Berichte

Gesellschaften in Bewegung

Bericht über ein GiG-Kolloquium im Januar 2013 in Johannesburg

Ernest W.B. Hess-Lüttich

Zum ersten Mal in ihrer Geschichte veranstaltete die Gesellschaft für interkulturelle Germanistik (GiG) eine ihrer jährlichen Tagungen im südlichen Afrika, nach der Tagung in Kairo 2010 die zweite auf diesem Kontinent. Kathleen Thorpe von der University of the Witwatersrand und Carlotta von Maltzan von der University of Stellenbosch, den führenden Universitäten Südafrikas, hatten die Mitglieder der GiG und ihr zugewandte Germanisten nach Johannesburg eingeladen, um in bewegten Zeiten über das Thema Gesellschaften in Bewegung zu diskutieren.

Nachdem der Repräsentant der Hochschulleitung, Deputy Vice Chancellor Dr. Prof. Rob Moore, die Direktorin der School of Literature and Language Studies Dr. Libby Meintjes, der Kulturreferent der Deutschen Botschaft Markus Bollmohr, der stellvertretende Botschafter Österreichs und die Kongresspräsidentin Kathleen Thorpe den zahlreich erschienenen Teilnehmern ihren Gruß entboten hatten, gedachte ich als Präsident der GiG in meiner kurzen Eröffnungsansprache zunächst meines Vorgängers im Amte, des 2012 verstorbenen Salzburger Mediävisten Ulrich Müller, der die GiG über zwölf Jahre lang geleitet und auf seine Weise geprägt habe. Er sei zu jenen Germanisten zu zählen, hob ich hervor, die sich der Internationalität des Faches und der Interkulturalität seiner Gegenstände verschrieben und weit über seine Grenzen gewirkt haben. Ich rief dazu auf, Ulrich Müllern, dem Kenner der Musik und kulinarischen Connaisseur, dem Oswald-von-Wolkenstein-Spezialisten und weltläufigen Gelehrten, ein ehrendes Gedenken zu widmen.

Reminiszenzen Ein persönliches Wort zum Auftakt

Gesellschaften in Bewegung – das sind Menschen in Bewegung, »people in motion«, wie es in der alten Weise heißt. Der Kultsong von Scott McKenzie kam 1967 heraus, erinnerte ich nicht ganz frei von einem Anflug nostalgischen Timbres in der Stimme, »people in motion«, der Song aus der Zeit meiner flamboyanten Jugend, inspiriert von der sanft-beschwingten flower power-Bewegung in San Francisco und Swinging London, für die Jungen unter den Teilnehmern gewiss so fern wie die Zeit der Punischen Kriege, ein Song, der alsbald zur Fanfare einer globalen Bewegung werden sollte, vor 46 Jahren, heute läuft er in den Radio-Programmen der Klassik-Sender:

If you’re going to San Francisco

Be sure to wear some flowers in your hair

If you’re going to San Francisco

You’re gonna meet some gentle people there

For those who come to San Francisco

Summertime will be a love-in there

In the streets of San Francisco

Gentle people with flowers in their hair

All across the nation such a strange vibration

People in motion

There’s a whole generation with a new explanation

People in motion people in motion

Menschen sind immer in Bewegung, seit die Jäger und Sammler ihren Herden folgten, bis zum Mobilitätskollaps in den Megacities heute, in denen die Bewegung jäh wieder zum Stillstand kommt. Dann stehen die Menschen im Stau und greifen panisch zu ihren stets griffbereiten cell-phones und surfen weiter in den Netzen, nur kein durch beschleunigte Bewegung verordnetes Innehalten, »Weiter im Text [...]. Man kippt nicht gleich: weiter, weiter / im Text ohne aufzugeben«, wie Karl Krolow (1915–1999), der bedeutende Lyriker und Übersetzer, in einem seiner schönsten und traurigsten Gedichte schrieb, people in motion.

Weiter im Text

Dies und das mußte ich tun.

Das sagt sich leicht.

Ich tat einiges und merkte es nicht.

Genug, genug.

Ich stolpere

im Regen oder Licht,

im Kopf nichts anderes

als langsames Dunkel.

Man kippt nicht gleich: weiter, weiter

im Text ohne aufzugeben.

Manchmal finden bewegte Menschen zu Bewegungen zusammen, zur flower power-Bewegung, zur Studenten-Bewegung, zur Arbeiterbewegung, zur 1968er-Bewegung, zur Frauenbewegung, zur Anti-AKW-Bewegung (gegen die Atomenergie), zur Friedensbewegung (Ostermärsche), zur Schwulen-Bewegung (gay liberation), zu Befreiungsbewegungen, wo immer Befreiung nottut, zur slow-food-Bewegung, zu den Bewegungen all der ikonisierten Orte vom Tiananmenplatz bis zum Tahrir- oder Taksim-Platz (Menschenrechte in China? Demokratie im Nahen Osten? Türkei zu Europa? Chancen vertan, Träume geplatzt).

Jede Bewegung hat ihre eigene Sprache, die Sprache der Minderheiten, und sie verändert die Sprache der Mehrheit. People in motion. Einst habe ich sie erforscht, die Sprache der flower power people, der Hippies, Yippies und Diggers, der Mods, Rockers, Hells Angels, heavy metal freaks, der Skinheads, Teddy-boys, Greasers, Gothics, der Crombies, Kabouters und Kommunarden, der Müslis und Spontis, der Rollers, Rastafarians, Ravers, Rockabillies, der Parkers, Provos, Punks und Poppers. Und derer, die ihnen folgten in den Gezeiten der Gazetten. Der Subkulturen aller Art und Couleur, selten war ich ein Teil von ihnen, meist beobachtete ich sie nur in kritischer Distanz und beschrieb die Formen ihres Umgangs, wie sie sich ausdrückten durch ihre Sprache als Ausweis der Mitgliedschaft in einer Bewegung und abgrenzten von denen, die nicht mitmachen wollten, oder sollten. Oft schufen sie ihre eigenen Formen des Ausdrucks, prägten ihre eigenen Stile, gründeten ihre eigenen Medien, und im Glücksfalle wurde daraus – Literatur.

Irgendwann wurden sie selbst zur Mehrheit, brachten ihre Gesellschaften in Schwung, bewegten sie in die eine oder andere Richtung, die richtige Richtung, manchmal, oft auch die falsche, und oft weiß man erst hinterher, ob die Bewegungsrichtung gut war oder schlecht, manchmal aber weiß man’s auch vorher schon besser, und kann nichts tun, wenn man nicht Teil ist einer eigenen Bewegung dagegen, einer Gegen-Bewegung.

So wogen sie hin und her im Rhythmus der Evolution und Geschichte, manchmal scheinen die Bewegungen sich zu überschlagen, sie stülpen sich auf zu Umsturz und Revolution, manchmal scheinen sie zu erstarren für lange Zeit, aber wenn sie zu lang wird, die Zeit, und bleiern zerdehnt, fängt irgendwer irgendwann wieder an, bewegt andere, die viele bewegen, bis sie Bewegung werden und sich nicht mehr aufhalten lassen, durch Gewehre nicht und nicht durch Strafen. Und immer gibt es welche, die Zeugnis ablegen, die Sänger und Chronisten, Journalisten und Literaten, die Menschen wie Du und ich, die sms und tweets versenden, blogs und Reportagen schreiben, Pamphlete, Flugblätter, Aufrufe, Manifeste, Features und Docu-Dramas, Gedichte und Romane.

All dies und noch viel mehr miteinander zu bereden, sind wir in der dem Thema angemessenen ambiance zusammengekommen, der turbulent-bewegten Metropole Johannesburg, und dort in einer Oase im Zentrum des Trubels, im Locus amoenus des Tagungszentrums der University of the Witwatersrand, in dörflich-weißen Gebäuden, im kap-holländischen Stile restauriert und um den Anger gruppiert, um uns gegenseitig zu erzählen von unseren Einsichten und Erkenntnissen. Und weil wir alle Germanisten sind, war es die Sprache und die Literatur, der wir uns widmeten in der Bewegung zwischen den Kulturen, mit europäischem Blick auf Afrika, mit afrikanischem Blick auf Mitteleuropa, im Wechselblick der Perspektiven, und im Respekt vor der jeweiligen Position des Anderen, auch da, wo wir Kritik übten im Geiste des offenen Wortes unter Freunden.

Ein Wiedersehen mit Freunden war es für mich allemal, nach mehr als einem Dutzend ausgedehnten Besuchen in diesem Land, mehr als zwei Dutzend auf diesem Kontinent, zu dem es mich magisch immer wieder zu ziehen scheint, obwohl ich vieles, was ich sah und sehe, kritisch kommentiere und ohne irenische Umschweife beschrieben habe. Aber meine Freunde in Afrika sehen es mir nach, wenn mein sense of humour zuweilen zur sarkastischen Seite kippt, weil sie wissen, dass auch harte Diagnosen aus Empathie erwachsen können, ja, aus Sympathie und solidarischer Neugier, immer bereit, sich selbst eines Besseren belehren zu lassen und Neues zu lernen.

Dies wünschte ich den Kollegen in den drei, vier Tagen unseres Treffens, offen zu sein für Neues und Neues zu teilen, mitzuteilen den anderen im Gespräch über Fachgrenzen und Kulturgrenzen und was für Grenzen auch immer hinweg, denn Wissenschaft, sagte schon der Physiker Hans Heisenberg, »Wissenschaft entsteht im Gespräch«. –

Das Treffen wurde eröffnet durch einen Plenarvortrag von Gunther Pakendorf (Kapstadt), der unter dem Titel Vom Nutzen der Geschichte in Zeiten des Umbruchs das Werk des Historikers Hermann Giliomee würdigte, über dessen 2003 in erster Auflage erschienenes Monumentalwerk The Afrikaners. Biography of a People 2003 im Zusammenhang mit der Neubewertung der südafrikanischen Geschichte und der Legitimationskrise der afrikaanssprachigen Weißen sogleich heftig debattiert wurde. Das Ende der Apartheid war noch lebhaft in Erinnerung. Insbesondere der afrikaanssprachige Teil, der seine Machtansprüche in den Dekaden zuvor noch mit großem ideologischem Aufwand zu rechtfertigen suchte, sie jedoch nur noch mit zunehmender Gewalt aufrechterhalten konnte, empfand den Verlust von Einfluss und Ansehen als existentiell bedrohend. Viele wanderten aus, eine Wahrheitskommission untersuchte die Verstöße gegen die Menschenrechte und die Rolle der reformierten Kirche in der Zeit der Apartheid, in afrikaanssprachigen Zeitungen wurden scharfe Auseinandersetzungen geführt über die Zukunft der afrikaansen Sprache, eine Debatte, die z.T. bis heute anhält (auch an meiner ›zweiten‹ Alma Mater, der Universität von Stellenbosch).

Nach diesem Auftakt, der gerade für die Gäste aus Übersee eine gute Einführung in den Kontext des Ortes ihres Treffens bot, teilte das Programm sich auf in drei parallele Stränge, deren Fragestellungen die beiden Organisatorinnen in ihrer Einladung so beschrieben hatten:

Sektion 1: Aufstände und Umbrüche

Wie werden Aufstände, Rebellionen, Revolutionen, Systemwechsel und Umbrüche in Gesellschaften in der Literatur und in den Medien reflektiert und bewertet? Welchen Beitrag leisten Texte, Filme und andere Medien in gesellschaftlichen Veränderungsprozessen? Wie können Nationalismen, Internationalismen und Globalisierungsprozesse literarisch und begrifflich gefasst werden?

Sektion 2: Afrika in Europa – Europa in Afrika

Welcher Austausch ist zwischen Afrika und Europa in der Literatur und in den Medien zu beobachten? Welche Verflechtungen sind zu beobachten? Bedeutet die Globalisierung das Ende der Postkolonialität? Wie werden Identifizierungen zu Identitätskonstruktionen? Wie werden diese diskursiv umgesetzt?

Sektion 3: Sprachen in Bewegung

Welche Rolle spielen Sprachen für die Konstruktion von Identitäten in mehrsprachigen Kontexten? Welchen Stellenwert haben Übersetzungen? Wie verändern sich Sprachen und was sagen sie über die jeweiligen gesellschaftlichen Prozesse aus? Wie steht es mit dem Beziehungsgeflecht von Sprachen, wie sind Sprachimporte und -exporte zu fassen?

Aufstände und Umbrüche

Die erste Sektion wurde eröffnet von Leyla Coşan (Marmara Üniversitesi Istanbul) mit einen Referat über den 1936 erschienenen Roman Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt von Stefan Zweig. Unter dem Titel »Die Mücke gegen den Elefanten« oder das Individuum gegen Staatsgewalt untersuchte sie Zweigs Ansatz, anhand der Biografie von Castellio (einem mittellosen Humanisten des 16. Jahrhunderts), der sich gegen geistige Tyrannei, Fanatismus und Diktatur auflehnte, den aussichtslosen Widerstand eines Einzelnen gegenüber einem Staatsapparat zu veranschaulichen, was natürlich auf den Faschismus seiner Zeit zielte. – Sayed Hammam (Al-Azhar University Cairo) beschrieb anschließend den Einsatz neuer Kommunikationsmittel und sozialer Medien wie Facebook und Twitter zur Mobilisierung der Kritiker des Mubarak-Regimes in der ägyptischen Revolution vom 25. Januar 2011. – Nahla Hussein (Helwan University Cairo) verglich die beiden Romane In Zeiten des abnehmenden Lichts (2011) von Eugen Ruge und Die Agenda von Sayed El-Ahl (2011) von Ahmed Sabry Abu El-Fotouh im Hinblick auf ihre literarische Verarbeitung der Umstände, die in 1989 zum Untergang der DDR und 2011 in Ägypten zum Sturz des Mubarak-Regimes führten. – Manar Omar (Helwan University) fragte anhand von literarischen Beispielen wie Uwe Timms Roman Der Freund und der Fremde (2005) nach den Gemeinsamkeiten zwischen dem Deutschen Benno Ohnesorg, dem Tunesier Mohammad Al-Bouazizi und dem Ägypter Khaled Said in ihrer Bedeutung als Symbolfiguren der 1968er-Studentenbewegung einerseits und des sog. Ägyptischen Frühlings andererseits.

Am folgenden Tag wurde die Sektion fortgesetzt mit einem Vortrag von Rolf Annas (University of Stellenbosch) über Südafrikanische Kinder in Zeiten des Umbruchs, in dem er die unterschiedlichen Lebenserfahrungen im Hinblick auf Zugehörigkeit und Erfahrungen des Anderen im Kontext einer erzwungenen kulturellen ›Homogenität‹ untersuchte anhand von drei Texten aus der Kinder- und Jugendliteratur: Meine Mutter war eine schöne Frau, ein Comic-Roman von Karlien de Villiers, in dem sie die Geschichte der kleinen (weißen) Karla und ihrer Familie bis zum Ende der Apartheid darstellt, Long Walk to Lavender Street. A Story from South Africa von Bellinda Hollyer, die sich mit den Auswirkungen des Group Areas Act auf eine ›gemischte‹ Familie befasst und Journey to Jo‘burg. A South African Story von Beverley Naidoo, die die Erfahrungen der kleinen Naledi aus einer Township für Schwarze nahe Johannesburg schildert. – Pradnya Bivalkar (z.Zt. Universität Tübingen) ging der Frage nach, welche Assoziationen Begriffe wie ›Nation‹ oder ›Nationalismus‹ in einem so multikulturellen und polylingualen Land wie Indien auslösen und trug dafür Beispiele aus Texten von Günter Grass, V.S. Naipaul, Sashi Tharoor und Ilija Trojanow zusammen, in denen Umbrüche, Systemwechsel, Aufstände in Indien literarisch reflektiert werden. – Sibèle Paulino (Universidade Federal do Paraná, Curitiba/Brasilien) behandelte in ihrem Beitrag den Roman Tropen (1915) von Robert Müller, in dem eine Expedition von Abenteurern geschildert wird, die am Anfang des 20. Jahrhunderts im Amazoniengebiet Zeuge eines indianischen Aufstands werden. Dieser historisch nicht belegbare Aufstand sei ein Symbol der Nervosität der Europäer angesichts von bevorstehenden Umbrüchen in Zeiten kolonialistischer Spannungen.

Unter dem lapidaren Titel Frauen und Politik schilderte Nazire Akbulut (Gazi Üniversitesi Ankara) die politischen Umbrüche nach der Ablösung des Osmanischen Reiches durch die Gründung der Republik 1923 und die gesellschaftspolitischen Reformen Mustafa Kemal Atatürks, wie sie in Autobiografien türkischer Autorinnen (wie Sevim Belli oder İsmet Kür) behandelt werden. – Den Frauen in Bewegung war auch der Beitrag von Kathleen Thorpe gewidmet, in dem sie der Frage nachging, ob und inwieweit die Frauenbewegung und ihre feministischen Anliegen in der Gegenwartsliteratur von Autorinnen noch eine Rolle spielen. – Aktuelle Literatur interessierte auch Antoaneta Mihailova (Süd-West-Universität Neofit Rilski, Blagoevgrad/Bulgarien), die die Romane Fast ein bisschen Frühling (2004) und Reisen im Licht der Sterne. Eine Vermutung (2007) des Schweizer Schriftstellers Alex Capus interpretierte.

Am Nachmittag setzte Anette Horn (University of the Witwatersrand, Johannesburg) das Sektionsprogramm fort mit ihrem Beitrag über Antje Rvic Strubels neuen Post-Wende-Roman Sturz der Tage in die Nacht (2011). – Hans-Christoph Graf von Nayhauss (PH Karlsruhe) lieferte in seinem Blick auf die Literatur nach der Wende 1989 dazu den Kontext. – Wendezeiten anderer Art widmete sich Beate Laudenberg (PH Karlsruhe), die am Beispiel der ›Heimat‹-Gedichte von Cyrus Atabay, May Ayim, Zehra Cirak, Nevfel Cumart, Aysel Özakin und Yoko Tawada die Entwicklung der Immigrantenlyrik und ihrer Poetik bis in die Gegenwart hinein nachzeichnete.

Unter dem Titel Postkolonialismus, Hybridität und Subversion spürte Akila Ahouli (Université de Lomé/Togo) dem subversiven Potenzial kolonialer Identitäten in Heinrich von Kleists Novelle Die Verlobung in St. Domingo (1811) nach. – Peter Horn (University of the Witwatersrand) las Kleists politische Schrift Katechismus der Deutschen (1809) vor dem Hintergrund des politischen Umbruchs durch die französische Revolution und die napoleonischen Kriege, eine Zeit, in der ein deutscher Nationalismus entsteht, der keine politische Realität spiegelt, aber in Texten von Kleist, Fichte, Körner literarischen Ausdruck findet. Auf diesen Nationalismus, der eher eine Ähnlichkeit mit den antikolonialen Befreiungskriegen des 20. Jahrhunderts habe, berufe sich zu Unrecht der wilhelminische Nationalismus des 19. Jahrhunderts und der Nationalsozialismus des 20. Jahrhunderts, während für Kleist eher die Volksaufstände und der Guerillakrieg in Tirol und Spanien Vorbild gewesen seien. – Auf die Französische Revolution reagierten deutsche Autoren sehr unterschiedlich: Zu den Gegnern des Umsturzes gehörte Goethe, der die Ereignisse des Jahres 1789 und ihre Folgeerscheinungen in zahlreichen Werken behandelt hat, darunter das bis heute kaum rezipierte Lustspiel Der Bürgergeneral (1793), auf das sich Stefan Hermes (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) in seinen Überlegungen zum intrikaten Zusammenhang von politischer Revolutionskritik einerseits und literarischer Komik andererseits bezog.

Zeitlich parallel zu diesen drei Beiträgen interpretierte Max Florian Hertsch (Hecattepe Üniversitesi Ankara) im Raum nebenan Zülfü Livanelis Buch Glückseligkeit (2008) als Darstellung eines Emanzipationsversuchs der Protagonistin von konservativer Familie und religiösem Normenkorsett. – Ali Osman Özturk (Konya Üniversitesi) betrachtete die orientalisch-exotischen Bilderproduktionen der Neuruppiner Druckereien (in Brandenburg-Preußen) und fragte danach, welche Reaktionen die positivistischen Kontroversen um die evolutionstheoretischen Ansätze im 19. Jahrhundert in der Bevölkerung ausgelöst haben mögen. – Ewald Reuter (Universität Tampere/Finnland) unterzog die Reorganisation der Universitäten nach dem Vorbild von Wirtschaftsunternehmen (im Zuge der sog. Bologna-Reformen) und die Methoden ihrer kommunikativen Durchsetzung einer kritischen Analyse.

Der dritte Tag begann in der ersten Sektion mit einem Vortrag von Simplice Agossavi (Université d’Abomey-Calavi, Cotonou/Kamerun), der sich den Roman Mit der Geschwindigkeit des Sommers (2009) von Julia Schoch vornahm, der vor dem Hintergrund der ›Wende‹ und der Auflösung der DDR spielt. – Withold Bonner (Universität Tampere) ging den unterschiedlichen Konstruktionen von ›Heimat‹ nach in Texten der kommunistisch-jüdischen Emigrantin Hedda Zinner, die 1945 aus dem sowjetischen Exil in die sowjetische Besatzungszone zurückgekehrt war, von Christa Wolf, die sich seit der Flucht aus Landsberg/Warthe 1945 immer wieder mit ihren Heimatkonstruktionen befassen musste, und von Jenny Erpenbeck, der Enkelin von Hedda Zinner, deren Roman Heimsuchung den Leser auch nach Südafrika führt. – »Bewegung« und/als Inversion bei Yoko Tawada und Hans Christoph Buch als zwei sehr unterschiedlichen Repräsentanten interkultureller Literatur war das Thema von Dieter Heimböckel (Universität Luxemburg), der damit eine Schreibweise untersuchte, die, wie er sagte, die Bewegung in Form der Grenzüberschreitung ästhetisch interiosiere bzw. einer Inversionslogik unterziehe, mit der das Vertraute fremd und das Fremde vertraut gemacht werde. – Anhand von zwei politisch engagierten Prosatexten des deutschsprachigen Autors bulgarischer Herkunft Ilija Trojanow – Hundezeiten (1999) und Angriff auf die Freiheit (2009, zusammen mit Juli Zeh) – wies Kalina Minkova (Süd-West-Universität Neofit Rilski) auf die Verwerfungen und neuen Gefährdungen der mittelosteuropäischen Demokratien nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Hegemonialanspruchs im ehemaligen Geltungsbereich des Warschauer Pakts hin.

Kaum ein Regisseur hat die gesellschaftlichen Veränderungen im Gefolge der Arbeitsmigration und die Entstehung türkischer ›Parallelgesellschaften‹ in den deutschen Metropolen so bewegend genau ins Bild gesetzt wie der deutsch-türkische Filmemacher Thomas Arslan. Seinen Film Geschwister (1996/97) nahm Mahmut Karakuş (Istanbul Üniversitesi) als Beispiel für die Ausbildung ›multipler Identitäten‹ und die ›Repräsentation von Alterität‹ innerhalb von deutsch-türkischen Familien. – Gesellschaftlichen Umbrüchen galt auch das Interesse von Meher Bhoot (University of Mumbai/Indien), die anhand des Films Der Baader Meinhof Komplex (2008) die Bedeutung des Terrors der sog. RAF (Rote Armee Fraktion, die Deutschland fast ein Jahrzehnt lang in Angst und Schrecken versetzte) aus postkolonialer Sicht zu bewerten und Terrorismus in terminis von Kategorien wie Identität, Nation und Heimat(-losigkeit) zu untersuchen vorschlug. – Dieselbe Terror-Gruppe hat Spuren u.a. auch in der schwedischen Gegenwartsliteratur hinterlassen, wie der Beitrag von Magnus Pettersson Ängsal (Göteborgs Universitet) zeigte, etwa in den Unterhaltungsromanen Den demokratiske terroristen [›Der demokratische Terrorist‹] von Jan Guillou (1987) und En annan tid, ett annat liv [›Eine andere Zeit, ein anderes Leben‹] von Leif G.W. Persson (2003) oder im polyphon erzählten Roman Theres von Steve Sem-Sandberg (1996).

Unter dem Titel Narratologie des Unfassbaren untersuchte Theo Elm (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) den Niederschlag des Terrors und Völkermords in Ruanda in Romanen und Erzählungen wie jenen von Andrew Miller (Die Optimisten), Gil Coutemanche (Ein Sonntag am Pool in Kigali), Rainer Wochele (Der General und der Clown) oder Hans Christoph Buch (Kain und Abel in Afrika). – Einen ähnlichen Ansatz verfolgte Anushka Gokhale (University of Mumbai) mit ihrer Analyse der Darstellung des indischen Aufstandes von 1857 gegen die britische Kolonialherrschaft im historischen Roman Wer Dornen sät (1997) von Rebecca Ryman. – Volksaufstände und Bürgerkriege waren auch das Thema von Paulo Soethe (Universidade Federal do Paraná). Ausgehend von Paul Michael Lützelers vielbeachteter Studie Bürgerkrieg global (2009) stellte er Bürgerkriege in Brasilien aus der Wende zum 20. Jahrhundert vor, deren literarischer Niederschlag im deutschsprachigen Raum erst in neuerer Zeit im Medium der literarischen Übersetzung beachtet wurde. Dabei ging es um religiös-utopisch motivierte Volksaufstände wie denen in der Stadt Canudos im Bundesstaat Bahia, die den Stoff für Werke wie Der Krieg am Ende der Welt (1981, dt. 1982) von Mario Vargas Llosa oder Krieg im Sertão (1902, dt. 1994) von Euclides da Cunha lieferte. Auch ein Aufstand im Gefolge der deutschen Immigration in Brasilien wurde in einem Roman dargestellt: in Videiras de cristal (1986, dt. Reben aus Glas, noch unübersetzt) von Luiz Antonio de Assis Brasil. – Unter dem Titel Trauma, Stigma, Völkermord. »Zigeuner« als Grenzfiguren im kollektiven Gedächtnis und am Beispiel des von Dani Karavan entworfenen Mahnmals für die ermordeten Roma (2008) am Berliner Reichstagsgebäude, Elfriede Jelineks Stecken, Stab und Stangl (1997), Richard Wagners Das reiche Mädchen (2007) und Martin Walsers Armer Nanosh (1989) diskutierte Herbert Uerlings (Universität Trier) zum Abschluss der ersten Sektion Fragen der Notwendigkeit, Chancen und Risiken für eine erinnerungspolitische Neuverhandlung von Trauma, Stigma und Schuldabwehr bei der Darstellung des Völkermords der Nazis an den Roma.

Afrika in Europa – Europa in Afrika

Die zweite Sektion wurde eröffnet von Julia Augart (University of Namibia, Windhoek) mit einem Beitrag über Das mediale Afrika, in dem sie die Darstellung Afrikas in Reportagen ausgewiesener Afrika-Journalisten (wie Bartholomäus Grill, Michael Bitala, Marc Engelhardt, Wim Dorenbusch) vorstellte, die in ihren aktuellen Büchern ein kreativ-innovatives Afrikabild jenseits der stereotypen Katastrophenklischees zu zeichnen streben. – Dazu ist auch die Arbeit des koreanischen Arztes Lie Tae-sok zu zählen, der zwischen 2001 und 2010 im Geiste Albert Schweizers im vom Bürgerkrieg destabilisierten Südsudan Aufbauarbeit zu leisten suchte. Ihmku Kim (Seoul National University) erinnerte anhand von Berichten und Predigten an den 2010 mit nur 48 Jahren verstorbenen Humanisten. – Aleya Khattab (University Cairo) hob die Bedeutung der Reiseaufzeichnungen des Schweizer Afrikaforschers Johann Ludwig Burckhardt (1784–1817) hervor, der im Auftrag der African Society als indo-arabischer Kaufmann getarnt 18 Jahre lang Ägypten, Nubien, Syrien, Palästina und Arabien (Hedjaz) bereist hat.

Ralf Hermann (University of the Witwatersrand) konnte daran anschließen mit seinen Überlegungen zur Konstruktion des ›Hottentotten‹ in der philosophischen Anthropologie der Aufklärung anhand von europäischen Reiseberichten über die Khoisan-Völker des südlichen Afrika. – Kate Roy (University of Liverpool) interessierten die Neukonfigurationen der Memoiren einer arabischen Prinzessin (1886) von Emily Ruete (geb. als Sayyida Salme, Tochter des Sultans von Oman und Sansibar) in neueren historischen Afrika-Romanen, in denen sich die orientalische Prinzessin entweder zur einheimischen (d.h. afrikanischen) Informantin oder zur umstrittenen kolonialen Schnittstellenfigur wandelt. – Vor dem Hintergrund der Kontroverse um Senait Meharis autobiografischem bzw. autofiktionalem Roman Feuerherz ging Gerda Wittmann (North-West University Potchefstroom/Südafrika) der Frage nach, inwieweit sich der Text unabhängig von der Frage seiner Authentizität stellvertretend als kollektive Geschichte der weiblichen Kindersoldaten des Bürgerkriegs in Eritrea interpretieren lasse.

Am Beispiel von Abdourahman Waberis Roman Tor der Tränen suchte Nadjib Sadikou (Eberhard-Karls-Universität Tübingen) auszuloten, wie dort Identitätskonstruktion, Gesellschaftskritik und literarisch-kulturelle Verflechtungen so modelliert werden, dass die Konfluenz zwischen Europa und Afrika verdeutlicht wird. – Marianne Zappen-Thomson (University of Namibia) ging anhand von Presseberichten, Fernsehfeatures, fiktionalen Texten und Filmen dem Verhältnis zwischen Namibia und Deutschland, zwischen dem ehemaligen Deutsch-Südwestafrika und dem deutschen Kaiserreich seit dem 19. Jahrhundert nach und fragte danach, was diese Geschichte heute für die sog. deutschstämmigen Namibier bedeute und was die junge Generation über ihre Identität und Kulturzugehörigkeit vor dem Hintergrund der Kolonisierung und der Apartheidszeit zu erzählen habe. – Die jüngste Geschichte Namibias bot auch Carlotta von Maltzan (University of Stellenbosch) die Folie für ihren Vergleich der aktuellen Kriminalromane Geiers Mahlzeit (2007), Die Stunde des Schakals (2010) und Steinland (2012) von Bernd Jaumann im Hinblick auf die Frage, wie dort politische Umwälzungen für einen kriminalistischen Plot funktionalisiert werden.

Mit einer Analyse afrikanischer Literatur aus deutschsprachiger Perspektive und deutschsprachiger Literatur aus afrikanischer Sicht suchte Lacina Yéo (Université de Cocody-Abidjan) den interkulturellen Dialog zwischen Subsahara-Afrika und dem deutschsprachigen Raum zu erkunden. – Ein ähnliches Ziel verfolgte Manfred Durzak (Universität Paderborn) mit seiner Lektüre des Afrika-Romans Im Kongo von Urs Widmer, worin dieser neben die negativ akzentuierte Wahrnehmung des kolonial ausgebeuteten Afrika bei Joseph Conrad (Herz der Finsternis) eine naturgeschichtliche Utopie zu stellen sucht, die allerdings im gegenwärtigen Zustandsbild Afrikas keine Entsprechung mehr finde. – Von Widmers Schweizer Afrika-Phantasie bis zu Stephan Wackwitz’ deutschem Familienroman Ein unsichtbares Land werden in zahlreichen Texten der Gegenwartsliteratur Kolonialgeschichte(n) verhandelt, in denen nach der Auffassung von Matthias Lorenz (Universität Bern/Schweiz) freilich oft ein nur europäischer, zuweilen spezifisch nationaler (schweizerischer, deutscher, österreichischer) Blick auf den Kontinent und seine Menschen geworfen werde. Demgegenüber habe Hans Christoph Buch sich mit seinem Roman Sansibar Blues zwei indigene Perspektiven erschrieben: die des omanischen Sklavenhändlers Tippu-Tip und der sansibarischen Sultanstochter Sayyida Salme alias Emily Ruete. In seinem Vortrag rekonstruierte Lorenz, wie der Autor in seinem literarischen Verfahren eine Gegenperspektive zur europäischen fingiere, und vergleicht es mit dem von Christian Kracht, wenn er in seinem Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten indigene Figuren erzählen lässt.

Sprachen in Bewegung

Die dritte Sektion versammelte die Beiträge aus dem Bereich der germanistischen Sprach-, Medien- und Übersetzungswissenschaft. Den Anfang machte Jacqueline Gutjahr (Universität Göttingen) mit ihrem Vortrag über Poetische Übersetzungsprozesse und mediale Übergänge bei Yoko Tawada. – Andreas F. Kelletat (Johannes-Gutenberg-Universität Mainz) plädierte für einen neuen Umgang mit der disziplinsystematischen Verortung der Reflexion von Übersetzungen literarischer Texte aus anderen Sprachen ins Deutsche. – Yeon-Soo Kim (Ewha Institute for the Humanities Seoul) befasste sich in ihrem Vortrag mit der kulturellen Wirkung literarischer Übersetzungen anhand der koreanischen Rezeption der Dramen Ibsens (Nora, Ein Puppenheim) im Kontext Ostasiens. – Manfred Weinberg (Karls-Universität Prag) stellte Autoren der Prager deutschen Literatur als (kulturelle) Übersetzer vor und hob im Anschluss an Eduard Goldstücker ihre »kulturelle Vermittlerrolle zwischen Tschechen und Deutschen« hervor.

Christine Andersen (Göteborgs Universitet) berichtete über ein Projekt zur Sprachstandserhebung in Sprachgemeinschaften deutschsprachiger Minderheiten in Russland (russkie nemzy, sog. Russlanddeutsche), in dem insbesondere den Sprach- und Identitätswechsel deutschstämmiger Frauen in den sibirischen Dorf Krasnoyarsk beobachtet wird. – Andrea Bogner und Barbara Dengel (Universität Göttingen) untersuchten wissenschafts(-sprach-)kulturelle Identitäten in mehrsprachigen Konstellationen, um zu klären, welche Strategien und Möglichkeiten der Übersetzung dabei zum Einsatz kommen, welche Veränderungen Konzepte von Wissenschaft(-lichkeit) in diesen ›wissenschaftsmigratorischen‹ Prozessen erfahren und welche Möglichkeiten anderer als monolingualer Praxen sich daraus für die Wissenschaftskommunikation entwickeln lassen. – Joseph Mbongue (Université de Yaoundé/Kamerun) informierte über die komplexe Sprachvielfalt in seinem Land, in dem ›kleinere Sprachen‹ sich gegenüber ›größeren‹ zu behaupten suchen. – Astrid Starck-Adler (Université de Haute Alsace, Mulhouse) suchte nach Spuren des Jiddischen im vielsprachigen Südafrika.

In seinem Plädoyer für eine Integration literarischer Texte in die Vermittlung des Deutschen als Fremdsprache im frankophonen Kontext des Sub-Sahel warb Jean-Claude Bationo (Université de Koudougou) für die Entwicklung einer Didaktik der literarischen Übersetzung. – Knuth Noke (Goethe Institut Johannesburg) beschäftigte sich mit der Praxis der Mehrsprachigkeit und den Möglichkeiten ihrer Förderung. – Dakha Deme (Université Cheikh Anta Diop de Dakar/Senegal) engagierte sich für die Förderung afrikanischer Kultursprachen (wie Bamanan, Fulfulde, Kiswahili) als Linguae francae neben den Kolonialsprachen (Englisch, Französisch, Portugiesisch) in den Großregionen des Kontinents. – Mamadou Diop (Université Cheikh Anta Diop de Dakar) spezifizierte dieses Problem am Beispiel des Wolof in seinem vielsprachigen Land. – Am Beispiel des Sprechverhaltens von Deutschstudenten in Äthiopien untersuchte Jana Zehle (Addis Ababa University/Äthiopien) den Registerwechsel (language crossing, code switching) in der Praxis mehrsprachiger Konstellationen.

Michael Szurawitzki (Ludwig-Maximilians-Universität München) stellte die Resultate lexikologischer Beobachtungen zum Nebeneinander deutscher, schwedischer und englischer Lexeme in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Die Bergwerke zu Falun vor und fragte nach den Besonderheiten ihrer morphologischen Integration. – Arata Takeda (University of Chicago) entwarf die ambitionierte Vision einer mehrsprachigen Literatur- und Kulturdidaktik für Einwanderungsgesellschaften. – Waldo Grové (University of Pretoria/Südafrika) skizzierte Hugo Loetschers Sprachtheorie und deren Umsetzung in dessen Roman Der Immune.

Safiye Genç (Marmara Üniversitesi, Istanbul) beschrieb das seit kurzem in den Medien popularisierte sog. Kiezdeutsch türkischer Jugendlicher in Berlin eher affirmativ als neuen Ethnolekt, der der sprachlichen Verarbeitung sozialer Erfahrung diene. – Auch Eckra Lath Toppé (Université Bouaké/Côte d’Ivoire) bezog sich auf den Zusammenhang von sprachlicher Identität und sozialer Erfahrung, wenn auch anhand eines ganz anderen Beispiels, nämlich des Übergangs vom Lateinischen zum Deutschen in Zeugnissen des Humanismus. – Vor der Folie solcher Standardisierungsprozesse im Mitteleuropa des 15. Jahrhunderts (im Gefolge von Luthers Bibelübersetzung) betrachtete Mohammed Laasri (Université Fes/Marokko) der gegenwärtigen Globalisierung geschuldete Bestrebungen zur Standardisierung des Hocharabischen hinsichtlich ihrer syntaktischen, stilistischen und lexikalischen Folgen.

Auf Arabisch beten Muslime in allen Teilen der Welt, weil es die Sprache des Korans ist, der den Menschen von Allah als ›Urbuch‹ (Sure 13:39) gesandt sei, um »diejenigen, die freveln, zu mahnen« (Sure 46:12). Michael Fisch (Helwan University) fragte nun, ob daher die Kenntnis des Arabischen die Voraussetzung dafür sei, die Botschaft des Buches (»al-kitâb«) zu verstehen, oder ob dazu die Lektüre einer Übersetzung genüge. Die Frage blieb offen, aber hier müsste eine historisch-kritische Koran-Philologie an- und einsetzen, die bis heute Desiderat ist.

In einer thematisch eher bunten Sitzung zum Abschluss dieser Sektion ging Hasibe Kalkan Kokabay (Istanbul Üniversitesi) am Beispiel des 2010 entstandenen interkulturellen Stücks Verrücktes Blut der Frage nach, welche Rolle das Berliner Ballhaus Naunynstraße bezüglich der Entwicklung neuer Sprachräume im Theater einnimmt und wie dieses Stück rezipiert wurde, um schließlich eine Antwort darauf zu finden, welche Identitätsmodelle diese ›transkulturelle Spielstätte‹ mit ihren Produktionen entwirft. – Svetlana Jurjevna Potapova (Wirtschaftshochschule Jaroslawl/Russland) erläuterte die Spitznamen bekannter deutscher Politiker.

In seinem Vortrag über Sprachliche Bildung und berufliche Integration afrikanischer Flüchtlinge in Deutschland knüpfte Ernest W.B. Hess-Lüttich (Universität Bern) an seine empirischen Erhebungen zur Fortbildung studienberechtigter Immigranten und an frühere Überlegungen zur Konzeption von DaF-Curricula für sog. Kontingentflüchtlinge aus Afrika an und seine daraus abgeleiteten (aber seinerzeit folgenlosen) Forderungen nach einem für alle Immigranten verpflichtenden Sprachunterricht zur Verbesserung ihrer Chancen für eine berufliche Integration. Erst nach der Verabschiedung eines Einwanderungsgesetzes (2005) wurde ein obligatorisches Angebot von Sprach- und Integrationskursen für Einwanderer und bereits in Deutschland lebende Ausländer aufgebaut, das einer aktuellen OECD-Studie (2012) zufolge Erfolge zu verzeichnen beginnt. Angesichts von Plänen der konservativen Regierung zur drastischen Kürzung der Mittel für diese Integrationskurse plädierte Ernest Hess-Lüttich für eine wissenschaftliche Evaluation des Programms, um auf der Grundlage empirisch gesicherter Daten und Fakten Korrekturen und Anpassungen des Sprachkursangebots und des Integrationsprogramms vornehmen zu können, aber auch um eine solide Argumentationsbasis zu schaffen für die Erhaltung eines Integrationsprogramms, das den Spracherwerb als Schlüsselqualifikation für die soziale Integration begreift. Der Vorbereitung einer solchen systematischen Bestandsaufnahme dienten ihm die Überlegungen eines Pilotprojekts zur berufsbildenden Integration afrikanischer Flüchtlinge vor dem Hintergrund eines Vergleichs mit den Entwicklungen in den letzten Dekaden. Dies auch mit dem Ziel, daraus mögliche Konsequenzen zu ziehen für die Eindämmung und Zurückweisung xenophober Tendenzen in den deutschsprachigen Ländern.

Eine angemessene Auswahl aus der Vielzahl der Beiträge zu diesem dicht gedrängten Programm soll allen GiG-Mitgliedern wieder in der Reihe der GiG Publikationen im Rahmen der Buchreihe Cross Cultural Communication zugänglich gemacht werden und voraussichtlich Anfang 2014 im Verlag Peter Lang erscheinen.

Hess-Lüttich, Ernest W.B./Maltzan, Carlotta v./Thorpe, Kathleen (Hg.): Gesellschaften in Bewegung. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2014 (Cross Cultural Communication 27/Publikationen der GiG 21) [in Vorb.].

Kultur- und Abendprogramm

Am ersten Abend las der Schriftsteller Thomas Rosenlöcher (Dresden) aus seinen Werken und nahm die Teilnehmer mit seinem sächsisch gefärbten Idiom für sich ein. Anschließend lud der deutsche Botschafter (Dr. Horst Freitag) zu einem Empfang. – Der zweite Abend war reserviert für eine Lesung der österreichischen Schriftstellerin (und Biologin) Andrea Grill mit anschließendem Empfang der Botschaft der Republik Österreich. – Am dritten Abend gab der Germanist (und Vize-Präsident der GiG) Andreas F. Kelletat eine eindrucksvolle Kostprobe seines schriftstellerischen Könnens und las aus seinen jüngsten Werken (wie Kevin lernt Dolmetschen, Molscher Pfirsich, Von Ihm zu ihm u.a.). Er entschädigte uns damit reichlich für eine Lesung des helvetischen Bestseller-Autors Christian Kracht, der seinen Besuch kurzfristig abgesagt hatte. – Ein festliches Diner im gediegenen Wits Club der Universität sorgte zur Abrundung des Abends für gehobene Stimmung der Teilnehmer.

Wer mochte, konnte am Tag nach der Tagung noch an einem der professionell organisierten Ausflüge teilnehmen, wobei es manchem schwerfiel, sich entscheiden zu müssen zwischen den angebotenen Alternativen, nämlich 1. dem Besuch von Maropeng (Setswana für ›zurück zu den Anfängen‹), einer archäologischen Weltkulturerbestätte der UNESCO über den Ursprung des Menschen (The Cradle of Humankind), mit anschließendem Abstecher zu den Sterkfontein-Höhlen, die einen faszinierenden Anschauungsunterricht bieten zur Geologie, Fossilisation und Paläobotanik, sowie einer Pirschfahrt durch den Lion Park mit seinen Löwen, Giraffen, Zebras, Antilopen usw. oder 2. dem Besuch des ebenso lehrreichen wie berührenden Apartheid-Museums in Johannesburg mit anschließendem Ausflug in die legendären South Western Townships (Soweto) mit den Geburtshäusern der Nobelpreisträger Nelson Mandela und Desmond Tutu.