Haunting Melody

Zur Bedeutung Gustav Mahlers für den Tod in Venedig und Morte a Venezia

Susanne Craemer

Abstract:

City of longing and transience – that’s how Venice is often considered at least since the famous novel by Thomas Mann. This myth has strongly been reinforced by the film version by Luchino Visconti, which – 60 years later and poor in words – is accompanied by a Gustav Mahler tune. No question that the famous composer was of high importance for the intercultural shaping of the myth of Venice. In June 1911 Thomas Mann began to endow his autobiographical protagonist with traits of Gustav Mahler, who had died a few weeks before. Thomas Mann thereby managed to get over a personal crisis. Why did he try to overcome his identity crisis with the help of Gustav Mahler? And why did he recount the fate of his protagonist as a dionysian one? And finally, why did he tell the story in a frequently ironic tone? Visconti’s film helps us to find an answer to these questions. It is a tune instead of irony, that conveys the fate of the protagonist in Visconti’s film: a tune that becomes a haunting melody. It will be shown in the following essay that this haunting melody has a deep connection with both irony and the Dionysian Complex in Mann’s novel.

Title:

Haunting Melody: Gustav Mahler’s Relevance for Death in Venice (Tod in Venedig) and Morte a Venezia

Keywords:

film; irony; Mahler, Gustav (1860–1911); Mann, Thomas (1875–1955); music; Visconti, Luchino (1906–1976)

Annahmen

Aus dem autobiografischen Aspekt seiner Novelle Der Tod in Venedig (1911) hat Thomas Mann bekanntlich keinen Hehl gemacht: »Es ist die alte, gute Geschichte: Werther erschoss sich, aber Goethe blieb am Leben« (Mann 2009: 330), schrieb er in dem Essay Chamisso, den er zeitgleich mit dem Tod in Venedig verfasste und spielte darin auf die nachgerade therapeutische Funktion eines den Helden opfernden, quasi autobiografischen Erzählens an. Mit der novellistischen Verarbeitung seiner Begegnung mit einem Knaben in Venedig begann er noch während dieser Reise. Seiner Figur gab er den Namen »Gustav«, weil er – ebenfalls noch während dieser Reise – vom Tod Gustav Mahlers (1860–1911) erfahren hatte. Die Erzählung wurde zur Meisternovelle und ihre Verfilmung, die aus der autobiografisch geprägten Erzählung eine Erzählung um Mahler machte, zu einer der wohl kongenialsten Literaturverfilmungen der Geschichte (1971). Was nur vordergründig erstaunlich ist, wie in den folgenden Überlegungen deutlich werden soll.

Ironie sei das Medium dieser das Autobiografische brechenden Erzählung, liest man in der Forschungsliteratur wie auch bei Thomas Mann selbst (vgl. Bahr 1991: 132). Mag sein, dass der Autor seine venezianische Ergriffenheit von einem Knaben ironisch verarbeiten wollte und seiner Figur quasi spontan den Namen »Gustav« gab. Und zweifellos wollte er den Dämon des Dionysischen an ihr aufzeigen: gegen Nietzsches Enthusiasmus gerichtet. Getan hat er jedoch mehr. Nachdem er von Mahlers Tod erfahren hatte und dem Knaben in Venedig begegnet war, gestaltete er seine Figur zu einer Gustav-Figur aus. In das Selbst webte der 36-jährige Autor eine Vater-Imago hinein, die das dionysische Schicksal zum Tode erleidet. So konnte er bei dessen Tod auch die andere Seite des Dionysischen präsentieren: Es ist die des Chors, der schon bei Euripides den dionysisch Verführten opfert und dennoch sein Ende betrauert, und der er selbst als ebenso opfernder wie trauernder Erzähler gewissermaßen zugehörte. Nicht ohne Ironie vollzieht der Erzähler diesen Seitenwechsel: Am Ende der Novelle geht Manns Ironie gegenüber dem dionysisch Ergriffenen über in die Ironie gegenüber der ›Welt‹ der Trauernden. Deren Trauer aber ähnelt jener Trauer des dionysischen Chors, die Freud nur wenige Monate später als ambivalent identifikatorische, nämlich als eine mit Schuldgefühl beladene bezeichnen wird.

Mann hat seine von Ironie durchsetzte dionysische Tragödie an einer Figur entfaltet, die den Überlebenden und den zum Sterben Bestimmten in sich aufnimmt, aber auch unterscheidbar macht: Gustav Mahler von Thomas Mann oder den Vater sozusagen vom Sohn. Eine solche Konstellation jedenfalls hat jenen merkwürdig selbstironischen Ton möglich gemacht, der nie vorgefertigt, sondern oft erschrocken wirkt. Während aber Ironie die Erschrockenheit über die dionysische Verführbarkeit des Protagonisten meistert, sitzt die Erschrockenheit darüber, einen erheblich Älteren dafür zu opfern, in den Gliedern einiger Sätze, die irritieren.

Vielleicht ist es ja wirklich das Erschrockene in Manns ironischer Erzählung, das sie zur Meisternovelle machte? Und vielleicht ist es ja auch das Erschrockene in dieser Ironie, das sie 60 Jahre später durch eine mahlersche Melodie in Viscontis Verfilmung ersetzbar machte? Von diesen Annahmen ist der folgende Essay geleitet.

Der mahlersche Typ

In der 100-jährigen Rezeptionsgeschichte von Manns Novelle stellt Viscontis filmische Interpretation (mit Mahler sozusagen in der ›Hauptrolle‹) einen markanten Wendepunkt dar. Denn nicht nur hat dieser Film die Vorstellung von Manns Hauptfigur stark geprägt: Auch der Komponist und sein inzwischen weltberühmtes Adagietto. Sehr langsam der 5. Sinfonie wurden allererst durch Viscontis Gustav Aschenbach einem breiten Publikum zugänglich.

Am 18. Mai 1911 war Gustav Mahler in Wien gestorben. Kurz darauf, im Juni 1911, nahm Thomas Mann die Niederschrift der Novelle auf, in der er dem Protagonisten den Vornamen des Komponisten und dessen Physiognomie und Herkunft gab. Zudem ließ er ihn im Alter des Komponisten sterben. In die Figur des Gustav Aschenbach ist Mahler damit subtil eingegangen. Mann selbst hat zehn Jahre später auf diese Spur aufmerksam gemacht. Dass Mahlers »verzehrend intensive Persönlichkeit auf mich den stärksten Eindruck machte« und sich »die Erschütterungen seines Sterbens« mit den »Eindrücken und Ideen vermischten, aus denen die Novelle hervorging«, verriet er dem Künstler Wolfgang Born in einem Brief, der als Begleittext zu dessen Bildermappe Der ›Tod in Venedig‹. Neun farbige Lithographien zu Thomas Manns Novelle (1921) erschien. Mann schreibt in diesem Brief, dass Born das letzte Bild der Mappe in einer Ähnlichkeit gestaltet habe, die ihn sonderbar und fast geheimnisvoll angemutet habe, da er um den »heimlich persönlichen Zusammenhang« zwischen Aschenbach und Mahler nicht gewusst haben konnte. »Trotzdem – und dies ist es, worüber ich beim ersten Anblick fast erschrak, – zeigt der Kopf Aschenbachs auf Ihrem Bild unverkennbar den Mahlerschen Typ« (Wysling 1975: 417) – stellt er fest, den heimlichen Zusammenhang damit öffentlich machend. Das seltsame Erschrecken über den mahlerschen Typ sollte sich 50 Jahre später noch einmal, wesentlich heftiger, ereignen: Thomas Manns Schwager Klaus Pringsheim reagierte empört auf die Interpretation des Protagonisten in Viscontis Verfilmung, die angeblich sowohl Mann als auch Mahler verbrecherisch diskreditierte:

An der Wurzel des Films Tod in Venedig ruht das Verbrechen zweifacher Verleumdung: gegenüber Gustav Mahler, dessen verehrungswürdiges Bild erbärmlich entehrt wurde, gegen Thomas Mann, dessen Roman in den Augen vieler Kinogänger, die ihn nicht gelesen haben, als Quelle der Verleumdung Mahlers gebrandmarkt wird. Es muss und wird etwas geschehen, um ein unverzeihliches Unrecht wieder gutzumachen und um die Namen zweier Giganten der europäischen Literatur und Musik vor weiteren Beleidigungen zu schützen. (Vaget 1979: 175)1

Passage ins Unbewusste

Nicht den Zusammenhang zwischen Aschenbach und Mahler, dafür aber das Fehlen von Ironie kritisierte Thorsten Zimmer an Viscontis Verfilmung, die Manns Ironie sozusagen gegen die Musik Mahlers ausgetauscht habe:

Die Ironie des Erzählers fehlt daher ebenso wie seine distanzierend-zynischen Kommentierungen von Aschenbachs Verhalten, womit dem Film ein wesentliches Merkmal der Novelle völlig abgeht. Auch die Schilderungen von Aschenbachs innerer Haltung und deren Entwicklung können nur schwer in den Film übertragen werden, selbst wenn Visconti dies durch den Einsatz der Musik Gustav Mahlers zu kompensieren versucht. (Zimmer 2001: 79)

Tatsächlich fehlt Ironie in der Verfilmung ganz. Und vielleicht hat Visconti Manns Ironie tatsächlich durch das wiederkehrende Adagietto aus Mahlers 5. Sinfonie ersetzt, das meist dann ertönt, wenn es um die Ergriffenheit Aschenbachs geht, die man bei Mann stets ironisch ausgedrückt findet. Viscontis unironischer Film Morte a Venezia (1971) beginnt allerdings mit einer Szene, die auch bei Mann ohne Ironie erzählt ist. Warum Visconti sie als Einstieg wählte, mag von daher einleuchtend sein, nicht aber, warum ausgerechnet dieses Kapitel bei Mann ganz unironisch beginnt.

Die Rede ist von Aschenbachs Fahrt übers Meer nach Venedig bis zur Szene des Kofferverlusts, die sein Bleiben in Venedig besiegelt. Eine Passage, die ihn damit als Todgeweihten einführt. Auf dieser Überfahrt parodiert der Erzähler nicht mehr wie zu Beginn der Novelle das Denken Aschenbachs, sondern folgt dessen traumartigem Erleben und das Reich der seltsamen Gestalten auf dem Schiff formiert sich dabei – zufällig oder gewollt – zu einer Illustration von Freuds Traumarbeit.2 In erster Linie fällt der greise Geck, der als Jüngling geschminkte zudringliche Alte dabei in den Blick. Über diesen Alten, der sich in den Kreis junger Leute gemischt hat, urteilt der Erzähler: »Aber widerlich war es, zu sehen, in welchen Zustand den aufgestutzten Greisen seine falsche Gemeinschaft mit der Jugend gebracht hatte.« (Mann 2002: 523) Dem sich aufdrängenden Alten kann Aschenbach sich kaum entziehen: »So sieht er sich minutenlang außerstande, den Zudringlichkeiten des schauderhaften Alten zu entkommen.« (Mann 2002: 523)

Es fällt nicht schwer, in diesem unabweisbaren Alten eine Figuration von Freuds ›insistenter Wiederkehr des Infantilen‹ zu sehen. Und auch in anderen Einzelheiten lässt sich die Reise Aschenbachs dem Weg der freudschen Traumarbeit gegenüberstellen: Sigmund Freud zufolge laden sich die einander verdichtenden latenten Traumgedanken des Vorbewussten, von denen es stets mehrere, über ihre Ähnlichkeit assoziierte gibt, mit jüngstem Material des Vortags auf. Nachdem sie von den auf Wiederkehr lauernden Strebungen des Infantilen gefunden wurden, die sich wie Trittbrettfahrer an die vorbewussten Traumgedanken heften, passieren diese Gedanken die Zensur, sobald eine hinreichende Entstellung vorgenommen wurde. Genau dies widerfährt Aschenbach: Nach seiner widerwillig erfahrenen Begegnung mit dem greisen Geck wird er von dem unheimlich wirkenden Gondoliere zu seinem Hotel gerudert. Dieser ist mit dem Wanderer am Münchner Nordfriedhof zu Beginn der Erzählung und mit dem aufdringlichen Bänkelsänger im weiteren Verlauf der Novelle die dritte Figur in einer Serie von einander ähnlichen, sich quasi überlagernden und damit sich verdichtenden Figuren, die auf unheimliche Weise insistieren. Ursprünglich wollte Aschenbach in ein Vaporetto umsteigen, aber er kann sich gegen den Gondoliere nicht durchsetzen. Seine eigenmächtige Transportentscheidung begründet der Gondoliere mit dem lakonischen Satz: »Sie können den Vaporetto nicht benutzen, mein Herr« – »Und warum nicht?« »Weil der Vaporetto kein Gepäck befördert« (Mann 2002: 525). Damit überlässt sich Aschenbach ergeben der weiteren Steuerung des Gondoliere. Im Hotel angelangt, packt er den Koffer zunächst nicht aus, und als er sich schließlich zur Abreise entscheidet, bestimmt wiederum das Gepäck den weiteren Verlauf der Reise. Aschenbach erfährt den Verlust seines Gepäcks an der Bahnhofsstation. Damit schließt die Passage einer Figur, die von ›latenten Traumgedanken‹ geführt wird, die sich verdichten und ihre Transportdienste ins Unbewusste anbieten, wo das Infantile und damit Älteste der persönlichen Geschichte darauf lauert, wiederzukehren. Das Gepäck, das in dieser Szene nun als der »große Koffer« bezeichnet wird, wäre die Lizenz zum Erwachen gewesen. Da er abhanden kam, ist diese Möglichkeit für Aschenbach verloren. So wird der Koffer zu seinem Schicksal. Er wird zum Coffin, zumindest in der Sprache, die der Erzähler später als redlich bezeichnen wird: zu einem Vorboten seines Todes. Dieser Kofferverlust macht Freuds Axiome der Traumarbeit anschaulich und präsentiert den beginnenden dionysischen Absturz als Einlassung ins Unbewusste. Und hiervon hatte Thomas Mann zweifellos eine Vorstellung, lagen doch, wie der Autor bekannte, die Ideen Freuds damals in der Luft (vgl. Wysling 1975: 445f.). Ein wirklicher Traum in Freuds Sinn ist diese Überfahrt und Einlassung mit dem Unbewussten jedoch nicht, weil man aus Träumen wieder erwacht. Dazu aber fehlt Aschenbach der Koffer als Verpackung, in der sich ein Trauminhalt transportfähig für das Passieren der Zensur dem Ich präsentieren könnte. Aschenbachs Überfahrt bis zur Bahnhofsstation ist daher kein Traum, aus dem man mit sozusagen manifestem Gepäck wieder erwacht, sondern eher eine Reise ins Unbewusste, bei der das schützend Umschließende verloren ging: ein Eintauchen ins Unbewusste, das mit jener Einlassung von Mahler vergleichbar ist, bei der »das Unbewusste […] den Krankheitskeimen die Eingangspforte […] durch den Wegfall der Hemmungen« öffnen konnte (Pabst 2004: 46). Eine Begegnung mit dem Unbewussten also, die jener ähnlich ist, deren Folgen Freuds Mittwochsgesellschaft am 24. Mai 1911 im Zusammenhang mit Mahlers Sterben am 18. Mai 1911 in eben diesem Wortlaut reflektiert hatte. Die für Krankheitskeime geöffnete Eingangspforte, von der hier die Rede war, sah Freud offenbar in Zusammenhang mit der Unterredung, zu der ihn Mahler am 25. August 1910 in Holland aufgesucht hatte und bei der – wie sich Freud später erinnerte – kein Licht »auf die symptomatische Fassade seiner Zwangsneurose« gefallen war.3 Freud war sie jedoch so erschienen »wie man einen einzigen, tiefen Schacht durch ein rätselhaftes Bauwerk graben würde« (Reik 1976: 115). Freuds Schacht also als Eingangspforte für Keime? Ist diese Lesart zulässig?

Und was könnte Thomas Mann davon gewusst haben? Einiges könnte er erahnt haben. Den Komponisten hatte er im September 1910 bei der Uraufführung von Mahlers 8. Sinfonie in Es-Dur kennengelernt und ihn kurz darauf in seinem Haus in München zum Tee empfangen: wenige Wochen nach Mahlers Kurzkonsultation bei Freud. Katia Mann erinnert sich an Mahlers steifen Habitus bei dem Treffen zum Tee und daran, dass Thomas Mann zum ersten Mal das Gefühl hatte, einem »großen Mann« (Mann 1974: 74) begegnet zu sein. Mahlers Krankheitszeichnung kann Mann bei dem Treffen im September 1910 nicht entgangen sein, auch wenn er von dessen Unterredung mit Freud nichts wusste. Und so hat er Aschenbach die entscheidende Passage ins Dionysische in vielleicht erspürter Anlehnung an den von Mahler eingeschlagenen Weg antreten lassen: unbewehrt und bereits gezeichnet wie dieser. Dann wäre es also Mahler und weniger der autobiografische Anteil in der Figur, der diese Überfahrt nach Venedig erlebt? Das würde erklären, warum Visconti mit dieser Passage seinen Film eröffnete, mit der er übrigens subtil auf die letzte Reise Gustav Mahlers angespielt hat: eine Schiffspassage von Amerika nach Europa, festgehalten auf einer Fotografie, die ihn bereits krank zeigt und die vielleicht nicht nur Visconti, sondern möglicherweise auch Thomas Mann kannte. Wenn aber wirklich vor allem der mahlersche und weniger der autobiografische Anteil in Aschenbach in dieser Szene wirkt, hieße das, dass sich der Autor gegenüber Mahler in seiner Figur der Ironie enthalten hätte.

Ironie als Gegenmittel

Sehr anders als Visconti den Film hat Thomas Mann seine Novelle eröffnet: »Gustav Aschenbach, oder von Aschenbach, wie seit seinem fünfzigsten Geburtstag amtlich sein Name lautete« ist ein sehr ironischer Satzanfang zu Beginn einer Novelle. Nicht nur durch das Prädikat »amtlich«, das den zu »von Aschenbach« korrigierten Namensträger parodiert und ihm sofort etwas Steifes, in sein Selbst nicht Integriertes zuschreibt, wirkt dieser Gustav Aschenbach ironisch gebrochen. Es ist auch der Anklang des Eröffnungssatzes an den Romananfang der Wahlverwandtschaften, mit dem sich der Erzähler als ein parodierender ausweist: »Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter – Eduard hatte«, so beginnt Goethes Roman, den Mann vor der Niederschrift seiner Novelle mehrfach gelesen hatte. In der nun fortgesetzt hohen Sprache, die jene des als eloquent beschriebenen Schriftstellers zu imitieren scheint, gestaltet der Erzähler wie von selbst die weiteren Züge eines redegewandten, pflichtbewussten Schriftstellers, von dem es kurz vor dessen Tod recht doppelsinnig heißt: »Er saß dort […] und aller Ironie entwachsen« (Mann 2002: 588). Die gegen Aschenbachs Preußen- und Schriftstellertum gerichtete Ironie der ersten beiden Kapitel, die insofern selbstironisch ist, als Aschenbach auch als Verfasser von Thomas Manns eigenen Werken auftritt, geht im dritten Kapitel in eine komplexere Form über.

Es ist die Szene, als Aschenbach kurz nach der Ankunft im Hotel und noch vor dem Kofferverlust den Knaben Tadzio zum zweiten Mal erblickt und über die »wahrhaft gottähnliche Schönheit des Menschenkindes«, den er im Frühstückssaal des Hotels beobachtet hat, erschrickt. Dies scheint der Erzähler gleichsam mitzuerleben, um die starke Empfindung sogleich wieder zu dämpfen: »Gut, gut! dachte Aschenbach mit jener fachmännisch kühlen Billigung, in welche Künstler zuweilen einem Meisterwerk gegenüber ihr Entzücken, ihre Hingerissenheit kleiden.« (Mann 2002: 535)

Ein solcher Kommentar denunziert den Denkenden ironisch im Augenblick der Ergriffenheit. Peter Heller nennt diese Eigenart, womit Mann »das ironisiert und parodiert, woran ihm am meisten liegt, was ihm das Liebste ist, woran er am leidenschaftlichsten hängt«, das ironische Pathos der »absprechenden Liebe«, die Heller als Ausdruck »der Berührung von Eros und Thanatos« und als »Minimalform der Polarität und Einheit von Umarmung und Vernichtung« versteht (1978: 99f.). Diese Kennzeichnung der mannschen Ironie besagt, dass sich in der Novelle genau dort ein Geständnis findet, wo Ironie erscheint. Ironie wäre bei Mann also autobiografisch. Welches Geständnis aber liegt unter der ironischen Distanzierung von Aschenbachs Ergriffenheit, der einen Knaben als sein Meisterwerk betrachtet? Das Geständnis homoerotischer Anziehung, wie man leicht denken könnte? Oder ist es das Geständnis narzisstischer Fixierung? Von dieser zumindest ist Frederic Wyatt in seiner Analyse des Themas der Novelle überzeugt und gibt »deutungsfreudigen Psychologen« zu bedenken, »dass bei dieser Geschichte ihnen nichts in den Schoß fallen wird«. Das Thema der Novelle, das sich vordergründig als das »homoerotischer Anziehung« präsentiert, zeigt sich bei näherem Hinsehen für Wyatt als das der Suche nach etwas, »das genau genommen ein Teil seines Selbst ist, aber schon lange abgespalten und vom Übrigen getrennt war« (Wyatt 1984: 128). So erkennt er in Aschenbachs Weg die im psychoanalytischen Sinn narzisstische Reise des Protagonisten zu jenem längst abgetrennten Teil seines Selbst, den er dann in dem Knaben Tadzio in Venedig wieder findet. Ein Narzissmusproblem hat der Autor also als dionysische Verführbarkeit inszeniert und konnte so auf das Dionysische Friedrich Nietzsches, das dieser in der Geburt der Tragödie (1872) und in Ecce homo (1908) als Hoffnung beschworen hatte, kritisch und mit Selbstironie antworten.4

Der dionysische Chor

Dass Thomas Mann Nietzsches spätzeitlichen Enthusiasmus für das Dionysische mit seiner novellistischen Beschwörung des fremden Gottes »als Dämon einer entsittlichenden und tödlich entgrenzenden Décadence-Erfahrung« überwand, stellen Schmidt und Schmidt-Berger in ihrer kommentierten Textsammlung Mythos Dionysos: Texte von Homer bis Thomas Mann heraus (Schmidt/Schmidt-Berger 2008: 52f.). Für die Ausgestaltung des Dionysischen in Bildern, die sich dem Protagonisten im fünften Kapitel nun äußerst bedrohlich zeigen, bediente sich Mann des Werks Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, dessen Autor Erwin Rohde sich wie Nietzsche auf die Bakchen (406 v. Chr.) des Euripides bezogen hatte (vgl. ebd.: 52). Gestalt gewinnt der Dämon des Dionysischen im fünften Kapitel durch die Darstellung des dionysischen Chors. Als zuchtlos entfesselter Chor der Mänaden erscheint Aschenbach der Chor in einem Traum. Er wird dem Dionysischen hernach schutzlos ergeben sein, wie auch Pentheus in den Bakchen sich dem Mänadenchor ergeben hat und wie einst Pentheus sich als Mänade verkleidete, wird auch Aschenbach sich hernach maskieren bzw. schminken lassen. Vorausdeutend auf die dionysische Traumszene war Aschenbach im fünften Kapitel zunächst ein neapolitanischer Komödiantenchor begegnet, dessen Hohngelächter Benno von Wiese schon 1956 als die »furchtbarste Stelle in der ganzen Erzählung« bezeichnet hat (Wiese 1956: 304f.). Tatsächlich gelingt es mit der Inszenierung des Bänkelsängers und seines neapolitanischen Trupps, die nicht zitierend und antikisierend, sondern in das Erleben Aschenbachs unmittelbar eingebettet ist, den Schrecken des dionysischen Chors zu fassen. Bedrohlich wirkt diese Szene und bedrohlich ist dieser Chor für Aschenbach. Als er den Spaßmacher nach dem Grund der Desinfektionen in Venedig fragt, wiederholt dieser nur ihn parodierend die Frage und verschweigt ihm damit bewusst die Wahrheit. Damit aber hat Mann die Komödianten und ihren Chef als jenen dionysischen Chor inszeniert, dessen Verhalten nicht nur fratzenhaft und unheimlich, sondern – wie schon bei Euripides – auch unmittelbar todbringend ist. Stärker noch als in Aschenbachs dionysischem Mänadentraum kommt in diesem Straßenchor das unmittelbar Vernichtende zum Ausdruck: eines Chors, der zumindest bei Euripides zugleich auch der Chor der Trauernden war.

Der Dionysoskomplex und das selbstironische Erzählen

Dass der dionysische Chor dem Autor nicht geheuer war, liegt auf der Hand. Mit seinen Chor-Inszenierungen vor allem legte er eine Replik auf Nietzsche vor, der den Chor als Symbol der »tragischen Welterkenntnis« und der Hoffnung, dass »der Bann der Individuation zu zerbrechen sei« (Nietzsche 1972: 69), sowie als tief mitleidend beschworen hatte:

Der Chor schaut in seiner Vision seinen Herrn und Meister Dionysos und ist darum ewig der dienende Chor: er sieht, wie dieser, der Gott, leidet und sich verherrlicht, und handelt deshalb selbst nicht. Bei dieser, dem Gotte gegenüber durchaus dienenden Stellung ist er doch der höchste, nämlich dionysische Ausdruck der Natur und redet darum, wie diese, in der Begeisterung Orakel- und Weisheitssprüche: als der mitleidende ist er zugleich der weise, aus dem Herzen der Welt die Weisheit verkündende […]. (Ebd.: 59)

Solch weises Mitleiden liegt dem Chor in Aschenbachs Traum und auch dem Straßenchor der Bänkelsänger fern. Als mitleidend wie Nietzsches Chor wird in der Novelle nicht der Chor des Dionysos, jedoch sehr wohl Aschenbachs Leserschaft thematisiert:

Damit ein bedeutendes Geistesprodukt auf der Stelle eine breite und tiefe Wirkung zu üben vermöge, muß eine geheime Verwandtschaft, ja Übereinstimmung zwischen dem persönlichen Schicksal seines Urhebers und dem allgemeinen mitlebenden Geschlecht bestehen. Die Menschen wissen nicht, warum sie einem Kunstwerke Ruhm bereiten. Weit entfernt von Kennerschaft, glauben sie hundert Vorzüge daran zu entdecken, um so viel Teilnahme zu rechtfertigen; aber der eigentliche Grund ihres Beifalls ist ein Unwägbares, ist Sympathie. (Mann 2002: 510)

In dem ›Unwägbaren‹ des sympathetischen Mitleidens von Aschenbachs Lesern klingt bei Mann aber auch Skepsis auf. Ob der Sympathie wirklich zu trauen sei, scheint fragwürdig zu sein. Korrespondiert diese Skepsis mit Manns Desavouierung des dionysischen Mänaden-Chors? Ist Aschenbachs »mitlebendes Geschlecht« von unwägbar Anteil nehmenden Lesern gar eine Variante, wenngleich eine sehr abgeschwächte, des dionysischen Chors? Dann würde sich folgende, vielleicht abenteuerliche Lektüre von Aschenbachs Ende ergeben:

Mit der Reaktion der Welt auf den Tod des hoch geachteten Schriftstellers, also einer Welt, die eine Leserwelt ist, hat Thomas Mann sein Buch enden lassen: »Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode« – lautet im Anschluss an das elegisch geschilderte Sterben der recht sonderbare Schlusssatz, in dem sich die Ironie des Erzählens entfaltet. Schon der gestelzte Genitiv »Und noch desselben Tages« parodiert die Haltung einer Welt, die, als »respektvoll erschütterte«, zwiespältig erscheint. »Eine respektvoll erschütterte Welt« (Hervorh. d. Verf.) aber ist eine, von der sich der Autor ironisch distanziert: Es ist eine in ihrer offen gelegten Ambivalenz als scheinheilig entlarvte. Zweifellos hat Thomas Mann mit diesem Ende auf Gustav Mahler und die teils geheuchelte Trauer jener Wiener Gesellschaft angespielt, die ihren Hofdirigenten als Sterbenden willkommen hieß, nachdem sie ihn zuvor aus ihrer Mitte eher vertrieben hatte (vgl. Fischer 2010: 842–848). Vor allem Karl Kraus nahm diese Scheinheiligkeit aufs Korn und wies am 2. Juni 1911 in der Fackel auf die Nachrufe in der Wiener Presse hin, die offenkundig schon vor Mahlers Tod verfasst worden waren:

Verächtlich sind Zuschauer einer Hinrichtung, die dem Henker bei seiner schweren und verantwortungsvollen Aufgabe beispringen. Verächtlich sind Hoftheaterdirektoren, die über Gustav Mahler, der am Donnerstag 11 Uhr 5 Minuten nachts gestorben ist, im Freitag-Morgenblatt der Neuen Freien Presse Nachrufe veröffentlichen. (Kraus 1911: 324)

Aber auch ohne diese Verbindung zur von Kraus monierten Heuchelei einiger Trauernden hat Mann der Trauer der Welt in seiner Novelle einen ambivalenten Beigeschmack gegeben und sie zwar freilich nicht als todbringend wie den dionysischen Chor, wohl aber als zwiespältig mitleidend dargestellt. Damit nahm er am Leitfaden seines dionysischen Themas die Analyse vorweg, die Freud wenige Monate später in einem Exkurs über die antike Tragödie veröffentlichte. Am Ende der vierten, im Frühjahr 1913 erschienenen Abhandlung aus Totem und Tabu (Die infantile Wiederkehr des Totemismus) kommentiert Freud die Reaktion des Chors auf den Tod des tragischen Helden als eine Inszenierung »im Dienste raffinierter Heuchelei« (Freud 1940: 188) und bezieht sich dabei auf den spät vom Dionysischen ergriffenen und schließlich vom dionysischen Chor getöteten Pentheus aus Euripides Bakchen. Die Trauer des Chors beurteilt er als »tendenziöse Wiederholung« jener Trauer, welche die Brüderhorde nach ihrem Mord am Urvater empfand. In dieser »Urtat« und dem anschließenden ambivalenten Gefühlsmix aus Schuldleugnung, Angst und Identifikation mit dem Getöteten sah er den Beginn der Zivilisationsgeschichte. Freuds Analyse hat Renate Schlesier mythologiegeschichtlich pointiert kritisiert: »Während Ödipus für Nietzsche nur eine der vielen Masken des Dionysos ist, scheint Freud hingegen in Dionysos nur eine Maske des Ödipus sehen zu wollen« (Schlesier 2002: 181). Doch ohnehin ist so weit mit Thomas Manns Entfaltung der dionysischen Seiten nicht zu gehen. Nicht den todbringenden, durchaus aber den Ambivalenzaspekt der »Welt« bzw. des ›Chors‹ der Leser hat er inszeniert, und zwar angestoßen von der Trauer um Mahler. Dass er selbst diesem ›Chor‹ zugehörte, sowohl als novellistischer Autor, der seine Figur sterben lässt, selbst aber weiterlebt, wie auch als autobiografischer Autor, der nach der Todesnachricht Gustav Mahlers eine lang geplante Novelle endlich schreiben konnte, vervollständigt die mannsche Selbstironie. Denn der Leser, den Mann im Schlusssatz seiner Novelle mit Ironie bedenkt, hatte ja im Grunde, wie aus Katia Manns Ungeschriebenen Memoiren hervorgeht, sein Vorbild im Autor selbst. Thomas Mann las die Nachricht vom Tod des hochidealisierten Komponisten im Mai 1911 während der Venedig-Reise:

Äußerlich trägt Gustav Aschenbach die Züge von Gustav Mahler, nicht wahr? Das liegt daran, daß mein Mann die Geschichte in Venedig konzipierte und Mahler damals im Sterben lag. Die Zeitungen brachten wirklich alle paar Stunden Bulletins über sein Befinden, jede kleine Besserung, jede Verschlechterung wurde detailliert gemeldet, wie bei einem regierenden Fürsten. So wurde er geehrt. (Mann 1974: 73)

Die Reise nach Venedig und ihre Erlebnisse und Ereignisse lösten eine Schreibhemmung auf, unter der Mann seit Beginn des Jahres 1911 litt. Dierks vermutet, dass es die Begegnung mit dem Knaben war, die dies bewirkte. Mann habe mithilfe der Trieblehre Freuds in dessen Gradiva-Interpretation diese Begegnung als Wiederkehr des Verdrängten aufarbeiten und sich so von der Schreibhemmung befreien können (Dierks 1991: 113). Ihren Anstoß erfuhr diese Befreiung aber wahrscheinlich durch die Todesnachricht Gustav Mahlers, die Mann noch vor dem eigentlichen Aufenthalt in Venedig las. Kaum zufällig jedenfalls eröffnete er seine Novelle mit dem Vornamen des Mannes, dessen Sterben im Schlusssatz aufscheint. Dass Mann den Vornamen Mahlers für seine Figur wählte, ist also durch seine Lektüre an den Zeitungstischen der Venedig-Reise erklärbar. Ein tieferer Grund war dabei aber vielleicht auch die Erkenntnis, dass Gustav Mahler (1860–1911) das gleiche Lebensalter wie Manns Vater (1840–1891) erreicht hatte. Mann war übrigens 16, als sein Vater starb und 35 bei Mahlers Tod. Als er an den Zeitungstischen der Insel Brioni Mahlers Todesnachricht las, könnten ihm diese Koinzidenzen aufgefallen sein – möglicherweise. Klar aber ist: Während sich Thomas Mann auf beiden Seiten des Dionysischen selbstironisch widergespiegelt hat, bleibt Gustav Mahler von aller Ironie verschont. Keine Zeile, die ihn parodierte oder denunzierte. Im Gegenteil. Vielmehr ist die Ironie des letzten Satzes der Ahnung geschuldet, den großen Künstler mit Aschenbach sozusagen noch einmal sterben gelassen zu haben und ist daher – um im Bild zu bleiben – die erschrockene Selbstironie eines dionysischen Choreuten, welcher erkennt, dass er selbst ein Teil der Tragödie ist, die er erzählt.

***

Ironie also und darunter die Wahrheit? Der »aller Ironie entwachsene« Aschenbach ist der, der die Wahrheit verschweigen will: »Man soll schweigen« sagt er und »Ich will schweigen«, nachdem er über die Cholera in Venedig von einem Engländer aufgeklärt wurde. Über die Rede dieses englischen Clerk heißt es: »Und dann sagte er in seiner redlichen und bequemen Sprache die Wahrheit«. Und kurz darauf, noch unumwundener: »›Danke Ihnen‹, sagte Aschenbach und verließ das Amt«. Offenbar bedarf es, um die Wahrheit oder eine solch einfache Sprache wirkungsvoll zu inszenieren, jenes erheblichen Aufwands, den man auch heute noch als große Literatur empfindet.

Haunting Melody

1971 präsentierte Luchino Visconti seine überaus dialogarme filmische Interpretation von Manns Erzählung: 60 Jahre nach Manns Venedig-Reise und 20 Jahre, nachdem er mit dem Autor wenige Jahre vor dessen Tod über die Novelle gesprochen hatte. Bei dieser Gelegenheit soll Thomas Mann gesagt haben, dass er mit Gustav Aschenbach im Grunde Gustav Mahler habe porträtieren wollen.

Mit Aschenbachs Schiffspassage übers Meer, untermalt von dem Adagietto aus Mahlers 5. Sinfonie, beginnt der Film und macht mit der minutenlangen Einspielung sofort deutlich, dass Gustav Mahler in dem Film eine Rolle spielt. Sein Adagietto, das auf die Paraphrasierung eines Gedichts von Friedrich Rückert mit dem Titel Ich bin der Welt abhanden gekommen zurückgeht, wird im Laufe des Filmes immer wieder eingespielt. Es wurde durch Viscontis Film zu einem der bekanntesten Stücke des Komponisten. Mahlers Biograf Jens Malte Fischer schreibt, dass die für den Film aus rechtlichen Gründen eigens aufgenommene Version trotz ihrer künstlerisch »bescheidenen« Interpretation den »Siegeszug« Mahlers als »Ohrenschmeichler« in den 1970er Jahren eingeleitet habe (Fischer 2010: 813). In Reinhold Pabsts Buch Thomas Mann in Venedig liest man, dass das Adagietto durch Visconti zur »Erkennungsmelodie der Lagunenstadt« geworden und seither auf zahlreichen »Ear-Books« und musikalischen »City-Guides« über Venedig zu hören sei (Pabst 2004: 49). »Wenn Mahlers Adagietto erklingt, […] [sieht] jeder […] Tadzio vor sich und den Strand Venedigs« – heißt es bei Michael Gielen (2002). Diese Wirkung des Films, sie mag zutreffend beschrieben sein, beruht allerdings auf einer Täuschung. Denn Tadzio am Strand Venedigs wird in Viscontis Film nicht durch das Adagietto, sondern durch das Misteroso aus Mahlers 3. Sinfonie in d-Moll begleitet, das sirenenhaft tief Aschenbachs Ergriffenheit von dem vor ihm her tanzenden Tadzio am Strand Venedigs zu Gehör bringt. So ist das Adagietto zwar auch die Melodie von Aschenbachs fataler Sehnsucht, vor allem aber ist es die Melodie seines der ›Welt abhanden Kommens‹ und damit die Melodie seines Sterbens in Venedig, die immer wieder aufs Neue anhebt: besonders eindrücklich in der Schlussszene des Films, in der zwei Träger den Verstorbenen auf einem Liegestuhl aus dem Bild tragen, begleitet von Mahlers Melodie. Musik also statt Ironie am Ende oder genauer gesagt: ein ›Trauermarsch‹ statt ironisiertem Chor von Trauernden. Etliche Male kehrte die Melodie zuvor wieder, signalisierend, wie unausweichlich der Held seinem Ende zustrebt. Wer aber ist dieser Protagonist? Als wen hat Visconti ihn gesehen? Er ist ein alternder, auf einen Knaben abgründig fixierter, spät ergriffener Komponist, der, um seinem Abgott zu gefallen, jung bleiben will und zum Sterben bereit ist. Einer, dessen Leiden durch eine Melodie ausgedrückt wird, statt durch Ironie und Sprache. Ist diese Figur damit Mahler, wie Manns Schwager Pringsheim empört meinte? Davon überzeugen zu wollen, und zwar mit traumartigen Bildern, die Szenen aus Aschenbachs Vorleben zeigen und damit tatsächlich an Mahlers Leben erinnern, ist sicherlich die schwächste Stelle des Films. Denn Gustav Aschenbach in Viscontis Film portraitiert nicht wirklich Mahler. Viscontis Aschenbach ist vielmehr eine tief gelungene Figuration von Manns Projekt, sich selbst mit Mahler zu überwinden. Und es ist der Einsatz des Adagietto, der dies zum Ausdruck bringt: Indem Visconti es beständig wiederkehren und schließlich zu einem Trauermarsch werden ließ, machte er aus Mahlers »haunting Adagietto«, wie dieses Stück häufig genannt wird, eine Haunting melody: keinen Ohrwurm, sondern etwas ungleich tiefer Bewegendes. Was heißt das?

In seinem Buch The Haunting Melody, das 1953 erschien und damit etwa zu der Zeit, als Visconti mit Thomas Mann über Gustav Mahler sprach, hatte der Psychoanalytiker Theodor Reik das Wesen einer Melodie ergründet, die eine Person über eine bestimmte Zeit verfolgt. Es war eine Mahlersche Melodie und sie verfolgte Reik selbst. Ihren Kern präsentiert der psychoanalytische Autor in seinem autobiografischen Buch als das Insistieren des ebenso verdrängten wie triumphalen Wunsches, an die Stelle einer großen Vater-Imago zu treten und sie zu überleben. Ein Exkurs zu seiner psychoanalytischen Spurenlese mag dies konkretisieren:

Als Reik 1925 vom Tod seines Lehrers Karl Abraham erfuhr und von Freud den Auftrag erhielt, eine Trauerrede zu halten, verfolgte ihn mehrere Tage lang der Choral zu Klopstocks Ode Aufersteh´n im letzten Satz von Mahlers 2. Sinfonie in c-Moll. Dem Spuk der wiederkehrenden Melodie in seinem Innern kam er erst Jahre später auf die Spur, als er 1932 zufällig eine Passage aus der Traumdeutung wieder las, in der Freud bemerkt: »51 ist das Alter, in dem der Mann besonders gefährdet erscheint, in dem ich Kollegen habe sterben sehen, darunter einen, der nach langem Harren einige Tage vorher zum Professor ernannt worden war« (Freud 1940: 440). Beim Lesen dieser seltsamen Feststellung war Reik damals plötzlich aufgefallen, dass sowohl sein Lehrer Abraham wie auch Mahler knapp 51-jährig gestorben waren. Das gemeinsame Sterbealter der beiden großen Männer hatte im Unbewussten den Spuk der wiederkehrenden Melodie Gustav Mahlers begünstigt. Warum gerade diese Koinzidenz für ihn so bedeutungsvoll war, ergründet Reik in immer neuen Fassetten, die seinen eigenen Zwiespalt, aber auch den Mahlers herausarbeiten. Dieser Zwiespalt betrifft die Ambivalenz des Gefühls von Trauer um einen Großen einerseits und eigenem triumphalen Siegeswunsch bei dessen Tod andererseits; eine Ambivalenz, die Gustav Mahler bei der Komposition des Chorals am Ende seiner 2. Sinfonie kurz nach dem Tod seines Lehrers Hans von Bülow (1894) bewegt hatte, wie Reik zeigt und die er selbst 1925 beim Tod seines Lehrers Abraham offenbar teilte, wie er erkennt.

Auch Thomas Mann war wahrscheinlich von einer ähnlichen Ambivalenz bewegt, als er 1911 Gustav Mahler in seine autobiografische Figur aufnahm, die er im Sterbealter des Komponisten und dem seines eigenen Vaters aus dem Leben scheiden ließ. Ironie hielt sie in Schach, doch Visconti hat dieser Ambivalenz ganz unironisch mit dem Adagietto, das er zu einer Haunting melody machte, Gestalt gegeben, denn das Adagietto in Viscontis Film insistiert und verfolgt. Es fragt sich natürlich: Wen verfolgt diese Melodie eigentlich? Gustav Aschenbach, der sie nicht hört? Oder Thomas Mann, als den so von Visconti gesehenen Schöpfer der Figur? Den Zuschauer/Zuhörer? Oder den Regisseur?

Am Ende seines Buchs bemerkt Reik, dass er erst nach einem Vierteljahrhundert obsessiver Befassung mit Mahler The Haunting Melody zu veröffentlichen in der Lage war, weil er mit 65 nun das Sterbealter seines Vaters erreicht hatte. Auch Visconti war 65 Jahre alt, als er Manns Novelle schließlich verfilmte. Ob er von Reiks Haunting Melody gehört hatte, ist ungewiss und so bleibt bei Viscontis Novellenauslegung schwer zu sagen, was Zufall ist oder auf tatsächlicher Anregung basiert.

Anmerkungen

1  | Vaget zitiert hier Pringsheims Artikel Protest gegen »Tod in Venedig« in der Münchner Abendzeitung vom 21. November 1971.

2  | Manfred Dierks zufolge kannte Thomas Mann die Grundzüge der Traumarbeit möglicherweise schon 1911, da er Freuds 1907 erschienene Abhandlung Der Wahn und die Träume in Jensens Gradiva – wie die erstaunlichen Konkordanzen zwischen beiden Novellen zeigen – gelesen haben müsse und daher mit Freuds »Axiome[n] aus der Trieblehre (Verdrängung und Wiederkehr des Verdrängten) und aus der Traumarbeit (manifester und latenter Inhalt, Entstellung)« vertraut gewesen sei (Dierks 1990: 246). Dagegen gab Thomas Mann es als »eine Tatsache« aus, »dass ich noch zur Zeit des ›Zauberbergs‹, geschweige als ich den ›Tod in Venedig‹ schrieb, mit den Schriften Freuds direkt nicht in Berührung gekommen war«. Er habe erst in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre Freuds Traumpsychologie kennengelernt, wolle allerdings »nicht beschwören«, dass er »nicht schon vor dem ›Tod in Venedig‹ eine oder die andere psychoanalytische Schrift, die von Freud abstammte und die mir von den Autoren zugeschickt worden war, gelesen« hatte. (Wysling 1975: 445f.)

3  | Reinhard Pabst zitiert die Stelle wie folgt: »Bei dieser Unterredung meldete sich Freud, den Mahler im August 1910 zu einer vierstündigen Kurztherapie im holländischen Leiden konsultiert hatte, zu Wort und erklärte, er könne die für Mahler ausgesprochene Vermutung leicht beweisen, da ihm bekannt sei, daß sich Mahler an einem Wendepunkt seines Lebens befand, wo er die Wahl hatte, entweder sich zu ändern und damit die Basis seiner Künstlerschaft aufzugeben oder sich dem Konflikt zu entziehen« (Pabst 2004: 46).

4  | Nietzsches Gott Dionysos und dessen Aspekte von Rausch und Entgrenzung waren Mann seit 1899 bekannt (vgl. Sandberg 1990: 88).

Literatur

Bahr, Ehrhard (1991): Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart.

Dierks, Manfred (1990): Der Wahn und die Träume in Der Tod in Venedig. Thomas Manns folgenreiche Freud–Lektüre im Jahr 1911. In: Psyche 44, S. 240–268.

Ders. (1991): Traumzeit und Verdichtung. In: Eckard Heftrich/Helmut Koopmann (Hg.): Thomas Mann und seine Quellen. Festschrift für Hans Wysling. Frankfurt a.M., S. 111–137.

Euripides (1968): Die Bakchen. Übers., Nachw. und Anmerk. v. Oskar Werner. Stuttgart.

Fischer, Jens Malte (2010): Gustav Mahler: Der fremde Vertraute. München.

Freud, Sigmund (1940): Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker [1913]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Hg. v. Anna Freud u.a. Bd. 9. London.

Giehlen, Michael/Fiebig, Paul (2002): Mahler im Gespräch. Die zehn Sinfonien. Stuttgart/Weimar.

Heller, Peter (1978): Probleme der Zivilisation. Versuche über Goethe, Thomas Mann, Nietzsche und Freud. Bonn.

Kraus, Karl (Hg.; 1911): Die Fackel. Nr. 324f.

Lacoue-Labarthe, Philippe (1979): L’écho du sujet. In: Ders.: Le sujet de la philosophie. Paris, S. 217–303.

Mann, Katia (1974): Meine ungeschriebenen Memoiren. Tübingen.

Mann, Thomas (2002): Der Tod in Venedig [1912]. In: Heinrich Detering u.a. (Hg.): Thomas Mann. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 2.1: Frühe Erzählungen 1893–1912. Frankfurt a.M.

Ders. (2009): Chamisso. In: Heinrich Detering u.a. (Hg.): Thomas Mann. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Essays Bd. 1: 1893–1914. Frankfurt a.M., S. 305–330.

Nietzsche, Friedrich (1972): Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. In: Giorgio Colli/Mazzi Montinari (Hg.): Nietzsche Werke. Bd. III,1. Kritische Gesamtausgabe. Berlin/New York, S. 9–156.

Pabst, Reinhard (2004): Thomas Mann in Venedig. Frankfurt a.M.

Reik, Theodor (1953): The Haunting Melody. New York.

Ders. (1976): Dreißig Jahre mit Sigmund Freud. München.

Sandberg, Hans–Joachim (1990): Der fremde Gott und die Cholera. In: Eckhard Heftrich/Helmut Koopmann (Hg.): Thomas Mann und seine Quellen. Festschrift für Hans Wysling. Frankfurt a.M, S. 66–110.

Schlesier, Renate (2002): Mehr Kult als Mythos: Freuds Dionysos. In: Achim Aurnhammer/Thomas Pittrof (Hg.): Mehr Dionysos als Apoll. Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900. Frankfurt a.M., S. 181–204.

Schmidt, Jochen/Schmidt-Berger, Uta (Hg.; 2008): Mythos Dionysos. Texte von Homer bis Thomas Mann. Stuttgart.

Vaget, Rudolf (1979): Film and Literature. The Case of Death in Venice. Luchino Visconti and Thomas Mann. In: The German Quarterly 2, S. 159–175.

Wiese, Benno von (1956): Der Tod in Venedig. In: Ders.: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Düsseldorf, S. 304–324.

Wyatt, Frederic (1984): Zur Themenwahl in der Literatur. Gefahren und Gewinne. Ein Vergleich von Andre Gides Der Immoralist und Thomas Manns Der Tod in Venedig. In: Johannes Cremerius u.a. (Hg.): Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse. Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Folge 3. Frankfurt a.M., S. 113–144.

Wysling, Hans (Hg.; 1975): Dichter über ihre Dichtungen: Thomas Mann. Bd. 14,1. München/Frankfurt a.M.

Zimmer, Thorsten (2001): Interpretationshilfe Deutsch. Der Tod in Venedig. Freising.