Bielefeld: Aisthesis 2011 – ISBN 978–3–89528–860–9 – 39,80 €
In Deutschland leben seit mehr als einem halben Jahrhundert, vor allem infolge der Arbeitsmigration, immer mehr Menschen, die aus der Türkei gekommen sind oder deren Vorfahren dort gelebt haben. Sie bilden mittlerweile die größte ›Minderheit‹, wenn es denn zulässig ist, alle diese Individuen unter solch einen aus- wie einschließenden Begriff zu bringen. Die Deutschen stehen folglich mit keinem anderen Volk in engerer Berührung als mit den Türken. So unbestreitbar diese Tatsache ist, so schwer haben sich Gesellschaft, Politik, Öffentlichkeit, Kultur und auch Wissenschaft bisher mit ihr getan. Rechts-, Sozial, Kultur- und andere Wissenschaften versuchen ihr jedoch zunehmend gerecht zu werden.
Die deutsche Germanistik ist da lange sehr zögerlich geblieben, auch diejenige ihrer Richtungen, die sich interkulturell nennt. Deutschsprachige Autoren türkischer Herkunft, inzwischen eine beträchtliche Anzahl, darunter einige auch international bekannte Namen, sind bisher bald gönnerhaft, bald abschätzig am Rande verblieben. »Trotz gelungener Einzelbeispiele öffnet sich die Literaturgeschichtsschreibung nur zögernd für ›Migrantenliteratur‹ und so gut wie gar nicht für die Einbeziehung interkultureller/ postkolonialer Literatur und entsprechender Perspektiven der Literaturgeschichtsschreibung.« So jedenfalls das Fazit, das Herbert Uerlings in H. 1/2011 dieser Zeitschrift gezogen hat.
Ebenso wie Kritik, Erforschung und Vermittlung von ›Migrantenliteratur‹ bedarf auch die Untersuchung von Bildern der Türken und der Türkei in Literatur und Medien der Beachtung; sie kann, eben aufgrund der genannten Konstellation, sogar Vorrang vor anderen imagologischen Projekten beanspruchen. Allerdings enthält dieses Thema sehr heterogene Aspekte: Türken- und Islambild überschneiden sich traditionell und verzerrend, ohne sich sachlich zu decken, und heute werden sie beide gern – auch das eine verzerrende Reduktion – dem Feld übergreifender Studien zum »Orientalismus« zugeordnet. Hier sind differenzierende kritische Analysen nötig und erwünscht. Eine solche zu sein, beansprucht die hier zu besprechende Dissertation von Petra Heinrichs.
Die mit annähernd 500 Seiten sehr umfangreiche und, was ihr Textkorpus betrifft, sehr heterogene Arbeit versteht das Titelstichwort »Geschlecht«, ohne das theoretisch und methodologisch zu begründen, ganz schlicht im Sinne von weitestgehender Beschränkung auf Autorinnen. Sie besteht aus drei großen Blöcken von jeweils zwei Kapiteln. Das Ganze wird, die Beschränkung nur wenig lockernd, von zwei Filmanalysen eingerahmt, die paradigmatisch dem Ineinander von Gender- und Kultur-Alterität gelten: zu Lola und Bilidikid des beachtlichen Video-Künstlers Kutluğ Ataman und zu Filmen des offenbar unvermeidlichen Fatih Akın. Den ersten Block bildet ein Kapitelpaar über Reiseliteratur aus dem 19. Jahrhundert, in der auch die Türkei vorkommt, verfasst von jeweils zwei Autorinnen: Ida Pfeiffer und Ida Gräfin von Hahn-Hahn aus der Jahrhundertmitte, Rosa von Förster und Bernhardine Schulze-Smidt aus wilhelminischer Zeit.
Im zweiten Block werden kapitelweise zwei auch dem literarischen Wert nach sehr verschiedene Autorinnen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts behandelt: Das ist zum einen die allein durch ihre romantisierende Präsentation türkischer Märchen bekannt gewordene Elsa Sophia von Kamphoevener, eine deutschnationale, später in die Nationalsozialistische Partei eingetretene Tochter eines deutschen Offiziers in osmanischen Diensten, die in ihrer Jugend 20 Jahre in Istanbul gelebt hatte, danach als antimoderne Schriftstellerin und nostalgische Schwärmerin für das Osmanische Reich, besonders für den ›blutigen‹ Sultan Abdülhamid II., Romane schrieb und Märchen verbreitete.
Das ist zum anderen die literarisch unvergleichlich bedeutendere, erst in den letzten beiden Jahrzehnten wiederentdeckte Annemarie Schwarzenbach, deren reale und schriftstellerische Suchbewegungen sich kulturell zwischen Okzident und Orient einerseits, sexuell zwischen Hetero- und Homosexualität andererseits abspielten, wobei Türkei- und Türkenbilder eine eher marginale Rolle spielen. Immerhin streift Heinrichs wenigstens kurz Schwarzenbachs literarische Verarbeitung des Armenier-Genozids, nach Eugen Hoeflich, Armin T. Wegner und Franz Werfel, und in genauem Gegensatz zu Kamphoeveners Schweigen, über das Heinrichs ihrerseits schweigt.
Der dritte Block schaltet abrupt von historischer Türkeireise- auf heutige türkische Migrantenliteratur um, und zwar weiter ausschließlich von Frauen, abgesehen von ein paar Seiten, auf denen Zaimoğlu und Özdoğan gestreift werden, und von einem kleinen Istanbul-Feuilleton Ulrich Peltzers. In einem Kapitel liegt der Akzent mehr auf migrativen Authentizitätsdiskursen, im anderen mehr auf deren experimenteller Subversion und »Ver-rückung«. Dieser abschließende Teil der Arbeit wirkt wie aufgepfropft. Denn nur dünnste Fäden können Türkeireiseliteratur adliger und bürgerlicher deutscher Frauen zwischen 1850 bis 1950 mit heutiger Literatur türkischstämmiger Migrantinnen verbinden. Wie oft bei quantitativ überdehnten, weil stofflich allzu heterogenen und gleichzeitig konzeptionell nicht hinreichend durchdachten Dissertationen stellt sich auch hier der Stoßseufzer ein: Weniger wäre mehr gewesen.
Dieser Schlussblock bleibt gegenüber dem differenzierten Stand der Forschung, z.B. zu Özdamar, zu oberflächlich, um zu der sehr interessanten und zum Teil sogar brisanten Gender-Problematik in der Migrantenliteratur, gerade auch ›männlicher‹, hinreichend Relevantes beitragen zu können. (Hierzu gibt es jetzt einige Aufsätze in dem neuen Sammelband von Cheesman und Yeşilada über Zaimoğlu.) Das imagologische Leitkonzept ›Türkeibilder‹ verliert sich mehr und mehr, und die ›feministische‹ Textauswahl bleibt äußerlich: Es gibt zwischen den hier behandelten Autorinnen außer dem biologischen Geschlecht kaum etwas Gemeinsames.
Die Heterogenität des Ganzen wirkt sich an manchen Stellen als Flüchtigkeit im Einzelnen aus. So hätten sich die ziemlich unsäglichen Produkte der reisenden wilhelminischen Damen sehr schön konfrontieren lassen z.B. mit Frau Buchholz im Orient des Bestsellerautors Julius Stinde, mit der wunderschönen plattdeutschen Reis’ nah Konstantinopel von Fritz Reuter, mit den Istanbul-Romanen und -Erzählungen von Rudolf Lindau, dessen Roman Ein unglückliches Volk die unvorstellbar bestialischen Armenier-Massaker von 1895/96, also schon unter jenem Abdülhamid, behandelt, oder auch mit dem Reisebuch Asia des ›politischen Pastors‹ und nationalistisch-imperialistischen Ideologen Friedrich Naumann. Oder, um an ganz anderer Stelle anzusetzen: Wenn Heinrichs am Schluss ihrer Arbeit beklagt, dass die dokumentarische Literatur »facettenreiche Protagonistinnen türkischer Herkunft bislang eher vernachlässigt«, warum vernachlässigt sie selber dann gerade in diesem Punkt ein so einschlägiges Buch wie Wege ins Freie (2009) von Zehra Ipşiroğlu? Und wenn sie den Gender-Aspekt, allerdings typisch postfeministisch unbestimmt, ins Zentrum rückt, warum berücksichtigt sie von Yeşilada nur Die geschundene Suleika (1997), nicht aber Die netten Türkinnen von nebenan (2009)?
Am empfindlichsten ist ein ebenso auffälliger wie unverständlicher Mangel im Umgang mit Forschungsliteratur: Sowohl zum Thema »Türkeibilder« wie zum Thema »Migrantenliteratur« haben türkische Germanisten und Komparatisten seit vielen Jahren Pionierarbeit geleistet und diese nicht nur in türkischer, sondern auch in deutscher Sprache publiziert: von Onur Bilge Kula bis zu Nedret Kuran-Burçoğlu und Nazan Aksoy, von Nilüfer Kuruyazıcı (als Herausgeberin: Gurbeti Vatan Edenler, 2001; als Autorin: Wahrnehmungen des Fremden, 2006) bis zu Mahmut Karakuş (Interkulturelle Konstellationen. Deutsch-türkische Begegnungen in deutschsprachigen Romanen der Gegenwart, 2006). Wer mehrere Jahre lang in der Türkei als Lektorin zu Gast war, sollte mit der – oft unter schwierigen Bedingungen – geleisteten Forschungsarbeit türkischer Kolleginnen und Kollegen anders umgehen!
Von solchen Mängeln abgesehen, enthält das Buch von Petra Heinrichs viele lesenswerte kritische Einzelanalysen, in denen theoretische Konzepte und Textnähe gut zusammenwirken, z.B. die vernichtende Kritik an Exotismus, Orientalismus, Rassismus in den Texten der kaiserzeitlichen Autorinnen. Ob jedoch eine im Ganzen derart heterogene Arbeit auf dem ebenso heterogenen Feld türkisch-deutscher Kultur- und Literaturstudien innovative Impulse zu geben vermag, ist zu bezweifeln. Dieses Feld ist jüngst, im Zeichen des 50. Jahres türkischer Arbeitsmigration in Deutschland, endlich weiter aufgearbeitet worden. Ein neues, inter- und transdisziplinär ausgerichtetes Jahrbuch Türkisch-deutsche Studien, vornehmlich von Şeyda Ozil (Istanbul) und Yasemin Dayıoğlu-Yücel (Hamburg/Philadelphia [PA]) konzipiert und betreut, ist bereits mit drei beachtenswerten Bänden erschienen. In Kürze zu erwarten sind zwei weitere vielversprechende Publikationen: eine Türkisch-deutsche Kulturgeschichte, die Michael Hofmann, und ein Band über Kontexte der türkisch-deutschen Literatur, den Karin E. Yeşilada herausgibt. Damit könnte das eingangs zitierte Urteil von Herbert Uerlings wenigstens teilweise revisionsbedürftig werden.
Norbert Mecklenburg