Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011 – ISBN: 978-3–518–42263–2 – 24,90 €
Les bijoux de la Castafiore heißt das 1961/62 im belgischen Magazin Tintin veröffentlichte Abenteuer von Tim und Struppi, das ausnahmsweise einmal seine Helden nicht in die Fremde führt, sondern auf Schloss Mühlenhof spielt, dem Wohnsitz des Kapitän Haddock. Er hat sich den Fuß verstaucht und sitzt zu Hause im Rollstuhl. Langweilig ist die Geschichte deshalb nicht. Denn die Fremde kommt gewissermaßen auf Krankenbesuch – nämlich in Form einer »Karawane von Zigeunern«: Und wer würde sich wundern, dass wenig später die im Titel genannten »Juwelen der Sängerin« Bianca Castafiore verschwunden sind? Die Mehrheit der in der Geschichte handelnden Figuren jedenfalls nicht: Hatte doch nicht nur Haddocks Diener Nestor ausdrücklich vor den »Langfinger[n] und Hühnerfänger[n]« gewarnt, sondern sogar der Gemeindepolizist, der Haddock telefonisch zur Vorsicht ermahnt und prophezeit, es gebe »bestimmt noch Ärger« mit den »Zigeuner[n]« (Hergé 1999: 14f.).
Ja, Schmuck und Zigeuner, das ist eine Zusammenstellung, die traditionell verdächtig ist und gerade deshalb spannende Geschichten verspricht. Und Hergés Comic zeigt, dass dieser Verdacht viel stärker ist als derjenige, der sich etwa gegen die im ersten Panel des Comics zu sehende Elster richten könnte, in deren Nest Tim schließlich den Smaragd der gerade in Rossinis La gazza ladra reüssierenden Bianca Castafiore findet (Hergé 1999: 62). Nein, der Verdacht richtet sich gegen die »Zigeuner«, und Hergés Geschichte macht klar, dass es sich um ein Vorurteil handelt. Das ist bemerkenswert, wie überhaupt der Blick, den der Comic auf die »Zigeuner« wirft.
Die Geschichte beginnt, vor Haddocks Unfall, mit einem Frühlingsspaziergang von Tim und Haddock. »Ah, der Frühling! […] Atmen Sie diese herrlich prickelnde, belebende Frühlingsluft tief ein, Tim …«, ruft Haddock aus, und Tim erwidert: »Ja, aber nach Maiglöckchen riecht es hier auch nicht gerade!« Haddock: »Aha, daher kommt das: wir sind am Müllabladeplatz. Wo Abfälle sind, kann es nicht nach Frühling riechen!« Und dann, mit Blick auf Wohnwagen an der Müllhalde: »Unglaublich: Es scheint Leute zu geben, die diesen Gestank schön finden! Nicht zu fassen!«, Tim: »Zigeuner!«, und Haddock: »Keinen Sinn für Hygiene, diese Burschen! Ekelhaft!« (Hergé 1999: 3)
Das sind die alten, bekannten Vorurteile, die Haddock jedoch bald revidiert. Denn als er mit Tim »eine kleine Zigeunerin«, die sich im Wald verlaufen hatte, zu ihrer Familie bringt, erfährt Haddock, dass »die Polizei« es »nicht erlaubt« hat, »anderswo« das »Lager aufzuschlagen als auf dem Müllabladeplatz«. Haddock, emphatisch wie immer und empathisch wie selten, erwidert »Man kann doch Menschen nicht zwingen, im Müll zu wohnen. Wie gemein!«, und lädt die »Zigeuner« ein, auf der Wiese bei seinem Schloss zu campieren (Hergé 1999: 4 u. 6). Sie kommen mitsamt den gängigen »Zigeuner«-Klischees (14), ganz nach Art der in Thomas Manns Tonio Kröger leitmotivisch so genannten »Zigeuner im grünen Wagen« (Mann 1974: 279, 291 u. 317). Sie verschwinden dann, sehr verdächtig, in eben dem Moment, als auch der Smaragd verschwunden ist, und für die Detektive Schulze und Schultze »steht« sofort »fest«, dass sie »die Schuldigen« sind: »Beweise? … Finden wir leicht! … Die stehlen doch alle wie die Raben!« (Hergé 1999: 49)
Erst Tims Lösung des Falls rehabilitiert die »Zigeuner«. Das ist, wie gesagt, bemerkenswert, führt doch der Comic so – schon Anfang der 1960er Jahre! – in Figurenrede und Handlungsverlauf vor Augen, wie die »Zigeuner« unter den ihnen traditionell entgegengebrachten Vorurteilen leiden. Das heißt nicht, dass Hergés Geschichte ohne Stereotype wie Bettelei, »traurig[e]« Gitarrenklänge oder Aggressionen gegenüber den »Gadscho[s]«, also Nicht-»Zigeunern«, auskäme (Hergé 1999: 6 u. 42), aber sie werden eben doch – zumindest in Teilen – als Stereotype kenntlich gemacht oder sogar benannt. So gesehen, bietet Hergés Comic nicht nur Empathie mit den »Zigeunern« und ihrer Misere, sondern leistet auch diskursanalytisch Aufklärung über ihre historischen Wurzeln.
Diese empathische Darstellung von »Zigeunern« ist, so lehrt Klaus Michael Bogdals mittlerweile mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnetes Buch Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, in der europäischen Tradition eine seltene Ausnahme.1 Zwar ist sie möglich, und das sogar für einen Autor wie Hergé, dessen Œuvre – vor allem das frühe – durchsetzt ist von Rassismen. Zuallererst aber bestätigt die Ausnahme die Regel: und das ist die traurige Einsicht, die Bogdals Buch vermittelt.
Bogdal beginnt mit einem Bekenntnis.
Bei den Nachforschungen über die Pogrome in Rostock-Lichtenhagen […] stieß ich auf die Aussagen einer sechzehnjährigen Schülerin, die sich an den Gewalttaten aktiv beteiligt hatte und deshalb – beinahe wie zur Belohnung – interviewt worden war: »Wären Zigeuner verbrannt, hätte es mich nicht gestört. – Vietnamesen schon, aber Sinti und Roma egal.« Der Furor der Verachtung und das Ausschalten menschlicher Empfindung, die im kühl dahingesagten »egal« sichtbar werden, konnte ich nicht so leicht vergessen. Die Täterin rechtfertigt ihren Tötungswunsch durch die Hierarchisierung ihrer Opfer (9).
Die über Jahrhunderte gewachsenen »Macht- und Vernichtungsphantasien«, die hinter einer solchen Aussage stehen, zeichnet Bogdal in seinem Buch nach, und so sehr er damit zum Verständnis einer fatalen Tradition beiträgt – Hunderttausende ermordete Roma und Sinti gehen aufs Konto des nationalsozialistischen Deutschlands –,2 ist es doch am Ende nichts anderes als »Fassungslosigkeit«, was angesichts der »zerstörerischen Energien« dieser Tradition »zurückbleibt« – und daraus resultierend, »[v]ielleicht« (!), »Mitleid mit den Opfern der Geschichte« (16).
Damit ist ein Großteil aller empathischen Bekenntnisse des Buches zitiert, und es ist beeindruckend, mit welcher methodologischen Nüchternheit und Konsequenz, stilistisch immer klar und sachlich-elegant Bogdal gerade seinem ausdrücklich benannten emotionalen Anliegen zuliebe im Folgenden vorgeht. Ist es so, dass
[d]ie ›große Erzählung‹ über ein Naturvolk inmitten der Zivilisation […] zu allen Zeiten, von ihrer Ankunft in Europa bis hin zur Vernichtung durch die Nationalsozialisten, ohne die Romgruppen selbst geschrieben
wurde (14), verfügten die »Romvölker« »über keine eigene Schriftkultur«, so dass heute »historische[ ] Selbstzeugnisse« »nahezu völlig[ ] [f]ehlen«, dann folgt daraus in der Tat, dass ihre Geschichte sich nur als die »Geschichte« eines »Fremdbildes« erzählen lässt (16) und daher auch als solche erzählt werden muss. Konsequenterweise geht es nur am Rande des Buches um »Romvölker[ ] oder Romgruppen«, also die »Realität von Menschen […], die in der Vergangenheit« »als denkende, fühlende und handelnde Subjekte« »existiert haben oder in der Gegenwart leben«, meistens aber um »Zigeuner«, das heißt um »Redeweisen und mediale Repräsentationen« (15), man könnte auch sagen: diskursive oder performative Konstruktionen. »Sinti oder Roma werden geboren, ›Zigeuner‹ sind ein gesellschaftliches Konstrukt«, schreibt Bogdal, und deshalb »kann und muss die Bezeichnung Zigeuner (von hier an) ohne Anführungszeichen verwendet werden.« (Ebd.)
Man muss sich zweierlei klarmachen: Erstens bedeutet das Gesagte, dass eine ›eigene‹ oder ›Realgeschichte‹ der – mit Bogdal auch hier im folgenden ohne Anführungszeichen so bezeichneten – Zigeuner für den größten Teil ihrer Vergangenheit nicht denkbar ist, denn erst in den letzten Jahrzehnten erheben Roma und Sinti ihre eigene literarische und historiografische Stimme. Bitter: Die Sprache ihrer Geschichte, ihr Diskurs, ist genauso wenig wie ihre immer noch landläufige Bezeichnung als Zigeuner ihre eigene. Zweitens entkommt man dieser terminologischen Kalamität nicht dadurch, dass man die tradierten Begriffe meidet oder sich durch mit den Fingern in die Luft getupfte Anführungszeichen von ihnen distanziert. Paradoxerweise verwendet Bogdal also gerade aus terminologischem Verantwortungsbewusstsein heraus den Begriff der Zigeuner ohne Markierung, während ihn andere zwar genau so verwenden, dies allerdings aus Fahrlässigkeit oder Uninformiertheit. So kompliziert liegen die Dinge: Bogdal spricht ohne Anführungszeichen von Zigeunern, nicht aber – weder mit noch ohne Anführung – von ›Antiziganismus‹, wie es etwa Herta Müller tut.3 Dabei ist der Begriff problematisch: würde doch sein die Feindlichkeit gegenüber Farbigen bezeichnendes Analogon »Anti-Negerismus« heißen, wie Bogdal in einem Interview bemerkte (vgl. Anm. 2). Wie verwickelt die Fragen der politischen Korrektheit beziehungsweise, genauer, der politisch-performativen Folgen dieser oder jener Äußerung hier liegen, hat noch Anfang des Jahres die Diskussion um Samuel L. Jackson gezeigt, der einen weißen Journalisten aufgefordert hatte, in einem Interview zu Quentin Tarantinos Django Unchained nicht den Tabuismus »N-word« zu benutzen, sondern das Wort »nigger« – für den weißen Journalisten eine ›Fremdbezeichnung‹ – auszusprechen: mit der Folge, dass dieser sich weigerte und Jackson ihn verspottete.4
Bogdal sieht, dass »[d]ie Fremdbezeichnung ›Zigeuner‹« (15) nicht hintergehbar ist und zieht also die Konsequenz, den Begriff gewissermaßen offensiv, ohne die Samt-»Handschuhe« der »Anführungszeichen« (Adorno 1964: 81) einer zimperlichen Political correctness, zu verwenden. Das ist eine gute Entscheidung – wie auch die, die »der Arbeit zugrunde liegende Theorie« eingangs nur knapp zu explizieren und sie stattdessen »im Vertrauen auf ihre Durchschlagskraft in die konkrete Darstellung des Gegenstandes einfließen [zu] lassen« (12). Das Kalkül geht auf: So sorgsam durchdacht und methodologisch ausgereift wirkt das Buch, ohne dass seine Lesbarkeit irgendwo unter Theorie oder gar Jargon litte; zwingend auch seine Chronologie und thematische Schwerpunkte verbindende Gliederung.
Aber wo kommen sie her, die Zigeuner? Die Gerüchte lauten: irgendwo aus dem Osten, Ägypten vielleicht (vgl. 27 u. 72f.). 1427 jedenfalls sichtet der Chronist Andreas von Regensburg vor den Toren der Stadt eine »gens Ciganorum, volgariter Cigäwnär«, und von nun an sind die »swartzen getouften haiden«, so die Spiezer Chronik des Diebold Schilling Ende des 15. Jahrhunderts (23), aktenkundig. Dabei dienen sie den Mitteleuropäern von ihrem ersten Auftreten an als Projektionsfläche, wie Bogdal anhand einer der »frühesten bildlichen Darstellungen« von Zigeunern zeigt. »Die Figuren« in der Spiezer Chronik
tragen keine zerschlissenen, durchlöcherten und zusammengeflickten Lumpen wie auf den späteren Darstellungen, sondern eine ›sarazenische‹ oder orientalische Bekleidung […]. Alle besitzen Schuhe, auch die Kinder. […] Eine Figur […] gleicht den Adligen der Spiezer Chronik bis ins Detail. […] Im Widerspruch zur Beschriftung sind die ›swartzen haiden‹ ausnahmslos von heller Hautfarbe und blond gelockt. (23f.)
Zunächst sind es Chroniken, Historiografien und Rechtsquellen, in denen Bogdal die Geschichte der Zigeuner und die Fragen verfolgt, die diese Geschichte aufwirft. Sind die Zigeuner wie Ahasverus zur Wanderschaft verdammt (vgl. 38 u. 62)? Was hat es mit ihrem »altägyptische[n] Magiertum« und dem »Wahrsagen der Zigeuner« auf sich – und ist dieses von »alte[m] pagane[m] Wissen[ ]« (80) getragene »Tun« nicht ohnehin »gotteslästerlich[ ]«, wie es das Faust-Volksbuch nahelegt ( 72f.)? Ist das »Tarotspiel« als »›Buch des Toth Hermes Trismegistos‹« »›die Bibel der Bibeln‹« und »›Synthese aller Lehren der Antike‹« (81)? Lohnt es sich, im Dorf einen »›Sicherheits-Zigeuner‹« anzusiedeln, damit er »›zu verhütung‹« von »›feüersgefahr‹« und sonstigem Unheil die sich in der Gegend »›heimlich aufhaltende[n] zigeuner anzeigen möge‹« (84)? Haben die Zigeuner, über die nie »von Sprach- oder Verständigungsschwierigkeiten« mit anderen Europäern berichtet wird (40), eine eigene Sprache? Bis ins 18. Jahrhundert war die »eigene Rom-Sprache« in Europa unbekannt (41 u. 154–159). Wieso ist den Zigeunern das sich im Europa der frühen Neuzeit ausbildende »[t]erritoriale[ ] Denken« fremd, mit dem die Entwicklung der »›Policey-Wissenschaft‹« einhergeht (45)? »Freiheit« ist für die Zigeuner als »Ort- und Herkunftlose« in dieser Zeit zugleich die »Rechtlosigkeit« (45) der, mit Michel Foucault, Anormalen (vgl. 47, 61 u. 341): »Territorialität« bedeutet für die Zigeuner »Terror« (53) gegen Vogelfreie (vgl. 58 u. 181f.).
›Polizeiwissenschaftliche‹ Fragen beschäftigen also die Menschen Europas in Hinblick auf die Zigeuner – doch, spätestens seit dem Jahr 1613, nicht nur das. Da nämlich erscheint Miguel de Cervantes’ Erzählung La gitanilla (Die kleine Zigeunerin). Mit Cervantes’ »Zigeunermädchen[ ] Preciosa« ist eine der auch, aber nicht nur ihrer Erotik wegen faszinierendsten Alteritätsphantasien der europäischen Literatur in der Welt: die »schöne Zigeunerin« (87), deren »Doubles« (ebd.) von nun an singend, tanzend, frühreif und wie Prosper Merimées beziehungsweise Georges Bizets Carmen (vgl. 242 u. 248–253) männerverführend durch Europas Literatur, Oper, »Zigeunerlied[ ]« (235f.) und Film (vgl. 427f.) vagabundieren. Keine »Zigeunerromantik« (222) ohne sexuell anziehende Zigeunerinnen, keine »Zigeunerromantik« ohne ihre Assoziation mit dem »Un-Ort« Wald (133, vgl. auch 221).
Pittoresk, wie man sich das vorstellt, veranstaltet man bei Hofe »Frauen-Zimmer-Zigeuner-Masquerade[n]« (141), während zur gleichen Zeit Zigeuner mit Brandmalen gezeichnet werden, damit sie »im Wiederergreiffungs-Fall« gleich »lebendig geradbrecht, und auff das Rad geflochten werden« können (57). Wiederum zur gleichen Zeit nimmt die Frühaufklärung die Zigeuner neben den »Hottentotten, Pygmäen, Lappländer[n] und Eskimos« in die »›Übergangsrassen‹ zwischen Mensch und Affe« auf (148).
Politisch »kristallisieren sich drei unterschiedliche gesellschaftspolitische Strategien im Umgang mit den Zigeunern heraus«: erstens »die universalistische« der Integration in die moderne »Disziplinargesellschaft«, zweitens die an der »Assimilation der Juden im 19. Jahrhundert« orientierte Emanzipation und drittens die – vor allem von »Zigeunerversteher[n]« (241) propagierte – »kulturalistische«, die
das den Zigeunern Eigene auf eine Weise präsentier[t], die es ermöglicht, ihre Lebensweise als elementare zivilisatorische Leistung anzuerkennen. (178f.)
Das scheint vor allem der russischen Literatur gelungen zu sein:
Weder bei Turgenjew noch bei Ljesskow und Tolstoi sind die schönen Zigeunerinnen Fremde aus einer bedrohlichen, geheimnisvollen Gemeinschaft, die man einer Zivilisationsprobe unterwerfen müsste. […] Trotz der Archaisierung der Lebensweise der sogenannten Steppenzigeuner Südrusslands bei Puschkin oder […] Maxim Gorki[ ] fehlt der in der westeuropäischen Literatur vorherrschende Ton der Verachtung nahezu vollständig. (299)
Anders das 19. und 20. Jahrhundert in Mitteleuropa. Hier setzt sich der in den hunderttausendfachen Mord (vgl. 346f.) führende »rassistische Blick« durch (307); als Kronzeugen dienen Bogdal August Strindbergs zunächst als »Die weiße und die schwarze Hand« geplante, dann vereindeutigend in »Arya und Pariah« umbenannte, schließlich unter dem Titel Tschandala veröffentlichte Erzählung (308) und Friedrich Nietzsches Götzen-Dämmerung. Hier finden sich »Anweisungen für den Umgang mit der niedrigsten Kaste, den Tschandala«: »Ihre Herabsetzung« ist »die Voraussetzung für den Aufstieg von ›Arias Adelsstamm‹.« (319f.) Wie die Juden werden die Zigeuner zu den Feinden der Arier stilisiert, und doch werden Bogdal zufolge »Zigeunerhass und Antisemitismus zu Unrecht gleichgesetzt«:
Während den Juden […] unterstellt wird, dass sie ihre wirtschaftliche Macht im Zuge einer Verschwörung zur Erlangung der Weltherrschaft missbrauchen würden, reizt die Nichtigkeit und Infamie der Zigeuner, denen nicht einmal der Rang einer Rasse zugestanden wird, zum Hass. Die Juden repräsentieren das Andere, das man niemals sein kann. Die Zigeuner stellen das dar, zu dem man jederzeit werden kann, wenn man von der sozialen Leiter tief herabfällt. (321, vgl. auch 11)
Bogdals Buch erzählt, wie schon gesagt, eine traurige Geschichte. Geradezu tragisch aber wird sie dadurch, dass sie sich nach 1945 kaum ändert (vgl. 440). Denn die Zigeuner sind »in der europäischen Literatur nach 1945 [i]mmer noch Diebe und Asoziale« (402). In ihrem literarischen »Schattenleben« kommt der »Völkermord« (vgl. 347) häufig überhaupt nicht vor (404f.), und das ist wohl auch eine Voraussetzung für die schamlose Fortschreibung einer Tradition, deren mörderische Konsequenz man doch nun eigentlich hätte vor Augen haben müssen. Oder nicht? Erdrückend jedenfalls, nach Art und Zahl, sind Bogdals Belege für seine These, dass »der Geist der nationalsozialistischen Zigeunerpolitik nicht verschwunden ist.« (408) In einer 1946 in der Wochenzeitung Die Zeit unter dem Titel Glanz und Elend der Zigeuner veröffentlichten Reportage heißt es, dass ein
alte[r] Sippensprecher, »eine Zigarre paffend, um seine toten Angehörigen trauert. ›Vergast, verbrannt, verloren …‹« (424f.)
Man muss sich die Perfidie dieser Formulierung klarmachen: »Dass jemand ›paffend‹ über vergaste Angehörige trauert, lässt die Ernsthaftigkeit seiner Gefühle in Zweifel ziehen« (425), heißt es bei Bogdal sehr zurückhaltend.
Für Luise Rinser (vgl. 423), Günter Grass (vgl. 430), Christa Wolf, Ingeborg Bachmann, Herta Müller und Ilija Trojanow – um nur einige Höhenkammautorinnen und -autoren zu nennen – gilt gleichermaßen: Ihre »Werke erzählen nichts Angenehmes über« Zigeuner »und halten sich nicht mit ihnen auf«; ihre »Darstellungen ähneln sich auffällig durch ihre Oberflächlichkeit.« (412) Ralf Rothmanns Wäldernacht »setzt die ›zigeunerische‹ Sprache ihrer Sprecher herab und gibt sie der Lächerlichkeit preis« (413). Ausdrücklich bescheinigt Bogdal Rothmann den »fahrlässigen Gebrauch von Klischees« aus »Mangel an historischem Bewusstsein«, »Unkenntnis oder Desinteresse«, während Asta Scheibs und Martin Walsers »Romanversion des Tatort-Krimis Armer Nanosh« von 1989 »gezielt und offen Stereotype über Sinti verbreite[ ]« (414). Anders hingegen Wolfdietrich Schnurres Jenö war mein Freund, ein »Wiedergutmachungsversuch«, der gerade seiner »Entlastungsfunktion« wegen »zu[m] schulischen Lesebuchklassiker[ ] auf[gestiegen]« ist (423).
Dass es sehr wohl möglich ist, sich von der hier umrissenen erzählerischen Tradition zu lösen, zeigt Bogdal zufolge Ursula Wölfel mit ihrem Jugendbuch Mond Mond Mond. »Obwohl in erzieherischer Absicht geschrieben, verfällt« Wölfel »nicht in einen aufdringlichen Wiedergutmachungston« und hält stattdessen »aus Scham, zum Tätervolk zu gehören, Distanz zu den Figuren« (426).
Am Ende von Bogdals Buch steht ein Kapitel mit dem Titel »Mit eigener Stimme. Erinnerungsliteratur der Sinti und Roma« (442). Kann man das einen Hoffnungsschimmer nennen? Oder setzte das nicht eine Art Erinnerungs- und Zeugenschaftspflicht voraus, die man gerade denen nicht unterstellen darf, die man zu Opfern gemacht hat? Schwierig zu sagen: Psychologisch jedoch wirkt Bogdals Schlusskapitel – ob intendiert oder nicht, ob legitim oder nicht – irgendwie entlastend. Ja, es gibt mittlerweile Autoren und Autorinnen, die »[v]on der eigenen Geschichte erzählen« (469) – und neben Lily Franz (458), Hugo Höllenreiner (464), Ronald Lee (470), Alfred Lessing (456), Krimhilde Malinowski (459f.), Joseph Muscha Müller (460), Daniel Strauß (451), Katarina Taikon (470) und Walter Winter (457) wären hier noch viele andere zu nennen.
Bogdals Buch endet mit einer fast trivialen Feststellung. Evident wahr und nüchtern formuliert, handelt es sich zugleich um den Appell, nun doch noch aus der Geschichte zu lernen: »Das Buch endet hier, nicht jedoch die Geschichte, die es erzählt hat.« (483) Es ist an Bogdals Leserinnen und Lesern, sich – wie schon vor einem halben Jahrhundert Kapitän Haddock – ein Herz zu nehmen und diese Geschichte von nun an mitzugestalten. Denn sie wird und sie soll weitergehen – aber hoffentlich anders, und das heißt: glücklicher als bisher.
1 | Wie das Zitat eines Schneidermeisters »mit dem unter Sinti häufig vorkommenden Namen Reinhard« belegt, war schon im 19. Jahrhundert die Bogdals Buch zugrundeliegende Einsicht da, dass es sich bei den »Zigeunern« um eine Erfindung und Fremdzuschreibung handelt: »›Jetzt aber, wo ich heuer zum erstenmal als Zigeuner creirt worden, siehet mich jedermann, der es liest, darum an. Der Polizejdiener wie der Gensdarme betrachtet mich mit mißtrauischen Augen, und murmelt vor sich hin also ein Zigeuner! und so erscheine ich bej dem Publikum, das ohnehin sehr reizbar ist, als ein wahrer Ecce homo!‹« (S. 67)
2 | In einem Interview spricht Bogdal von »einer halben Million Opfern«: »Europa erfindet die Zigeuner, um sie zu verachten. Ein Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal, der heute den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhält«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. März 2013, S. N3. In seinem Buch verweist Bogdal auf einen »Versuch, die Zahl der insgesamt umgebrachten Roma zu schätzen«, nennt sie hier aber nicht (S. 524).
3 | »›Das ist doch verrückt, sagt die Nobelpreisträgerin Herta Müller, ›dass wir in Deutschland seit sechzig Jahren detailliert über den Holocaust reden und erwähnen die Zigeuner fast nie. Ich glaube, Antisemitismus und Antiziganismus gehen immer zusammen. […]‹« Werner Bloch: »Wir sind auch noch da. Die Roma-Rebellion: Eine junge Generation von Künstlern der Sinti und Roma macht mit Torpedos und Leuchtraketen auf sich aufmerksam«. In: Süddeutsche Zeitung v. 16. November 2011, S. 15.
4 | »Samuel L Jackson showed his own desire to see the word coming out of white mouths in an interview to promote Django Unchained. ›There’s been a lot of controversy surrounding the usage of the n-word in this movie,‹ began Fox Houston’s film critic Jake Hamilton. Jackson interrupted. ›No? Nobody? None? The word would be … ?‹ he inquired. He then refused to answer the question until his interlocutor was prepared to pronounce the profanity.« http://www.guardian.co.uk/film/filmblog/2013/jan/14/django-unchained-n-word [Stand: 30.06.2013].
Adorno, Theodor W. (1964): Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. Frankfurt a.M.
Hergé (1999): Tim und Struppi: Die Juwelen der Sängerin. Hamburg.
Mann, Thomas (1974): Tonio Kröger, in: Ders.: Gesammelte Werke in 13 Bänden. 2. Aufl. Frankfurt a.M., S. 271–338.