The following article focuses on the literary representation of an important collective symbol typically linked to the idea of German national identity: the ›German Forest‹. In Thomas von Steinaecker’s novel Schutzgebiet (2009) this symbol, which came into frequent use during the 19th century, appears in the context of colonialism: The ›German Forest‹ is transferred to a fictitious German ›protectorate‹ in West Africa. The dis-placement leads to a specific literary reflection of postcolonial perspectives. This article discusses several aspects of a specific ›postcolonial aesthetic‹ in contemporary German literature, especially the potential of literary strategies that participate in the deconstruction of colonial fantasies.
Title:»German Forest in Africa«. Postcolonial Readings and Strategic Deconstruction of Colonial Fantasies in Thomas von Steinaecker’s Novel Schutzgebiet (2009)
Keywords:postcolonial German studies; contemporary literature; culture in postcolonial perspective; postcolonial aesthetic
»Aber auch abgesehen von den Gefahren eines wilden unbekannten Meeres, wen konnte es gelüsten, einem Asien, Afrika, Italien den Rücken zu wenden, um gen Germanien zu wandern, in diese wüsten Landschaften, unter rauhem Himmel, culturlos, düster, unheimlich einem jeden, dem sie nicht eben das Vaterland sind! […] Das Land bietet im einzelnen verschiedene Gestaltungen, aber der allgemeine Charakter ist schauriger Urwald und düsterer Moorgrund. Gegen Gallien hin ist das Klima mehr feucht, gegen Noricum und Pannonien vorherrschend windig.«
Tacitus 1868: 4f., 9
Wie das Land, so die Menschen? So rau und lebensfeindlich, wie der römische Geschichtsschreiber Tacitus (ca. 55-120 n.Chr.) hier zu Beginn unserer Zeitrechnung Land und Klima jenes – aus römischer Sicht – ›dark continent‹ des nördlichen Germaniens beschreibt, so tableauhaft zeichnet er auch das Bild seiner Bewohner. Tacitus entwirft in seinem geographisch-ethnographischen Bericht Germania (ca. 100 n.Chr.) ein primitives Bild vom kriegerischen, wilden Germanen, dessen Kampfverhalten in den Augen des Chronisten einen Eindruck »schauerlicher Wildheit« (Tacitus 1868: 7) erzeugt, wenngleich, so vermutet die Forschung, der Autor nie selbst nur einen Fußbreit in die nördlichen Provinzen, in die Peripherie des römischen Reiches gesetzt hat. Quasi Ethnologie aus zweiter Hand? Nebst mündlicher Berichte römischer Kaufleute und Beamte lieferten insbesondere schriftliche Quellen, auf die Tacitus zurückgriff, den Stoff für seine Germania (vgl. Froesch 2012: 8; Fuhrmann 1972: 100). Im Mittelpunkt germanischer Lebenswelt sieht Tacitus dabei vor allem eines: den Wald. Er ist dem Germanen heilig, doch nicht nur ausschließlich zur Huldigung der Götter, auch für profane Angelegenheiten suchen die Germanen den Wald auf, um dort das politische, soziale und militärische Zusammenleben zu organisieren (vgl. Zechner 2009: 36).
Was hat der Wald der Germanen, ›Tacitus’ Wald‹, nun mit dem deutschen Kolonialismus zu tun? Auf den ersten Blick scheint sich der Zusammenhang von Wald und Kolonialherrschaft nicht unbedingt aufzudrängen.1 Aus einer postkolonialen Perspektive wird dieser knappe ethnographische Exkurs allerdings in mehrfacher Hinsicht interessant: Nicht zur verweist Tacitus’ Darstellung in der Art und Weise, ›wie‹ die Vorstellung vom ›wilden Germanen‹ als Gegenfolie zum ›zivilisierten Römer‹ entworfen wird, auf typische Verfahren der Fremdkonstruktion bzw. auf Diskursmuster, wie sie seit der Aufklärung (vgl. Bay / Merten 2006), besonders aber im kolonialen Diskurs des 19. / 20. Jahrhunderts das Bild vom kulturell Fremden konstituieren.2 Bemerkenswert an diesem ›othering‹3 erscheint vor allem die Inversion der Positionen von Kolonisierern (Römer) und Kolonisierten (Germanen). Die »evolutionistische Leitdichotomie Natur / Kultur« (Bachmann-Medick 1996: 72), die im kolonialen Diskurs das asymmetrische Machtverhältnis zwischen Eigenem und Fremdem strukturiert und jenes ›ethnisierende Inferioritätsaxiom‹ darstellt, das Herbert Uerlings als »Kern ›des‹ kolonialen Diskurses« (Uerlings 2005: 18) bezeichnet hat, eröffnet hier eine ambivalente, gar paradoxe Perspektive auf den deutschen Kolonialismus des 19. / 20. Jahrhunderts. Referiert der Topos vom Germanen als »Waldvolk« (Lehmann 2001b: 6) doch auf ein ganz zentrales Identitätssymbol und Nationalstereotyp, das vor allem im Auftrieb des europäischen Nationalismus im 19. Jahrhundert »exklusiv zu etwas Deutschem werden« (Lehmann 2001a: 188) sollte.4 Dabei ist die Herausbildung dieses »Ursprungsmythos« (Lehmann 2001b: 4) ganz wesentlich auf eine verstärkt einsetzende Rezeption von Tacitus’ Germania zurückzuführen, dessen ethnographischer Bericht, so schreibt Albrecht Lehmann, »von Jacob Grimm und anderen Romantikern zum ersten Geschichtsbuch über die Deutschen deklariert« (Lehmann 1999: 25; vgl. Küster 2008: 181) wurde. Grimm schrieb 1835 im Vorwort seiner Schrift Deutsche Mythologie: »durch eines Römers unsterbliche schrift war ein morgenroth in die geschichte Deutschlands gestellt worden, um das uns andere völker zu beneiden haben.« (Grimm 1981: V)
Das Kollektivsymbol5 vom ›deutschen Wald‹ wird in Thomas von Steinaeckers Roman Schutzgebiet (2009), um den es in diesem Beitrag gehen wird, im Kontext eines kolonialen Szenarios inszeniert.6 In der Verschiebung des Symbols in einen kolonialen Zusammenhang verhandelt der Text so insbesondere auch postkoloniale Fragestellungen. Der Roman erzählt die Geschichte Benēsis, einer weit abgeschotteten, von den Franzosen verlassenen Festung im Hinterland der Kolonie ›Deutsch-Tola‹. »Auf der Landkarte wirkte Tola am westlichen Rand des riesigen Kontinents winzig klein«, wie es im Text heißt: »ein afrikanisches Liechtenstein« (St 15). An diesen Schauplatz treibt es zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Gruppe deutscher Auswanderer, gar zwielichtige Helden, die bereits in der Heimat scheiterten, um nun in der Fremde ihr Glück ein zweites Mal zu suchen. Sie folgen dem Plan der Bremer Kolonialverwaltung, das Projekt Benēsi in die Tat umzusetzen: »Man plant dort nichts Geringeres als die Aufforstung eines nicht gerade kleinen Teils Steppe mit deutschen Laub- und Nadelhölzern, die dort, soviel man hört, um einiges schneller und besser wachsen als in der Heimat.« (St 48) Im Mittelpunkt des Projekts steht ein ökonomisches Begehren an der fremden Topographie, denn nicht mit »einheimischen [d.h. afrikanischen; J.O.] Hölzern, für die in Deutschland kein Markt vorhanden ist. Nein: Ausschließlich mit Tanne, Fichte, Birke Buche, Eiche, Esche« (St 106), also allein mit »deutsche[n] Baumarten« (St 61) soll der fremde Boden ›kultiviert‹ werden. »Ein deutscher Wald auf afrikanischem Boden!« (St 106), so lautet das Motto der Unternehmung. Dies ist jedoch in den Augen des Verwalters Ludwig Gerber, vertriebener Sohn eines mächtigen deutschen Holzhändlers, nicht genug. Über den Wald hinaus, »dem deutschen Wunder« (St 63), plant er den Bau einer ganzen Stadt, der eine ganze Schar Siedler anlocken soll mit der Losung vom »deutsche[n] Wald in Afrika« (St 358). Am Schluss des Romans steht das Scheitern dieser kolonialen Utopie, die sich buchstäblich in Rauch auflöst. Nachdem der deutsche Wald in Brand gerät, die Siedler geflohen sind und der Erste Weltkrieg in Benēsi einzieht, ist auch das Ende jener kleinen Schicksalsgesellschaft besiegelt, die zusammen mit ihrer wahnwitzigen Unternehmung untergeht.
Die Auszüge aus Schutzgebiet machen bereits deutlich, wie sehr die fremde Topographie zum Projektionsraum eines typisch kolonialen Begehrens wird. Ist der fremde Boden einerseits zu kultivieren, um ihn ökonomisch auszubeuten, so avanciert er andererseits zu einer »imaginären Geographie« (Said 2009: 65), in der sich die Kolonialphantasie vom ›deutschen Heim in der Fremde‹ Bahn bricht.7 Diese Vorstellung von der Fremde als Heimat, mit der sich Rolf Parr in seiner gleichnamigen Studie beschäftigt (vgl. Parr 2014), ist dabei Ausdruck eines imaginären Akts der Usurpation, der Heimat und Fremde in ein besonderes Verhältnis setzt. Aus diesem Blickwinkel steht das koloniale Forst- und Siedlungsprojekt vom »deutsche[n] Wald in Afrika« (St 358) für eine »koloniale Inbesitznahme der Fremde als Heimat«, die einen Prozess »›Verheimatung‹ der Fremde« (Parr 2014: 15) in Gang setzt, um »Fremde in Heimat zu verwandeln« (ebd.: 7).
Der folgende Beitrag will zum einen zeigen, wie diese projektive Verschiebung vom ›deutschen Wald in Afrika‹ auf typische koloniale Muster, d.h. sowohl Praktiken als auch Semantiken, rekurriert, die in nuce im Kulturbegriff selbst verwurzelt sind. Zum anderen liegt nicht nur im Scheitern des kolonialen Forst- und Siedlungsprojekts, so die hier vertretene These, ein postkoloniales Potential, das eine dekonstruktive Lektüre des National- bzw. Identitätssymbols vom deutschen Wald zulässt. So gilt es, weitere ästhetische Strategien des Textes lesbar zu machen, welche zur Inversion, d.h. zur Irritation und Destabilisierung, ja gar zur Umkehrung, Entstellung und Verrückung kolonialer Ordnungen führen. Kurzum: Der Text mobilisiert eine ganze Reihe subversiver Verfahren, die eine Lektüre gegen den Strich ermöglichen und dadurch gleichsam ein Merkmal konturieren, das Herbert Uerlings als zentralen Aspekt einer spezifisch ›postkolonialen Ästhetik‹ (vgl. Uerlings 2012; Dunker 2012) beschrieben hat. Gemeint sind ästhetische Strategien der Literatur, die ihr postkoloniales Potential ganz wesentlich in der »Dekonstruktion des kolonialen Imaginären« (Uerlings 2012: 53) entfalten, indem sie etwa die »Faszinationen, Aporien und Paradoxien des kolonialen Begehrens« (ebd.: 56) kritisch ausstellen, die auch jener imaginären Projektion vom ›deutschen Wald in Afrika‹ eingeschrieben sind. Dass im Kontext postkolonialer Literatur typische Nationalstereotype dekonstruiert werden, eröffnet ferner einen kritischen Blick auf den Zusammenhang von Kolonialismus und Kultur insgesamt. Dabei kommt dem Kollektivsymbol vom deutschen Wald eine Schlüsselrolle zu.
Im Fokus ›Postkolonialer Studien‹ bzw. einer Postkolonialen Germanistik (vgl. Dürbeck / Dunker 2014), wie sie sich seit der Jahrtausendwende im Horizont der traditionellen Germanistik allmählich etablieren konnte, handelt es sich bei Steinaeckers Roman Schutzgebiet um einen seitens der Forschung bisher kaum wahrgenommenen Text.8 Die Gründe dafür, so eine Vermutung, könnten mitunter darin liegen, dass starke Verschiebungen historischer Fakten ins Fiktionale eine kolonialgeschichtliche Kontextualisierung der Erzählung erschweren. Dennoch stützen eine Reihe von Verweisen die Lesart, es könne sich bei der fiktionalen »afrikanische[n] Kolonie Deutsch-Tola« (St 47) um die ehemals deutsche Kolonie Togo handeln. Das betrifft vor allem Personen- und Ortsangaben, historische Ereignisse wie auch das Kolonialstereotyp von der ›Musterkolonie Togo‹.9 Dirk Göttsche betont dabei, dass es bei Steinaeckers Roman im Vergleich zu anderen Texten, die seit 2000 erschienen sind, keinesfalls darum gehe, deutsche Kolonialgeschichte zu rekonstruieren: »It is obvious from the outset that the story-world of Schutzgebiet operates on a symbolic rather than a realistic level.« (Göttsche 2013: 170) Vielmehr kennzeichnen Aspekte der Ironisierung, Groteske und des Pastiches den Umgang mit dem kolonialen Imaginären:
Schutzgebiet is clearly not meant to critically reconstruct German colonial history in West Africa. Rather than drawing on historical research, fact, and documents, as do most of the other historical novels about German colonialism, it presents a highly ironic pastiche of the German colonial imagination and culture, an entertaining potpourri of familiar colonial motifs which exposes the grotesque nature of colonialism, as seen from the defamiliarizing distance of a hundred years. (Göttsche 2013: 168)
Der Roman Schutzgebiet verschiebt das Kollektivsymbol vom ›deutschen Wald‹ in den historischen Kontext des deutschen Kolonialismus in West-Afrika. Das Phantasma vom »deutschen Forst auf afrikanischem Boden« (St 61) verweist über das Motiv der Aufforstung, also der Pflanzung deutscher Baumarten auf tolalesischem Boden, auf einen charakteristischen Zusammenhang von Kolonialismus und Kultur, den Alexander Honold und Oliver Simons mit dem Konzept Kolonialismus als Kultur (2002) fokussiert haben. Den Autoren geht es dabei um die »kulturelle Dimension des Kolonialismus«, d.h., wie »kolonial[e] Praktiken und Deutungsmuster« (ebd.: 9) auf einen kulturellen Resonanzboden zurückgeführt und dadurch als integraler Bestandteil von Kultur gelesen werden können. Erscheint die unterstellte Gleichsetzung von Kolonialismus und Kultur auf den ersten Blick widersprüchlich (vgl. ebd.: 7), so verweisen die Autoren auf die etymologische Wurzel des lat. Verbs ›colere‹, der Hartmut Böhme in seinem Aufsatz über die historische Semantik des Kulturbegriffs nachgegangen ist. Das Verb ›colere‹ bedeute u.a. so viel wie »anbauen, bearbeiten, Ackerbau betreiben« (Böhme 1996: 50). Im Zentrum der Vorstellung von Kultur steht das Verhältnis des Menschen gegenüber der Natur. Kultur beruhe demnach auf Prozessen der »Verräumlichung und Verstetigung«, die als »Akt der Entwilderung« zu begreifen sind, wodurch soziale Gemeinschaften »ihr Überleben und ihre Entwicklung in einer übermächtigen Natur sichern« (ebd.: 52).
Neben dem engen Bedeutungskreis von ›cultus‹ (Substantivierung von ›colere‹), der die »Praktiken des Landbaus« (ebd.: 50) meint, wird im Rahmen der hier geführten Überlegungen ein weiter Bedeutungskontext interessant, den Böhme als »metaphorisch« bezeichnet und in zwei »Agritechniken« (ebd.) unterscheidet: Auf der einen Seite entstehen die ›coloniae‹ (Plural von ›colonia‹) als ›Pflanzstädte‹, ›Niederlassungen‹ und ›Kolonien‹, »die den Versuch einer Übertragung bestimmter Siedlungs-, Gesellungs- und Arbeitsweisen auf eine neue Region, einen anderen Lebensraum darstellen« (Honold / Simons 2002: 8). Auf der anderen Seite dienen Agritechniken als »Modell des Begreifens von mentalen, sozialen, religiösen, erzieherischen Meliorationen, mithin der ›Kultivierung‹ einer Gesellschaft oder eines Individuums« (Böhme 1996: 50). Zusammengenommen referiert ein solches Kulturverständnis auf eine expansive Dimension von Kultur (Kolonialismus als Kultur). Der Kulturbegriff lanciert damit eine Bedeutungsebene, auf der Prozesse der Kultivierung als Kolonialisierung lesbar werden, die eine Usurpation der räumlichen Fremde, aber auch des Fremden bereits in der Bedeutung von ›Kultur‹ mit einschließt. Mit Walter Benjamins Diktum, »[e]s ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein« (Benjamin 2007: 132), ließe sich solch ein expansives Kulturverständnis weiter zuspitzen, das insbesondere auf die Gewaltgeschichte des Kolonialismus zuzutreffen scheint.
Das koloniale Forstprojekt Benēsi realisiert im Kolonialsymbol vom ›deutschen Wald in Afrika‹ diese etymologische Wurzel von ›Kultur‹: Im Motiv des Aufforstens wird die Bedeutung der Kulturpraxis des Pflanzens (Benēsi als ›Pflanzstätte‹) als koloniale Praktik lesbar, die den fremden Raum dabei nicht nur räumlich, sondern auch symbolisch in Besitz nimmt: »Der deutsche Geist hat hier ein würdiges Zuhause gefunden« (St 56), skandiert der Verwalter Gerber, bevor er auf die »erzieherische Aufgabe gegenüber den Wilden« (St 57) zu sprechen kommt. Der koloniale Ethos von der Zivilisierungsmission wird an dieser Stelle bereits das erste Mal grotesk gebrochen. So stellt der Roman kolonial-rassistisches Denken offen aus, das in Gerbers Ausführungen über die Disziplinierungspraktiken der ›Schwarzen‹ zum Ausdruck kommt:
Der Schwarze ist grausam und erwartet auch von uns, dass wir ihn angemessen, aber mit all der nötigen Härte bestrafen, sobald er gegen das Gesetz verstößt. […] So gibt es wichtige juristische Feinheiten. Auch das muss klar durchdacht sein. Ob man beispielsweise die Flusspferdpeitsche oder ein Tauendchen anwendet. Benutze ich die Flusspferdpeitsche, ist der Schwarze kaputt. Er fällt für Tage aus und fehlt mir im Wald. Der Dumme bin also am Ende ich. Benutze ich hingegen das Tauendchen, wird das von den Schwarzen möglicherweise als erträgliches Übel betrachtet. Übermütig begehen sie die Tat erneut. Sie sehen, die Sache ist so einfach nicht. (St 56f.)
Damit fallen im Forstprojekt Benēsi beide Bedeutungsdimensionen von Kultur zusammen: Zum einen wird der deutsche Wald in direktem Wortsinne zur ›Pflanzstätte‹. Koloniale Herrschaftspraxis als ›agri cultura‹ repräsentiert damit sowohl den aktiven Prozess der Landnahme als auch den Akt der ökonomischen Nutzbarmachung (›Bepflanzung‹). Zum anderen, und diesen Aspekt gilt es besonders hervorzuheben, wird über die räumliche Inbesitznahme und ›Kultivierung‹ ein typisch koloniales Diskursmuster aktualisiert: Um den fremden Raum als ›leer‹ erklären zu können, werden seine Bewohner gleichsam mit ›naturalisiert‹. Als der Natur zugehörig und damit kulturlos bzw. unterentwickelt kann der ›wilde Afrikaner‹ (wie das leere Land für die Siedler) nun kultiviert, d.h. zivilisiert werden. Kultivierung kann auf diese Weise in zweifachem Sinne, d.h. als räumlich-ökonomische Nutzbarmachung (Besiedelung) einerseits wie auch als notwendige Maßnahme der Zivilisierung andererseits legitimiert werden (vgl. Fiedler 2011: 14, 29, 287; Bay 2012: 111f.).
Diese Vorstellung vom Afrikaner als integraler Teil der Natur spiegelt sich in der Fremdwahrnehmung des Verwalters Ludwig Gerber wider, die über die Gleichsetzung von Mensch und Tier erfolgt. In der Unverständlichkeit der fremden Sprache klingt dabei noch jenes Konzept des Barbarischen (›barbarophon‹) an (vgl. Kristeva 1990: 60f.; Hamann 2012: 54f.), das die Grenzziehung zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen Kultur und Nichtkultur markiert:
Aus den dichten Kronen zu ihren Köpfen ertönt ein durchdringender Schrei, einmal, zweimal [...]. Trupp Sieben hängt oben in den Bäumen zum Ausasten der Tannen, wozu es bereits höchste Zeit ist, so wie sich die Kronen neigen. Nur dass die Arbeiter dabei Tiere nachahmen … das könnten sie getrost unterlassen. Oder aber die unterhalten sich. Weiß man ja nie bei den Schwarzen. (St 141)
Die Pflanzstätte ist zudem permanent bedroht von der sie umgebenden Natur, die als parasitär und damit als Gefahr für die ›Artenreinheit‹ des deutschen Waldes wahrgenommen wird, auf dem ja »[a]usschließlich deutsche Baumarten« (St 61) wachsen sollen:
Aber diese verdammten fremden Samen; diese Parasiten, die sich an den mühsam gezüchteten Bäumen hoch schmarotzen und sie eines nahen Tages durch Lichtentzug verkümmern lassen werden. Wie Zimmerpflanzen in Blumentöpfen sitzen diese Bromeliazeen gemütlich da oben in den Astgabeln und lassen dreist ihre Stängel herunterfallen. Sobald Schirach wieder Kapazitäten frei hat, wird Gerber ihn bitten, ein Sonderkommando »Zur Beseitigung unerwünschter Sprösslinge von außen« bereitzustellen. Dann wird diese fremde Brut mit Stumpf und Stiel ausgerottet! (St 138f.)
Die Vorstellung vom deutschen Wald als ›Monokultur‹ wird damit zur Metapher rassenbiologischer Politik, die eine Vermischung der Kulturen verbietet. Dem deutschen Wald, so wird an dieser Stelle deutlich, ist demnach eine essentialistische, homogene Vorstellung kultureller Identität unterlegt, die darüber hinaus als zivilisatorisch überlegene Kultur inszeniert wird. Heterogene bzw. hybride Konzepte von Identität werden folglich als Bedrohung empfunden und buchstäblich »mit Stumpf und Stiel ausgerottet!« (St 139) Die Erhaltung der ›Artenreinheit‹ wird somit in typisch kolonialer Logik zum ›Kulturkampf‹ gegen die Natur erklärt, denn einen »Austausch mit einheimischen Baumsorten galt es zu verhindern« (St 124), so erklärt Gerber.
Das subversive Potential des Textes liegt jedoch genau in der Infragestellung dieses kolonialen Identitätskonzepts. Stolz präsentiert Gerber dem Offizier Schirach seine Züchtung, die sogenannte »Abies Gerber« (St 139) (lat. für ›Gerber-Tanne‹):
Auf gut Glück hatte Gerber einen besonders kräftigen einheimischen Nadelbaum mit der deutschen Tanne gekreuzt, »ein gezielter Akt der Annektion sozusagen«, hatte er Schirach erklärt, als der nachfragte, ob es nicht gerade darum gehe, Deutsch und nur Deutsch zu bleiben. Ja und nein. Solange eine Vermischung erfolgversprechend ist, gebe es grundsätzlich nichts gegen sie einzuwenden. Da verhält es sich wie mit den Kolonien. Man wird es Gerber jedenfalls danken, denn das Holz der neuen Tanne ist stabil wie Mahagoni und besitzt eine ähnliche elegante Rotfärbung. (St 139)
Der ›Hybride‹ wird als Produkt gezielter, kolonialer Biopolitik entworfen und ist in den Augen Gerbers, wenn auch ausschließlich unter ökonomischen Gesichtspunkten, deutlich positiv konnotiert. Anders hingegen markiert Hybridität im kolonialen Diskurs meist einen negativen Subjektstatus, auf den hier die Frage des Offiziers Schirach referiert. Entlehnt aus der Biologie, in der Hybridität »sich auf die Züchtung und Kreuzung verschiedener Arten bezieht«, hat der Begriff im kolonialen Diskurs die Funktion, die »Kluft zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten« (Goetsch 1997: 135) zu legitimieren. Der Hybride als ›Arten-Mischling‹ gefährdet aus dieser Perspektive jenes für den kolonialen Diskurs so konstitutive Grundprinzip interkultureller Beziehungen, das Herbert Uerlings mit dem Begriff des ›ethnisierenden Inferioritätsaxioms‹ umschrieben hat. Bleibt die Denkweise Gerbers zwar in einer rassenbiologischen Logik gefangen, so lassen die Textstellen dennoch eine Lesart zu, um koloniale Identitätskonstruktionen gegen den Strich zu lesen. So unterläuft Gerbers Hybride ein zentrales Merkmal kolonialer Identitäten. Die im kolonialen Diskurs als quasi natürlich, absolut und unüberwindbar entworfene kulturelle Differenz, die – wie bereits ausgeführt – das asymmetrische Machtverhältnis zwischen Kolonisierern und Kolonisierten strukturiert, wird in Schutzgebiet nicht nur in ihrer Konstruiertheit desavouiert, sondern gleichsam in ihrer Widersprüchlichkeit ad absurdum geführt. Der Waldhybrid eröffnet so gesehen einen symbolischen Zwischenraum für Widerspruch bzw. Widersprüchliches. Ferner wird das koloniale Denkmuster, jene emphatische Kulturmission, die sich in der Frage des Offiziers Schirarch zeigt, zum zweiten Mal hintergangen. Gerbers Haltung entlarvt deutlich eine ökonomische Perspektive, die Nutzen und Profit kolonialer Projekte in den Vordergrund bzw. über das Credo der Kulturmission stellt.
Elias Canetti hat in seiner 1960 erschienenen Studie Masse und Macht dem Verhältnis der Deutschen zum Wald eine prominente Prägung eingeschrieben. »In keinem modernen Lande der Welt«, so schreibt Canetti, sei
das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland. Das Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume, ihre Dichte und ihre Zahl erfüllt das Herz des Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude. Er sucht den Wald, in dem seine Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fühlt sich eins mit den Bäumen. […] Der Engländer sah sich gern auf dem Meer, der Deutsche sah sich gern im Wald; knapper ist, was sie in ihrem nationalen Gefühl trennte, schwerlich auszudrücken. (Canetti 2014: 202f.)
Als sogenanntes Massensymbol10 der Deutschen entwirft Canetti im Symbol des Waldes ein anthropologisches Deutungsmuster für den deutschen Militarismus des 19. und 20. Jahrhunderts und bietet damit nicht zuletzt eine kulturkritische Perspektive auf ein typisch deutsches Kollektivsymbol an, dessen Traditionslinien bis weit in die deutsche Romantik zurückreichen. Für Canettis Konzept ist dabei die Gleichsetzung von Wald und Heer entscheidend: »Wald und Heer hängen für den Deutschen auf das innigste zusammen, und es läßt sich das eine so gut wie das andere als das Massensymbol der Nation bezeichnen; sie sind in dieser Hinsicht geradezu ein und dasselbe.« (Ebd.: 210) So werden bei Canetti die semantischen Merkmale der ›pictura‹ des Waldes auf den Symbolträger, den Deutschen, übertragen und als ›soldatische Tugenden‹ identifiziert. An voriger Stelle heißt es:
Seine [des Baums, J.O.] Standhaftigkeit hat viel von derselben Tugend des Kriegers. Die Rinden, die einem erst wie Panzer erscheinen möchten, gleichen im Walde, wo so viele Bäume derselben Art beisammen sind, mehr den Uniformen der Heeresabteilung. Heer und Wald waren für den Deutschen, ohne daß er sich darüber im klaren war, auf jede Weise zusammengeflossen. Was andere am Heere kahl und öde erscheinen mochte, hatte für den Deutschen das Leben und Leuchten des Waldes. Er fürchtete sich da nicht; er fühlte sich beschützt, einer von diesen allen. Das Schroffe und Gerade der Bäume nahm er sich selber zur Regel. (Ebd.: 202)
Für die Analyse von Steinaeckers Schutzgebiet liefert Canetti eine weitere Möglichkeit der Lektüre, das Nationalstereotyp bzw. Kolonialsymbol vom ›deutschen Wald‹ gegen den Strich zu lesen. Die Gleichung ›Heer = Wald‹ findet sich in Steinaeckers Roman nicht nur in den Beschreibungen der Waldordnung durch den Erzähler, der Einblick in die Gedanken Gerbers gewährt: »In der Ferne, brav aufgereiht, in Reih und Glied, als wollten sie ihn, ihren Herren, grüßen, wiegten sich die ersten Bäume im Nieselregen.« (St 124) Auch in der Angst Gerbers vor der »afrikanische[n] Flora« (ebd.), von der Verwilderung und Unordnung ausgeht, wird die Stabilität der deutschen Ordnung bedroht:
Aber würde man den Angriffen der Millionen fremder Samen und Sporen im Frühling, die die Reinheit der Arten gefährdete, überhaupt standhalten? Wie sollte man diese Schlacht mit einer Schutztruppe und einem Offizier gewinnen, die geübt sein mochten im Kampf gegen Mensch und Tier – nicht aber gegen einen viel unberechenbareren Gegner, die afrikanische Flora? (ebd.)
Die Repräsentation des deutschen Waldes in Schutzgebiet rekurriert damit auch auf ein typisch koloniales Diskursmuster, das in der Dichotomie ›Ordnung vs. Chaos‹ zum Ausdruck kommt. Auf diese semantische Binäropposition referiert auch Canetti, der die Ordnung des deutschen Waldes dem Tropenwald gegenüberstellt: Auf der einen Seite sieht er die Standhaftigkeit der Bäume, ihre »Sauberkeit und Abgegrenztheit gegeneinander, die Betonung der Vertikalen«, auf der anderen Seite steht der tropische Wald, »wo Schlinggewächse in jeder Richtung durcheinanderwachsen. Im tropischen Wald verliert sich das Auge in der Nähe, es ist eine chaotische, ungegliederte Masse, auf eine bunteste Weise belebt, die jedes Gefühl von Regel und gleichmäßiger Wiederholung ausschließt.« (Canetti 2014: 202) Der Tropenwald besetzt demnach einen semantischen Gegenraum zum deutschen Wald: »Chaos statt Strammstehen, buntes Durcheinander statt Uniformgrün, Biodiversität statt Monokultur« (Flitner 2000b: 10). Der Tropenwald steht folglich antithetisch für das bedrohlich Fremde: Er ist der »›andere Wald‹ zum aufgeräumten deutschen Forst.« (Ebd.)
Zusammengefasst wird in Schutzgebiet das Kollektivsymbol vom deutschen Wald als Teil des kolonialen Imaginären inszeniert. In der Verschiebung dieses Symbols in den kolonialen Kontext bekommt dieses Bild allerdings Risse. Canettis Wald bietet dabei die Möglichkeit einer Gegenlektüre, durch die koloniale Dichotomien virulent werden, wie bspw. die Binäroppositionen ›Chaos vs. Ordnung‹ oder ›bedrohliche Fremde vs. sichere / vertraute Heimat‹ zeigen. An die Stelle dieser Dichotomie rückt die »Ambivalenz des kolonialen Diskurses« (Bhabha 2000: 130), die Homi K. Bhabha zufolge die widersprüchliche, gespaltene wie instabile Verfassung kolonialer Identitäten hervortreten lässt, jene angstbesetzte »Andersheit des Selbst, die in das perverse Palimpsest der kolonialen Identität eingeschrieben ist.« (Ebd.: 65) In der Vorstellung vom »wahrhaftigen Schwarzwald Afrikas« (St 233) findet Bhabhas Diktum eine symbolische Zuspitzung, die den Wald als Identitätssymbol des Deutschen aus seiner nationalistisch-kolonialen Monosemierung ins bedrohlich Ambivalente verschiebt. Die angstbesetzte Projektion, die das Andere als das immer schon Verdrängte im Eigenen zutage fördert, lässt folglich eine dekonstruktive Lektüre des Topos vom ›deutschen Wald‹ als nationales wie koloniales Identitätssymbol zu. Nicht nur der Baumhybride unterläuft die Mechanismen der kulturellen Differenz im kolonialen Diskurs und stellt ihren Konstruktionscharakter bloß. Auf ähnliche Weise ermöglicht die eingangs gezogene Parallele zum ›othering‹ des Germanen eine paradoxe Perspektive auf koloniale Repräsentationen, die u.a. über die Naturalisierung des Anderen versuchen, eine unüberwindbare Grenze zwischen Eigenem und Fremdem zu ziehen. Indem hier nicht nur der koloniale Andere, sondern ebenso der Kolonisierer über das Waldsymbol identifiziert bzw. ›naturalisiert‹ wird, wird die Koordinatenachse ›Natur vs. Kultur‹ gleichsam eingeebnet und ihr Absolutheitsanspruch ad absurdum geführt.
Über das Motiv des Scheiterns wird auf der Handlungsebene des Textes die Dekonstruktion des kolonialen Imaginären weiter vorangetrieben. Indem zum Schluss des Romans der Wald in Brand gerät und die Siedler abermals die Flucht ergreifen, geht die Kolonialphantasie vom ›deutschen Wald in Afrika‹ buchstäblich in Rauch auf. Das Chaosmotiv, das in verschiedenen Passagen des Romans immer wieder an die Stelle ›deutscher Ordnung‹ drängt, unterläuft insbesondere in dieser Schlüsselszene den Kolonialmythos von der ›Musterkolonie Togo‹.
Abschließend gilt es ein weiteres ästhetisches Merkmal zu konturieren, das in Hinblick auf die Frage nach einer spezifisch postkolonialen Ästhetik relevant erscheint. Der Roman arbeitet mit ästhetischen Strategien, die eine ›komisierende Funktion‹ haben und insofern als dekonstruktiv zu betrachten sind, als sie dadurch ebenfalls zu einer Destabilisierung kolonialer Dichotomien beitragen. So zeigt die Repräsentation des deutschen Waldes Merkmale des Grotesken, der Ironie und der komisch-absurden Übertreibung. Sie verweisen auf eine Ästhetik der Verschiebung, die sich Verfahren der Irritation und Inversion, der De-plazierung, Entstellung und Verrückung bedient, welche die koloniale Ordnung buchstäblich auf den Kopf stellen.11 Über die komisch-satirische Inszenierung der Figuren wird ein kolonialer Habitus auf geradezu ostentative Weise lächerlich gemacht, überzeichnet bzw. ›verrückt‹. Werden somit in Schutzgebiet koloniale Diskursmuster ironisch zitiert, so kehrt dies das Wahnsinnige bzw. Wahnwitzige der Figuren umso mehr nach außen. Dadurch wird nicht nur der imaginäre Kern kolonialen Denkens, d.h. das koloniale Begehren, die Kolonialphantasien und Rassismen, von denen hier die Rede war, desavouiert und in ein kritisches Licht gerückt, sondern der Wahnsinn und die Widersinnigkeit kolonialer Projekte insgesamt ausgestellt. Dass nicht nur Steinaeckers Roman, sondern auch weitere Texte im Horizont der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, die den deutschen Kolonialismus literarisieren, auf Verfahren komischen Erzählens rekurrieren, stellt schließlich die Frage nach dem spezifisch dekonstruktiven Funktionspotential einer ›postkolonialen Komik‹, die ihr postkoloniales Potential ganz wesentlich aus ästhetischen Strategien der Verschiebung bezieht.12 Diese Verfahren können so auch ästhetische Gegenstrategien zu »Verfahren der Dichotomisierung, Polarisierung und Hierarchisierung« einnehmen und dadurch ein »postkoloniales Potential« entwickeln, das zu einem »differentielle[n] Spiel mit dem kolonialen Imaginären und seinen Dichotomien« (Uerlings 2012: 53) führt.
Dieses erzählerische Merkmal tritt am Schluss des Romans umso deutlicher hervor: Inmitten einer karnevalesken Szenerie proben die Siedler zum Fest des ersten Jahrestages der Siedlung, also kurz vor der Zerstörung des Forstes, das deutsche Weihnachtslied ›O Tannenbaum‹ als »inoffizielle Hymne Benēsis« (St 347) und zwei preußisch-nationale Volkslieder: ›Was ist des Deutschen Tochterland?‹ und ›Heil dir im Siegerkranz‹. Zwei Siedler »mit übergroßen Masken des Kaisers und Bismarcks, der Väter der deutschen Kolonialbewegung« (St 346f.), bilden die Spitze eines Karnevalszugs zu Ehren von Kolonie und Vaterland. Die Schilderung der Feier, die in einem Alkoholexzess gipfelt, wird dabei erzählerisch durchbrochen durch Versauszüge des Volksliedes ›Heil dir im Siegerkranz‹. Dieses Verfahren setzt zum einen den Alkoholrausch ästhetisch in Szene, indem der Text selbst ins Schwindeln gerät, taumelt, torkelt. Zum anderen erzeugt diese Montage eine komisch-groteske Wirkung, die das Waldsymbol als National- / Kolonialsymbol ins Absurde kippen lässt und die Zerstörung des Forstes – und damit auch der Kolonie – bereits auf einer ästhetischen Ebene vorwegnimmt. Im Text des Volksliedes heißt es: »Heilige Flamme, glüh / Glüh und erlösche nie / Fürs Vaterland [...] Wie so stolz und hehr / Wirft über Land und Meer / Weithin der deutsche Aar / Flammenden Blick.« (St 347f.) Die Lesart einer Dekonstruktion des kolonialen Imaginären wird somit nicht nur mittels komisch-grotesker Verfahren unterstützt, sondern unmittelbar in der narrativen Logik des Textes (Zerstörung von Wald und Kolonie) realisiert. Nicht zuletzt wird in dem Motiv des Scheiterns dem Text ein subversives Potential eingeschrieben. Dieses lässt ein typisch deutsches Kollektivsymbol in einem kritischen Licht erscheinen, das in den Kontext des deutschen Kolonialismus ›verrückt‹ hier der Lächerlichkeit preisgegeben wird.
1 | Vgl. den 2000 erschienenen Sammelband Der deutsche Tropenwald (Flitner 2000a), der sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive sowohl mit kolonialen Repräsentationen als auch mit imaginären Transformationen des ›deutschen Wald‹ in Literatur und Film beschäftigt.
2 | So schreibt Matthias Fiedler etwa über Rousseaus Konzept des ›edlen Wilden‹, dass es ein »äußerst folgenreiches Konzept im Diskurs über Afrika« darstelle, »indem es den Afrikaner als Naturmenschen am Ende des 18. Jahrhunderts erneut innerhalb der Dichotomie von Natur und Kultur verortet.« (Fiedler 2011: 286)
3 | Der Begriff wird innerhalb der Forschung meist auf die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak zurückgeführt (vgl. Spivak 1985). In Anlehnung an Spivak wird hier ›Fremdheit‹/›Andersheit‹ nicht als eine von Natur aus gegebene, quasi absolute und stabile Eigenschaft verstanden, sondern als Ergebnis einer kulturellen Setzung bzw. Strategie, an deren Herausbildung und Stabilisierung ganz maßgeblich diskursive Prozesse beteiligt sind (z.B. Literatur). Das Verfahren des ›othering‹ stellt demnach ein Prinzip der Fremdzuschreibung dar, bei der das Fremde / Andere als Produkt von Machteffekten zu betrachten ist. Es ist dabei »das hegemoniale Subjekt, das die Macht hat, Alterität zu definieren« (Uerlings 2006: 2).
4 | Unter einem ›ethnisierenden Inferioritätsaxiom‹ versteht Uerlings »[z]wei als ethnisch different definierte Einheiten«, die »in eine für unbezweifelbar gehaltene Ungleichheitsbeziehung gebracht« werden. »Daraus ergibt sich die charakteristische binäre Opposition zwischen ›Kolonisatoren‹ und ›Kolonisierten‹. Alles weitere ist historisch, regional und situativ so variabel, daß man besser differenzierend und pluralisierend von ›kolonialen Diskursen‹ spricht.« (Uerlings 2005: 18; ders. 2006: 5f.) Auf ähnliche Weise hat Jochen Dubiel die ›Dichotomie‹ neben der ›Furcht‹ und der ›Usurpation‹ als zentrale Kategorie des kolonialen Diskurses beschrieben (vgl. Dubiel 2007: 82-87).
5 | Unter ›Kollektivsymbol‹ wird in Anlehnung an die Interdiskurstheorie ein »Symbol mit umfangreichen kollektivem Träger verstanden« (Link / Link-Heer 1994: 46), d.h. ein komplex motiviertes Zeichen, das für den Großteil einer sozialen Gruppe gilt und von ihr als solches verstanden wird.
6 | Im Folgenden wird der Roman im laufenden Text unter der Sigle ›St‹ und Seitenzahl zitiert.
7 | Susanne Zantop betont in ihrer Studie Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770-1870) den Stellenwert räumlicher Relationen für koloniale Imaginationen: »Die Beziehungen zwischen ›hier‹ und ›dort‹, ›Heimat‹ und ›Übersee‹, Eigenem und Fremdem bilden den Kern aller Kolonialphantasien.« (Zantop 1999: 27)
8 | Diese Annahme bestätigt auch ein Blick in die kürzlich erschienene Forschungsbibliographie von Gabriele Dürbeck (2014: 579-651). Eine Ausnahme bildet die 2013 veröffentlichte Monografie von Dirk Göttsche (2013: 166-177).
9 | Zentral sind hier Strategien der Verfremdung; da wäre zum einen das im Text auftauchende Stereotyp von der ›Musterkolonie‹ (vgl. St 170) in der Hervorhebung des relativen wirtschaftlichen Erfolges der Kolonie im Vergleich zu den deutschen Schwesterkolonien in Afrika (vgl. St 48), die mit »Deutsch-Südwest« und »Deutsch-Ostafrika« (St 105) auch konkret benannt werden. Das Schutzgebiet ›Tola‹ grenzt ferner an die Nachbarkolonien England und Frankreich (vgl. St 208). Es liege zudem am »westlichen Rand des riesigen Kontinents« und sei »winzig klein« (St 15). Es gibt den Ort »Loué« (St 26), der sich als Verfremdung der heutigen Hauptstadt ›Lomé‹ liest. Auch heißt der Gouverneur der Kolonie »Herzog Adolf von Maysenbug« (St 107), dessen Name dem letzten Gouverneur Togos ›Herzog Adolf Friedrich zu Mecklenburg‹ ähnelt, der das Amt von 1912 bis 1914 innehatte. Auch hat es den Ort »Bismarckburg« (ST 80) als Stützpunkt der deutschen Verwaltung gegeben (vgl. dazu Schnee 1920: 217); vgl. zur Quellenanalyse auch Göttsche 2013: 167f.
10 | Unter ›Massensymbolen‹ versteht Canetti »[k]ollektive Einheiten, die nicht aus Menschen bestehen und dennoch als Massen empfunden werden« (2003: 86). Massensymbole treten demnach symbolisch an die Stelle von Menschenmassen.
11 | Das ästhetische Konzept der ›Verschiebung‹ im Zusammenhang mit postkolonialer Literatur ist in den Postkolonialen Studien bereits in unterschiedlicher Weise aufgegriffen worden. Ute Gerhard hat 2009 in ihrem Aufsatz zu Christof Hamanns Usambara Verfahren der »[g]roteske[n] Entstellung« (Gerhard 2009: 326) und »groteske[n] Verkehrung« (ebd.: 328) erkannt, worunter sie eine »ironische Verdrehung der kulturellen Dichotomien« (ebd.: 329) versteht. Ähnlich spricht Axel Dunker von dem Prinzip einer »postkolonialen Umkehrung« (2012: 322), wodurch koloniale Dichotomien »umgekehrt und dabei eigentlich ad absurdum« (ebd.: 320) geführt werden. In die Nähe von »ironischen und grotesken Erzählverfahren« (Holdenried 2012: 88) rückt auch Michaela Holdenried ein ästhetisches Merkmal postkolonialer Gegenwartsliteratur, das sie anhand des Inversionsbegriffs beschreibt (vgl. ebd.: 86) und damit auf Formen »narrative[r] Figurationen der Inversion« Bezug nimmt, die »mit hyperbolischen, parodistischen, grotesken Verfahren« (ebd.: 88) arbeiten. Als inverse Strategie der Verschiebung bzw. Umkehrung ließe sich auch das Konzept der ›umgekehrten Mimikry‹ einordnen, das Hansjörg Bay in Anlehnung an Bhabhas Mimikrybegriff vorgeschlagen hat. (Bay 2009: 125)
12 | In diesem Zusammenhang werden zudem Texte wie Urs Widmers Im Kongo (1996), Christian Krachts Imperium (2012) oder Christof Hamanns Usambara (2007) interessant, die ihr postkoloniales Potential über Strategien der Verschiebung entfalten (vgl. Holdenried 2012) und dabei auch auf Merkmale komischen Erzählens rekurrieren.
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