In the 20th century, primitivism in art, science and literature basically was projection: The ›primitive‹ was a distorted mirror of western culture. But from the beginning there was – in the writings of Kafka, Claire Goll, Benjamin and Döblin and paintings of Nolde – another kind of primitivism that culminates in the works of Hubert Fichte (esp. Psyche, 1990). These authors were highly aware of intercultural projections and paradoxes when dealing with ›primitive‹ ways of thinking, signifying, believing and healing. Their ›inverse primitivism‹ reflects on what has been criticized as ›imaginary anthropology‹ (Fritz Kramer) and is looking for new ways to deal with the ethnographic situation and ›primitive‹ cultures or techniques beyond mirroring.
Title:Inverse Primitivism. The Ethnographic Situation as Dialectical Image from Kafka to Hubert Fichte
Keywords:Benjamin, Walter (1892-1940); ethnography; Fichte, Hubert (1935-1986); Kafka, Franz (1883-1924); primitivism
Der Primitivismus gehört – typologisch wie historisch – zu den wirkungsmächtigsten und folgenreichsten Modellen der Bezugnahme auf andere Kulturen. Der Objektbezug ist dabei, anders als – vor allem im Gefolge der älteren Kunstgeschichtsschreibung – häufig angenommen, nicht das Primäre. Vielmehr handelt es sich beim Primitivismus, wie schon Lévi-Strauss bemerkt hat, um eine Kategorie menschlichen Denkens.1 Ihren Dreh- und Angelpunkt bildet die primitivistische Allochronie, die Verlagerung der Gegenwart des Fremden in die Vergangenheit des Eigenen.2 Der Primitivismus überträgt damit den Gegensatz von eigen / fremd in den von Gegenwart / Vergangenheit.
Diese Konstruktion scheint wenig geeignet, eine Erfahrung von Alterität zuzulassen. In der literaturwissenschaftlichen Primitivismusforschung ist denn auch vor allem der projektive Charakter des literarischen Primitivismus hervorgehoben worden.3
Der Primitivismus ist aber zugleich Ausdruck einer Beunruhigung, einer Verunsicherung über die eigene Identität, und er ist – je nach Erscheinungsform – durchaus geeignet, diese Unruhe aufrechtzuerhalten und produktiv werden zu lassen. Auch das ergibt sich aus der Suche nach dem Ursprung, der anders sein soll als man selbst und andererseits doch dem Selbst zugehörig, dem Ursprung, der erkannt werden soll und sich doch dem Begreifen immer wieder entzieht.
Neben einer projektiven gibt es deshalb auch eine andere, produktivere Variante, die die Gegensatzbildungen und die mit ihnen verbundenen essentialistischen Zuschreibungen an fremde Kulturen in Frage stellt. Hier öffnen sich Spielräume für einen nichtprojektiven, nichttotalitären, sondern offeneren, freieren und produktiveren Umgang mit Fremdheit, hier gibt es ästhetische und theoretische Verfahrensweisen, die geeignet sein könnten, aus dem Spiegelkabinett des Primitivismus herauszuführen, und vielleicht auch aus heutiger Sicht für eine Diskussion über Fremdheit interessant sind. Die Grundfigur dieses Primitivismus ist die der Inversion der ihm zugrunde liegenden ethnographischen Situation: In einer kritisch-selbstreflexiven Rückwendung geraten die Entstehungsbedingungen des ›Primitiven‹ in den Blick. Diese inverse Ethnologie erweist den ›Primitiven‹ als verkehrtes Spiegelbild der Moderne und schafft damit die Voraussetzung dafür, andere Wahrnehmungen von Alterität zuzulassen. Es ist kein Zufall, dass Malinowski in Gestalt der teilnehmenden Beobachtung die Inversion des Blicks in der Ethnologie zur Hoch-Zeit des Primitivismus – cum grano salis – ›erfunden‹ hat. Es ist aber auch kein Zufall, dass zur selben Zeit einige literarische Texte bereits viel weiter gehen, als Malinowski sich das je hätte träumen lassen, und Benjamin in seiner modernekritischen Theorie der ›Ähnlichkeit‹ mit dem kindlichen Spiel ebenfalls eine Figur des Primitiven in den Mittelpunkt rückt.4
Der inverse Primitivismus steht in der Tradition der Blickumkehr, wie sie prominent bereits Montesquieus Lettres persanes (1721) vorgeführt haben. Er erhält aber spezifische Konturen durch seine Auseinandersetzung mit dem Primitivismus, wie er im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in den Wissenschaften vom Menschen – Ethnologie, Anthropologie, Biologie, Medizin, Psychiatrie, Pädagogik u.a.m. – ausgebildet wurde. Darauf soll zunächst eher schlaglichtartig aufmerksam gemacht werden, bevor dann mit Hubert Fichtes Psyche (1990) ein jüngerer Text etwas eingehender untersucht wird.
Ein prägnantes Beispiel für eine literarische Inversion, die dem Primitivismus die Grundlagen entzieht, ist Kafkas Wunsch, Indianer zu werden (1912):
Wunsch, Indianer zu werden
Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf. (Kafka 1996: 32f.)
Am Anfang dieses verstörenden Textes steht die nachgerade klassische primitivistische und koloniale Wunschphantasie, ein Indianer zu sein. Hier ist sie schon fast Realität geworden: Das »gleich bereit« meint die totale Präsenz von Geist und Körper, und im Nu ergibt sich das Einswerden mit Pferd und Boden, Kraft, Schnelligkeit und Richtung, nichts als Natur sein – ohne Sporen und Zügel –, aber da beginnt das Bild bereits zu kippen: »denn es gab keine Sporen«, »es gab keine Zügel«, der Boden ist eine »glatt gemähte Heide«, und dann verschwindet der Schein von Realität vollends und der Text wird unheimlich: »schon ohne Pferdehals und Pferdekopf«.
Kafkas literarische Dekolonisierung dreht den projektiven Prozess um: Was eben noch beinahe Wirklichkeit gewordene Phantasie war, entpuppt sich als Realitätsentzug bis zur buchstäblichen, die koloniale Landnahme aufhebenden Bodenlosigkeit, und am Ende steht – nichts. Primitivistisches Ursprungsdenken und Erfahrung des Unheimlichen verhalten sich hier komplementär zueinander, sie sind Kehrseiten einer ganz und gar imaginären Identitätsbildung.
Im Bericht für eine Akademie (1917) lässt Kafka den Versuch des Primitivismus, über die selbstlegitimierende und selbstverwirklichende Rede seinen Ursprung zu erschließen, scheitern. Es gibt nur Mimesis von nicht Gegebenem, äffische Nachahmung und ›Erfüllungen‹, die immer erst retrospektiv konstruiert werden. Der ›Ursprung‹ ist in Wahrheit eine Wunde (letztlich der symbolischen Kastration), die nicht zu schließen ist, Menschwerdung ist nur ein ›Ausweg‹. Mit Darwin gelesen, offenbart der Bericht, dass die Evolution kein Ziel hat, sondern dass es immer ›so weiter geht‹, eine Bewegungsart, über die Benjamin einmal bemerkt, eben sie sei die »Katastrophe« (Benjamin 1991: 683).5 Davon handelt Rotpeters Bericht. Im Unterschied zu seiner Gefährtin, einer wahnsinnig gewordenen Äffin, betreibt er nicht einfach Mimikry, sondern stellt erzählend die Paradoxien dar, in denen er (wie alle anderen) gefangen ist. Einen Ausweg, der über ihre Darstellung in eine ›Freiheit‹ führen würde, findet er nicht. Das ›Dazwischen‹, Rotpeters Textraum, ist ein Vexierbild. Im Spiegel des Primitiven, der kein Tier mehr, aber auch kein Mensch ist, mithin ein Hybridwesen, zeigt die Moderne ihr wahres Gesicht: die Grimasse des Tieres als Varietékünstler.
Kafkas Darstellungen zeigen das Gefangensein beider Pole – ›eigen‹ und ›fremd‹ – in dieser spiegelbildlichen Verkennung. Kafka nutzt das ästhetische Potential der Literatur postkolonial für eine Inversion des Primitivismus: Indem die Bewegungs- und Blickrichtungen nachvollzogen werden, wenden sie sich am Ende auf ihren Ursprung zurück und dezentrieren ihn. Eine solche verfremdende Inszenierung des Primitivismus macht Fremdheit sichtbar – als Verschiebung, als Verkehrung der eigenen Fremdheit im verkehrenden Spiegelbild des Primitiven. Dabei handelt es sich um eine ganz andere Form inverser Ethnologie als bei den in der aktuellen Primitivismusforschung als zentrale Referenz genannten Lettres persanes.6 Montesquieus Perser sind die besseren Europäer, das ermöglicht einen satirischen Blick auf die eigene Kultur, aber nicht auf die Aporien der aufklärerischen Position des Verfassers.7 Außerdem bringt Kafka durch die Wahl der Erzählinstanz das Kunststück fertig, die Zerstörung des verkehrenden Spiegels, in dem die Moderne den Primitiven als ihr Alter Ego erschafft, mit der Darstellung des Leidens desjenigen zu verbinden, der verkannt und zum Opfer unendlicher Mimikry wird. Auf die verweigerte Anerkennung hat Kafka den Fokus sehr prägnant auch in einem kurzen Text aus dem Jahr 1917 gerichtet:
Der Neger, der von der Weltausstellung nachhause gebracht wird und, irrsinnig geworden vom Heimweh, mitten in seinem Dorf unter dem Wehklagen des Stammes mit ernstestem Gesicht als Überlieferung und Pflicht die Späße aufführt, welche das europäische Publikum als Sitten und Gebräuche Afrikas entzückten. (Kafka 2002: 64)
Kafkas inverse Ethnologie entwirft im Unterschied zu derjenigen Montesquieus, wie man mit Benjamin sagen könnte, ein dialektisches Bild.
Benjamins antihegelianische Dialektik bricht bekanntlich mit der Idee der Kontinuität und der dialektischen Aufhebung und entwickelt dafür die Vorstellungsform des dialektischen Bildes, in dem »das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit anderen Worten: Bild ist Dialektik im Stillstand.« (Benjamin 2002: 576f.)8
Diese »Dialektik im Stillstand« sieht, wie die Hegel’sche, ein Erkenntnispotential in der Verknüpfung der Gegensätze, aber nicht in einer synthetisierenden Aufhebung, sondern im Gegenteil in einer Exposition von Antinomien, um diese – gegen das einfache ›Weiter so!‹ des Geschichtskontinuums – aufzusprengen: Diese Aufsprengung ist nicht Teil eines linear gedachten Geschichtsprozesses, sondern dekonstruiert diesen: »Der Begriff des Fortschritts ist in der Katastrophe zu fundieren. Daß es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene. Strindbergs Gedanke: die Hölle ist nichts, was uns bevorstünde – sondern dieses Leben hier.« (Benjamin 1991: 683)
Diese Grundstruktur – inverse Ethnologie als dialektisches Bild – weisen auch andere Texte aus dem Umfeld des literarischen Primitivismus auf. Dabei wird die Parabelform Kafkas diskursgeschichtlich konkretisiert.
Claire Golls Der Neger Jupiter raubt Europa (1926) überträgt das Setting von Kafkas Bericht in das Paris der 1920er Jahre, von dem gerne vergessen wird, dass es nicht nur das Paris noir war, sondern auch die Hauptstadt des Kolonialismus, in der sich Negrophilie und Negrophobie im Fetisch des ›Schwarzen‹, aber eben auch – für viele Schwarze – im Fetisch des ›Weißen‹ kreuzten. Eben ›Weiße Masken – Schwarze Haut‹, aber auch ›weiße Haut – schwarze Masken‹. Schwarze wie Weiße, Jupiter wie Alma rotieren im Spiegelkabinett ihrer Erwartungen und Erwartungserwartungen bis zur mörderischen Raserei nach dem Othello-Schema. Das erzeugt zwischenzeitlich Hybriditäten und Mimikry, die nichts mit Subversion, sondern ausschließlich mit dem Fetischismus der Figuren zu tun haben – bis hin zu Almas Ausbruchsversuch aus diesem tödlichen Zirkel, der sie in die Arme Olafs treibt und nur das Fetischobjekt wechselt – weiße Haut und weiße Maske.
Nicht in der Figurenperspektive, wohl aber in Golls gnadenlos-unerbittlicher Textperspektive wird diese Logik deutlich. Alma und Jupiter spielen Herr und Knecht, in wechselnder Besetzung und mal als Farce, mal als Tragödie, aber immer als Fetischtanz. Zu beenden wäre dieser, Fanon zufolge, der hier aus Hegels Phänomenologie des Geistes (1807) zitiert, nur durch eine Anerkennung als sich »gegenseitig sich anerkennend« (Fanon 1985: 154).9 Das könnte komplizierter sein, als Hegel und sogar Fanon es sich gedacht haben, impliziert aber in jedem Fall eine (Selbst-)Begrenzung der Beteiligten – Almas und Jupiters Folie à deux spiegelbildlicher Verkennungen will aber das Gegenteil.
Auch Alfred Döblin beschreibt in seiner Amazonas-Trilogie (1937 / 38) interkulturelle Begegnungen – vor allem die Conquista – als Maskentanz mit tödlichen Folgen. Die bekannte indigene Deutung der Weißen als ›Götter‹ und deren Entwertung der indigenen Kulte als Fetischpraktiken sind dabei nur zwei von zahlreichen Beispielen. Insgesamt aber überwiegt, im Unterschied zu Goll, der Versuch, die Darstellung nicht auf die tödlich-paradoxe Umarmung zu reduzieren, sondern eine Vielzahl heterogener Kulturen mit unterschiedlichen Eigenlogiken kenntlich werden zu lassen, die sich nicht darauf beschränken, nur als das Pendant einer jeweils anderen oder nach einem binären Muster wie eigen / fremd, primitiv / komplex o.Ä. entworfen zu sein. Inwieweit das gelungen ist, bemisst sich bei einem Roman nicht an der Frage des Wahrheitsgehalts, sondern primär an der Art der Figurenmodellierung und deren diskursgeschichtlicher Kontextualisierung. Hier ist der Befund eindeutig: Bei Döblin gibt es nicht den oder die Primitiven im Sinne des Primitivismus, obwohl Döblin u.a. just jene Gruppen (bes. die Amazonasindianer) und Eigenschaften (bes. den Totemismus) darstellt, deren Kulturformen wahlweise dem Primitivismus Nahrung gaben oder von Eurozentristen von Hegel bis Habermas als ›Geistlosigkeit‹ oder ›opake Lebensäußerungen‹ abgetan wurden.10 Die Gründe für den katastrophalen Verlauf der Conquista – die bei Döblin bis in den europäischen Faschismus nachwirkt – liegen im Amazonas-Roman nicht in einer technologischen oder – wie bspw. auch Todorov11 meinte – kommunikativen Unterlegenheit indigener Kulturen, sondern mindestens so sehr in den Alteritätskonstruktionen und kommunikativen Unfähigkeiten (›Opazitäten‹) der Europäer.
Der inverse Primitivismus im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war nicht auf die Literatur beschränkt, sondern findet sich auch in der Bildenden Kunst. So unternahm Emil Nolde, woran Hans Christoph Buch in Nolde und ich (2013) erinnert hat, 1913 / 14 als Mitglied einer medizinisch-demographischen Expedition des Reichskolonialamtes eine Reise in die damalige Kolonie Deutsch-Neuguinea. Auf dieser Reise und in ihrem Gefolge entstanden zahlreiche Skizzen, Zeichnungen, Aquarelle und Ölbilder. In der postkolonialen Kunstgeschichtsschreibung sind Noldes Südseebilder als primitivistische Typenporträts gedeutet worden, mit denen der Maler seiner Auffassung vom notwendigen Untergang dieser (wilden, aber glücklichen) »Urmenschen« (Nolde 1965: 88) Ausdruck ver-liehen habe. Für diese Deutung – Nolde als Primitivist – gibt es gute Gründe, sie trifft die programmatische Seite dieser Bilder.12 Aber noch in Noldes 1936 (!) geschriebenen Erinnerungen finden sich, neben der Rechtfertigung des Kolonialismus, eben auch Bemerkungen wie die, die Gefangennahme der ›Eingeborenen‹ sei »radikal und roh« und das »Kolonisieren […] eine brutale Angelegenheit«, sowie die Überlegung: »Wenn, von den farbigen Eingeborenen aus gesehen, eine Kolonialgeschichte einmal geschrieben wird, dann dürfen wir weißen Europäer uns verschämt in Höhlen verkriechen« (ebd.: 57f.). Die spannungsgeladene Situation in der Kolonie, in der sich bewaffneter Widerstand regt, deutet Nolde keineswegs nur als Ausdruck ›primitiver Wildheit‹, sondern auch als Reaktion auf koloniale Gewalt,13 ähnlich die Tatsache, dass auf einer der Inseln »seit 15 Jahren kein Kind mehr geboren worden« sei: »Die Eingeborenen wollten aussterben. Lieber dies als für die Fremden arbeiten«. (Ebd.: 99) Es ist deshalb durchaus plausibel anzunehmen, wie Fritz Kramer das getan hat, dass es Nolde, gewissermaßen gegen den Strich des ethnographischen Typenporträts, in Bildern wie Eingeborener (1914), heute auch als Südsee-Insulaner betitelt, gelungen ist, im Gesichtsausdruck des Porträtierten etwas einzufangen von diesem Blick der Kolonisierten, mithin eine indigene Sicht der Dinge. Das Bild zeigt, so Kramer, einen Melanesier, dessen Ausdruck voller »Mißtrauen, gespannter Wachsamkeit, wachsendem Stolz, Haß und […] Trauer« (Kramer 1977: 105) ist. »Der gespannte Blick, der den Betrachter der Aquarelle trifft, gilt dem Weißen«. (Ebd.: 106)14
Demgegenüber dürfte die von Hans Christoph Buch in Nolde und Ich entwickelte Deutung der Bilder als Ausdruck von Noldes Antisemitismus fehlgehen. Der Versuch, die aktuelle Debatte über Noldes Antisemitismus mit seiner Südseereise zu verbinden, bleibt vordergründig und unangemessen. Noldes Porträts der Bewohner Neuguineas haben keine antisemitischen Züge; die Verbindung zum Antisemitismus liegt vielmehr in einem Rassendenken, dass neben den ›Urvölkern‹ und ihrer ›Wildheit‹ u.a. auch das Stereotyp ›des Juden‹ kennt. Vor lauter Anti-Antisemitismus verblasst bei Buch das Entscheidende: Nolde dokumentiert eine Zerstörung und ›Verwilderung‹ durch Kolonisation.
Nach diesem kurzen Rückblick auf eine Reihe von Texten und einem Bildbeispiel15 aus dem Umfeld des Primitivismus im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts soll nun mit Hubert Fichtes Psyche ein Text desjenigen Autors untersucht werden, dessen Werk sich wie kein zweites in der deutschsprachigen Literatur der Auseinandersetzung mit ethnologischen Fragen und Verfahrensweisen verdankt.
Hubert Fichtes Psyche ist eine Collage aus Aufzeichnungen aus Westafrika von 1974 bis 1985. Das Buch wird eingeleitet durch den Text Buchstaben der Psyche (P 9-14).16 Fichte steht auf dem »Zaubermarkt« (P 10) von Bé am Rande von Lomé und sieht
Vogelbälge, Krokodilpanzer, Löwenfelle, Äser von Affen, getrocknete Chamäleons, Schlangen, Büffelhörner, Kiefer, ein Meer von Kiefern, / Affenschädel, / Mäuseschädel, / Elefantenschädel mit Zierkürbissen, / Zweige, / Pfeffer, / Rinden, / Zahnstocher, / Holzpimmel, / Stacheln des Stachelschweins, / Adlerschwingen, / Pappkartons voller chinesischer Ideogramme, / Därme, / Hufe (P 10)
– kurzum: eine Schädelstätte, die – wenn überhaupt – auf eine andere Ordnung der Dinge verweist. Der Text endet dann aber überraschend:
Die Dinge haben Macht über mich, weil ich sie selbst einmal war. / Buchstaben. / Stäbe, die auf den Boden geworfen werden? / Die Buchstaben der Psyche. (P 14)
Das liest sich wie eine klassische primitivistische Phantasie: Durch ein imaginäres Eintauchen in die Magie der Anderen werden alle toten Dinge zur Vergangenheit des Ich, darauf folgt die Auferstehung der Toten – das Ich vermag die Sprache der Dinge zu lesen und schließlich, so könnte man vermuten, auch zu schreiben.
Ganz überraschend kommt die Wende jedoch nicht, denn schon zuvor gibt es Bezugnahmen auf europäische Magie- und Metamorphosevorstellungen und literarische Darstellungen, die Linie führt über Bobrowski, Novalis, Lohenstein und die Merseburger Zaubersprüche zurück bis hin zu Empedokles: »Ich war bereits einmal Knabe, Mädchen, Pflanze, Vogel und flutenttauchender, stummer Fisch.« (Diels 1906: 208)17
Fichtes anthropologische Universalisierung richtet sich auf die Fähigkeit zur Beziehungsstiftung, die auch den magischen Praktiken Westafrikas zugrunde liegt, Benjamin sprach vom »mimetische[n] Vermögen« (Benjamin 1980b: 204). Im Unterschied zum Primitivismus denkt Fichte Magie nicht als vergangenes Eigenes im Fremden, sondern als jederzeit mögliche kulturspezifische Praktik. Sie funktioniert, wenn sie wirkt, für den, der daran glaubt (vgl. P 12). Fichte glaubt nicht an die Magie von Bé.18
Fichtes Darstellung folgt in dieser Hinsicht dem, was seit Cassirer, Lévi-Strauss, Peter Winch u.a. anthropologisches Gemeingut geworden ist: Magie und Wissenschaft folgen unterschiedlichen Logiken, haben aber einen gemeinsamen Ursprung: die Fähigkeit zur Symbolisierung von Wirklichkeiten, mittels derer sie uno actu Subjekt und Objekt ihres Sprachspiels erzeugen. Der doppelte Genitiv Die Buchstaben der Psyche hält das fest: Ausdruck der Psyche und zugleich konstitutiver Bestandteil der Psyche.
Die toten Dinge auf dem Zaubermarkt von Bé werden lebendig durch einen Akt der Übersetzung, nämlich indem sie an das vielfältig Tote Fichtes rühren: die Operation Gomorrha, d.h. die Bombardierung Hamburgs 1943, die Fichte als Kind erlebte, den Tod der zentralen Vaterfigur Hans Henny Jahn, die Außenseitererfahrungen, die er als protestantisches Hamburger Waisenkind im katholischen Heim in Bayern und später als Schwuler und Bisexueller machte, u.a.m.19 Lebendig wird damit auch der Zusammenhang von Begehren, Schreiben und Tod.20
Die ›Sprache der Dinge‹ ist somit nichts Metaphysisches oder phylogenetisch Vergangenes, sondern Kulturprodukt, ein Ensemble aus – individuellen und kollektiven – Redeweisen und Redeformen.21
Diese Einsicht in die Nichthintergehbarkeit von Kultur und Sprache unterscheidet Fichte vom Primitivismus ebenso wie die Tatsache, dass sein Text die Welt nicht lesbar macht, sondern ihre Lesbarkeit bzw. Deutbarkeit nur behauptet. Die Buchstaben der Psyche sind ein Orakel, mithin ein Rätsel, keine Synthesis.
Bei Fichte entsteht daraus inverse Ethnologie als dialektisches Bild: eine Darstellung in »Antinomien«22: Tod und Leben, Vergangenheit und Gegenwart, Verstummen und Sprechen, Sprachspiele und Lücken, Afrika und Europa, Zauberer und Ethnologe, Tier und Mensch, Trauma und Erinnerung, Körper und Gedächtnis. Das ist Fichtes nichtprimitivistische Variante des Modells »Schichten statt Geschichten«23. Es gibt keine Synthese, keine Auflösung der Antinomien, aber es gibt ihre Darstellung, ihren Ausdruck und eine ›Suche nach der verlorenen Zeit‹, die Hoffnung, dass die Konstellationen überraschende Einsichten und Erfahrungen ermöglichen.
Das dialektische Bild zeigt, dass diese Antinomien Produkt einer ›falschen‹, einer polarisierenden, traumatischen Geschichte sind. Darstellung in Antinomien, das ist das Prinzip einer ›modernen Magie‹ bzw. von Fichtes ›poetischer Anthropologie‹.
Eine solche ›Dialektik‹ als Verfahrensweise setzt, so Benjamin, ein ›mimetisches Vermögen‹ voraus, die Fähigkeit, Ähnlichkeiten wahrzunehmen und zu produzieren. Das ist für Fichte die Haltung des Ethnographen: »Der Zustand des Ethnographen ist Überwachheit. / Ein Klimpern, ein Kindergeräusch, ein Kochrezept, eine Kartoffel kann das jahrtausendealte, gehütete Geheimnis aufschimmern lassen. / Später heißt das dann Epiphanie. / Das Klappern von Kindern mit Metallreifen.« (P 328) Fichte, der diesen Zustand auch »Trance«24 nennt, grenzt seine Epiphanien hier unter Verweis auf Proust von denen religiöser Art ab, die sie beerben.
Schon Benjamin hatte in seiner Auseinandersetzung mit dem Surrealismus argumentiert, dass es nicht um die Wiederherstellung theologischer Erfahrung gehen könne, sondern nur um deren Überführung in Profanität. Die »wahre, schöpferische Überwindung religiöser Erleuchtung« liege in einer »profanen Erleuchtung«.25
Diese wollte Benjamin in die Geschichte tragen, indem er sich an der Dingwelt des 19. Jahrhunderts als Traumdeuter betätigte. Damit verband er eine Erkenntnisintention, die in seiner kurz darauf formulierten Theorie des mimetischen Vermögens wiederkehrt, die im Kern eine Theorie der Erfahrung ist.26 Erfahrung beruht danach auf der Gabe, Ähnlichkeiten wahrzunehmen und zu produzieren, und zwar auch und gerade unsinnliche Ähnlichkeiten.27
Vorbild war die Praxis einer Figur des Primitiven: das Spiel des Kindes. Benjamin hat dabei das Motiv der Destruktion, der Befreiung vom Bann als Voraussetzung für das Spiel betont.28 Seine daraus entwickelte Theorie der Sprachmagie hat nichts mit einem Abbildcharakter der Sprache zu tun, sondern setzt eine Destruktion voraus, eine »Form des Bannens, der Unterbrechung, des Erstarrens aller Bewegung und alles scheinhaften Lebens«.29 Benjamins Mimesis auf der Grundlage unsinnlicher Ähnlichkeit meint also gerade nicht ›Nachahmung‹, sondern ›Darstellung‹ und geht einher mit einem analytischen Blick auf den und einem verfremdenden Umgang mit dem Gegenstand der Darstellung. Der Blick richtet sich auf Strukturen von Macht und Scheinhaftigkeit; diese werden offengelegt in der verfremdenden Re-Inszenierung, denn das Besondere, Nichtbegriffliche erweist sich als Substantielles nur, wo es in Konstellationen mit dem Allgemeinen, als ein gesellschaftlich Vermitteltes aufgesucht wird.
Eine solche verfremdend-erkennende Mimesis sah Fichte im ethnopoetischen Schreiben und sogar in Trance und Besessenheit, die er eben nicht als ›identifizierende Nachahmung‹ verstand, sondern als Arbeit mit unsinnlicher Ähnlichkeit, dadurch ermöglichte Selbsterfahrung und Einsicht und womöglich Heilung: »Es geschieht eine Auflösung der Persönlichkeit, die eine Distanz und einen Neuaufbau ermöglicht.« (P 83)30
Aus Mimesis als Zwang, wie sie den ›Primitiven‹, und als Schein, wie sie den bloßen Nachahmungsästhetiken zugeschrieben wird, wird dadurch bei Benjamin und Fichte freies und befreiendes Spiel, Bricolage. Das ›Objekt‹ – das Andere, etwa das Vergangene oder das Fremde – wird zum Gegenstand eines ›materialsensiblen‹ bzw. kultursensiblen Spiels, das beide Seiten zu ihrem Recht kommen zu lassen sucht, und zwar nicht zuletzt dadurch, dass es zeigt, wie sich die als Subjekt und Objekt, Eigenes und Fremdes markierten Positionen einander wechselseitig bedingen, durchkreuzen und konturieren.
Dabei treten an die Stelle der Begriffe Bilder, um Schichten der Wirklichkeit zu erfassen, die dem Begriff oder der – sei es historistischen (Benjamin) oder exotistischen (Fichte) – Einfühlung verborgen bleiben. Hinzu kommen als Darstellungsprinzipien die Konstellationsbildung, die ›Unterbrechung‹ und das Motiv des Erwachens, das Benjamin vom Surrealismus und von der ›mystischen Partizipation‹ eines durch Lévy-Bruhl geprägten Primitivismus unterscheidet, wie man ihn etwa bei Benn findet.
Das Absenken in Tiefenschichten ist nicht Selbstzweck, sondern – wie die Trance oder die schamanistische Himmelsreise bei Fichte – methodische Veranstaltung, um einen Bann zu lösen. Bei Benjamin ist das 19. Jahrhundert der schlechte Traum (›bloße Mythologie‹), aus dem es zu erwachen gilt. Bei Fichte ist es nicht nur autobiographisch die vielfache Traumatisierung, sondern auch das Erwachen aus einer ursprünglich kolonialen, jetzt postkolonialen Globalisierungsgeschichte, deren materielle und symbolische Gewalt alle Beteiligten beschädigt und aus der es zugunsten der Anerkennung einer geteilten Geschichte aufzuwachen gilt.
In dieser Perspektive geht es in Psyche darum, die Antinomien westafrikanischer Gesellschaften und ihrer Mitglieder sowie deren Umgang damit wahrzunehmen. Dabei geht Fichte ursprünglich davon aus, »daß es in der afroamerikanischen Kultur ein System des Psychischen gibt, das älter ist als das unsere und vielleicht besser funktioniert, denn schließlich hat es die Afrikaner die Greuel der Versklavung überstehen lassen«. (Zimmer 1985: 120) Diese Erwartung wird, wenn es sie denn wirklich gegeben haben sollte, enttäuscht.31 Fichte wird in die Gegenwart von Gesellschaften geworfen, die durch koloniale und postkoloniale Transformationsprozesse förmlich zerrissen werden, und das beschädigt auch das – kollektive wie individuelle – ›System des Psychischen‹. Wohl aber findet Fichte in Westafrika – in den Riten, in der traditionellen afrikanischen Psycho- und Phytotherapie – Formen der Lebensbewältigung im Angesicht einer Katastrophe. Er sieht darin den Ausdruck einer Empfindlichkeit, eine Ästhetik des Widerstands, die in Westafrika und der Karibik die Lebenswelt weiter strukturiert, als dies die Kunst in Europa kann. Ihre Ausdrucksformen zählen, um noch einmal Benjamin zu bemühen, zu den ›kleinen Sprüngen‹,32 die das Kontinuum einer Geschichte als Katastrophe durchbrechen. Umgekehrt ist es diese wache, empathische Suche nach einer lebendigen Empfindlichkeit, die Fichtes Wahrnehmung Westafrikas und seine Darstellung als Geschichte im Stillstand prägt.
Dass Psyche dabei den Prinzipien einer postkolonialen Poetik folgt, die auch um die Unlösbarkeit der epistemologischen und machtasymmetrischen Dilemmata durch den Ethnopoeten weiß, hat David Simo gezeigt.33 Diese ästhetische Qualität geht mit einer spezifischen analytischen Qualität der ethnographischen Erfahrung einher. Das ließe sich an Fichtes Psychiatriekritik in Psyche zeigen, die eben nicht entlang einer Grenze ›traditionell-afrikanisch‹ versus ›europäisch-psychoanalytisch‹ verläuft, sondern einen kritischen Humanismus als Zentrum hat, der die Grausamkeiten beider Seiten – von der Elektroschocktherapie über das Wegsperren und Ruhigstellen bis zur rituellen Genitalverstümmelung – nicht verschweigt. Die analytische Qualität des Buches soll aber im Folgenden auf einem anderen, in Verbindung mit Fichte bislang kaum behandelten Feld gezeigt werden.
Ein prägnantes Beispiel für ein dialektisches Bild ist das umfangreiche Ouagadougou-Kapitel in Psyche (P 341-476), paradoxerweise, denn in Burkina Faso ist zur Zeit von Fichtes Aufenthalt so viel Revolution wie sonst nirgends auf dem Kontinent.34 Fichte hält sich im Januar / Februar 1985 in Ouagadougou auf. Er montiert Stimmen aus einem Land, in dem eineinhalb Jahre zuvor Thomas Sankara eine »marxistisch-leninistische Revolution« (P 373) ausgerufen hatte, die ihren Ausdruck in der Umbenennung Obervoltas in Burkina Faso35 findet und – trotz (oder wegen?) der kurzen Regierungszeit des 1987 ermordeten Staatschefs – vielen bis heute als Meilenstein in der Geschichte Afrikas gilt. Dafür gibt es gute Gründe, Fichte zeichnet jedoch ein anderes Bild.
Sankara ist auch bei Fichte ein Staatschef, der versucht, zentrale Probleme des Landes anzugehen, vor allem die Wohnverhältnisse und die katastrophale Versorgungslage (vgl. P 351 u.ö.). Penibel und leitmotivisch verzeichnet Fichte aber auch – und vor allem – die Zeichen der Gewalt im Bild von »Sankara le Justicier« (P 344): die emblematische Maschinenpistole (P 348, 470), das Bekenntnis zur Pressefreiheit nach der Vernichtung der Oppositionszeitung (P 350, 467, 451), Korruption (P 351), Verhaftungen (ebd., P 475), Folter (P 399f., 475) und Hinrichtungen während und nach der angeblich unblutigen Revolution (P 351, 471), Auftritte als Volkstribun in der Pose eines Apoll von Belvedere, die bei Fichte Vernichtungsängste auslösen (übertriebene, wie er notiert [P 361], aber dann Waffenkäufe der Regierung [P 363] vermerkt), die militärische Aufrüstung der CDR, der »Verteidigungskomitees der Revolution« (P 399), eine Großrazzia gegen Prostituierte (P 400-402, 404, 424, 450, 469) u.a.m. Eine lange Erklärung von demonstrierenden Regimegegnern nimmt Fichte vollständig in Psyche auf. Sankara: ein Apoll im Tarnanzug und mit Maschinenpistole: »Die Griechen meinten, der Name käme von apollümi und hieße vernichten.« (P 362) »Sankara der Gerechte« (P 344) ist auch »Der Rächer« (P 344).
Der Dialektik der Revolution korrespondiert bei Fichte die – jeden Freitag inszenierte – Legende vom Moronaba, dem Kaiser der Mossi, der nach dem Raub seiner Frau in den Krieg ziehen will, dann aber wieder vom Pferd absteigt, um sich seinem Land zu widmen. »In Ouagadougou«, kommentiert Fichte, der hier gerade die Ilias liest, »findet der trojanische Krieg nicht statt« (P 344) – soweit die Legende vom guten Landesvater. Es handelt sich um ein patriarchalisches Herrscherlob, denn bei den Mossi, notiert Fichte, gelte die Frau als »eine Art Sklavin« (P 382). Die Legende von der Prinzessin Yennenga ist außerdem Teil einer Legitimationserzählung der im 15. Jahrhundert von Ghana aus eingewanderten Mossi und soll deren Herrschaftsanspruch sichern. Vor dem Anwesen des – immer noch sehr einflussreichen – Moronaba steht inzwischen ein Kommissariat der CDR (vgl. P 399). Propaganda plärrt – zwei Mächte, die einander belauern.
Auch Sankara ist ein Mossi, aber nur ein ›halber‹, und damit Angehöriger einer benachteiligten Gruppe innerhalb der Ethnie.36 Er ist, wie Fichte vermerkt, ein Mossi, der eine aus dem deutschen Idealismus heraus in einem europäischen Industriegebiet entstandene und über Kuba nach Burkina Faso importierte Theorie hier auf eine Gesellschaft übertrage, die zu 95 Prozent aus Ackerbauern besteht (vgl. P 470f.), der aber gleichzeitig Animist sei und einem magischen Weltbild anhänge. Das Problem dieser Mischung ist, dass sie keine ist, sondern ein verborgenes Dilemma. Fichte geht davon aus, dass Sankara, würde man ihn darauf ansprechen, »aus Trotz ein Sakrileg begeh[en]« (P 396, vgl. 372) und die alten okkulten Bronzestatuen der Mossi (oder doch ihre Magie) zerstören würde. Fichte wird ihn nicht darauf ansprechen.
Und dann, am Rande der Kämpfe oder doch mittendrin: »Die traurigen Irren von Ouagadougou liegen im Kot.« (P 352) Wie Priamos nach dem Tode Hektors. In Ouagadougou, dem alten wie dem neuen, gibt es viele Ursachen und Gründe, irre zu werden (vgl. P 353), Außenseiter, Abfall: »Ein Irrer mit Draht am Kopf – wie Antennen eines Insekts – liegt mit dem Kopf auf der Müllhalde.« (P 372) Wen interessiert das, wem sind die Irren – im Unterschied zu Fichte, das ist ja der Sinn seines mythologischen Vergleichs – nicht gleichgültig? Priamos und Hektor (Schützlinge Apolls!) waren Opfer eines Dilemmas, dessen Alternative ›Kampf oder Tod‹ in Fichtes Sicht keine war.37 Wer durchbricht eine Dialektik, die bei Sankara »Vaterland oder Tod« (P 470) lautet, im ›traditionellen‹ Ouagadougou ›Ahnenkult oder Irre-werden‹ (vgl. P 353) und im Diskurs des Sahelprogramms ›Entweder weitere – buchstäbliche und vollständige – Verwüstung der Sahelzone bis zur Katastrophe (wie in Äthiopien) oder radikale Preisgabe traditioneller Lebens-, Arbeits- und Denkformen‹ (vgl. P 422-426).38 Fichtes Blick auf Burkina Faso im Jahre 1985 zeigt eine Dialektik im Stillstand. Was geteilte Geschichte als Katastrophe und Aufsprengen durch Eingedenken bedeuten können – Fichte hat es im Ouagadougou-Kapitel und in Psyche insgesamt eindringlich vor Augen geführt.39
In jüngster Zeit ist viel darüber diskutiert worden, ob Hegel, als er das Kapitel über Herr und Knecht in der Phänomenologie des Geistes schrieb, den Kampf der Sklaven Haitis um Anerkennung vor Augen hatte.40 Das ist wenig wahrscheinlich. In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1837) ist das »eigentliche Afrika« (Hegel 1970: 20), nämlich Westafrika, das Andere des Raums, in dem Hegels Darstellung sich bewegt: ein Raum ohne Geschichte und Selbstbewusstsein. Bekanntlich hat der idealistische Dialektiker diese Negation nicht ›integrieren‹ können: »Wir verlassen hiermit Afrika, um späterhin seiner keine Erwähnung mehr zu tun.« (Ebd.: 129)
Der Primitivismus ist ein Versuch gewesen, diesen Ausschluss und analoge Fälle wieder rückgängig zu machen, und hat ihn doch wiederholt, insofern er das zuvor Ausgeschlossene zum Anfang der eigenen Geschichte erklärte.
Fanon hat demgegenüber Hegels Formel ›Anerkennung als sich gegenseitig anerkennend‹ stark gemacht. Solche Anerkennung kann – gegen Hegels selbst noch primitivistisch zu nennende Selbstbewusstseinsphilosophie (und, folgt man der postkolonialen Kritik, auch gegen Fanons Hegelianismus) – nicht als Auslöschung alles Nichtidentischen im Namen eines westlichen Einheitssubjekts erfolgen. Hubert Fichte setzt nicht auf die Einheit des Bewusstseins, sondern auf ›Empfindlichkeit‹ und eine ›Geschichte der Empfindlichkeit‹.
Dieses Konzept wird umso ansprechender, je mehr es sich auf eine ›Empfindlichkeit‹ bezieht, die das erotische, soziale, politische und ästhetische Unbehagen (das eigene wie das Anderer) an der ›eigenen‹ wie der ›fremden‹ Kultur artikuliert, und je mehr diese ›Empfindlichkeit‹ es ermöglicht, auch darüber hinaus Ähnlichkeiten, sinnliche wie unsinnliche, zu entdecken, aber auch bleibende Fremdheiten, nicht nur zwischen Kulturen, sondern ebenso zwischen Körper und Sprache, Geist und Sprache, Zeichen und Bedeutung, Mensch und Mensch, Leben und Tod – kurz: zwischen Psyche und Buchstaben. Das Hypostasieren wie das Überspringen solcher Grenzen kennzeichnete den ›klassischen‹ Primitivismus, seine Allochronie, sein Othering mittels Temporalisierung und Verräumlichung, Ethnisierung und Inferiorisierung / Idealisierung.
Gegen diesen Primitivismus wendete sich – bei Kafka, Goll, Döblin u.a., aber auch in der Bildenden Kunst – schon früh ein inverser Primitivismus, der dieses Konzept dekonstruierte.41 Er tut es, indem er, wie in der zeitgenössischen Theoriebildung Benjamin, zentrale Motive des Primitivismus aufnimmt, vor allem die dem Archaischen / Primitiven zugeschriebenen Merkmale der Mimesis (»nichtbegriffliche Affinität des subjektiv Hervorgebrachten zu seinem Anderen, nicht Gesetzten«, wird Adorno [1970: 86f.] später formulieren), der Ähnlichkeit (wie dann auch bei Greenblatt42) und des Zaubers (der Verzauberung und der Entzauberung), aber nicht seine Verzerrungen, sondern stattdessen eine inverse Ethnologie als dialektisches Bild entwirft. Dieses Bild enthält eine Aufforderung zur Anerkennung als sich gegenseitig anerkennend, ohne dass für solche Anerkennung begriffliche Erkenntnis bzw. ein absolutes Subjekt vorausgesetzt wird.43
1 | Vgl. Lévi-Strauss 1981: 148-165 (Die archaische Illusion).
2 | Vgl. Fabian 2002. Vgl. dazu zuletzt Schüttpelz 2012.
3 | Vgl. bereits Schultz 1995. Zur literaturwissenschaftlichen Primitivismusforschung vgl. neben Gess 2012 auch Gess 2013; Hahn 2011: 431-707; Schüttpelz 2005 sowie zahlreiche Aufsätze Wolfgang Riedels, darunter: Riedel 2000.
4 | Vgl. dazu auch: Uerlings 2015. – Ein Gegenbeispiel zu den im Folgenden besprochenen Texten wären etwa Robert Müllers Tropen (1915); hier steht die Idee des ›neuen Menschen‹ als einer hybriden Verbindung aus ›Primitiven‹ und ›Zivilisierten‹ im Dienst imperialer Wunschträume, es geht also um Einverleibung eines essentialistisch konzipierten ›Anderen‹; vgl. Schwarz 2006.
5 | Zum Kontext bei Benjamin s.u.
6 | Vgl. Schüttpelz 2005: 355-359. Noch weniger zum Vorbild taugt Hans Paasches Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland (1912 / 13); vgl. Hahn 2012.
7 | Kohl 1986: 109-120, hat darauf hingewiesen, dass bereits in der einleitenden Troglodyten-Fabel die konstitutionelle Monarchie als Lösung für die moralischen Aporien propagiert wird, die Montesquieu dann in den Esprit de Lois (1748) mit einem anthropogeographischen Ordnungssystem verbindet, das eine ans Klima gebundene Freiheit kennt und damit die eigene Sklavenhaltergesellschaft rechtfertigt.
8 | Vgl. die Fortsetzung: »Nur dialektische Bilder sind echte (d.h.: nicht archaische) Bilder; und der Ort, an dem man sie antrifft, ist die Sprache. Erwachen.« (Benjamin 2002: 577)
9 | Zur Ironie der (Theorie-)Geschichte gehört natürlich die postkoloniale Fanon-Kritik, die ihm Hegelianismus und damit eine Fortführung eines Fetischtanzes vorhielt.
10 | Hegel schreibt in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte: »Von Amerika und seiner Kultur, namentlich in Mexiko und Peru, haben wir zwar Nachrichten, aber bloß die, daß dieselbe eine ganz natürliche war, die untergehen mußte, sowie der Geist sich ihr näherte. Physisch und geistig ohnmächtig hat sich Amerika immer gezeigt und zeigt sich noch so. Denn die Eingeborenen sind, nachdem die Europäer in Amerika landeten, allmählich an dem Hauche der europäischen Tätigkeit untergegangen.« (Hegel 1970: 107f.); zur Kritik an Habermas’ Haltung zu ›opaken‹ Denkformen vgl. Linkenbach 1986.
11 | Vgl. Todorov 1985.
12 | Den primitivistischen Charakter von Noldes Südseereise und -bildproduktion haben zuletzt hervorgehoben: Daum 2004 und Otterbeck 2007.
13 | Vgl. Nolde 1965: 59, 68, 94 und 96-98.
14 | Der Ethnologe Fritz Kramer gehört mit seinem Blick für die ›imaginäre Ethnographie‹ zu den wichtigsten Impulsgebern für die neuere literaturwissenschaftliche Primitivismusforschung. – So plausibel die Nolde-Deutung Kramers ist, so unplausibel bzw. spekulativ ist seine Begründung. Sie beruht auf der Annahme einer vollständigen Spaltung zwischen ästhetischer und außerästhetischer Praxis: »In dieser Konstellation konnte Nolde nicht das mindeste verbalisierte Verständnis aufbringen« (ebd.: 105). Wie gezeigt, ist das Gegenteil der Fall. Inwieweit es sich bei Noldes Aquarellen in jedem Einzelfall um ethnographische Typenporträts handelt oder nicht doch um Bilder mit physiognomischer Eindeutigkeit, wäre vielleicht auch noch einmal zu überdenken. Nolde berichtet, dass der ehemalige Gouverneur von Deutsch-Neuguinea, Hahl, angesichts der Aquarelle ausgerufen habe: »Diesen Mann kenne ich – der lebt auf jener Insel – dieser gehört zu jenem Stamm – sie sind ja großartig.« (Nolde 1965: 146)
15 | Dem Beispiel aus der Bildenden Kunst ließen sich weitere aus demselben Zeitraum, etwa von Gauguin oder Hannah Höch, an die Seite stellen; vgl. Schmidt-Linsenhoff 2010.
16 | Fichte 1990. Zitatnachweise nach dieser Ausgabe unter der Sigle P im laufenden Text.
17 | Empedokles, DK 31 B 117 = Diogenes Laertios 8,77. Fichte zitiert Herodot im griechischen Original, im Forschungsbericht (1989) und im Hörspiel Ich bin ein Löwe (1985) werden Übersetzungsvarianten durchgespielt. Fichte hatte das Fragment schon zu Beginn der 1960er Jahre kennengelernt, die ersten beiden Zeilen sind in griechischer Sprache in Fichtes Grabstein eingraviert.
18 | »Ich glaube nicht daran. / Natürlich. / Aber ich bin überzeugt von der Konzentration von Mythen, Riten, Verhalten. / Überzeugt von Beziehungssuchen und Beziehungsfluchten, von den alten Modellformen der Psyche, aus denen sich meine Reflexionen entwickelt haben.« (P 240)
19 | Diese Bezüge erschließen sich teils aus dem Text, teils aus dem Werkkontext. Vgl. Böhme 1992: 80-106, bes. 98-106.
20 | Mit dem Fetisch ist Westafrika in der europäischen Imagination bekanntlich seit Charles de Brosses Du culte des Dieux Fétiches (1760) geradezu topisch verbunden.
21 | Dazu gehören auch die Sprachen der Kosmogonie und Evolutionsbiologie; das ist etwas ganz anderes als die etwa von Gottfried Benn vertretene Annahme, durch ästhetische Rede primordiale, im Stammhirn verankerte Menschheitserfahrungen zum Ausdruck bringen zu können.
22 | Vgl. Fichte 1980. – Fichte hat in den Ketzerischen Bemerkungen für eine neue Wissenschaft vom Menschen (1980) seine Form der poetischen Ethnologie damit begründet, dass er nur so die Möglichkeit habe, auch Antinomien auszudrücken: »Antinomien können nur poetisch ausgedrückt werden.« (Ebd.: 365) In Verbindung mit einer entsprechend großen Gattungsvielfalt können so die Prozesshaftigkeit ethnologischer Forschung, ihre Komplexität, Inkohärenz und Widersprüchlichkeit zum Ausdruck gebracht werden: »Widersprüche, Lügen, das Unechte, die Übertreibung, das Inkohärente stehen lassen, nicht wegkitten. […] Ethnologische Forschung würde ein dialektischer Vorgang, eine sprachliche Correspondance.« (Ebd.: 364; Hervorh. H.U.).
23 | Fichte 1982: 294; das Modell der Schichtung war für den anthropologischen und literarischen Primitivismus im ersten Drittel des 20. Jahrhundert zentral; vgl. z.B. Benns Essay Der Aufbau der Persönlichkeit. – Zum Verhältnis von Ästhetik und kultureller Differenz bei Fichte vgl. Simo 1993.
24 | Vgl.: »Der Zustand des Ethnographen ähnelt der Trance, die er beschreibt. / Dieser Zustand scheint Gnade und Grazie – zwei naturwissenschaftlich kaum zu reduzierende Begriffe – heraufzubeschwören.« (P 327)
25 | »[D]iese Erfahrungen beschränken sich durchaus nicht auf den Traum, auf Stunden des Haschischessens oder des Opiumrauchens. Es ist ja ein so großer Irrtum, zu meinen, von ›sürrealistischen Erfahrungen‹ kennten wir nur die religiösen Ekstasen oder die Ekstasen der Drogen. […] Die wahre, schöpferische Überwindung religiöser Erleuchtung aber liegt nun wahrhaftig nicht bei den Rauschgiften. Sie liegt in einer profanen Erleuchtung, einer materialistischen, anthropologischen Inspiration, zu der Haschisch, Opium oder was immer sonst die Vorschule abgeben können.« (Benjamin 1980d: 297)
26 | Vgl. Benjamin 1980b und 1980c. Zum Gesamtzusammenhang vgl. Tiedemann 1983 und Menninghaus 1980: bes. 60-77.
27 | In Die Buchstaben der Psyche zitiert Fichte u.a. eine Passage zur ›Chiffrenschift‹ aus Novalis’ Die Lehrlinge zu Sais. Bereits Novalis, für den das alte magische Weltbild passé ist, der dessen Grundgedanken einer ›Einheit‹ der Welt aber unter modernen Vorzeichen fortzusetzen versucht, arbeitet mit unsinnlichen Ähnlichkeiten und ersetzt die Analogie durch die Homologie. Damit korrespondiert eine Form ästhetischer Darstellung, die frühromantische Allegorie, die das Moment der Ähnlichkeit über das der Subsumierung des Besonderen unter einen Allgemeinbegriff (›Urteil‹) stellt. Vgl. Uerlings 2004.
28 | Das hat Nicola Gess (2013: 365-421) gezeigt.
29 | Menninghaus 1991: 296, hier zitiert nach Gess 2013: 393.
30 | Wenn man das nicht sieht, greift der – an sich richtige – Hinweis auf die ›Psychagogik‹ (Simo) als verbindendes Element von Trance und Schreiben zu kurz. Vgl. Fichtes Absichtserklärung: »Ich will versuchen, etwas über die Psychiatrien zu erfahren, über jene Abart von Lebensregeln, Abart der Magie, die sich selbst so bewußt geworden ist, so abgesondert hat, daß sie abgesondertes Verhalten wieder einrenkt.« (P 240)
31 | Die Rede von der Alterität einer afrikanische Psyche (ähnlich wie der scheinbar widersprechende Satz »Psyche und Psychiatrie der Afrikaner sind unbekannt«, P 168) hat in Fichtes Werk vielleicht eher die Funktion einer heuristischen Maxime, die den Blick für mögliches Unbekanntes öffnen soll.
32 | »Die Rettung hält sich an den kleinen Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe«. Benjamin 1991: 683 (= These 35).
33 | Vgl. Simo 1998.
34 | Fichtes Aufzeichnungen aus Ouagadougou sind datiert vom 27.1. bis 10.2.1985, angefügt ist ein Kommentar zu einem Artikel aus der Zeitschrift Jeune Afrique vom 7.8.1985.
35 | Die Bezeichnung bedeutet so viel wie »Land der ehrenwerten Menschen« oder »Land der Aufrichtigen«.
36 | »Born into a Roman Catholic family, ›Thom’Sank‹ was a Silmi-Mossi, an ethnic group that originated with marriage between Mossi men and women of the pastoralist Fulani people. The Silmi-Mossi are among the least advantaged in the Mossi caste system.« https://en.wikipedia.org/wiki/Thomas_Sankara [Stand: 26.9.2014].
37 | Kurz nach seinem Besuch in Ouagadougou, im März 1985, wird Fichte Patroklos und Achilleus. Anmerkungen zur Illias (Fichte 1988: 143-181) abschließen, in dem er das Epos in eine Geschichte der Homosexualität einordnet. Auch hier wird Priamos’ Leidensausdruck mit Ouagadougou verbunden: »Priamos, Hektors Vater, wälzt sich vor Leid im Kot, wie noch heute die an einer gewissen Art von Melancholie erkrankten Irren von Ouagadougou.« (Ebd.: 176f.)
38 | Das bildet in Psyche den Dreh- und Angelpunkt der Gespräche Fichtes mit Günter Winkler, dem Leiter des deutschen Sahelprogramms (vgl. P 350-352, 372-395 und 404-444). Winkler erkennt, angesichts des immer größeren Drucks, eine zögernde Bereitschaft afrikanischer Regierungen (auch Burkina Fasos), sich mit dem Problem zu befassen. Er äußert außerdem die Überzeugung, dass auch der Westen nicht nur seine Wirtschaftspolitik, sondern auch seine ›traditionelle‹, an kurzfristigen und quantitativ messbaren Ergebnissen orientierte ›Entwicklungshilfe‹ preisgeben müsse (vgl. bes. P 440-444).
39 | Eva-Maria Siegel (2012) meint, Fichte notiere in Psyche »akribisch und mit Sinn für Angemessenheit der Beobachtungsdistanz die ersten Erfolge einer an dem, was einmal Sozialismus hieß, orientierten Bewegung« (ebd.: 146). Das ist eine sehr einseitige Deutung. Aus heutiger Sicht fällt vielmehr auf, wie genau Fichte bereits im Januar / Februar 1985 das beobachtet, was später zur inneren Zerstrittenheit der Revolutionäre und zum Überdruss der Bevölkerung an der Revolution führen wird: die Ausschaltung der Gewerkschaften und der Oppositionsparteien und aller sonstigen politischen ›Gegner‹ sowie der (misslingende) Versuch, die revolutionäre Gewalt in den CDR zu kanalisieren. Stimmen- und damit Perspektivenvielfalt sowie Respekt vor sozial Schwachen scheinen auch für den politischen Beobachter Fichte eine Conditio sine qua non gewesen zu sein; jedenfalls hat er die Monopolisierung politischer Macht und Willkürgewalt unabhängig von deren ideologisch-politischer Rechtfertigung kritisch gesehen (vgl. das Interview mit Tansanias Präsident Nyerere 1973 (P 214f., 218f.) und mit Senghor (P 226-228 und 231f.).
40 | Diese These hat Susan Buck-Morss zunächst in einem Aufsatz (2000) und später in einer Buchpublikation (2011) vertreten.
41 | Fichte hatte einen Blick dafür. Kafkas Der Neger und Wunsch, Indianer zu werden nimmt er in sein Lesebuch auf und Benjamin ist ihm nicht nur vertraut, sondern er wird auch Förderer der ›Internationalen Benjamin Gesellschaft‹ in Hamburg bis zur deren Selbstauflösung 1973; vgl. Fichte 1976: 141.
42 | Vgl. Greenblatt 1994. – Die Struktur der »Ähnlichkeit« (ebd.: 205) – Erfahrung gleichzeitiger Identität und Differenz – spielt auch in Greenblatts Typologie der Formen der Reaktion auf fremde Kulturen eine Schlüsselrolle: Abwehr von Ähnlichkeit führt zu Zerstörung / Einverleibung, Akzeptanz von Ähnlichkeit führt dagegen zu diskursiven Strategien, die Greenblatt schon bei Herodot und Mandeville ausmachen zu können glaubt: eine »Art von Akzeptanz des Anderen in sich selbst und von sich selbst im Anderen. […] Selbsterkenntnis, die zugleich Selbstentfremdung ist: man ist der Andere und der Andere ist man selbst.« (Ebd.: 206) Zuletzt hat eine Arbeitsgruppe an der Universität Konstanz um Albrecht Koschorke vorgeschlagen, ›Ähnlichkeit‹ als Paradigma wieder stark zu machen, vgl. u.a. Bhatti u.a. 2011.
43 | Zur Diskussion um die Anerkennung unter postkolonialem Vorzeichen vgl. u.a. Bedorf 2010, für eine literaturwissenschaftliche Adaption vgl. Stamm 2013. Zu dem, was Benjamin zu ›retten‹ versucht, gehören außerdem das der Theologie zugeschriebene Merkmal der ›adamitischen Sprache‹ bzw. des ›rechten Namens‹ sowie die der Esoterik entwundene ›Aura‹. Auch das ließe sich für eine postkoloniale Theorie fruchtbar machen. Die Idee der Aura der Naturerscheinung als desjenigen, was menschlich an ihr, aber nicht durch Arbeit gestiftet sei, führt dagegen zu Fichtes Empedokles-Rezeption zurück. Deutet man die dort genannten Metamorphosen als Ausdruck einer Homologie, d.h. einer Ähnlichkeit aufgrund eines gemeinsamen Ursprungs, dann wäre damit eine naheliegende Diskussion über das Verhältnis von Kultur und Natur eröffnet, die jedoch nicht mehr Thema des vorliegenden Beitrags ist.
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