn, süßlich scharfe Anarchie« mit sich gebracht.5 Germanistik als Kulturwissenschaft und interkulturelle Germanistik entwickelten sich in der fruchtbaren Berührung mit Strömungen in den Kulturwissenschaften fort. Seit langem gebe es komparatistische Studien zu Beziehungen zwischen den Künsten wie Literatur, Malerei, Bildhauerei, Musik, Film oder zwischen Gattungen wie Drama, Prosa, Lyrik, Oper, Fernseh- und Computerspiel, zu intermedialen Beziehungen zwischen ›alten‹ und ›neuen‹ Medien (Buch und Hörbuch, Literatur und Film, Roman und Drehbuch, Fantasy-Genres und Computergames u.v.m.).
Der ästhetische Erkenntnisgewinn aus komparatistischer Perspektive lasse sich noch erweitern, wenn germanistische Ansätze außerhalb Mitteleuropas in Betracht gezogen würden, wie sie mittlerweile in Afrika, Amerika, Asien und Australien zur Entfaltung gelangten, und wenn deren Vielfalt künstlerischen Schaffens in Sprache, Literatur und Medien dazu in Bezug gesetzt würde mit dem Ziel der Entwicklung neuer Wahrnehmungen, Sehweisen, Fragestellungen im Bezirk ›Komparativer Ästhetik‹.
Den Auftakt zur Tagung bot in festlichem Rahmen Willkommensgruß und Einführung der Kongresspräsidentin Vibha Surana, der Chefin des Instituts für Germanistik der Universität, Grußworte des deutschen Generalkonsuls Michael Siebert und des Vizekanzlers der Universität Raja Welukar sowie die Presidential Address des GiG-Präsidenten und seine Eröffnung des wissenschaftlichen Teils der Tagung. Er nutzte die Gelegenheit der Anwesenheit einflussreicher Gäste zu einem engagierten Plädoyer in englischer Sprache gegen die nach dem Regierungswechsel in Indien geplanten Kürzungen des Programms »Deutsch an 1000 Schulen«, das wenige Jahre zuvor gestartet worden war und in das allein im laufenden Jahr ca. 800.000 Euro flossen mit dem Ziel, bis zum Jahre 2022 etwa einer Million indischen Schülern das Erlernen der deutschen Sprache zu ermöglichen. Mit einem Seitenblick auf die Sprachenvielfalt der multilingualen Nation lobte er die Ausbildung von 500 Deutschlehrern an den Goethe-Instituten und hob die kulturellen Bereicherungen, aber auch die beruflichen Chancen hervor, die sich den 80.000 Deutsch-Schülern an derzeit ca. 500 Schulen zusätzlich böten.6
Der wissenschaftliche Teil der Tagung wurde anschließend im Rahmen der Inaugural Ceremony mit zwei Plenarvorträgen von Helmut Koopmann und Ernest W.B. Hess-Lüttich eingeleitet (s.u.). Danach boten reizvoll anzuschauende Studenten in prächtiger Kleidung Einblicke in die reiche Tanztradition Indiens, bevor das Auditorium zum Conference Dinner in den MCA Club des weitläufigen Bandra Kurla Complex aufbrach.
HELMUT KOOPMANN (Augsburg), der 1933 geborene prominente Nestor der Neueren deutschen Literaturwissenschaft und herausragende Thomas-Mann-Forscher (aber auch Experte für die Werke von Schiller, Heine, Heinrich Mann, Berthold Brecht), Träger zahlreicher Auszeichnungen, darunter der Ehrendoktorwürde der Randse Afrikaanse Universiteit zu Johannesburg, hielt einen eindrucksvollen Vortrag unter dem Titel »Ästhetik des Elementaren. Deutscher Expressionismus und englischer Imagismus im Vergleich«. Kurz nach der Jahrhundertwende, so führte er aus, gebe es eine literarische Revolution: nach der wortreichen Alltagssprachlichkeit naturalistischer Dramen, nach der symbolistischen Wortkunst Georges, der wortreichen Dekadenzliteratur eines Thomas Mann und den feinziselierten lyrischen Empfindsamkeiten Rilkes breche sich sowohl im Expressionismus wie im Imagismus eine Strömung Bahn, in der Schrei und Ekstase, eine elementare Bildlichkeit und unmittelbar Akustisches den alten Sprachwelten ein jähes Ende bereite. Stefan Zweig propagiere bereits 1909 gegen die ausgewaschene Sprache der eigenen Zeit ein »neues Pathos«; Sprache solle wieder »Schrei der Leidenschaft« sein, lyrische Bilder »grelle Blitze«.
Dagegen rebellieren die expressionistischen Dichter. Nahezu gleichzeitig komme es in England zu einer ähnlichen Revolution: zwischen 1911 und 1914 präge sich ein Programm aus, das sich wie im Expressionismus nur in verstreuten Manifesten fassen lasse. Gegner seien dort vor allem die »Georgian Poetry« und die spätviktorianische Dichtung; gefordert werde eine neue Sprache der Emotionen. Ezra Pound und T. S. Eliot sind die Wortführer des Imagismus, aber A. Lowell, R. Aldington, F. S. Flint, H. Doolittle, D. H. Lawrence prägen nicht weniger ihr Erscheinungsbild. Elementare Bilder, »images«, werden gefordert. Beide Male, im Expressionismus wie im Imagismus, dominiere Antirationales.
Direkte Beziehungen zwischen Expressionismus und Imaginismus gebe es offensichtlich nicht, aber, fragte Koopmann, gibt es gemeinsame Ahnherren? Nietzsche? Rimbaud? Oder breche sich, weitgehend unabhängig voneinander, der Protest gegen ein allzu bewusstes Dichten Bahn? Die Konzentration auf Bild und Rhythmus in Expressionismus und Imgaginismus hätten die europäische Literatur jedenfalls bis weit in die 30er Jahre hinein bestimmt und wirke vielleicht noch untergründig nach auf die Dominanz des Visuellen in der Gegenwart.
ERNEST W.B. HESS-LÜTTICH (Bern / Berlin / Stellenbosch), der bei Helmut Koopmann in dessen Bonner Jahren studiert hat und der ihn in seiner Vorliebe für die ›ironischen Deutschen‹ (Erich Heller) wie Thomas Mann oder Heinrich Heine kundig bestärkt hat, behandelte in seinem Vortrag »Über die wechselseitige Inspiration ästhetischer Semiosen« die intermedialen Bezüge zwischen Sprache und Kunst, indem er mit dem Instrumentarium der Textsemiotik Bilder analysierte, die nach literarischen Texten angefertigt worden waren und umgekehrt, literarische Texte, die Bilder beschrieben. Dazu rekonstruierte er zunächst in knapper Skizze die lange Tradition solcher Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Sprache von Keos bis Koons, von Horaz bis zur Digitalen Poesie und Netzliteratur.
Vor dem damit entfalteten historischen Hintergrund entwickelte er dann in kritischer Auseinandersetzung mit Lessings Laokoon einerseits und Derridas »Rahmung« (in Die Schrift und die Differenz) andererseits einen zeichen- bzw. medientheoretischen Rahmen und methodischen Ansatz zur Analyse ästhetischer Semiosen in ihren Einbettungshierarchien kultureller, sozialer und institutioneller Kontexte (exemplarisch demonstriert am Beispiel von Jacques-Louis Davids Antiochus und Stratonice von 1774 bzw. Schwur der Horatier von 1784 und Jeff Koons The Equilibrium Tanks von 1985), bevor er das Verfahren an einer Reihe von Beispielen von berühmten Bilderzählungen in der Literatur (Flauberts Madame Bovary, Prousts Recherche, Melvilles Moby Dick, or The Whale) und komplexen Erzählungen in Bildern (Rembrandts Heilige Familie, Philemon und Baucis, Josef wird von Potifars Frau angeklagt; Vermeers Perlenwägerin) zu veranschaulichen suchte.
Am nächsten Tag begann dann das umfangreiche Sektionsprogramm, eingeleitet durch einen weiteren Plenarvortrag von ANNAKUTTY V.K. FINDEIS, der bedeutenden indischen Germanistin und Autorin, die das German Department der University of Mumbai viele Jahre lang geleitet hatte. Ihr Thema waren »Ästhetik(en) im Kontext von Ökosophie und Technologik« im deutsch-indischen Vergleich. Aus interkultureller Perspektive diskutierte sie insbesondere kulturspezifische ästhetische Terminologien, Denkansätze und Sichtweisen (wie Rasa, Sahrdaya u.a.), aber auch die Bedeutung von ›Erlebnis‹ und ›Erfahrung‹ sowie – im Anschluss an Heidegger und Gadamer – deren weltanschaulich-philosophische Grundlagen, exemplarisch illustriert an Beispielen aus der deutschen und indischen Dichtung.7
(i) Die erste Sektion versammelte Vorträge zum Thema Komparative Ästhetik(en): Theorien und Konzepte und enthielt Beiträge von Carmen Schier (Coburg) über »Ästhetische Wahrnehmung und Erfahrung als ›Motor‹ und Hürde auf dem Weg zu interkulturelle Kompetenz«, von Stephan Mühr (Pretoria) über »Nicolaus Cusanus als Schlüsselfigur für komparative Ästhetiken«, von Ulrich Langanke und Andras Kulcsar (Budapest) über ästhetische Handlungsmuster in interkulturellen Management-Trainings, von Manfred Weinberg (Prag) zur »Ästhetik des Traumas (und des Erhabenen)«, von Katja Schwerzmann (Lausanne) zu den Schlüsselbegriffen »Materialität, Berührung, Ereignis«, an Hand derer sie die »Ästhetik der Präsenz« in Deutschland und Frankreich verglich, von Christoph Schmälzle (Berlin) über die normative Ästhetik im semiotischen Gewand in Lessings Laokoon (in schöner Ergänzung zu Hess-Lüttichs Plenarvortrag), von Oliver Baron (Köln) über »Dissonanz als ästhetische Kategorie«, von Herbert Uerlings (Trier) zur Frage »Interkulturelle und / oder postkoloniale Literaturwissenschaft?«, von Dieter Heimböckel über das »Staunen«, das er als »Affekt- und Wahrnehmungsmodus (nicht nur) im Feld der komparativen Ästhetik« behandelte.
Die Sektion wurde am übernächsten Tag fortgesetzt mit Vorträgen von Andreas Christian Wiebel (Augsburg) zum »Verhältnis von Kunst und Gesellschaft nach Adorno: Kritische Ästhetik bei Jacques Rancière und Alain Badiou«, von Mathew John Kokkatt (Hyderabad) zum Thema »Rasadhwani und Lust (Plaisir): Gegenüberstellung zweier Maßstäbe der Ästhetik«, von Dina Salama (Kairo), die Konrad Flecks Versroman Flore und Blanscheflur (um 1220) und die arabische Qasside Afra des Urwaibn Hizām (ca. zweite Hälfte des 7. Jahrhunderts) miteinander verglich unter dem Aspekt des »Emotional turn zwischen Ästhetisierung und Ethisierung«, und von Kathleen Thorpe (Johannesburg) über den »Alltag als Quelle der ästhetischen Wahrnehmung und Erfahrung der Wirklichkeit im postindustriellen Zeitalter am Beispiel des Romans Wie man leben soll von Thomas Glavinic«.
(ii) Die zweite Sektion trug den Titel Linguistische Ästhetik: Sprache(n) und Übersetzung. Elena Polikarpova und ihr Mann Alexander Polikarpov (Archangelsk) sprachen über »Wortbildungsästhetik als Widerspiegelung nationaler Logik« bzw. über »Polyfunktionalität enigmatischer Ästhetik« am Beispiel deutscher Worträtsel, Monica-Elena Stoian (Göttingen) über Unterschiede »Wissenschaftskommunikative[r] Strategien und translinguale[r] Taktiken beim Verhandeln« zwischen Mumbai und London, Nanda Nandedkar (Mumbai) über »Die Ästhetische Wirkung in der literarischen Übersetzung« anhand der Anthologie Einfach menschlich. Kurzprosa aus Indien, Pawan Surana (Jaipur) stellte interkulturelle Überlegungen an zu Vishnu Khares Hindi-Übersetzung des ersten Teils von Goethes Faust, Girissha Tilak (Mumbai) verglich die »Ästhetik der Lyrik in den deutschen und Marathi Kulturräumen im 17. Jahrhundert«, Paul Nissler (Stanford) entwickelte eine ästhetische Theorie des Sprachunterrichts und des Spracherwerbs.
(iii) Die dritte Sektion war der Literarische[n] Ästhetik gewidmet. Julia Augart (Windhoek) plädierte dafür, durch kreative Literaturvermittlung zur kreativen Kompetenz beizutragen, Hoda Issa (Kairo) unternahm unter dem Titel »Aesthetica in fabula« den »Versuch einer literaturwissenschaftlichen Ikonologie«, Mihaela Zaharia (Bukarest) untersuchte »Robert Müllers Weltbilder und Visionen« und Maria Rost (Berlin) die Indienbilder und Selbstdarstellung deutschsprachiger Reisender in ihren Onlineberichten, Claudia Mueller-Greene (West Lafayette) verglich Günter Grass’ Blechtrommel und Salman Rushdies Midnight’s Children unter textgenetischen und werktypologischen Aspekten und Rogerrio Paulo Madeira (Coimbra) die Täterfiguren in Bernhard Schlinks Der Vorleser und Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders im Hinblick auf Ästhetik und Medien des Gedächtnisses, Shrikant Pathak (Mumbai) analysierte »Dekonstruierte, hyperreale Geschichte[n] in der postmodernen Ästhetik anhand von Christian Krachts Imperium und Timur Vermes’ Er ist wieder da«, Gesine L. Schiewer (Bayreuth / München) suchte Zugänge zu ausgewählten Texten der sog. Chamisso-Literatur im Kontext von Ästhetik und Emotionsforschung, Dipti Tambe (Mumbai) verglich die sprachtheoretischen Überlegungen von Walter Benjamin und Hermann Broch.
Am darauffolgenden Tag wurde die Sektion fortgesetzt mit Beiträgen von Antoaneta Mihailova (Blagoevgrad), die »Aspekte der antiken Ästhetik« in einigen Gedichten aus der von Marcel Reich-Ranicki zusammengestellten Anthologie Die besten deutschen Gedichte herausarbeitete, von Balasundaram Subramanian (Mandi) mit einer Interpretation von Rilkes Duineser Elegien aus östlicher Sicht, von Nahla Hussein (Kairo) über das »Ästhetische Denken« in der Poesie Hans Magnus Enzensbergers und Hassan Telebs, von Silke Pasewalk (Tartu) über »Sprachliche Relativität und Ästhetik der Ambivalenz in der Gegenwartslyrik am Beispiel von Wysława Szymborska und Ilma Rakusa«, von Roxanne Phillips (München) »Zur Poetik der Spirale bei Hugo von Hofmannsthal und Gustav Sack«, von Iulia-Karin Patrut (Trier) über »Transkulturelle Ästhetiken und literarische Resilienz nach 1989«, von Kate Roy (Leeds) über die »Politische Ästhetik und die Figur des Gastarbeiters bei Özdamar und Shafik«, von Gunther Pakendorf (Kapstadt) über »Das afrikanische Erzählgut und seine europäischen Vermittler«, von Dalia Salama (Kairo) über »Ästhetische Verortung in Adalbert Stifters Erzählungen Das Heidedorf und Abdias« sowie von Joachim Warmbold zur »Ästhetik des Reisens am Beispiel von Meyers Reisebüchern Ägypten von 1911«.
Am dritten Tag suchte Santha S. Kumari (Trivandrum) in dieser Sektion so etwas wie eine »Weibliche Ästhetik« durch eine interkulturelle Literaturanalyse zu veranschaulichen, Yeon-Soo Kim (Seoul) verglich Brechts Der gute Mensch von Sezuan und Lee Jarams Sacheon-Ga, Hebatala Elakkad (Kairo) profilierte den »›Dritten Ort‹ als erzähltechnische Grenzexistenz in Dieter Kühns Roman Beethoven und der schwarze Geiger«, Amruta Kulkarni, Gauri Brahme und Vaishali Dabke (Pune) widmeten sich aus interkultureller Perspektive der »Ästhetik des Häßlichen«.
(iv) In der vierten Sektion ging es um Filme und Intermedialität. Jyoty Sabharwal (New Delhi) stellte die Filmästhetik anhand der Drehbucharbeit von Willy Haas für die Bhavnani Studios in einen komparatistischen Rahmen, Ortrud Gutjahr (Hamburg) verglich die Inszenierungsmuster der ›Scheinehe‹ in Filmen von Peter Weir (Greencard), Fatih Akın (Gegen die Wand) und Vipul Amrutlal Shah (Namstey London), Stellan Pantleon (Hamburg) verfolgte ästhetische Konstanten im ›Lehrer-Film‹ wie jenen von Peter Weir (Dead Poet’s Society) und Aditya Chopras (Mohabbatein), unter dem Titel »Die ikonische Retention der Zeit« stellte Babu Thaliath (New Delhi) Überlegungen zur Filmästhetik Andrej Tarkowskijs an, Gerd Ulrich Bauer (Bayreuth) analysierte »Die sprachliche und visuelle (Re-)Konstruktion erfahrener Fremdheit in Auslandsweblogs deutscher Freiwilliger in Subsahara-Afrika« und Withold Bonner (Tampere) die »Ästhetik und Anästhetik bei der Darstellung eines Ehrenmordes in Elif Şafaks Roman Honour8 und Feo Aladağs Film Die Fremde«, Rajendra Dengle stellte die medienphilosophischen Ansätze von Vilém Flusser und Boris Groys einander gegenüber, Carola Hilmes (Frankfurt a.M.) verglich die Figur Till Eulenspiegel bei Christa und Gerhard Wolf und bei Yoko Tawada, Christina Jurcic (Oviedo) stellte die multimedialen Formate junger deutschsprachiger Autoren in der Poetry-Slam-Szene vor.
Die Sektion fand ihre Fortsetzung am folgenden Tag mit den Beiträgen von Christiane Schönfeld (Limerick) über »Prostituierte in Kunst, Literatur und Film«, in dem sie eine Linie zog »Von einer Ästhetik des Hässlichen zu einer Ethik des Ähnlichen«, von Neeti Badwe (Pune) zum Thema »Vom Q & A [dem Roman von Vikas Swarup] zum Slumdog Millionaire [der Verfilmung]: Ästhetik des Intermedialen oder Neokolonialen?«, von Michael Szurawitzki (Shanghai) zu »Liebe, Sprache(n) und Pragma-Stilistik anhand von Shakespeares Romeo und Julia« und von Kristina Reiss (Jerusalem) »Zur Ästhetik religiösen Verhüllens«.
(v) Die fünfte Sektion war den Projekten der GIP-Partner Mumbai / Pune-Göttingen vorbehalten.9 Hier stellten Sunanda Mahajan (Mumbai), Gabriele Siebert (Pune), Meher Bhoot (Mumbai), Andrea Bogner, Corinna Albrecht und Jacqueline Gutjahr (Göttingen) ihre Projekte vor zu erzähltektonischen Mitteln in deutschen und indischen Literatur(en), zur interkulturellen Bildbetrachtung, zur Rasadhwani-Lehre sowie zu den sprachen- und bildungspolitischen Rahmenbedingungen internationaler multilingualer Studieninhalte.
Außer der eingangs erwähnten wunderbaren Tanzdarbietung und dem Dinner im MCA Club im Rahmen der Inaugural Ceremony am ersten Tag (s.o. Abs. 2) bot das kulturelle Rahmenprogramm eine Lesung der Schriftstellerin Yoko Tawada, die darüber hinaus freundlicherweise auch einen Workshop für Studierende der Universität Mumbai zum Umgang mit kreativen Texten veranstaltete. Der zweite Abend war der Mitgliederversammlung der GiG vorbehalten, deren Ergebnisse im Protokoll resümiert werden (s. dort). Die Fachtagung wurde am Nachmittag des dritten Tages beschlossen mit einer Stadtrundfahrt und der Abschlussfeier, die zugleich als Abschlussveranstaltung des Jubiläums zur Feier des Centenniums ›100 Jahre Germanistik in Indien‹ diente. Für geladene Gäste schloss sich dann noch ein festliches Abendessen an.
Den eigentlichen Abschluss und Höhepunkt des Kongresses bot dann freilich die offizielle »Closing Ceremony of the Centenary of German Studies at the University of Mumbai and in India« in der historischen Convocation Hall des Fort Campus der Universität am letzten Tag, die für die Teilnehmer zweifellos ein eindrucksvolles und kulturell lehrreiches Erlebnis war. Nach dem High Tea im Park und den Inaugural Speeches der Leiterinnen der Germanistik-Departments der Universitäten Mumbai und Pune, Vibha Surana und Manjiri Paranjape, gab es eine Reihe von Ansprachen, darunter solche des deutschen Generalkonsuls Michael Siebert, des prominenten Psychiaters, Schauspielers und Theatertheoretikers Mohan Mahadeo Agashe (Träger des deutschen Bundesverdienstkreuzes und der Goethe-Medaille), des Vizekanzlers der Universität Rajan Welukar, bevor besonders verdiente indische Germanisten wie Anil Bhatti (Jawaharlal Nehru University New Delhi), Annakutty V.K. Findeis (Mumbai University) und Vridhagiri Ganeshan (Heyderabad University) geehrt wurden, die sich dafür mit engagierten Ansprachen bedankten. Auch der Altpräsident der GiG bekam die Gelegenheit zu einigen Worten und seine Nachfolgerin im Amte Gesine L. Schiewer konnte sich dem Auditorium vorstellen. Nach der feierlichen Übergabe einer Jubiläumsfestschrift Interkulturelle Momente. 100 Years of German Studies at the University of Mumbai wurden die Teilnehmer mit der gelungenen Verbindung einer literarischen Lesung von Yoko Tawada und musikalisch-tänzerischer Darbietung des National Streets for Performing Arts beglückt. Nach den abschließenden Dankesworten von Meher Bhoot lud das deutsche Generalkonsulat die Ehrengäste dann zu einem Apéro riche (wie die Schweizer sagen würden, also einem auch kulinarisch üppigen Empfang), zu dem auch die Studenten kommen durften, die während der gesamten Tagung alle Teilnehmer so liebenswürdig betreut hatten. Insgesamt eine sehr gelungene Tagung, die alle Teilnehmer in dankbarer Erinnerung behalten werden, nicht zuletzt auch der Berichterstatter selbst, für den sie zugleich ein ebenso wissenschaftlich ertragreicher wie kulturell bereichernder Abschluss seiner Amtszeit als Präsident der GiG war, in jenem Lande, in dem er knapp zehn Jahre zuvor von seinem Vorgänger Ulrich Müller (auf nächtlicher Zugfahrt zwischen Jaipur und New Delhi) zur Kandidatur für den GiG-Vorsitz ermuntert worden war und in dem er nun die Geschäfte an seine Nachfolgerin Gesine L. Schiewer übergeben konnte.
Anschrift des Verfassers:
Hess-Lüttich, Ernest W.B., Univ.-Prof. em. Dr. Dr. Dr. h.c. [bis 2014: Universität Bern, Institut für Germanistik]; seit 2015: Winterfeldtstr. 61, D-10781 Berlin, E-Mail: hess-luettich@t-online.de; Suite 1104, The Piazza on Church Sq., 32 Parliament St., Cape Town 8000, ZA
1 | Lothar Lutze & Rainer Kimmig (eds.) 1986: Unterwegs zum Fluss, Freiburg / Brsg.: Wolf Mersch, 11.
2 | Ernest W.B. Hess-Lüttich 2014: »Begegnungen in Transiträumen / Transitorische Begegnungen«, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5.2 (2014): 191-203.
3 | Cf. das Programmheft zur Tagung: 4f.
4 | Cf. Uwe Timm 1993: Erzählen und kein Ende. Versuche zu einer Ästhetik des Alltags, Köln: Kiepenheuer & Witsch; Wolfgang Welsch (ed.) 1993: Die Aktualität des Ästhetischen, München: Fink; id. 1996: Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart: Reclam.
5 | Uwe Timm 1993: Die Entdeckung der Currywurst, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 229.
6 | Angelika Dietrich 2014: »Fuck you, Goethe! An indischen Schulen darf kein Deutsch mehr unterrichtet werden«, in: Die Zeit 50 v. 4.12.2014: 78.
7 | Im folgenden Abs. 4 werden nur die in den parallel tagenden Sektionen verhandelten Themen genannt, da der Berichterstatter nicht alle 65 Sektionsreferate selbst hören konnte, aber einen Überblick bieten möchte über das reiche inhaltliche Spektrum der Tagung. Nicht erwähnt sind die Vorträge von Kollegen, die zwar angemeldet waren, aber aus gesundheitlichen oder finanziellen Gründen kurzfristig absagen mussten.
8 | In deutscher Übersetzung (von Michaela Grabinger) unter dem Titel Ehre 2014 bei Kein & Aber (Zürich) erschienen.
9 | GIP = Germanistische Institutspartnerschaft (gefördert vom DAAD).