Kirschfeste

Über die Annexion Europas an Böhmen anläßlich des 50. Jahrestages des Münchner Abkommens

Libuše Moníková

Wiederabdruck nach: Libuše Moníková: Kirschfeste. Über die Annexion Europas an Böhmen anläßlich des 50. Jahrestags des Münchner Abkommens. In: Dies.: Prager Fenster. Essays. München / Wien 1994, S. 9–17. © 1994 Carl Hanser Verlag München.

Bei meinem täglichen Blick auf die Karte verschiebe ich die Grenzen von Böhmen des öfteren, mal nach der historischen Vorlage von Großmähren, mal nach Shakespeare, der wußte: Böhmen liegt am Meer. Es wäre allemal sinnvoll, die Vorschläge der Dichter zu bedenken, statt die Teilung der Welt Politikern zu überlassen, die nicht lesen.

Arno Schmidt hat in seiner historischen Revue »Massenbach« die Vision eines Europas entworfen, dem, geeinigt durch Napoleon, eine demokratische Verfassung auf der Grundlage von Einheit, Gleichheit, Brüderlichkeit militärisch aufgeprägt worden wäre; der preußische Oberst Massenbach träumt dieses Europa am Vorabend der Allianz europäischer Staaten gegen Napoleon, mit Rußland und England an der Spitze.

Im ›Vorspiel‹ zu seiner Revue läßt Schmidt eine seiner Figuren die Einsicht äußern: »England gehört ja gar nicht zu Europa.«

Als 1938 der britische Premierminister Chamberlain im Zuge seiner Appeasement-Politik ein Drittel der Tschechoslowakei an Hitler ›abgetreten‹ hatte, erklärte er im britischen Rundfunk: »Wie schrecklich, phantastisch, unglaublich ist es, anzunehmen, daß wir hier Schützengräben graben und Gasmasken anprobieren sollen wegen des Streits in einem weit entfernten Land unter einem Volk, von dem wir nichts wissen.« (Rede vom 27.9.1938)

Bei der Informierung der tschechoslowakischen Vertreter in München, die stundenlang auf das Ergebnis der Verhandlungen im Vorraum warten durften, gähnte er infolge der fortgeschrittenen Stunde unverhohlen.

England werde ich nicht in mein Böhmen aufnehmen.

Und Frankreich?

Auf die Frage der tschechoslowakischen Delegation, bis wann eine Antwort ihrer Regierung erwartet werde, erklärte die französische Seite in München, eine Antwort werde nicht erwartet, die Großmächte hielten ihre Beschlüsse über die Abtretung der geforderten Gebiete seitens der ČSR an Hitler für angenommen.

Frankreich hatte kein so leichtes Spiel in der »Krise« wie Großbritannien, es war durch einen zweifachen Vertrag mit der Tschechoslowakei, von 1923 und 1925, verpflichtet, seinem Verbündeten beizustehen.

Da es an einem Krieg ›wegen der böhmischen Deutschen‹ genauso wenig interessiert war wie England, ließ es die Regierung in Prag wissen, die Verantwortung für den Kriegsausbruch würde auf sie fallen, wenn sie den Forderungen Hitlers nicht nachgäbe; damit war der Vertrag mit der Tschechoslowakei gebrochen.

Daladiers Befürchtungen, die Franzosen würden ihn wegen des Verrats steinigen, haben sich nicht bewahrheitet; die Pariser haben ihm einen begeisterten Empfang bereitet, und er wurde wie Chamberlain, der aus München zugleich einen Friedenspakt mit Hitler nach London brachte, als Friedensstifter gefeiert. Der Vertrag zwischen Frankreich und Deutschland folgte ein paar Monate später, im Dezember 1938. Der Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin wurde erst am 23. August 1939 geschlossen.

Frankreich gehört also auch nicht zu meinem Böhmen? Wegen ihrer Revolution werde ich es mir noch überlegen.

Polen?

Unbedingt, sowieso, ja. – Jeszcze Polska nie zginicła! Ein tapferes Volk. Westslawen wie wir, reingelegt von den Russen mehrmals, okkupiert von den Deutschen, geradezu prädestiniert für ein Bündnis mit Böhmen.

Auch die Mähren? Beim näheren Studium der Quellen erfahre ich erst jetzt – in der Schule blieb es uns erspart – wie vieles aus der eigenen Geschichte –, daß es Polen war, das der Tschechoslowakei in den Rücken fiel, als sie trotz des Verrats Frankreichs 1938 mobilisierte, um sich Hitlers Forderungen zu widersetzen. Wenn Deutschland tschechische Grenzgebiete ans III. Reich anschließen wollte wegen der deutschsprachigen Bevölkerung, hatte auch Polen Ansprüche; das Gebiet um Těšín in Nordmähren sollte unverzüglich an Polen abgetreten werden. Und da sich auch Ungarn sogleich besann, daß im ganzen Süden der Slowakei eigentlich Ungarisch gesprochen wird, war die Tschechoslowakei eingekesselt zwischen drei Nachbarn, die sich in bezug auf eine Korrektur ihrer Grenzen einig waren.

Daß Deutschland die territorialen Ansprüche des faschistischen Ungarns unterstützte, war kein Wunder. Daß Polen sich in Hitlers Schatten auf Kosten der Tschechoslowakei bereichern wollte und die Gunst der Stunde nutzte, trotz der bereits durchschlagenden Spannungen mit Deutschland wegen Danzig und des ›Korridors‹, gehört zu den bitteren Momenten in der Geschichte zweier Länder, die viel Gemeinsames haben. Polens Ultimatum trug wie der Verrat Frankreichs und Englands dazu bei, daß Hitler ohne Widerstand seine territoriale und wirtschaftliche Lage in Mitteleuropa in dem Maße festigen konnte, daß Deutschland ein Jahr später, bereichert um die gesamte Wirtschaft und das strategische Potential der Tschechoslowakei, seinen so lange angedrohten Krieg endlich anfangen konnte; Polen wurde das erste Opfer.

Bekannte Daten. Zumindest hoffe ich es. Vor kurzem fragte ich eine junge Französin, was sie vom Münchner Abkommen weiß. Sie wußte nichts, hatte nie davon gehört; promovierte Germanistin. Warum ich lieber hier als in Frankreich oder England lebe: vielleicht weil sich die Deutschen im allgemeinen mehr mit ihrer verlorenen Geschichte auseinandersetzen.

Polen kommt trotzdem in Frage; ich will in meinem Böhmen-Europa nicht allein bleiben.

Es sollte nicht unerwähnt bleiben, daß die Sowjetunion, obwohl ihrerseits an Frankreich gebunden, sich an ihr Abkommen mit der Tschechoslowakei weiterhin halten wollte und militärische Hilfe anbot; es scheiterte am Zögern der bürgerlichen tschechoslowakischen Regierung und an außenpolitischen Schwierigkeiten – Polen und Rumänien hätten ihre Zustimmung zum Durchzug sowjetischer Truppen geben müssen.

Die Annexion der Karpatenukraine durch die UdSSR nach dem Krieg wurde u.a. mit einem Hinweis auf 1938 gerechtfertigt; die kommunistischen Politiker in der tschechoslowakischen Regierung sprachen vom »Glück, eine direkte Grenze mit der Sowjetunion zu haben«. Welche Interessen auch im Spiel gewesen sein mochten, die Sowjetunion war das einzige Land, das zu diesem Zeitpunkt gegen Hitlers Aggressionen gemeinsam mit der Tschechoslowakei Widerstand leisten wollte.

Sie hätten ’68 nie kommen dürfen. Wenn sie jemals erlöst werden, verdanken sie es ihrer Literatur.

Die Geschichte Europas ist eine Abfolge von Ungerechtigkeiten, Aggressionen, gegenseitiger Schuldzuweisung für Überfälle, Ausbeutung, Verrat, Unterdrückung.

Im Zuge des Hitlerischen Überfalls auf Polen besetzte die Sowjetunion ihrerseits polnische Ostgebiete, einen Teil Rumäniens, Finnlands, und annektierte Litauen, Lettland und Estland, fünf Jahre vor Jalta.

Wenn ich über Europa schreibe, beschreibe ich meine Ressentiments und ahne die der anderen.

England also nicht, und Frankreich hat sich auch nicht bewährt. Nicht in diesem Jahrhundert, wo sie 1938 in München zum letzten Mal eine autonome Entscheidung über sich und über Europa hatten, noch ohne Anweisungen und Interessen der Hegemonialmächte. Die Weichen für die Konferenz auf der Krim im Februar 1945 waren durch die Preisgabe eines mitteleuropäischen Landes, »das weit weg liegt und von dem wir nichts wissen«, 1938 gestellt. Vor Jalta war München.

Zurück zur Literatur.

Die Utopie eines vereinigten Europas unter Napoleon, wie der Obrist Massenbach sie sah, hat sich nicht erfüllt, wäre auch nicht unproblematisch gewesen.

Weitere Entwürfe Arno Schmidts weisen in die Zukunft. Das Reservat Tellingstedt in »Die Schule der Atheisten« atmet endzeitliche Geborgenheit aus: ein schmaler Streifen an der Eider als ein letzter bewohnter Winkel im verstrahlten Europa, ausgehalten von den USA, wo das Matriarchat herrscht. Die andere Hälfte der Welt haben die Chinesen übernommen, patriarchalisch. Der großzügige Mäzen muß immer von neuem vom kulturellen Nutzen des Reservats überzeugt werden. Mitten im 21. Jahrhundert säumen dementsprechend seltsame Relikte wie der »blinde Harfner« den Weg, und Jugend in nicht nachprüfbaren Trachten jubelt den US-Touristinnen zu – lauter Riesinnen, die öffentlich urinieren und sich von mitgebrachten parfümierten Männchen beschlafen lassen, mit einem frustrierten Blick nach den hinterwäldlerischen Europäern, ob sich in der zurückgebliebenen Rasse nicht doch etwas Potenteres fände. Ein Knecht bewährt sich und trägt so zur Rechtfertigung des Reservats bei. – Europa auf den Nenner gebracht.

Ein vergnügtes Lesen und eine bittere Idylle, wie sie Schmidt auch im Hominidenstreifen der »Gelehrtenrepublik« und anderswo entwirft: Europa hat aufgehört zu existieren, die Welt ist eingeteilt, die Großmächte bewachen einander mißtrauisch an den Randzonen ihrer Interessensphären, ein fortwirkendes Jalta im Jahre 2014.

Shakespeare verlegte Böhmen ans Meer, das ist der ältere Entwurf, und ich träume über der Karte und verschiebe die Grenzen. Soll Schweden dazugehören? Dann gleich ganz Skandinavien. Und weiter?

Polen, sicher. Und Jugoslawien im Süden. Österreich nehmen wir auch, schon wegen der Landschaft. Der provinzielle Antisemitismus wird noch ein Problem sein. Und Italien, natürlich, in seiner unvereinten Gestalt, als es in der Vielfalt seiner Stadtrepubliken die höchste Kultur hervorgebracht hat. Dann würde Böhmen gleich an zwei Meere grenzen. Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder …

Und in diesem Korridor der Freiheit, der Ungebundenheit herrscht Vielsprachigkeit. Ursprünglich dachte ich ans Tschechische als Erste Sprache, aber ich lasse ihnen Zeit, Tschechisch hat sieben Fälle. Für den Rest Europas, an einfachere Grammatiken gewöhnt, zu schwierig.

Die Ungarn könnten es schneller lernen, aber die nehmen wir wahrscheinlich nicht, sie haben schon in der k. u. k. Monarchie gegen die Tschechen Politik gemacht, nicht erst unter Hitler. (Dabei kenne ich keinen unsympathischen Ungarn: noch einmal überprüfen!)

Bedenklich, daß das industriell am weitesten entwickelte Land in dem zurückgebliebenen k. u. k. Staatsgebilde nicht einmal im Namen vorkommt; die Tschechen machen sich bei mir verdächtig, dauerhafte Nieten zu sein.

Dabei haben sie auch einmal gekämpft. Und es wieder gelassen. Die Kirschfeste in Sachsen und Thüringen – Kamenz, Naumburg – gehen jeweils auf die Verschonung der Städte durch die Hussiten zurück. Es wird erzählt, daß ein paar Kinder mit Kirschzweigen vor dem Stadttor sie bewegen konnten, abzuziehen. Und die tschechischen Legionäre in Rußland, nachdem sie die Transsibirische Eisenbahn erobert hatten, setzten sich in den ersten Zug, um nach Hause zu fahren. Vielleicht war es auch erst der zweite.

1938 wollten sie aber kämpfen; die Demobilisierung war ein schlimmerer Schlag als die Einsicht, daß es in den Krieg geht.

Ich werde notgedrungen persönlich.

Die tschechoslowakischen Flieger, die mit den polnischen die Luftbrücke für die Alliierten hielten, wurden zu Dutzenden über dem Kanal abgeschossen. England wird bis zum letzten Polen und Tschechoslowaken kämpfen, hieß es.

Von den Fallschirmspringern, die in Schottland unter härtesten Bedingungen für den Widerstand zu Hause vorbereitet wurden, überlebten die meisten nicht länger als ein paar Tage nach der Landung. Der einheimische Widerstand war zersplittert und weitgehend zerschlagen – die Exilregierung in London machte sich falsche Vorstellungen – und die meisten Kontaktadressen versagten: die Leute waren verhaftet, tot, zu Kollaborateuren geworden. Es wurde im Winter vor allem abends geflogen, damit die Maschinen unbeobachtet zurückkehren konnten, und die englischen Piloten hatten nur ungenaue Vorstellungen über das Gebiet, das Navigieren war schwierig. Die Fallschirmspringer wurden meist weit von den vereinbarten Orten abgesetzt, nicht selten jenseits der Grenze. In Ungarn wurden sie meist schnell gefaßt, in Polen konnten sie sich unter günstigen Umständen den Partisanen anschließen.

Daß es trotzdem zu mehreren koordinierten Aktionen kam, war Sache des Glücks und des Zufalls. Wie anständig gerade der Bauer war, der den Absprung beobachtet hatte, wie weit zur nächsten Gestapostelle. Er konnte es natürlich auch auf der nächsten tschechischen Polizeistation melden.

Da ich für Samurais viel übrig habe, imponiert mir das Attentat auf Heydrich, trotz der Vergeltungsaktionen in Lidice und Ležáky.

Nach dem kommunistischen Umsturz 1948 wurden die Überlebenden inhaftiert; es kam zu Hinrichtungen. Als es einer Gruppe ehemaliger Fallschirmspringer gelungen war, aus dem Lager auszubrechen, wurden sie mit Hunden gejagt, umzingelt und erschossen. Die anderen Häftlinge sollten im Kreise um ihre Leichen gehen und auf sie spucken.

Massenhinrichtungen können bekanntlich das Ausmaß des individuellen Leids und der Schmach in der Vorstellung der Überlebenden nicht steigern; mit wachsenden Zahlen ermüdet das Mitgefühl und wird entschärft. Mir genügen im Augenblick diese drei einsamen Fallschirmspringer.

Es liegt im Wesen der Politik, zu versagen, Verrat an Verbündeten zu üben und von der Geschichte verurteilt zu werden; mit Chamberlains Desaster gewann Churchill die nächste Wahl. Wo waren aber die europäischen Intellektuellen damals? Die französischen, englischen, italienischen Schriftsteller, die Stimmen der deutschen Kollegen, die ihr erstes Asyl vor Hitler in der tschechoslowakischen Republik gefunden hatten?

Nationalismus ist auch unter den Tschechen nicht sehr populär. Ich kann mir vorstellen, daß nicht jeder in meinem Böhmen leben möchte.

Europa ist ein Konglomerat aus Empfindungen, Verletzungen und überlieferten Klischees über die anderen. Die Sprache konserviert die Vorurteile:

»Böhmische Dörfer« gibt es nur in Deutschland; ebenfalls die »polnische Wirtschaft«. – Dafür behalten die Deutschen auch ihre »deutsche Markenbutter« und zur Strafe noch holländisches Gemüse.

Die Syphilis haben sie sich alle gegenseitig zugeschoben, bis sie sich ausnahmsweise geeinigt hatten, auf Frankreich, das es prompt England zuspielte; womit es angesichts von dessen ungehemmter Kolonialpolitik nicht einmal unrecht hatte, obwohl auch die Spanier und Portugiesen in Frage kamen – aber an die Indianer dachte damals keiner. Europa war der Nabel der Welt, im Guten und im Bösen.

Die Tschechen haben »spanische Dörfer« und »türkische Wirtschaft«, das ist auch nicht besser, allenfalls dadurch entschuldbar, daß die inkriminierten Länder ferner liegen und keine Nachbarn sind. Die Engländer sind fein heraus – »it’s all Greek to me«, versichern sie scheinheilig, die Antike haben wir alle hinter uns – wie es die Griechen empfinden, weiß ich nicht; sie können nach München mit Chamberlain ruhig zugeben: »it’s all Czech to me«.

Andererseits gründet mein europäischer Traum auf dem produktiven Irrtum Shakespeares über die Lage Böhmens.

Es bleibt also auch England dieser wirren, katastrophalen Vielfalt von Europa, meinem Böhmen, verhaftet.

Dichterische Entwürfe erweisen sich auf die Dauer als die zäheren »Haupt- und Staatsaktionen«.

Mai 1988