Deutschsprachige Enklaven in Südamerika

Hunsrückisch in Brasilien und Wallisisch in Argentinien Zur Sprachinselforschung in Rio Grande do Sul und San Jerónimo Norte

Ernest W.B. Hess-Lüttich

Abstract

The paper argues for the empirical investigation of German speaking minorities in Latin America before they will have disappeared due to processes of assimilation. A brief description of the present status of German speaking communities in South America is followed by an outline of the main features of the fairly well documented dialect spoken in southern Brazil by the descendants of immigrants from the German Eifel-Hunsrück area. Much less research has been done, however, on German dialects from outside Germany on the basis of national varieties such as Austrian and Swiss German. For instance, a reliable corpus of material from varieties used by immigrants from Switzerland (e.g., from Wallis) is still missing. Therefore, the paper attempts an exemplary case study on Swiss German used by selected communities in Argentina. To start with, it presents a historical overview on the reasons for and circumstances of Swiss German immigration to Latin America in the 19th century. It then outlines the relevant results of language minority research and its methodology with special reference to Latin America. The main part, however, is devoted to the summary of empirical investigations into the present status of language use in communities such as the San Jerónimo Norte colony in the Argentine province of Santa Fé. This provides insight into several areas: not only into the linguistic conservatism typical for such enclaves (including interferences of the lexico-grammatical systems of German and Spanish) and the criteria for language choice according to social domains of communication (especially lexical choice depending on topics), but also into the relationship between generation and language death, into the influence of family ties, tourist contacts, and neighbourhood networks; and into the psychological impact of prestige factors of majority language (vs. group coherence of the minority language) on social mobility and language preference.

Title:

German Speaking Enclaves in Latin America: The Hunsrück Dialect in Brazil and Valaisian in Argentina. Language Enclave Research in Rio Grande do Sul and San Jerónimo Norte

Keywords:

bilingualism; code-switching; dialectology; German enclaves outside europe; German speech communities in Latin America; language minorities

Motivation und Zielsetzung

Die Untersuchung von Sprachminderheiten, die Sprachinselforschung und die Analyse des sog. Code-Switching sind relativ junge, aber seit etwa zwei Dekaden auch in der Germanistik ungemein prosperierende Forschungsgebiete der Angewandten Linguistik im Schnittfeld von Dialektologie, Geo-, Areal-, Ethno- und Soziolinguistik. Nach den 1989 vom Mannheimer Institut für Deutsche Sprache (IDS) inaugurierten Bestandsaufnahmen zum Stand des Sprachgebrauchs deutschsprachiger Minderheiten im nicht-deutschsprachigen Ausland und den Leitstudien des Duisburger Soziolinguisten Ulrich Ammon (1990ff.) wuchs das Bewusstsein dafür, dass die Zeit drängt, wenn das Wissen über solche spezifischen Varietäten des Deutschen (vor allem in Übersee) gesichert werden soll, bevor die Erst- und Zweitsprachkompetenz der Sprecher/innen infolge von Assimilationsprozessen gänzlich verlorengegangen ist. Drei Desiderate sind dabei augenfällig:

  1. Zum einen mangelt es der germanistischen Erkundung deutschsprachiger Minderheiten erkennbar an Kooperationen mit den Philologien der jeweiligen Mehrheitssprachen (in Lateinamerika etwa mit der Romanistik bzw. Hispanistik und Lusitanistik).
  2. Zum anderen mangelt es an systematisch-empirischen Sprachstandserhebungen deutschsprachiger Enklaven in Übersee und an Archivierungen entsprechender Corpora zum Zwecke der Dokumentation des Sprachwandels in diesen Enklaven vor deren absehbarem Verschwinden (Language death).
  3. Zum Dritten mangelt es an gezielten Erkundungen von nicht-deutschen, aber deutschsprachigen Minderheiten (auf der Basis nationaler Varietäten wie dem Österreichischen oder dem Schweizerdeutschen).

Während z.B. der Sprachstand etlicher ›deutscher‹ Enklaven im Ausland heute teilweise dokumentiert ist, gibt es für die Varietäten von aus der Deutsch-Schweiz ausgewanderten Minoritäten kaum verlässliches empirisch erhobenes und linguistisch analysiertes Material. Daher soll der Beitrag eine exemplarische Untersuchung des ›Schweizerdeutschen‹ (genauer: des Walliserdeutschen) in ausgewählten Gemeinden (hier besonders der Kolonie San Jerónimo Norte in der argentinischen Provinz Santa Fé) auf der Grundlage eines Korpus von authentischem Sprachmaterial ins Zentrum stellen, um anhand dieses Beispiels für eine stärkere Kooperation zwischen den beteiligten Philologien (Germanistik, Linguistik, Romanistik, Hispanistik) zu werben.

Der Beitrag gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil bietet einen knappen Überblick über den Stand der germanistischen Sprachminoritätenforschung in Lateinamerika an, wobei exemplarisch der Forschungsstand zur Erkundung des Deutschen in Brasilien knapp resümiert wird (ein kurzer Seitenblick gilt der Situation deutschsprachiger Enklaven in Chile, Paraguay und Mexiko).

Der zweite Teil erläutert kurz die historischen Bedingungen der Entstehung schweizerdeutscher bzw. wallisischer Gemeinden in Argentinien und die ökonomischen Gründe für die Auswanderung vor allem um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit einem genaueren Blick auf die hier ausgewählte Kolonie und die in ihr noch gepflegten Walliser Traditionen.

Der dritte Teil informiert (nach einigen Hinweisen auf methodologische Vorüberlegungen) über die empirischen Ergebnisse der Untersuchung. Gemessen an dem Anspruch, eine nicht-repräsentative Momentaufnahme des heutigen Sprachgebrauchs einer wallisischen Gemeinde in Santa Fé vorzulegen, bietet die Auswertung des erhobenen Gesprächsmaterials eine Fülle von Hinweisen im Hinblick auf Formen des (für solche Enklaven typischen) Sprachkonservatismus, auf Kriterien domänenspezifischer Sprachwahl zwischen wallisischem Dialekt und argentinischem Spanisch, auf das instabile Verhältnis von Generationensprache und Sprachwandel (bzw. Sprachtod), auf die Bedeutung von familiären Schweiz- bzw. Besuchskontakten und von privaten Nachbarschaftsnetzwerken für den Spracherhalt, auf den Zusammenhang von Code und Themenwahl, auf die Folgen sprachpolitischer Entscheidungen (Aufhebung des Dialektverbots für ›Gringos‹) und sprachpsychologischer Funktionen (Prestige der statushöheren Mehrheitssprache für die soziale Mobilität und sprachliche Präferenz), auf die Interferenzphänomene durch grammatisch-lexikalische Systemkonkurrenzen.

Deutschsprachige Minderheiten in Lateinamerika

Die Schätzungen zur Zahl der Deutschsprachigen in Lateinamerika insgesamt variieren je nach Definition der Zielgruppe und Methode der Erhebung erheblich. Ulrich Ammon (1991: 100) beziffert sie noch auf ca. 1,5 Millionen – trotz des erheblichen Assimilationsdrucks einschließlich gelegentlicher »Sprachverbote«, besonders in der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Das entspricht fast der Zahl, die Born und Dickgiesser (1989) zur gleichen Zeit für die USA ermittelt haben (ca. 1,6 Millionen).

Ihrer Übersicht zufolge bezeichnen sich in Chile zwischen 20 000 und 30 000 Chilenen als deutschsprachig oder zumindest zweisprachig, davon immerhin über 4 000 Auslandsschweizer. In Paraguay und Uruguay sind von den schätzungsweise 130 000 Deutschsprachigen ca. 25 000 Mennoniten (in Montevideo auch Juden), in deren Kolonien (vor allem in Gran Chaco, Alto Paraná, Ca’aguazú San Pedro und Concepción) der ostniederdeutsche Dialekt, das sog. Plautdietsche, noch Alltags- und Familiensprache ist. Mennonitengemeinden wurden auch u.a. in Bolivien, Mexiko, Belize begründet, die zum Teil bis heute deutsche Schulen unterhalten, an denen von einheimischen Lehrern ein mitunter etwas archaisch anmutendes Standarddeutsch unterrichtet wird.

In Brasilien wurde in den Hauptgebieten deutschsprachiger Immigranten – Rio Grande do Sul, Santa Catarina, Paraná und Espírito Santo – die Zahl deutschsprachiger Brasilianer noch 1986 auf ca. 3,6 Millionen geschätzt (Born/Dieckgiesser 1989: 55). Allerdings unterscheiden sich die Zahlen, wie gesagt, je nach Quelle und Parametern deutlich. Ulrich Ammon etwa kommt fast zur gleichen Zeit nur auf ca. 1,2 Millionen (Ammon 1991: 100). Jedenfalls scheint es auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer noch – von den USA vielleicht abgesehen – nirgendwo außerhalb Europas so viele Sprecher des Deutschen zu geben wie in Brasilien (Kaufmann 2003: 29). Aus deren pommerischen, sächsischen, pfälzischen, schwäbischen und bairischen Heimatidiomen schälte sich im Laufe der Zeit die rheinmoselfränkische Dialektgruppe als Hauptvarietät heraus, das »Riograndenser Hunsrückische« oder »Hunsrückscher Platt« (Altenhofen 1996: 127; vgl. Tornquist 1997).

Deutschbrasilianer in Rio Grande do Sul

Begonnen hatte die Immigration der Deutschen bzw. Deutschsprachigen schon vor geraumer Zeit mit der Gründung der Kolonien Leopoldina (1818) und São Jorge de Ilhéus (1822) in Bahia (zum Begriff der »Kolonie« vgl. Spinassé 2005: 71). Offiziell gilt aber der 25. Juli 1824 als Beginn der Einwanderung, weil an diesem Tag die Kolonie São Leopoldo in Rio Grande do Sul beglaubigt wurde. Der junge Kaiser Pedro I. hatte die Unabhängigkeit von Portugal erklärt und die Erzherzogin Leopoldine aus dem Haus Habsburg geheiratet. Siedler aus ihrer Heimat sollten die wenig besiedelten Gebiete im Süden entwickeln helfen und die Grenzen zu den Nachbarländern sichern. Sie wurden gezielt angeworben durch die Bezahlung der Überfahrt, die Verleihung der Bürgerrechte, der Zuweisung von Land, die Versorgung mit Vieh, die Befreiung von Steuerabgaben für die ersten Jahre. Es kamen Hunderttausende, nicht nur aus dem Rheinland und dem Hunsrück, aus der Pfalz und aus Schwaben und Pommern, sondern auch aus Österreich, aus der Schweiz, aus Luxemburg und aus den Wolgagebieten Russlands. Heute reklamieren ca. fünf Millionen Brasilianer ihre deutschsprachige Herkunft (auch wenn sie sich nur zum geringeren Teil als Deutschsprachige bezeichnen würden; s.o.); sie konzentrieren sich in den südlichen Staaten, wo sie zunächst sogar die Mehrheit bildeten und erst um 1860 dann von Portugiesen, Italienern und Spaniern zahlenmäßig übertroffen wurden.

Aber auch in den Metropolen wie São Paulo entstanden etliche Stadtkolonien deutschsprachiger Immigranten aus den verschiedensten Herkunftsregionen. Entsprechend heterogen waren diese Sprachgemeinschaften im Hinblick auf ihren Dialekt und kulturellen Hintergrund (vgl. Rosenberg 2001: 9; Spinassé 2005: 77). Besonders krass traten diese kulturellen Unterschiede bei den letzten großen Einwanderungswellen im 20. Jahrhundert hervor (1918, 1933 u. 1945), die nicht selten zu unmittelbaren Nachbarschaften führten von kaisertreuen Kriegsflüchtlingen und Schergen des NS-Regimes einerseits, die im Verborgenen ihrer Verfolgung zu entkommen suchten, jüdischen Intellektuellen und Eliten des deutschen Geisteslebens andererseits, deren kultureller Einfluss indirekt noch heute spürbar ist (vgl. Mühlen 1994: 16). Allerdings war der Assimilierungsdruck gerade in den urbanen Regionen so hoch, dass dort die deutsche Sprache in der Regel nicht an die nächsten Generationen weitergegeben wurde.

In den abgelegeneren Gebieten indes kam es nicht selten zu ausgeprägt diglossischem Sprachverhalten der Einwanderer, die nach schulisch gesteuertem Spracherwerb das Portugiesische als Standardsprache in allen öffentlichen Sphären gebrauchten, während sie im häuslich-familiären Umgang und im Freundeskreise ihren jeweiligen Dialekt pflegten. Die zunehmende Heterogenität der ehemals landsmannschaftlich sortierten Kolonien ließ die Bedeutung der einzelnen Dialekte allmählich in den Hintergrund treten, bis manche sich sogar wegen ihres heimischen Idioms zu genieren begannen und fürchteten, ein gemessen an standardsprachlichen Normen fehlerhaftes und rudimentäres Deutsch zu sprechen – wie jener Sprecher, den Ingrid M. Tornquist (1997: 79 u. 85) zitiert: »Das wor werklich eeklich, was mer gesproch hon, iwereeklich, ich sprech jetz noch eeklich, porqué [weil] ich kann keen Hochdeitsch«. Ihre Arbeit bietet insgesamt übrigens einen guten Überblick über die phonetischen, morpho-syntaktischen und lexikalisch-interferentiellen Charakteristika dieser in Rio Grande do Sul verbreiteten Varietät, die sich aus verschiedenen Gründen (vgl. dazu im Detail Spinassé 2005: 77) in für die Sprecher neuen Kontexten und im Kontakt mit dem Portugiesischen vielerorts zu einer Art Mischsprache entwickelt hat.

Diese sich manchmal verfestigende eigentümliche Mischung von deutschem Dialekt und portugiesischem Standard bei den zweisprachigen Deutschstämmigen in Rio Grande do Sul hat man verschiedentlich auch als Misturado zu beschreiben unternommen, also als diejenige Varietät, die sich »durch starke portugiesische Interferenz auf allen sprachlichen Ebenen (in Abgrenzung zum Hunsrücker Dialekt wie auch zum Hochdeutschen) definiert« (Ziegler 1996: 72), vor allem auf der phonetischen und lexikalischen Ebene, aber auch im morpho-syntaktischen Bereich (zu Einzelheiten vgl. Spinassé 2005: 93–98). Allerdings tun sich die Sprecher des Misturado weder in deutscher noch in portugiesischer Umgebung einen Gefallen: Den Dialektnostalgikern gilt es als ›unrein‹, die Lehrer lehnen es erst recht ab, was oft zur Benachteiligung solcher deutschstämmigen Schüler im Unterricht geführt hat (vgl. hierzu Fritzen 2008). Es hat sich als Pidginsprache, geschweige denn als Kreolsprache, denn auch nicht durchgesetzt, da die Sprecher in Abhängigkeit von Parametern der Redekonstellation (also je nach Gesprächspartnern und sozialer Domäne) zwischen den Varietäten zu wechseln pflegten (Code-Switching). Damit gilt das Misturado linguistisch nicht als ›Sprache‹ (wie die Einheimischen meist sagen, ähnlich wie die Deutschschweizer, die ›Schriftdeutsch‹ für eine Fremdsprache halten), sondern wäre als Soziolekt oder genauer als ›Familiolekt‹ zu beschreiben (Spinassé 2005: 100).

Zu etwas positiveren Befunden kam Ute Bärnert-Fürst (1994) noch in ihrer Untersuchung des Sprachverhaltens in einer zwischen 1921 und 1926 im Nordwesten von Rio Grande do Sul gegründeten schwäbischen Kolonie in Panambí (Neu-Württemberg), in der sie den Sprachwandel und den Sprachwechsel über drei Generationen hinweg verfolgt hat und bei aller Verschiebung der Sprachdomänen zu dem Schluss kommt, dass »German still fulfills important social functions, particularly in the realms of identification and reproduction of ethnic identity« (284). Allerdings muss das kein Gegensatz sein, weil positive Sprachbewertung von außen durchaus einhergehen kann mit negativen Bewertungen (Minderwertigkeitsempfinden aufgrund fehlender Überdachung durch die deutsche Standardsprache) der Sprecher selber (vgl. Kaufmann 2003: 32).

Während ›die Deutschen‹ von den Einheimischen weitgehend als kulturelle Einheit betrachtet wurden, entwickelten die Pfälzer, Schwaben, Badener, Preußen, Pommern, Kärntner, Walliser usw. zunächst durchaus kein Zusammengehörigkeitsgefühl. So etwas wie eine gemeinsame Identität der Deutschsprachigen bzw. Deutschstämmigen entwickelte sich unter den sozialen Bedingungen des materiellen Drucks, der Isolierung vom heimischen Kulturraum und der Distanz zu dem der Residenzgesellschaft erst relativ spät (vgl. Tramonini 2000: 140). Dabei trat zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Kategorie der Abstammung in den Vordergrund. Den ›Deutschen‹ wurden Österreicher und Schweizer, aber auch Polen und Russen, soweit sie des Deutschen mächtig waren, großzügig zugerechnet. Diese begannen sich überregional zu vernetzen, gründeten Schulen und pflegten eine Lebensweise, die sie als ›deutsch‹ empfanden.

Die Ausbildung von so etwas wie einer ›deutsch-brasilianischen‹ Identität wurde besonders in der Ära des totalitären Präsidenten Getúlio Vargas (1930–1945) durch seine Politik des Estado novo massiv bekämpft: Die deutsche Sprache wurde verboten, die deutschen Schulen geschlossen (vgl. Klug 2004: 27). Erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ließ der Druck nach und führte in der Folge zu Versuchen einer Wiederbelebung der deutschen Sprache und Kultur, vor allem in den südlichen Bundesstaaten, in denen die Vermittlung des Deutschen als Fremdsprache (DaF) im Vergleich des schulisch gesteuerten Fremdsprachenerwerbs nach Englisch heute sogar wieder den zweiten Platz einnimmt; im Lande insgesamt konkurriert Deutsch mit Italienisch und Französisch um den dritten Rang (vgl. Kaufmann 2003: 31 u. 33). Zu dem traditionellen Motiv des Bewusstseins der eigenen kulturellen Abstammung tritt freilich das wirtschaftliche Motiv zunehmend in den Vordergrund, durch Deutschkenntnisse die Aussichten auf eine berufliche Karriere bei den brasilianischen Tochtergesellschaften deutscher Konzerne zu verbessern.

Das wiedererwachte Prestige der ›deutschen‹ Kultur führte in den südbrasilianischen Gemeinden zu einer ausgeprägten Brauchtumspflege. Das »Oktoberfest« in Blumenau (Santa Catarina) mit Bier und Blasmusik, mit Eisbein und Sauerkraut (eine im Sommer bei 40 Grad Celsius im Schatten nicht jedem bekömmliche Cuisine) ist heute, nach dem »Karneval in Rio«, das zweitgrößte Fest in Brasilien (vgl. hierzu online: http://www.lauerweb.de/Brasilien/auswande.htm [Stand: 30.06.2013]). In Rio Grande do Sul hat sich ein reges Vereinsleben entwickelt, mit Tanz- und Trachtengruppen, mit Chören, die sich der Pflege deutschen Liedguts verschrieben haben. Wer es mag, kann sich durch eigene Radioprogramme rund um die Uhr mit deutscher Blasmusik beschallen lassen. Vertiefte Sprachkenntnisse werden dafür nicht vorausgesetzt. Entscheidender ist die Identifikation mit der Gruppe, die sich durch ein Ensemble semiotischer Mitgliedschaftsausweise als ›deutsch‹ definiert (was immer sie dafür halten mag), wobei die deutschen Dialekte freilich nur als ein Indikator unter anderen fungieren.

Deren Bedeutung treten in dem identitätsstiftenden Prozess der ›deutschen‹ Gemeinden zunehmend hinter solchen der Folklore zurück. In ihrer Ethnografie des Sprachverhaltens in drei Generationen einer Gemeinde in Alto Bella Vista (Santa Catarina) hatte Elke Cybulla (1993) diese Beobachtung eines intergenerationell beschleunigten Sprachwechsels schon zu Beginn der 1990er Jahre bestätigt. Inzwischen gilt sie auch für den privaten Sektor, nachdem der Übergang zum Portugiesischen in allen öffentlichen Sprachdomänen praktisch vollzogen erscheint. Dieser Prozess verändert auch das Image des Dialektes, eine Entwicklung, die Cléo Vilson Altenhofen für das Hunsrückische ebenfalls schon seit längerem diagnostiziert:

Das Portugiesische wurde zum Symbol der Stadt, der höheren Schicht, des Wissens, der Schule, der Nationalität und der jüngeren Generation. Das Hunsrückische wird im Gegensatz dazu wachsend mit der Sprache der ländlichen Gegenden, der Herkunft, der Familie, der Gruppensolidarität und der älteren Generation assoziiert. (Altenhofen 1996: 73)

Dennoch scheint es so (neueste Zahlen fehlen hierzu), dass mit dem Verschwinden des Deutschen (als Dialektvarietät) nach zwei Jahrhunderten zugleich ein (aufgrund allerdings eher ökonomischer als nostalgischer Motivation) wachsendes Interesse an Deutsch (als Standardvarietät) und Germanistik an Schulen und Universitäten zu verzeichnen ist, was in jüngster Zeit sogar zu Neugründungen germanistischer Institute in Metropolen des Nordens geführt hat.1 Dieser Bedarf wird allerdings durch das staatliche Bildungswesen nicht gedeckt, das kaum anders als desolat zu beschreiben ist. Ein Erhalt des (jeweiligen) Dialekts erscheint ebenso aussichtslos wie ineffektiv (was allenfalls konservative Dialektologen schmerzt, die dem Verlust einzigartiger Varietäten nachtrauern mögen, oder Deutschschweizer, für die ja ihr je heimisches Idiom sowieso unverzichtbar zu sein scheint – übrigens sind zur Zeit ca. 14 000 Einwohner Brasiliens als Auslandsschweizer registriert). Aber umso wichtiger wäre nun eine systematische Förderung der standardsprachlichen Kompetenz im DaF-Sektor, wenn er sich überhaupt in der Konkurrenz zu den präferierten Fremdsprachen Englisch und Spanisch behaupten will. Dies setzte freilich ein bildungspolitisch offensiveres Engagement von beiden Seiten des Atlantiks voraus, um das Potential der historisch bedingten Motivationslage bikulturell geprägter Einwanderer für eine Verbesserung und Intensivierung der Vermittlung des Deutschen auf allen Stufen des Bildungswesens zu nutzen und damit dem Brückenschlag zwischen den mitteleuropäischen und lateinamerikanischen Kulturen zu dienen.

Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) mit seiner Präsidentin Prof. Dr. Margret Wintermantel (seit 2012) und die Alexander-von-Humboldt-Stiftung (AvH) müssten hier die Initiative ergreifen. Ein erster Schritt ist möglicherweise die Eröffnung eines Büros im Deutschen Wissenschafts- und Innovationshaus (DWIH) in São Paulo am 14. Februar 2012 durch den deutschen Außenminister. Im Rahmen des Regierungsprogramms Wissenschaft ohne Grenzen, in das Brasilien bis 2014 ca. 1,4 Milliarden Euro investieren will, um endlich den Universitäts- und Forschungssektor zu stärken, habe sich die Humboldt-Stiftung, so meldet sie in ihrem Newsletter 1/2012, mit den beiden wichtigsten wissenschaftlichen Förderagenturen Brasiliens CAPES und CPNq darauf verständigt, gemeinsam brasilianische Postdoktoranden in Deutschland zu fördern. Wenn die Wirtschaft ihrerseits einen Teil beiträgt, könnten aus diesen Mitteln bis zu 100 000 Stipendien (besonders für Studien- oder Forschungsaufenthalte im Ausland) finanziert werden. Allerdings konzentriert sich das Programm wie so oft auf die Bereiche Naturwissenschaften, Technik und Ingenieurwesen. Es wäre nützlich, wenn bei den Verantwortlichen die Einsicht reifte, dass die Stipendiaten an deutschen Universitäten auch diese Fächer mit mehr Gewinn studieren könnten, wenn sie über die dafür notwendigen Deutschkenntnisse verfügten. Aber wahrscheinlicher ist wohl, dass die Fehler der Hochschulprojekte des DAAD im Ausland wiederholt werden, an denen die Studenten auf Englisch unterrichtet werden, was sie dann auf Kosten des deutschen Steuerzahlers bestens vorbereitet auf einen Studienaufenthalt in – Nordamerika. Deshalb hat der Präsident des Goethe-Instituts Klaus Dieter Lehmann recht mit seiner Forderung: »Der Einsatz der Sprache Deutsch in den Wissenschaften muss zurück auf die Tagesordnung der deutschen Bildungs- und Kulturpolitik im Inland und im Ausland.« (Lehmann 2012: 349)

Eine Walliser Gemeinde in Argentinien: San Jerónimo Norte

Schon zu Beginn des 20 Jahrhunderts schrieb ein Repräsentant der deutschsprachigen Immigranten in Santa Catarina über seine Identität als ›Deutschbrasilianer‹:

Wir Deutschbrasilianer wissen genau, was dieser Ausdruck bedeutet. Wir wissen, daß wir nicht zur einen Hälfte deutsch und zur anderen Brasilianer sein können. Wir hier Geborenen sind einfach Brasilianer, und darüber gibt es keine Zweifel. Wir müssen alles von unserer Heimat Brasilien erwarten, denn Deutschland, das Land unserer Väter, kann uns nichts geben. Aber das bezieht sich ausschließlich auf die Bürgerrechte. In einer weiteren Perspektive bietet sich ein anderes Bild, denn wir als Deutschbrasilianer können dem Deutschtum oft so nützlich sein wie geborene Deutsche, Österreicher [oder] deutschsprachige Schweizer […].(José Deecke, zit. n. Ferreia 2000: 79)

Was für die Immigranten aus Deutschland nach Brasilien gilt, gilt ähnlich (wenn auch nicht immer aus denselben Gründen) für die aus Österreich und der deutschsprachigen Schweiz nach Argentinien zugereisten (über die Deutschen und Österreicher in Argentinien wird an anderer Stelle aus historisch-politischen Gründen umfänglicher und aus eigenem Recht zu handeln sein). Deshalb sei der historisch-systematische Überblick am Beispiel der Deutschen in Brasilien hier nur ergänzt um den Bericht über Fallstudien vor Ort am Beispiel der Schweizer in Argentinien.

Seit über 20 Jahren wohne, lehre, forsche ich in der Schweiz. Ich bin kein Schweizer, aber wenn ich irgendwo in der Welt bekenne, aus der Schweiz zu kommen, werde ich dafür in der Regel nicht bemitleidet (und wenn doch, dann nicht aus ökonomischen Gründen). Man assoziiert die Schweiz heute selten mit Armut und Not. Das war vor 150 Jahren anders. Mitte des 19. Jahrhunderts war die Armut in der Schweiz so drückend, dass viele in ihrer Not keine andere Chance sahen zu überleben, als auszuwandern. Das galt insbesondere für den schönen (d.h. landschaftlich schönen) Kanton Wallis, aus dem 1850 viele Familien nach Südamerika auswanderten und ihre Traditionen und Bräuche, ihre Sprache mitbrachten und in der neuen Umgebung zu erhalten suchten.

Davon wusste man in der übrigen Welt lange Zeit nichts. Als ich 1991 aus den USA in die Schweiz übersiedelte, beging die Confoederatio Helvetica gerade ihr 700-jähriges Bestehen (der 1291 datierte »Bundesbrief« wird dort als Gründungurkunde der ›Alten Eidgenossenschaft‹ betrachtet); aus diesem Anlass lud sie auch Repräsentanten der Nachkommen schweizerischer Emigranten aus den verschiedensten Ländern in aller Welt ein, darunter auch Dialektsprecher aus der santafesinischen Sprachinsel in Argentinien. Dabei wurde man gewahr, dass es bislang überhaupt keine linguistischen Forschungsarbeiten zur Sprache der Walliser Gemeinden in Argentinien gibt. Daran erinnerte ich mich, als zwei Dekaden später eine Doktorandin aus dem Wallis sich für das Thema zu interessieren begann; deshalb habe ich sie ermuntert, doch einmal vor Ort genauer nachzuschauen und eine empirische Sprachstandserhebung am Beispiel einer exemplarischen Gemeinde in San Jerónimo Norte durchzuführen und zu prüfen, wer mit wem welche Varietäten zu welchem Zweck spricht. Wir wollten damit herausfinden, ob dort und, wenn ja, in welchen sozialen Domänen heute noch Walliserdeutsch gesprochen wird und wie das soziale Netzwerk solcher Sprecher in einer spanisch-sprachigen Umgebung geknüpft ist.2

Aber warum hatten einst die Emigranten ihre herrliche Heimat Helvetia überhaupt verlassen? Weil sie in den 1850er Jahren alles andere als herrlich empfunden wurde. Das Wallis galt als der rückständigste aller Kantone, noch unberührt vom industriellen Aufschwung in anderen Teilen des Landes, völlig unerschlossen durch wirtschaftlichen Austausch und technische Systeme (eine erste Bahnlinie nach Brig wurde 1878 gebaut). Für viele Familien war die Emigration eine existenzielle Notwendigkeit. Aber nicht alle gingen freiwillig. Auch wer sich nicht dem herrschenden Normen- und Wertesystem unterwerfen mochte, wurde von den Gemeinden mit großem sozialem Druck zur Auswanderung genötigt. Das waren nicht nur Leute, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren, sondern oft auch solche, für deren Auskommen die Gemeinde nicht aufkommen wollte, Mittellose, die nicht selten ein sklavenähnliches Leben als Knechte fristen mussten, aber auch Wagemutige und Abenteuerlustige, die sich in der Fremde mit dem Kolonialismus Gewinne und Geschäfte erhofften oder aus sonstigen Gründen der Enge des Tals zu entfliehen suchten.

1859 gründeten fünf Familien aus dem Oberwallis das Dorf San Jerónimo Norte. Damit gehört es neben Esperanza, der Primera colonia madre in der argentinischen Provinz Santa Fé, zu den ältesten deutschsprachigen Siedlungen in Argentinien. Die Kolonie wuchs schnell, auch dank einer aktiven Anwerbungs- und Ansiedelungspolitik. Um 1870 war die Kolonie auf 236 Familien mit 1 210 Personen angewachsen, davon 180 Familien allein aus dem Oberwallis, die die vertrauten Traditionen bis heute bewahren. Heute zählt die Gemeinde 7 000 Einwohner, 140 verzweigte Familien tragen Walliser Nachnamen; und noch immer, heißt es, sprechen Nachkommen der einstigen Emigranten den Dialekt ihrer Ahnen.

Das kulturelle Erbe der Schweizer ist überall präsent, sei es im Museum Loranzo Bodenmann; sei es in der wöchentlichen Radio-Sendung Encuento con Suiza, in der eine Susana Anderegg durchs Programm führt und u.a. über »Aktivitäten der einzelnen Schweizer Vereinigungen von Argentinien, Uruguay und Brasilien« berichtet; sei es in den Konzerten des Zillertal Orchesters oder bei Auftritten der Los Alpes oder der Grupo Zurich oder bei den Tanzfesten der Angelinos Alpinos und den Trachtentänzen der Schweizer Blumen.

Sprachinselforschung

In Argentinien leben (nach Brasilien) die meisten Deutschsprachigen in Lateinamerika, vor allem in den Provinzen Entre Ríos, Buenos Aires Misiones und Santa Fé mit den ältesten ›Sprachinseln‹ wie Esperanza, Rafaela und Humboldt. ›Sprachinseln‹ des Deutschen sind übrigens nach zunftgemäßem Verständnis solche Sprachgemeinschaften, in denen außerhalb des geschlossenen Sprachgebiets in Mitteleuropa an einzelnen oder mehreren Orten das Deutsche noch als sog. Vollsprache gilt, Speech communities also (nach Dell Hymes oder Joshua Fishman), die das Wissen um morpho-syntaktische und konversationsstrukturelle Regeln der Gesprächsführung teilen und über lexikalische Repertoires zur funktional-adäquaten Verständigung verfügen sowie gemeinsame Spracheinstellungen (im Sinne von William Labov) aufweisen. Gegenüber dialektologisch, areallinguistisch, ethnolinguistisch oder kontaktlinguistisch konzipierten Ansätzen hat die soziolinguistisch inspirierte Sprachinselforschung den Vorteil, dem diskurslinguistisch motivierten Interesse der modernen korpusbasierten Sprachempirie z.B. gumperzscher Prägung systematisch Rechnung zu tragen.

Danach ist eine ›Sprachinsel‹ jetzt mit Klaus Mattheier genauer bestimmbar als eine

durch verhinderte oder verzögerte sprachkulturelle Assimilation entstandene Sprachgemeinschaft, die – als Sprachminderheit von ihrem Hauptgebiet getrennt – durch eine sprachlich/ethnisch differente Mehrheitsgesellschaft umschlossen und/oder überdacht wird und die sich von der Kontaktgesellschaft durch eine die Sonderheit motivierende soziopsychische Disposition abgrenzt bzw. von ihr ausgegrenzt wird (Mattheier 1994: 334).

Die Geschichte der diskurstheoretisch fundierten Sprachinselforschung ist noch vergleichsweise jung. Methodisch profitiert sie von der Orts- und Stadtsprachenforschung, von der elaborierten Varietätenforschung und neuen Ansätzen zur Analyse soziokommunikativer Netzwerkstrukturen, die ihrerseits wiederum anschließbar sind an gruppensprachliche und ethnografische Studien zum Verhältnis von Gruppenstatus und Sprachverhalten (Labov) bzw. zu Interaktionsnetzen und Sprachloyalitäten (Milroy), das wiederum – je nach Dialekt und Multiplexität der Netzwerke die Stabilität und die Durabilität von Sprachinseln – wesentlich bestimmt, was sich nach dem sog. Spatial turn in der Linguistik gegenwärtig vor allem Ansätze der Linguistic urban studies (Linguistic landscape, Language mapping etc.) methodisch nutzbar machen (vgl. den Überblick in Hess-Lüttich 2010).

Diese wenigen Hinweise sollten in unserem Zusammenhang lediglich der wissenschaftstheoretischen Verortung und der disziplinsystematischen Markierung potentieller Anschlussstellen dienen und werden deshalb hier nicht weiter vertieft. Das gilt auch für die einschlägige Begrifflichkeit von Code-Switching und Social domain, Diglossia und Multilingualism, Language choice, Language mixing, Language death etc., die ich hier nicht im Einzelnen herleiten kann, sondern insgesamt voraussetzen muss. Die bisherigen empirischen Untersuchungen zu deutschsprachigen Minderheiten in Lateinamerika sind in aller Regel solchen Sprachgemeinschaften gewidmet, die ihren Ursprung in Deutschland hatten. Untersuchungen zu Sprachinseln mit Immigranten helvetischer Abstammung liegen demgegenüber, soweit ich sehe, bislang nicht vor. Deshalb richtet sich unser Interesse besonders auf die Kolonie San Jerónimo Norte in der Provinz Santa Fé, die linguistisch bislang noch nicht untersucht wurde. Das Konzept einer solchen Untersuchung bedarf einer Reihe von exemplarischen Vorstudien. Für die Zielsetzung einer ersten Pilotstudie gingen wir von folgenden Hypothesen aus:

  1. Walliser Dialekt wird im privaten Bereich gesprochen. In sozialen Domänen kirchlicher, schulischer, politischer, medialer Institutionen wird das Spanische gebraucht.
  2. Der Dialektgebrauch dient der Kontaktpflege zwischen Schweizern.
  3. Im Kontakt mit benachbarten Sprachminderheitsgemeinschaften hat der Dialekt kohäsionsverstärkende Wirkung.
  4. Nur die älteste Generation ist des Dialektes mächtig.
  5. Zunehmende Code-Switches münden in einen kompetenzbedingten Sprachwechsel.
  6. Der Mangel an generationsübergreifender Sprachpflege und abnehmende Dialektkompetenz der jeweiligen Nachkommen lässt in absehbarer Zeit den ›Sprachentod‹ (Language death) bezogen auf diese Varietät erwarten.

Methodologie und Korpusanalyse

Das Projektdesign orientiert sich an der mittlerweile elaborierten Methodologie qualitativer Sprachstandsdatenerhebung, soziolinguistischer Korpusauswertung, kontrollierten Fremdverstehens mittels Interview-Leitfäden und reflektiert-teilnehmender Beobachtung, Verfahren der sog. Methodentriangulation, also der Kombination unterschiedlicher Erhebungstechniken zur polyperspektivischen Korpusgewinnung, die den Einfluss der Laborsituation zu relativieren und die Validität der Daten zu steigern geeignet sind (vgl. Schmidt-Grunert 2004: 53ff.).

Die Validitäts- und Reliabilitätsansprüche soziometrisch-quantitativer Sozialforschung können damit natürlich nicht erfüllt werden, dafür ist das so gewonnene Wissen möglicherweise weniger trivial. Es ist nämlich gewonnen durch unmittelbare Anschauung und kommunikative Teilnahme während (zeit-)intensiver Erhebungsphasen, gestützt durch Fragebögen nicht zur Elizitierung repräsentativer Daten, sondern zur Ermittlung der individuellen kommunikativen Netzwerke, in denen die Immigranten bzw. deren Nachkommen interagieren. Die Angaben können dann (z.B. mit einem MindManager-Programm) zu Netzwerk-Grafiken visualisiert werden. Ein zusätzlich geführtes Forschungstagebuch dient dem Beobachter zur Reflexion und Objektivation seiner Eindrücke, Erfahrungen und Erhebungen.

Die Erhebungen durch halbstrukturierte, sog. problemzentrierte Leitfadeninterviews stellen natürlich höhere Anforderungen an den Interviewer als standardisierte Befragungsformen, erlauben dafür aber auch die Erstellung kollektiver Verhaltensmuster, die aus den individuellen Aussagen zu bestimmten Domänen zu destillieren sind. Der Domänen-Katalog umfasst die Lebensbereiche Familie, Schule, Vereine (mit Schweizer bzw. Walliser Traditionen), Kirche, Administration, Freunde, Nachbarn, Arbeitsstelle, Politik; er zielt auf Informationen zur Beantwortung der Leitfrage: »Wer spricht mit wem was und wie in welcher Sprache mit welchen Absichten und Konsequenzen?«

Weitere Schwerpunkte der Interviews bilden Fragenkomplexe zum Sprachgebrauchswandel: nach den pragmatischen Bedingungen der Sprachwahl, nach subjektiven Spracheinstellungen und -bewertungen, nach Prognosen zum Sprachstand und zur bilingualen bzw. diglossischen Kompetenz (es versteht sich, dass die Fragen alltagssprachlich formuliert sind). Die Interviews werden aufgezeichnet und nach den Regeln der Kunst (auf die ich hier aus Zeit- und Raumgründen nicht eingehe) transkribiert sowie durch ein Postskriptum ergänzt, das im Protokoll nicht erfasste Eindrücke festhält. Die Analyse der Protokolle erfolgt in vier Schritten:

  1. Makroanalyse oder Phasenstukturanalyse des gesamten Transkripts zur Erfassung der thematischen Strukturierung;
  2. Satzanalyse zur Aufdeckung jener Transition relevance places, an denen die Codes sentential oder intrasentential geswitched werden;
  3. Sequenzanalyse zur Freilegung transsententieller Sinnbezüge;
  4. Interpretation der Daten vor dem Hintergrund des theoretischen Vorwissens zur Korrelation des Code-Switches mit dem Domänen-Katalog.

Die Entwicklung in der vergleichsweise isolierten Sprachinsel San Jerónimo Norte ist aufgrund ihrer Exemplarität besonders aufschlussreich. Noch zur Zeit des Eisenbahnbaus gegen Ende des 19. Jahrhunderts (gegen den die Gemeinde entschied) war Deutsch die Amtssprache, noch zur Zeit der Großeltern der befragten Gewährspersonen wurden in den Domänen Schule, Kirche, Rechts- und Verwaltungswesen Hochdeutsch, im privaten Bereich Walliser-Dialekt gesprochen.

Nach dem Verlust der deutschen Sprache in allen öffentlichen Institutionen tritt das Hochdeutsche schnell in den Hintergrund, der Dialekt bleibt Muttersprache und Familiensprache. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Homogenität der Sprachgemeinschaft intakt, aber es ist eine Frage der Zeit, bis die zunehmende ethnische Mischung und die Wahrung der Chancengleichheit zu sozialer und regionaler Mobilität den Spracherwerb der Mehrheitssprache erzwingt.

Heute wird der Walliser-Dialekt ausschließlich im privaten Rahmen gesprochen, was der Pflege schweizerischen Brauchtums und der Tradierung der Emigrationsgeschichte im kollektiven Gedächtnis der Sprachgemeinschaft kaum Abbruch tut. Mitgliedschaftsausweis ist nicht mehr in erster Linie die Sprache, der Walliser-Dialekt, sondern Herkunft und Ritualkenntnis. Neben Bilingual speakers, Semi-speakers, Nearly passive bilinguals haben auch Monolingual speakers helvetischer Herkunft Zugang zur Gemeinschaft der ehemals Deutschsprachigen. Das Sprachgemeinschaftssystem ist dadurch zunehmend heterogen, instabil und rascher Wandlung unterworfen.

Eine dazu gegenläufige Tendenz lässt indes heute die (deutsche) Sprache wieder in dem Maße zum Identitätssymbol werden, in dem ihr Gebrauch nicht zu Diskriminierung und Ausschluss aus der Gemeinschaft führt (Stichwort »Gringos«), sondern als Pflege des kulturellen Erbes Prestigefunktionen übernimmt. Stolz wird Besuchern aus dem Wallis ein petrifizierter Sprachstand demonstriert, der dort längst außer Gebrauch ist und deshalb oft aus nostalgischen Gründen positiv konnotiert ist und bewertet wird, nach dem Motto: »Hier wird ja noch der ›richtige‹, ›unverfälschte‹, ›reine‹ Dialekt gesprochen«. So wird der Tourismus und zunehmende Kontakt mit Schweizer Besuchern zu einer unvermuteten Quelle des heute dort zu beobachtenden Dialekt-Revivals: in dem Moment, in dem er in Vergessenheit zu geraten droht, werden sich die Sprecher des kommunikativen Gewinns bewusst, den sie im Kontakt mit den Touristen buchen können.

Deshalb gewinnt dieses Segment für die Sprachwahl gegenüber der Sprachpflege, dem Small Talk, dem Fluchen, dem Sprachspiel und dem rituellen Anlass bei Festen zunehmend an Boden. Die Auswertung der Netzwerk-Grafiken bestätigt den Eindruck und relativiert in spezifischer Hinsicht die Ausgangsthese vom völligen Verschwinden des Dialektes aus öffentlichen Domänen, in denen sich das Spanische zuvor in der Tat durchgesetzt hat, aber in denen es ja auch personale Interaktion (am Arbeitsplatz, im Vereinsleben, in der kirchlichen Gemeindearbeit) gibt, in der auch der Walliser-Dialekt seinen Platz behauptet.

Dies gilt jedoch nur für die ältere Generation, die eine systematische Weitergabe ihrer dialektalen Sprachkompetenz an die nächstmögliche Generation versäumt hat. Dieser Kontinuitätsbruch lässt die Entwicklung zum ›Sprachtod‹ des Walliser-Dialekts in dieser Region trotz allem als unumkehrbar erscheinen. Soweit jedoch der Dialekt noch gesprochen wird, weist er im morpho-syntaktischen Bereich zahlreiche Interferenzphänomene im Verhältnis zum Spanischen auf (z.B. Subjekt-Ellision), vom lexikalischen Bereich ganz zu schweigen, in dem viele deutsche Begriffe außer Gebrauch geraten und durch die spanischen Entsprechungen ersetzt (und allenfalls phonetisch angepasst) werden.

Die ältere Generation ist sich der Tatsache bewusst, dass ihre Entscheidung für das Spanische in der Spracherziehung ihrer Kinder den Sprachtod ihrer Muttersprache beschleunigt. Ob ihn die jüngsten Revitalisierungsanstrengungen aufgrund des vermehrten Kontakts mit Touristen aus der Schweiz aufzuhalten vermögen, muss offen bleiben und abgewartet werden.

Befunde der Sprachstandsdatenerhebung in der Fallstudie

Es muss in diesem Zusammenhang aus Raumgründen mit einem kurzen Fazit sein Bewenden haben, das die Befunde mit den Ausgangsthesen konfrontiert.

  1. Die These von der Verschiebung des Dialekt-Gebrauchs auf der Achse öffentlich-privat (also Mehrheitssprache Spanisch in allen öffentlichen Domänen, Beschränkung der Minderheitssprache Walliser-Deutsch auf den privaten Bereich): Während die Eltern der heute ältesten Generation in Schule und Kirche noch Deutsch lernten, beschränkt sich der gesteuerte Spracherwerb heute aufs Spanische. Innerhalb nur einer Generation hat sich die Situation also grundlegend gewandelt.
  2. Die These von der Kontakt-Funktion des Dialektes als Mittel der Gruppenkohäsion innerhalb der Minorität: Die Befunde sprechen dagegen – das Deutsche wird eher für den Außenkontakt mit Touristen re-aktiviert als für den gruppeninternen Gebrauch gepflegt.
  3. Die These von der Kontaktfunktion des Deutschen als Ausdruck der gemeinsamen kulturellen Identität verschiedener Kommunen deutschsprachiger Herkunft: Die Kultur-Vereine der Schweizer Kolonien San Jerónimo Norte, Esperanza, Rafaela, Franck, Rosario, Humboldt usw. organisieren regelmäßig (z.T. gemeinsame) Festanlässe, die der Pflege des Kontaktes und der gemeinsamen kulturellen Erbes dienen, das seinen Ausdruck aber weniger in der deutschen Sprache findet als in Musik und Tanz (wobei übrigens etwa auch der Zillertaler Hochzeitsmarsch, aus Tirol, mühelos integriert wird, was dann oft in eine ungezwungene Mischung aus Tiroler Musikkultur, Schweizer Tanzkultur und argentinischer Sprachkultur mündet).
  4. Die These vom Generationsbruch im Sprachgebrauch der Minderheit: in der Tat beherrscht nur noch die älteste Generation das Walliser Deutsch, die mittlere hat es in ihrer Kindheit (zuweilen als ›Geheimsprache‹ der Eltern gegenüber ihren neugierigen Kindern) gehört, aber nicht in ihren Alltag übernommen und an ihre Kinder weitergegeben. Der Sprachtod ist demnach demografisch absehbar.
  5. Die These von der Zunahme der Code-Switches aufgrund abnehmender Sprachkompetenz in der Minoritätssprache: eine logische Konsequenz aus den Beobachtungen zum Generationsbruch, zu deren linguistisch genauerer Verifikation es aber noch spezifischer Untersuchungen speziell zum interlingualen Code-Switching bedürfte.
  6. Die These vom bevorstehenden Sprachwechsel in den (ehemals) deutschsprachigen Schweizer Kolonien: die Befragung innerhalb der hier untersuchten Gemeinde stimmen darin überein, dass der komplizierte Walliser Dialekt sich authentisch nur als Mutter- oder Primärsprache erlernen lasse, weshalb in absehbarer Zeit (also innerhalb der kommenden beiden Dekaden) mit seinem endgültigen Verschwinden aus dem Alltag zu rechnen sei. Die Prognose wird durch linguistische Befunde gestützt: nach anfangs vornehmlich lexikalischen Übernahmen aus der Mehrheitssprache kommt es inzwischen zu Transfers ganzer grammatischer Strukturen in die ursprüngliche Matrixsprache. Wir diagnostizieren hier einen Widerspruch zwischen dem Bedauern über den Verlust der Muttersprache und dem Mangel an Bereitschaft zu ihrem aktiven Gebrauch.

Meine Prognose lautet daher ohne sentimentale Schnörkel, der Walliser Dialekt wird in diesen Sprachenklaven aussterben, das Deutsche als Standardsprache könnte leben – wenn, ja wenn ähnlich wie bei den Deutschstämmigen in Brasilien das höchst lebendige Bewusstsein der kulturellen Herkunft zum Impuls für eine aktive Förderung des Deutschen als Fremdsprache im Rahmen des gesteuerten Fremdsprachenerwerbs genommen würde. Ein konzertiertes Interesse daran ist freilich derzeit in der auswärtigen Kulturpolitik der Schweiz, Deutschlands, Österreichs mit bloßem Auge ebenso wenig zu erkennen wie in der Bildungspolitik Argentiniens und Brasiliens.

Anmerkungen

1  | Laut persönlicher Mitteilung von Prof. Dr. Michael Hanke vom 27. August 2010 im Zusammenhang mit seiner Berufung auf eine neueingerichtete Germanistik-Professur an der Staatlichen Universität Natal im Nordosten Brasiliens.

2  | Im Folgenden berichte ich u.a. kurz über die Ergebnisse der Vorstudien, die Sabine Rubin unter meiner Anleitung in ihrer Lizentiatsarbeit erstellt hat (vgl. Rubin 2008).

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