Against the background of the discursive nexus between cultural anthropology and aesthetic theory in the late 18th century, the young Goethe refers to the ›exotic savage‹ in order to establish an anti-neoclassical aesthetics of genius. His programmatic essay On German Architecture ( Von deutscher Baukunst; 1772) even portrays the savage as an archaic prototype of the artistic genius, because of his presumed natural predisposition toward sentimental aesthetic productivity. Whereas the young Goethe constructs to these ends a continuous evolution from the ›primitive‹ body art of indigenous peoples to the ›ingenious‹ architecture of the Strasbourg Cathedral, Schiller starts his aesthetic reflections in the early 1790s with an anti-rousseauistic belief in the progress of mankind. Here, Schiller forcefully denies that the primitive peoples, who are regarded as backward, have any ability to produce or to experience beauty. However, over the course of his art-theoretical considerations, he develops a significant revaluation of the savage from an aesthetic point of view. In so doing, Schiller, on the ground of his neoclassical aesthetics, gets remarkably close to the position of the young Goethe.
Title:The Savage and Art: Cultural Anthropology and Aesthetic Theory in Goethe’s Essay On German Architecture (Von deutscher Baukunst; 1772) and in Schiller’s Philosophical Writings of the 1790s
Keywords:18th century German literature; aesthetics (of genius); concept of the »noble savage«; cultural anthropology; Goethe, Johann Wolfgang von (1749–1832); Schiller, Friedrich (1759–1805)
Die seit den 1980er Jahren zunehmend an Bedeutung gewinnende interkulturelle Literaturwissenschaft hat wesentlich dazu beigetragen, den germanistischen Gegenstandsbereich zu erweitern, vor allem durch die Einbeziehung von (post-)kolonialer Literatur und sogenannter Migrationsliteratur. Insofern ist ein starker Fokus auf Werke des 20. und 21. Jahrhunderts bzw. der Moderne und Postmoderne festzustellen, wohingegen Untersuchungen, die sich mit der Konstruktion von (kultureller) Alterität in der Epoche um 1800 beschäftigen, noch eher die Ausnahme bilden (vgl. etwa Uerlings 2006 u. Böhm/Sproll 2008).1 Dabei kann sich aus der Anwendung ›interkultureller‹ Fragestellungen auf deutschsprachige Texte auch aus dem 18. und 19. Jahrhundert ein zweifacher Gewinn ergeben: Zum einen ermöglicht dies eine Ausdehnung des Forschungsfeldes der interkulturellen Literaturwissenschaft selbst, die dadurch eine größere historische Tiefe erlangt und zugleich in die Lage versetzt wird, Phänomene der jüngeren Vergangenheit auf ihre diskursive Vorgeschichte zu beziehen. Zum anderen können auf diese Weise ältere kanonische, aber nur scheinbar schon erschöpfend behandelte Texte neu gelesen und bisher übersehene Aspekte derselben hervorgehoben werden. Dass dies nicht nur für literarische Werke im engeren Sinn, sondern auch für ästhetiktheoretische Texte gilt, zeigt der vorliegende Beitrag mit Blick auf den Zusammenhang von Ethno-Anthropologie und Ästhetik beim jungen Goethe und beim ›klassischen‹ Schiller.
Völkerkundliche bzw. ethnologische Anthropologie2 und ästhetische Theorie sind in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ›gleichursprünglich‹, und dies nicht nur im Sinne einer simultanen Konjunktur beider Diskursfelder. Zwischen dem im Zuge des ›zweiten Entdeckungszeitalters‹3 enorm ansteigenden Interesse an den fremdartigen Lebensweisen außereuropäischer Völker auf der einen Seite und der sich um 1750 als eigenständiges Teilgebiet der Philosophie etablierenden Ästhetik auf der anderen Seite kommt es vielmehr auch zu einer – bisher allerdings noch kaum differenziert erforschten – intensiven Wechselwirkung. So spielen ästhetische Aspekte in völkerkundlichen Texten der Zeit nicht selten eine wesentliche Rolle, und umgekehrt stellt der Rekurs auf ethnografisches ›Wissen‹, wie es von den zeitgenössischen Reiseberichten vermittelt und von den parallel dazu neu entstehenden akademischen Disziplinen wie ›Menschheitsgeschichte‹ oder ›physische Geographie‹ systematisch ausgearbeitet wurde, geradezu ein zentrales Element der theoretischen Ästhetik um 1800 dar. Dabei weist diese freilich die Tendenz auf, die spezifischen Unterschiede zwischen den ›exotischen‹ Völkern zu nivellieren und sich lediglich verallgemeinernd auf die idealtypische Vorstellung von ›dem Wilden‹ zu beziehen. Bevor ich das ethno-anthropologische Interesse der damaligen Ästhetik im Folgenden anhand von Goethes Sturm-und-Drang-Schrift Von deutscher Baukunst und einigen philosophisch-ästhetischen Abhandlungen des ›klassischen‹ Schiller beispielhaft untersuche,4 soll deshalb das Konzept des Wilden kurz skizziert werden.
Die Bewohner der fernen Weltgegenden erscheinen den sich selbst als ›zivilisiert‹ verstehenden Europäern des Aufklärungszeitalters gemäß dem verbreiteten Stereotyp insgesamt als ›Wilde‹, die im ›Zustand der Natur‹ leben, »ohne Geschichte und ohne Fortschritt« (Lévi-Strauss 1972: 34), ja ohne gesellschaftliche Ordnung. So heißt es in Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, dessen erste Auflage von 1774 bis 1786 erschien, unter dem Lemma »wild« zunächst allgemein: »ein Wort, welches überhaupt der durch Cultur und Kunst veredelten und erhöheten Beschaffenheit entgegen gesetzet ist«. Und nach Ausführungen zum botanischen und zoologischen Gebrauch des Wortes, das wahrscheinlich etymologisch mit ›Wald‹ zusammenhängt (ähnlich wie sich das französische »sauvage« und das englische »savage« vom lateinischen »silvaticus« – ›im Wald lebend‹ – ableiten), wird in Bezug auf den Menschen festgehalten: »Der gesellschaftlichen Cultur beraubt und ihr entgegen gesetzt, im Gegensatz des gesittet. In diesem Verstande sind wilde Menschen, und substantive Wilde, Menschen, welche außer der engern gesellschaftlichen Verbindung leben, und daher der Kenntnisse, Fertigkeiten, Sitten des gesellschaftlichern Menschen ermangeln.« (Adelung 1786: 222f.)
In dieser Bedeutung wird der Ausdruck, der ähnlich bereits in der mittelalterlichen Schreckgestalt des ›wilden Mannes‹ begegnet (vgl. dazu Bernheimer 1952), in der Neuzeit vor allem zur Charakterisierung ›exotischer‹ Ethnien gebraucht: Bei den im ›Naturzustand‹ lebenden ›Wilden‹ in Übersee handle es sich mithin um ›Naturvölker‹ – so der ebenfalls zeitgenössische, zum ersten Mal in Herders Ältester Urkunde des Menschengeschlechts (1774–1776) belegte, in populärwissenschaftlichen Texten zum Teil noch heute verwendete Begriff. Dementsprechend wird denn auch »Das Naturvolk« bei Adelung als »ein im Stande der Natur, ohne merkliche bürgerliche Verfassung lebendes Volk [definiert], dergleichen Völker und Menschen gemeiniglich Wilde genannt werden.« (Adelung 1777: 752) Die Wilden erscheinen somit als Naturvölker im Unterschied zu den Kulturnationen Europas – der eurozentrische Chauvinismus, der dieser Sichtweise inhärent ist, liegt offen zutage: Der ›imperiale Blick‹ (vgl. Pratt 2008), mit dem das ethnisch Fremde betrachtet wird, trifft auf unentwickelte, zurückgebliebene, ›primitive‹5 Menschen, die einen Mangel an Kenntnissen, Fertigkeiten und Sitten aufweisen.
Zwar erfährt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das alte Klischee vom ›guten‹ bzw. ›edlen Wilden‹ (Bon sauvage, Noble savage) einen neuen Aufschwung (vgl. dazu Stein 1984 u. White 1991). Zu nennen ist vor allem Rousseaus Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes von 1755 als maßgeblicher Text, in dem das negative Bild vom primitiven Exoten, wie es freilich etwa noch Schiller in seiner universalhistorischen Antrittsvorlesung von 1789 zeichnet, ins positive Gegenteil verkehrt wird. Damit tritt eine regressive Zivilisationskritik an die Stelle des aufklärerischen Fortschrittsoptimismus; die Primitivität des Wilden erscheint demzufolge nicht als Mangel, sondern gerade als Vorzug. Doch abgesehen davon, dass beide Denkweisen – die abwertende wie die idealisierende – gleichermaßen »einem betont ethnozentrischen Kulturbewußtsein« entspringen (Bitterli 2004: 374), ist festzuhalten, dass in Europa um 1800 weitgehend die Vorstellung von der Überlegenheit der eigenen über die fremde Kultur vorherrscht – wenn die Autoren den überseeischen Wilden überhaupt ›Kultur‹ zubilligen und nicht vielmehr »die Vorstellung von der Tierhaftigkeit« (Kohl 1986: 99) dieser Völker bevorzugen. Die anthropologischen Implikationen dieser kontrovers geführten Debatte um den Wilden sind weitreichend: Die ethnologische Frage nach der Natur des primitiven Menschen inspirierte nicht nur neue Theorien über unterschiedliche Menschenrassen, über deren hierarchisches Verhältnis zueinander sowie über vermeintliche Mittelglieder zwischen Affe und Mensch,6 sondern wirkte sich damit zugleich auf die philosophische Frage nach der sinnlich-rationalen Doppelnatur des ›ganzen Menschen‹ (vgl. Schings 1994) aus.
Auf welche Weise wird nun aber die anthropologische Auseinandersetzung mit den Wilden um 1800 auch auf dem Boden der ästhetischen Theorie vollzogen? Hinzuweisen ist in diesem Kontext zunächst auf die damals weitverbreitete Diskussion über die körperliche Hässlichkeit oder Schönheit der Wilden, genauer: über die Frage, ob es ein objektives, allgemeingültiges Schönheitsideal gebe – das mit dem griechisch-europäischen gleichzusetzen wäre –, oder ob menschliche Schönheit lediglich ein relativer Begriff sei, abhängig davon, welcher ›Rasse‹ man angehört. Jörg Robert betont in seinem vor kurzem erschienenen Beitrag Ethnofiktion und Klassizismus mit Blick auf solche ästhetischen Reflexionen über den ›exotischen‹ Körper, wie sie unter anderem bei Lessing, Winckelmann und Kant vorkommen, die »merkwürdige chronologische Koinzidenz der Poetik des Wilden mit der (Wieder-)Entdeckung des Klassischen« (Robert 2012: 17). Seines Erachtens »beruht« der Klassizismus des 18. Jahrhunderts geradezu »auf einer systematischen, in sich zirkulären Ausschließung des Wilden und Archaischen, des Ekelhaften und Hässlichen. […] Das Irritierende der ästhetischen Alterität wird durch Vereinnahmung in das griechische, für allgemein verbindlich deklarierte Ideal des Schönen ausgelöscht.« (Ebd.: 20) Robert geht sogar so weit, den ethno-anthropologischen Diskurs über den Wilden »als Ursache […] der ästhetischen Debatten um das Ideale bzw. das Idealschöne« (ebd.: 17) zu verstehen.7 Ob seine These in dieser zugespitzten Form haltbar ist, mag dahingestellt bleiben; jedenfalls reagiert die klassizistische Ästhetik auf das ethnografische bzw. ethnologische ›Wissen‹, indem es das Exotisch-Fremde am normativen Maßstab des griechischen Schönheitsideals bemisst.
Andererseits weist Robert zu Recht darauf hin, dass die Reaktion der zeitgenössischen Ästhetik auf das Alteritätsphänomen des Wilden durch den Hinweis auf dessen ›systematische Ausschließung‹ oder ›vereinnahmende Auslöschung‹ noch nicht vollständig erfasst ist. Eine andere Strategie diskursiver Aneignung, die das 18. Jahrhundert im Umgang mit dem kulturell und ästhetisch Fremden entwickelt, besteht darüber hinaus in einer gegenläufigen »Rehabilitierung des Wilden und Archaischen, des Primitiven und Primordialen. […] Um und nach 1750 wird das [bzw. der] Wilde erstmals zum positiven Leitbild in der ästhetischen Theorie und Praxis« (ebd.: 34). Die Ästhetik des Wilden erweist sich demnach – wie das Konzept des Wilden überhaupt – als ambivalent. Zur Debatte steht dabei nicht zuletzt auch die Frage nach dem vorhandenen oder fehlenden Sinn des außereuropäischen homme naturel für das Schöne und Erhabene sowie nach dem damit verbundenen Status einer ›primitiven Kunst‹,8 wobei vor allem indigene Praktiken wie Tätowierungen, Körperbemalungen, Ohr-, Lippen- und Nasenringe sowie Feder- und Knochenschmuck im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Daneben tritt aber auch, etwa bei Herder, das Interesse an einer archaischen Kunst, wie sie sich in Tanz und Gesang der Naturvölker äußert: So spricht sich Herder in seiner – gemeinsam mit Goethes Von deutscher Baukunst in der Sammlung Von deutscher Art und Kunst (1773) erschienenen – Abhandlung über Ossian und die Lieder alter Völker für die »alten ungekünstelten Lieder[ ], wilder, ungesitteter Völker« aus (Herder 1993: 452), die ihm zufolge Parallelen zu den immer noch gesungenen Volksliedern seiner eigenen Gegenwart aufweisen, welche er als »lebendige Reste dieses alten, wilden Gesanges, Rhythmus, Tanzes, unter lebenden Völkern« begreift (ebd.: 457f.). Vor diesem Hintergrund wird die Unterscheidung zwischen dem Historisch-Frühen und dem Geographisch-Fernen hinfällig, denn, so Herder: »Alles ist den Barden Ossians und den Wilden in Nordamerika gemein.« (Ebd.: 454f.) Der Wilde erscheint damit nicht mehr als das ästhetisch Fremde, sondern als Spiegel- und Erinnerungsbild des Eigenen.
Diese Aufwertung des Wilden, die von einigen Autoren im späteren 18. Jahrhundert vollzogen wird, unternimmt also den Versuch, die ästhetische Alterität des ›Exoten‹ mit den eigenen Kunst- und Schönheitsvorstellungen zu vermitteln. Somit bietet sie einen dezidierten Gegenentwurf zur normierenden Ausschließung oder historischen Neutralisierung des Wilden als den bislang vorherrschenden Reaktionsweisen: »An die Stelle der Exklusion des Fremden tritt dessen Inklusion in die Vorgeschichte der eigenen Kultur.« (Robert 2012: 39) Vor allem gilt dies für die Kunsttheorie des Sturm und Drang, dessen »neue Poetik […] im Zeichen einer ›sentimentalischen‹ Aufwertung des Wilden als des verlorenen eigenen Ursprungs« steht (ebd.: 36). Die Figur des Wilden als des Ursprünglichen verkörpert hier den Gegensatz zur klassizistischen Bestimmung einer regulierten und domestizierten Schönheit, die von den Stürmern und Drängern als unnatürlich und unwahr perhorresziert wird. Doch die kunst- und dichtungstheoretische Parteinahme für den Wilden ist kein bloßer Sonderweg der antiklassizistischen Sturm-und-Drang-Epoche; vielmehr gibt es auch in der Ästhetik der Weimarer Klassik derartige Versuche, die primitive Kunst exotischer Völker als Bestandteil der eigenen Prähistorie zu begreifen. So erscheint der ›ästhetische Wilde‹ in anthropologischer Perspektive als Beleg für die These, dass der Mensch allgemein ein durch die Fähigkeit zum künstlerischen Schaffen ausgezeichnetes Wesen ist. Diese Bestimmung des Menschen als Homo aestheticus bzw. als Animal poeta (vgl. Eibl 2004) konnte durch den ›Nachweis‹ einer schon bei den Naturvölkern vorhandenen ästhetischen Veranlagung erhärtet werden – woraus sich freilich auch im Umkehrschluss die anthropologische Spitzenposition des Künstlers bzw. des Poeten ergab, der sich so zum Inbegriff der ganzen Gattung, zum ›eigentlichen‹ Menschen deklarieren ließ. In Schillers Worten: »[D]as menschliche ist immer der Anfang des poetischen, das nur der Gipfel davon [des Menschlichen] ist« (FSA 11, 778).9
In unterschiedlicher Ausgestaltung lässt sich die skizzierte Verschränkung von Ethno-Anthropologie und Ästhetik sowohl in Goethes Jugendschrift Von deutscher Baukunst von 1772 als auch in Schillers philosophischen Abhandlungen aus den 1790er Jahren finden. Während der junge Goethe gegen den (französischen) Klassizismus für eine ›wilde Ästhetik‹ Partei ergreift, geht über zwanzig Jahre später bei Schiller bemerkenswerterweise gerade die ›klassische‹ Ästhetik mit dem ethno-anthropologischen Interesse am Wilden ein enges Bündnis ein. Dies ist allerdings als Resultat eines Einstellungswandels des Kunsttheoretikers Schiller zu verstehen: Während er 1792 den Wilden noch systematisch aus seiner durch Kants Lehre vom ›interesselosen Wohlgefallen‹ geprägten Kallistik ausschließt, ändert er ab 1793 plötzlich seine Ansicht und gelangt zu einer positiven Integration der ›primitiven Kunst‹ in seine Theorie des Schönen, die dann 1795/96 ihren Höhepunkt erreicht. So erarbeitet sich Schiller im Rahmen seines ästhetischen Klassizismus10 eine Position, die in dieser Hinsicht der antiklassizistischen Sturm-und-Drang-Poetik von Goethes Baukunst-Schrift erstaunlich nahe kommt, auch wenn sich gleichwohl gewichtige Differenzen feststellen lassen: Beruft sich der junge Goethe auf die ästhetischen Praktiken der Wilden, um eine ›nicht mehr nur schöne‹11, sondern zugleich auch ›charakteristisch-erhabene‹ Kunst anthropologisch zu begründen, so geht es Schiller um 1795 umgekehrt um eine völkerkundliche Bestätigung seiner Ästhetik des Schönen. Das Erhabene hingegen, das er freilich ganz anders konzeptualisiert, bleibt bei ihm für den zivilisierten Menschen reserviert.
Anders als in Herders oder Schillers Ästhetik nimmt die anthropologische Reflexion auf ›wilde Völkerschaften‹ in Goethes kunsttheoretischen Texten keinen besonderen Stellenwert ein. Überhaupt spielt die Auseinandersetzung mit den neu entdeckten Naturvölkern – im Gegensatz etwa zur Beschäftigung mit der orientalischen Kultur – in seinem Œuvre kaum eine Rolle, auch wenn er sich selbst ausdrücklich zu den »Freunde[n] der Länder- und Völkerkunde« (Goethe 1906: 115) zählte. Tatsächlich verfügte Goethe zwar, vor allem im Alter, auf diesem Gebiet über vielseitige Kenntnisse aus Lektüren und Gesprächen;12 ästhetische bzw. literarische Spuren davon finden sich aber eher wenige bei ihm. Vor diesem Hintergrund betont selbst der Ethnologe Richard Karutz (1867–1945), der in seiner 1929 erschienenen Monografie mit dem emphatisch-visionären Titel Von Goethe zur Völkerkunde der Zukunft immerhin »eine Fülle völkerkundlich beachtenswerter Stellen« bei Goethe konstatiert, recht nüchtern: »Jede moderne Völkerkunde hat Recht, die Herder und Schiller unter den Autoren der älteren Entwicklungsepoche der Ethnologie anführt, nicht aber Goethe.« (Karutz 1929: 15)
Goethes kunsttheoretische Überlegungen zu den exotischen Wilden beschränken sich weitgehend auf den 1772 zum ersten Mal veröffentlichten Aufsatz Von deutscher Baukunst – und scheinbar sogar nur auf eine einzige Passage desselben. Allerdings gilt diese nicht zufällig, wie Norbert Christian Wolf anmerkt, als die »wohl berühmteste« (Wolf 2001: 228) Stelle des Ganzen, so dass es sich lohnt, sie einmal etwas genauer in den Blick zu nehmen, um den ebenso kurzen wie komplexen – in der Forschung gerne als ›Prosahymnus‹ bezeichneten (vgl. Kremer 2004: 565) – Text unter dieser Optik einer Relektüre zu unterziehen. Dabei zeigt sich, dass der junge Goethe hier im Zeichen des genieästhetischen Natürlichkeitskultes eine entschiedene Positivwertung des Wilden in aestheticis vornimmt, die von dem Bestreben getragen ist, im archaischen Fremden das auch im Eigenen greifbare Ursprüngliche wiederzuentdecken. Die ›wilde‹ Genie-Poetik sympathisiert mit dem wilden Naturmenschen, um die ihm zugeschriebene Originarität und Originalität, freilich in höherer Form, für sich selbst zu reklamieren. Das Genie erscheint so gleichsam als der ästhetisch potenzierte Wilde.
Doch wie kommt Goethe überhaupt dazu, sich im Rahmen einer Beschäftigung mit »deutscher Baukunst« dem exotischen Wilden zuzuwenden? Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst zu verdeutlichen, dass und wie das Konzept des Wilden unterschwellig den gesamten Text organisiert: Das Plädoyer des jungen Goethe für die gotische Architektur des Straßburger Münsters, die er in patriotischer Gesinnung als genuin deutsche Baukunst verstehen will, erscheint bereits »strukturell als ›wilde[r]‹ Gegenklassizim[us]« (Robert 2012: 38). So erfüllt der Text in sprachlich-formaler Hinsicht gezielt die Kriterien einer ›wilden‹ Poetik:13 Die syntaktische Struktur ist durch zahlreiche »Verschiebungen und Inversionen in der Wortstellung« geprägt, die emotionale Unmittelbarkeit und Unbändigkeit suggerieren; sie unterstehen indes »ebenso dem gewollten Effekt der Emphase wie die Elisionen von Vokalen, die Häufung von adjektivischen Komparativen bzw. Superlativen und die krasse, auf scharfe und farbige Kontraste gestimmte Semantik einer radikalisierten Empfindsamkeit« (Kremer 2004: 565). Entsprechend ›chaotisch‹ mutet denn auf den ersten Blick auch der Gedankengang des Aufsatzes an: Hymnische Apostrophen wechseln mit polemischen Attacken, Erlebnisfiktionen stehen neben architekturtheoretischen und kunstgeschichtlichen Überlegungen, imperativische Leseransprachen gehen mit szenischen Vergegenwärtigungen einher. Goethe selbst bezeichnete seine frühe ästhetische Schrift deshalb später, im autobiografischen Rückblick von Dichtung und Wahrheit, distanzierend als eine – unter dem Einfluss von Hamann und Herder stehende – »Staubwolke von seltsamen Worten und Phrasen«, in die er damals seine eigentlich »ganz einfachen Gedanken und Betrachtungen« gehüllt habe (FGA 14, 553).14
Dieser ›wilden‹ sprachlich-gedanklichen Form des Textes entspricht sein ›wilder‹ ästhetisch-programmatischer Gehalt: Anhand des Straßburger Münsters bzw. seines vorgeblichen »Schöpfergenius Erwin von Steinbach« (Gross 1970: 99) entwickelt der junge Goethe die zentralen produktions-, werk- und wirkungsästhetischen Kategorien seiner eigenen Genie-Poetik im Epochenkontext des Sturm und Drang. Er stilisiert das gotische Gebäude zum genialen Kunstwerk sowie dessen vermeintlichen Erbauer Erwin zum genialen Künstler par excellence, indem er für das Ursprüngliche der eigenen Kultur eintritt, das zwar in Vergessenheit geraten sei, an das es aber auf spezifische Weise wieder anzuschließen gelte.15 Hierbei bildet die vom französischen Klassizismus geprägte zeitgenössische Kunst- und Architekturtheorie das gegnerische Konzept, gegen welches das neue, wenngleich auf ein altes Kunstwerk zurückgreifende ästhetische Programm profiliert werden soll. Denn gemäß dem Wertekanon jener klassizistischen Sichtweise, wie ihn Goethe selbst als prägend für das eigene Vorurteil vor seiner Ankunft in Straßburg charakterisiert, erscheint die gotische Architektur generell als hässlich, missgestaltet und barbarisch, gewissermaßen als ›wilde‹ Architektur. Indem Goethe auf den »Artikel eines Wörterbuchs« (FGA 18, 113) anspielt, bezieht er sich auf diese Negativwertung der Gotik in Johann Georg Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste (1771–1774), deren erster Teil 1771 erschienen war und 1772 auszugsweise von Goethe in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen rezensiert wurde. In Sulzers Artikel Gothisch heißt es:
Man bedienet sich dieses Beyworts in den schönen Künsten vielfältig, um dadurch einen barbarischen Geschmak anzudeuten […]. Fürnehmlich scheint es eine Unschicklichkeit, den Mangel der Schönheit und guter Verhältnisse in sichtbaren Formen anzuzeigen […]. Da dieser Mangel des Geschmaks sich auf vielerley Art zeigen kann, so kann auch das Gothische von verschiedener Art seyn. / Darum nennt man nicht nur die von den Gothen aufgeführten plumpen, sondern auch die abentheuerlichen und mit tausend unnützen Zierrathen überladenen Gebäude, wozu vermuthlich die in Europa sich niedergelassenen Saracenen die ersten Muster gegeben haben, Gothisch. (Sulzer 1771: 489)
Die Ausführungen Sulzers, über die Goethe in seiner Rezension sarkastisch bemerkt, sie könnten »auch wohl aus dem Französischen übersetzt sein« (FGA 18, 96), bringen die klassizistische Ablehnung der Gotik prägnant zum Ausdruck. Das Gotische gilt demnach zuerst ganz allgemein als Inbegriff eines (jeden) barbarischen, d.h. rohen, unzivilisierten Geschmacks. Für Schönheit und richtige Formverhältnisse – Grundbegriffe der klassizistischen Ästhetik – hat dieser barbarische Geschmack keinen Sinn. Durch eine solche Verwendung des Ausdrucks »barbarisch« wird das Gotische bereits in die Nähe des Wilden gerückt; stellt der damals übliche Sprachgebrauch doch den Barbaren ›entwicklungsgeschichtlich‹ zwischen den Wilden und den Zivilisierten.16 Hieran anknüpfend nennt Sulzer nach anderen Bedeutungen des Gotischen als des Barbarischen erst zuletzt die – bezeichnenderweise auf den außereuropäischen Einfluss vonseiten der Sarazenen zurückgeführte – gotische Baukunst: »die abentheuerlichen und mit tausend unnützen Zierrathen überladenen Gebäude«, zu denen demzufolge auch das Straßburger Münster gehören würde.
Wenn Goethe nun gegen diese Sichtweise argumentiert, so geschieht dies in erster Linie dadurch, dass er das Verdikt der überflüssigen, zwecklosen Verzierungen mit Blick auf das Münster zu entkräften sucht. So wird gleich der erste Eindruck, den es bei ihm hinterlassen habe, als »Ein, ganzer, großer Eindruck« geschildert, der »aus tausend harmonierenden Einzelnheiten bestand« (ebd.: 114). Harmonie, Einheit und Ganzheit kennzeichnen demnach sehr wohl auch – und gerade – das Straßburger Münster. Dies unterstreicht Goethe an mehreren Stellen, so etwa, wenn gegen Ende des dritten Abschnitts die Rede ist von den »großen, harmonischen Massen, zu unzählig kleinen Teilen belebt; […] bis aufs geringste Zäserchen, alles Gestalt, und alles zweckend zum Ganzen« (ebd.: 115). Damit wird das Straßburger Münster, genauer: seine Fassade, nach dem Muster eines in sich zweckmäßigen Organismus beschrieben.17 In diesem Zusammenhang ist auch der wiederholte Vergleich des Münsterturms mit einem »weitverbreiteten Baume« (ebd.: 113) zu verstehen: Das Kunstwerk soll dem Naturprodukt entsprechen; das Vegetabilische liefert das Vorbild für das Ästhetische.
Diese Analogisierung von Kunst und Natur hat aber nicht nur eine werk-, sondern vor allem auch eine produktionsästhetische Valenz (die schon auf die Gemeinsamkeit zwischen dem wilden Naturmenschen und dem künstlerischen Genie vorausdeutet). Denn über einen Panegyrikus auf das Straßburger Münster hinaus geht es Goethe in seiner Schrift grundsätzlich um den künstlerischen »Genius«, den Erwin von Steinbach beispielhaft repräsentiert. Unbekümmert um die Anweisungen einer normativen Regelästhetik schaffe ein solches Genie – wie die mit Gott identifizierte Natur – aus sich selbst ›ganzheitliche‹ Werke, die wie »gewachsen« erscheinen. So richtet Goethe an einen »neufranzösche[n] philosophierende[n] Kenner« (ebd.: 112), hinter dem sich der Architekturtheoretiker Marc-Antoine Laugier verbirgt, die belehrenden Worte: »Schädlicher als Beispiele sind dem Genius Prinzipien. […] Er ist der erste aus dessen Seele die Teile, in Ein ewiges Ganze zusammen gewachsen, hervortreten. Aber Schule und Principium fesselt alle Kraft der Erkenntnis und Tätigkeit.« (Ebd.) Die ›Natürlichkeit‹ des Genies, wie sie hier behauptet wird, schließt mithin seine ›Regellosigkeit‹, seine ›Wildheit‹ ein, und diese ›Wildheit‹ des autonom, weil frei von vorgegebenen Regeln schaffenden Genies zeige sich ebenfalls am »Werk des Meisters, der zuerst die zerstreuten Elemente, in Ein lebendiges Ganze zusammen schuf.« (Ebd.: 116 [Hervorh. d. Verf.])
Die ›Wildheit‹ des Werks widerspricht nach Goethe also keineswegs der herausgestellten Harmonie von Teilen und Ganzem; diese gehe aber nicht in einem Konzept von ›glatter‹ Schönheit auf, sondern enthalte zugleich eine ›raue‹ Dimension. Ausdrücklich betont Goethe gegenüber dem ›geneigten Leser‹, den er als »teure[n] Jüngling« anredet, die nur scheinbaren »Widersprüche«, die sich bei der Betrachtung des Straßburger Münsters ergeben können. Der – gemäß der Textfiktion – schon halb überzeugte Jüngling zeigt sich noch von der »Stärke und Rauheit« des Bauwerks irritiert, die dessen »Schönheit« vermeintlich zuwiderläuft (ebd.). Goethe will diese Irritation nun beseitigen, und zwar dadurch, dass er die »Rauheit« mit der zugleich behaupteten Schönheit zu vermitteln sucht. Somit votiert er für eine ›doppelte Ästhetik‹, die dem Schönen das Korrektiv des Erhabenen zur Seite stellt,18 wobei sich auffällige Parallelen zur Erhabenheitsästhetik Edmund Burkes zeigen, in dessen Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful von 1757 die »erhabenen Gegenstände« (»sublime objects«) ebenfalls als »rau« (»rugged«) beschrieben werden (Burke 1958: 124).19 Entsprechend wird das ›raue‹ Bauwerk in Goethes Text denn auch ausdrücklich als »hoch erhaben« (FGA 18, 114) bezeichnet. Und noch im Rückblick von Dichtung und Wahrheit spricht Goethe in Bezug auf die Münsterfassade von einer Kombination des »Erhabene[n] mit dem Gefälligen«, die eine »scheinbar unmögliche Verbindung« von »unverträglichen Eigenschaften« darstelle (FGA 14, 417).
Im Kontext dieser doppelten Ästhetik, die auf eine nicht primär oder nicht mehr ausschließlich schöne, sondern (zugleich) erhabene Kunst abzielt, ist auch die historisch-anthropologische Theorie über den Ursprung der Kunst zu verstehen, die im vierten, vorletzten Abschnitt des Textes die eigentliche Passage über den Wilden einleitet. Der angesprochene »Jüngling« soll durch diese Ursprungstheorie lernen, dass »Schönheit« sowie »Stärke und Rauheit« als ästhetische Kategorien einander nicht ausschließen, dass die Verbindung des Schönen mit dem Erhabenen eine nur »scheinbar unmögliche« ist. Das ästhetische Gegenmodell hierfür liefert abermals Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste, vor welcher der Jüngling eindringlich gewarnt wird, wenn Goethe ihm zuruft: »Laß […] die weiche Lehre neuerer Schönheitelei, dich für das bedeutende Rauhe nicht verzärteln, daß nicht zuletzt deine kränkelnde Empfindung, nur eine unbedeutende Glätte ertragen könne.« (FGA 18, 116) Goethes Polemik richtet sich gegen eine ›einseitige‹ Ästhetik, welche die Kunst lediglich auf die Gestaltung des Gefällig-Schönen festlegt und dabei das »bedeutende Rauhe«, mithin das ›Wilde‹, Erhabene als Gegenpol ausschließt. Diese ausschließliche Fixierung auf das Schöne, die – wiederum Burkes Theorie entsprechend20 – mit Weichheit und Verzärtelung assoziiert wird, verfehle nämlich den ›wahren‹ Begriff des Schönen selbst, indem sie dieses auf »eine unbedeutende Glätte« reduziere. Auch mit dieser Reduktion ist eine spezifische Theorie über den Ursprung der Kunst verbunden, die Goethe indes als ›falsch‹ erweisen und durch die eigene, ›richtige‹ ersetzen will. So referiert er Sulzers These, »die schönen Künste seien entstanden aus dem Hang, den wir haben sollen, die Dinge rings um uns zu verschönern«, und fügt sogleich in aller Entschiedenheit hinzu: »Das ist nicht wahr!« (Ebd.)
Gegen Sulzers Verschönerungs-These stellt Goethe nun das Konzept einer ›bildenden‹ bzw. ›charakteristischen‹ Kunst, deren anthropologische und historische Ursprünglichkeit er anhand des Rekurses auf den Wilden zu plausibilisieren sucht. Diese Verschränkung von Anthropologie und Geschichte beruht auf der vom jungen Goethe mit zahlreichen Autoren des 18. Jahrhunderts geteilten Annahme, dass »in dem kulturellen Gefälle zwischen Europa und den exotischen ›Wilden‹ ein Abbild des geschichtlichen Fortschritts« zu sehen sei (Knopp 1979: 641), der nach seiner Auffassung freilich nicht per se zum Besseren führt. Die durch den Hinweis auf die ästhetische Praxis der Wilden zu belegende ›kunsthistorische‹ Ausgangsthese Goethes lautet: »Die Kunst ist lange bildend, eh sie schön ist, und doch, so wahre, große Kunst, ja oft wahrer und größer, als die Schöne [Kunst] selbst.« (FGA 18, 116) Goethe meint hier mit der ›bildenden Kunst‹, die er der ›schönen Kunst‹ gegenüberstellt, nicht etwa, wie erst seit Beginn des 19. Jahrhunderts üblich, die Sammelbezeichnung für all jene Künste, »welche sichtbare Gegenstände durch äußere räumliche Formen darstellen« (Hebenstreit 1843: 95), wie Architektur, Bildhauerei oder Malerei. Statt auf das Bildhafte als das Räumlich-Visuelle des künstlerisch Dargestellten hebt Goethe vielmehr auf das Bildende als den kreativen Akt der Darstellung selbst ab: auf die Produktivkraft, die er als anthropologische Konstante versteht, indem er von der »bildenden Natur« des (bzw. »in dem«) Menschen spricht, »die gleich sich tätig beweist, wann seine Existenz gesichert ist.« (FGA 18, 116)
In Anspielung auf den als mythologische Chiffre für den Künstler fungierenden Prometheus, der in dieser Funktion auch explizit am Ende des Baukunst-Aufsatzes vorkommt (sowie bekanntlich ebenfalls in der Rede Zum Shakespears-Tag und in der Prometheus-Hymne), wird der Mensch, insofern er diese »bildende Natur« besitzt, als »Halbgott« apostrophiert. Die pantheistisch mit Gott gleichgesetzte schöpferische Natur, die natura naturans, wohnt auch dem – insofern ebenfalls göttlichen – Menschen inne, der wie Prometheus »umher nach Stoff« greift, um »ihm seinen Geist einzuhauchen.« (Ebd.) Der im bisherigen Textverlauf schon wiederholt formulierte Gedanke von der Gottähnlichkeit des künstlerischen Genies,21 modellhaft repräsentiert durch den »heilige[n] Erwin« (ebd.: 115), wird hier erneut aufgegriffen, erfährt nun aber eine anthropologische Verallgemeinerung: Goethe erklärt den Menschen als solchen zum (potentiellen) göttlichen Künstler, und zwar nachdrücklich auch schon den Naturmenschen im vorzivilisatorischen Zustand. Denn als Manifestationen der anthropologisch verstandenen »bildenden Natur« begreift Goethe grundsätzlich bereits die ästhetischen Produktionen und ›Körpermodifikationen‹ der Naturvölker, wie sie in den zeitgenössischen ethno-ästhetischen Debatten vielfach diskutiert wurden.22 Diese primitiven künstlerischen Anfänge bringen demzufolge zwar keine schönen, sondern bizarre und sogar hässliche Gebilde hervor, die aber gleichwohl den produktiven Urcharakter aller Kunst erkennen lassen, auf den es Goethe vor allem ankommt:
Und so modelt der Wilde mit abenteuerlichen Zügen, gräßlichen Gestalten, hohen Farben, seine Cocos, seine Federn, und seinen Körper. Und laßt diese Bildnerei aus den willkürlichsten Formen bestehn, sie wird ohne Gestaltverhältnis zusammenstimmen, denn Eine Empfindung schuf sie zum charakteristischen Ganzen. (Ebd.: 116f.)
Unschwer sind die – auf den ersten Blick doch recht erstaunlichen – Parallelen zu erkennen, die Goethe damit zwischen den Gegenstands- und Körperverzierungen der Wilden einerseits und der »deutschen Baukunst« Erwins von Steinbach andererseits zieht:23 Die »abenteuerlichen« und »gräßlichen«, zugleich aber auch »hohen« Produkte jener archaischen Kunst korrespondieren dem erhabenen Eindruck der »Stärke und Rauheit«, den das Straßburger Münster bei seinem Betrachter hervorrufe. Und wie sich dieses als Kunstwerk durch die gleichsam organische Zweckmäßigkeit aller seiner Teile in Bezug auf das »lebendige[ ] Ganze« (ebd.: 116) auszeichne, da sein Schöpfer »mehr gefühlt als gemessen« (ebd.: 111) habe, so ergibt sich nach Goethe auch die notwendige ›Zusammenstimmung‹ der von dem Wilden hervorgebrachten »willkürlichsten Formen« dadurch, dass »Eine Empfindung […] sie zum charakteristischen Ganzen [schuf].« Harmonie und Rauheit, ja sogar Hässlichkeit schließen einander demnach nicht aus.
Indem der junge Goethe mit seiner antiklassizistischen ›Ästhetik des Wilden‹ als einer ›Ästhetik des Hässlichen‹ Partei ergreift für die primitiven, ›noch nicht schönen Künste‹, argumentiert er also dafür, dass Schönheit nicht das ausschließliche und auch nicht das vorzügliche Kriterium für die Beurteilung von Kunstwerken sein darf. Das Werk des gotischen Baumeisters Erwin von Steinbach mag zwar nicht nur rau, sondern auch schön sein, aber wie bei den »Bildnereien« des Wilden handle es sich dabei primär um bildende, d.h. produktive, auf dem anthropologischen Gestaltungstrieb des Menschen basierende Kunst, die Goethe nun als »charakteristische Kunst« näher bestimmt, welche für ihn »die einzige wahre« ist (ebd.: 117). ›Falsche‹ Kunst – und damit von aller ›wahren‹ wirklich substantiell verschieden – wäre dagegen nur die imitative Kunst der Nachahmer, die sich auf rationale Regeln statt auf eigene Empfindung verlassen. Die werkästhetische Kategorie des Charakteristischen, die auf »Stärke und Rauheit« und damit, im Verständnis des jungen Goethe, auf das Erhabene hindeutet,24 entspricht der produktionsästhetischen Kategorie des Bildenden bzw. der bildenden Natur im Menschen. Wo die zur allgemeinen Natur des Menschen gehörende Bildungskraft »aus inniger, einiger, eigener, selbstständiger Empfindung um sich wirkt« (ebd.), überall da entstehe charakteristische Kunst, die nicht zwangsläufig schön sein muss.
Ausdrücklich merkt Goethe an, es sei im Hinblick auf dieses Charakteristische im Sinne der das Werk jeweils auszeichnenden lebendigen Ganzheit gleichgültig, ob die Kunst »aus rauher Wildheit, oder aus gebildeter Empfindsamkeit geboren« wird (ebd.). Mithin stellt er in seiner ethno-anthropologischen Ästhetik anthropologische Konstanz über kulturelle Differenz: Es gibt für ihn nur die eine Natur des Menschen, an der alle Völker – die wilden wie die zivilisierten – teilhaben, und diese Natur bestimmt den Menschen als homo aestheticus, dessen Werke, sofern sie aus »Empfindung« stammen, prinzipiell dieselbe Qualität des Charakteristischen aufweisen. Die exotischen Wilden stehen im Hinblick auf die bildende Natur des Menschen den zivilisierten Europäern in nichts nach; ja sie können sich ihnen sogar als überlegen erweisen, wenn es sich bei diesen (wie laut Goethe bei den Franzosen und ihren Adepten) um bloße Imitatoren handelt, die nicht aus eigener Empfindung schöpfen: In diesem Fall sei die ›bildende‹ Kunst der Wilden – und mag sie auch noch so grotesk oder gar hässlich erscheinen – »wahrer und größer als die Schöne [Kunst] selbst.« (Ebd.: 116)
Trotz aller latenten Nivellierung der Differenzen zwischen der primitiven Kunst der Naturvölker und der ›gebildeten‹ Kunst der Kulturvölker bemerkt Goethe allerdings, dass man »bei Nationen und einzelnen Menschen […] unzählige Grade« (ebd.: 117) charakteristischer Kunst feststellen könne. Substantielle Unterschiede gibt es demzufolge bei aller »wahren« Kunst nicht, wohl aber graduelle Abstufungen – was durchaus im Sinne einer kunstgeschichtlichen Höherentwicklung zu verstehen ist. Dabei integriert Goethe die Schönheit, die zuvor von dem ›Bildenden‹ als dem Ursprung der Kunst abgegrenzt wurde, ausdrücklich wieder in die Ästhetik des Charakteristischen. Freilich handelt es sich dabei nicht um dieselbe Schönheit; es wird vielmehr eine falsche, einseitige von einer richtigen, mit dem Charakteristischen verbundenen Schönheit unterschieden.25 Entsprechend führt Goethe das Maß der ›Glückseligkeit‹ und ›Anbetungswürdigkeit‹ des Künstlers auf den Grad seiner Erhebung »zu dem Gefühl der Verhältnisse, die allein schön […] sind«, zurück – um im Anschluss sogleich die »Stufe« zu preisen, »auf welche Erwin gestiegen ist«, angesichts dessen Werk der kongeniale Betrachter »das tiefste Gefühl von Wahrheit und Schönheit der Verhältnisse« (ebd.) zu erkennen vermöge. So geht Goethe schließlich von einer stufenartigen Höherentwicklung der Kunst aus, die sich im ›menschheitsgeschichtlichen‹ Prozess der wachsenden Entfernung vom Naturzustand vollzieht – allerdings nur, wenn der Kontakt zu diesem nicht abreißt. Das Charakteristische bilde dabei zwar den essentiellen Ursprung der ›wahren‹ Kunst, die aus ihm erwachsene, mit ihm vereinte und insofern spannungsvolle Schönheit26 aber ihren Gipfel.27 Die Rehabilitation des Archaischen verbindet sich in Goethes Baukunst-Aufsatz also auf eigentümliche Weise mit der Voraussetzung (der Möglichkeit) eines ästhetisch-kulturellen Fortschritts.
Im Anschluss an die den fünften und letzten Abschnitt des Textes eröffnende Kritik an der klassizistischen Nachahmungsästhetik der eigenen, deutschen Gegenwart, die sich »zu ihrem Verderben« nach dem Vorbild »leichte[r] Franzose[n]« an der griechischen Antike orientiere, wird – gleichsam als Erlösergestalt, die der Sakralisierung des genialen Künstlers zum »Gesalbten Gottes« entspricht – das Kommen eines neuen Genies angekündigt, das noch »mehr als Prometheus […] die Seligkeit der Götter auf die Erde« leiten soll (ebd.: 117f.). Die Vermutung liegt nahe, dass der junge Goethe mit diesem im Schlusspassus des Textes hymnisch angerufenen »Knabe[n]« (ebd.: 118)28 sich selbst meint. Jedenfalls erhellt aus seiner ›Prophezeiung‹, dass die graduelle Höherentwicklung der charakteristischen Kunst, die mit den »willkürlichsten Formen« des Wilden beginnt, durch Erwin von Steinbach noch keineswegs abgeschlossen wurde: Die »Stufe, auf welche Erwin gestiegen ist«, stellt also nicht etwa die höchste und letzte dar, sondern ist ihrerseits nur eine ›Vorstufe‹ des kommenden Knaben-Genius, der noch höher steigt. Auch seine erst noch zu schaffenden Werke sind indes Produkte derselben anthropologisch fundierten charakteristischen Kunst, die das »bedeutende Rauhe« im Laufe des Zivilisationsprozesses mit dem ›wahren‹ Schönen verbindet. Auch er wird, gerade weil er »mit einem scharfen Aug für Verhältnisse« ausgestattet ist, nicht durch ästhetische »Pädagogen«, sondern allein durch »die Natur« erzogen (ebd.).
Darin ähnelt noch das Genie der Zukunft, wie Goethe es am Ende seiner Schrift heraufbeschwört, dem Wilden im Naturzustand. Denn letztlich handelt es sich bei dem, was hier angekündigt bzw. ersehnt wird, um nichts anderes als um die vollkommene Entfaltung der »bildenden Natur«, die das Wesen des Menschen ausmache, wie es sich vermeintlich schon vor aller Kultur zeigt. Umgekehrt dient dieses Argumentationsmodell somit freilich auch dazu, den genialen Künstler der Gegenwart als den eigentlichen, am höchsten und umfassendsten entwickelten Menschen zu proklamieren. Zugleich aber lebt das Wilde des (vor)kulturellen Ursprungs im modernen Genie fort, insofern jene bildende Menschen-Natur bei ihm nicht der zivilisatorischen ›Verzärtelung‹ zum Opfer gefallen ist, sondern immer noch genauso wirksam bleibt wie im ursprünglichen Zustand der Menschheit, den für Goethe in zeittypischer Weise der primitive Exot verkörpert. Wie dessen »Bildnereien« komme mithin auch den Kunstwerken des neuen Naturgenies in der Nachfolge Erwins von Steinbach die erhabene Rauheit des Charakteristischen zu, jedoch verknüpft mit der Schönheit, die dadurch erst ›wahre‹ Schönheit sei.
Noch in der autobiografischen Selbstreflexion von Dichtung und Wahrheit äußert Goethe Gedanken, die mit der ethno-anthropologischen Ästhetik seines frühen Textes in erstaunlicher Weise übereinstimmen. So rekapituliert er dort im 6. Buch nicht nur seine einst – wohl in Anlehnung an Herder29 – formulierte kulturanthropologische These vom erhabenen Ursprung der Kunst, sondern er beschreibt auch die weitere zivilisatorische Entwicklung vom Erhabenen zum Schönen bzw. zur Vereinigung des Erhabenen mit dem Schönen, wie er sie gegen Ende seiner Jugendschrift in Bezug auf Erwin von Steinbach und den künftigen Knaben-Genius gefordert hatte. Wie er schon 1772 polemisch auf die klassizistische »Lehre neuerer Schönheitelei« Bezug nimmt, welche das Charakteristisch-Erhabene zugunsten der einseitig verabsolutierten Schönheit ausschließe, so betont er auch in Dichtung und Wahrheit die Gefahr für das Erhabene, im zivilisatorischen Prozess durch »wachsende Bildung vernichtet [zu] werden« (FGA 14, 246). Zugleich aber wird an dieser Stelle auch die Aussicht auf eine Synthese von Schönem und Erhabenem eröffnet, falls letzteres »glücklich genug ist, sich zu dem Schönen zu flüchten und sich innig mit ihm zu vereinigen, wodurch denn beide gleich unsterblich und unverwüstlich sind.« (Ebd.) An diesem Gedanken einer für beide Seiten gewinnbringenden Vereinigung des Erhabenen mit dem Schönen, die zugleich ein Fortleben des Ursprünglichen im Entwickelten, des Wilden im Zivilisierten bedeutet, hat der spätere Goethe bei aller Distanzierung vom früheren ›Genietreiben‹ offenkundig festgehalten.
Das anthropologische Interesse an den Kunstpraktiken außereuropäischer Völker schlägt sich in Schillers Ästhetik viel umfassender nieder als in Goethes kunsttheoretischen Überlegungen. So beschäftigt sich Schiller in seinen philosophisch-ästhetischen Schriften, die während der ersten Hälfte der 1790er Jahre entstehen, immer wieder und in neuen Anläufen mit dem Stellenwert solcher archaischen Kunstformen. Die für sein philosophisches Denken zentrale Frage nach der Bedeutung der ästhetischen Erfahrung für die Natur des Menschen motiviert diese intensiven Reflexionen auf die ästhetischen Praktiken der exotischen Wilden. Insofern ist Peter-André Alt zuzustimmen, wenn er hervorhebt, »dass Schiller aus einer dezidiert […] ästhetischen Perspektive an das Problem des Wilden herantritt und es theoretisch eingemeindet« (Alt 2012: 284). Schillers allgemeines Interesse an den exotischen Naturvölkern ist freilich schon eher geweckt worden: Spurenelemente der zeitgenössischen »Erschließung der geographisch fremden Welt« und ihrer Bewohner, vermittelt über die ausgiebige Lektüre von Reiseberichten, finden sich bereits seit den frühen 1780er Jahren immer wieder »in den Erzählungen, Dramen, Gedichten« (Guthke 2000: 103) sowie in den geschichtsphilosophischen Vorlesungen von 1789 und 1790. Auf den Zusammenhang ethno-anthropologischer Aspekte mit Fragestellungen der Ästhetik dürfte Schiller aber wohl erst 1792 in der Folge seines intensiven Studiums von Kants Kritik der Urteilskraft (1790)30 besonders aufmerksam geworden sein, in der dieser Zusammenhang ebenfalls an mehreren Stellen verhandelt wird.
Im Laufe seiner anthropologisch-ästhetischen Reflexionen über das Verhältnis des Wilden zur Kunst bzw. zum Schönen entwickelt Schiller mehrere, einander durchaus widersprechende Denkmodelle, die auf die generelle Ambivalenz des Bildes verweisen, das sich das 18. Jahrhundert vom Wilden macht. Dabei beginnt Schiller als Vertreter einer antirousseauistischen Auffassung von der tierähnlichen Rohheit der außereuropäischen Völker, denen er deshalb auch jeden ästhetischen Sinn abspricht, um sich allerdings mit der Zeit einer entgegengesetzten, Positives im Primitiven erblickenden Perspektive anzunähern,31 wie sie der junge Goethe schon zwanzig Jahre zuvor vertreten hatte – allerdings mit einigen signifikanten Verschiebungen.
Bevor ich gleich näher auf Schillers ästhetische Schriften eingehe, soll zunächst noch kurz der Blick auf die Jenaer Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (1789) gerichtet werden, in der seine anfängliche Negativwertung der exotischen Naturvölker besonders markant zum Ausdruck kommt. Schiller vertritt hier einen radikalen aufklärerischen Fortschrittsoptimismus,32 indem er die Wilden in Übersee, die er mit den Anfängen der Menschheitsgeschichte in Verbindung bringt, als ›trauriges‹ Spiegelbild der eigenen, europäischen Vergangenheit präsentiert. Die aktuellen Seefahrten in ferne Weltgegenden erscheinen so gleichsam als Zeitreisen in längst überwundene Urzustände; der Kontakt mit dem kulturell Fremden wird zur ›beschämenden‹ Begegnung mit der eigenen Vorgeschichte. Die exotischen Primitiven entsprechen in Schillers Augen unseren »rauen Vorfahren in den thüringischen Wäldern« (FSA 6, 422) und lehren uns daher: »so waren wir« (ebd.: 418). Schiller analogisiert dabei Phylo- und Ontogenese; er vergleicht die Entwicklung des ganzen Menschengeschlechts mit dem Durchlaufen verschiedener Lebensalter beim einzelnen Menschen und konstatiert eine sukzessive Höherentwicklung – von den mehr oder weniger ›kindlichen‹ Wilden bis hin zur aufgeklärten Mündigkeit der ›erwachsenen‹ europäischen Kulturnationen.33 Geschichtsphilosophie und Ethno-Anthropologie gehen folglich Hand in Hand, wenn Schiller sich, wenn auch recht unspezifisch, auf die ethnografischen Erträge der zeitgenössischen Entdeckungsreisen beruft:
Die Entdeckungen, welche unsre europäischen Seefahrer in fernen Meeren und auf entlegenen Küsten gemacht haben, […] zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannichfaltigsten Stufen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiednen Alters um einen Erwachsenen herumstehen und durch ihr Beispiel ihm in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen und wovon er ausgegangen ist. […] Wie beschämend und traurig aber ist das Bild, das uns diese Völker von unserer Kindheit geben! und doch ist es nicht einmal die erste Stufe mehr, auf der wir sie erblicken. Der Mensch fing noch verächtlicher an. (Ebd.: 416f.)
Mit Rousseau weiß sich Schiller darin einig, dass die »auf entlegenen Küsten« heimischen Wilden schon nicht mehr gänzlich im Naturzustand leben, sondern bereits erste Schritte auf dem Weg zur Zivilisation gemacht haben. Diametral entgegengesetzt fällt jedoch die jeweilige Bewertung des Verhältnisses von Naturzustand und Zivilisation aus: Während Rousseau den (hypothetischen) Ausgangspunkt dergestalt idealisiert, dass sich der natürliche Mensch durch seine physische und moralische Überlegenheit gegenüber dem depravierten zivilisierten Menschen auszeichne, vertritt Schiller in der Antrittsvorlesung die umgekehrte Ansicht: Das menschheitsgeschichtliche Frühstadium gilt ihm als roher, auch und gerade in moralischer Hinsicht verächtlicher Zustand, der überwunden werden muss – und von den Europäern tatsächlich überwunden wurde.34
Eher beiläufig streift Schiller hier das Gebiet des Ästhetischen, auf dem sich der extreme Unterschied zwischen dem wilden Anfang und dem zivilisatorischen Ziel der Menschheit ebenfalls zeige. So heißt es über den ›unästhetischen‹ Wilden: »[W]ie abenteuerlich und ungeheuer zeigt er sich unsern Augen! Sein roher Geschmack sucht Fröhlichkeit in der Betäubung, Schönheit in der Verzerrung, Ruhm in der Übertreibung« – Verhaltensweisen, die beim gebildeten Europäer nach Schiller »nur Ekel oder Mitleid erregen« können (ebd.: 418). Denn die Kultivierten unterscheiden sich gerade auch durch ihre »Kunsttriebe« von den Primitiven der historischen Frühe bzw. der geografischen Ferne; die »Wunder der Kunst« seien neben den »Schöpfungen der Vernunft« (ebd.: 421) die vorzüglichsten zivilisatorischen Errungenschaften. Der Unterschied zur integrativen Betrachtung des Wilden in Goethes Baukunst-Aufsatz, der zwischen der primitiven Kunst der Exoten und der hochentwickelten Kunst des Genies nur graduelle Unterschiede konstatiert, ist eklatant.
Auch zu Beginn seiner dezidiert ästhetischen Reflexion auf die überseeischen Ethnien im Zuge der Lektüre von Kants Kritik der Urteilskraft ab dem Jahr 1792 behält Schiller seine antirousseauistische, ›verächtliche‹ Perspektive auf den Wilden zunächst noch bei. Indem er von Kant die Grundbestimmung der Lust am Schönen als »uninteressirtes und freies Wohlgefallen« (Kant 1908: 210)35 an der bloßen Form eines Gegenstands adaptiert, betont er etwa in einer Wohlgefallen am Schönen überschriebenen Notiz, die wohl von 1792 stammt, dass es sich bei diesem Wohlgefallen um einen »unbegreifliche[n] Schritt« handelt, »den der Mensch tut« (FSA 8, 1043) – bzw. durch den er allererst zum Menschen wird. Damit knüpft Schiller an entsprechende Überlegungen aus § 41 der Kritik der Urteilskraft an. Dort geht es um die Frage, wie aus dem von »Reiz und Rührung« beeinflussten ›interessierten Wohlgefallen‹ am Angenehmen, das den »unrein[en]« und »barbarisch[en]« Geschmack des Naturmenschen kennzeichne (Kant 1908: 223), im Laufe des zivilisatorischen Fortschritts ein von allen Reizen unabhängiges »uninteressirtes […] Wohlgefallen« am Schönen wird – eine Frage, die Kant im Ausgang von den ästhetischen Körperpraktiken bei exotischen Völkern so zu beantworten sucht, dass er einen dreistufigen Übergang von den Körperbemalungen sowie dem Muschel-, Blumen- und Federschmuck der Wilden bis hin zu den »verfeinerten« Äußerungen des ästhetischen Geschmacks auf der höchsten Zivilisationsstufe konstruiert.36 Das eigentliche Problem, wie aus dem interessierten Wohlgefallen am Angenehmen ein interesseloses Wohlgefallen am Schönen werden kann, löst Kant damit freilich nicht. Schiller behauptet nun, dass sich dieses Problem auch gar nicht lösen lasse, weil die Körperverzierungen des Wilden mit Kunst nichts zu tun hätten:
Man findet bei dem Kind und bei wilden Völkern zwar eine Neigung zum Schmuck und Putz, etwas das über das Bedürfnis hinausgeht, aber diese Neigung ist ganz nur sinnlich, es ist der Glanz der Farben, welcher anzieht, es ist die Eitelkeit welche sich auszeichnen, es ist der Reichtum, welcher groß tun will. Deswegen hängt sich der Wilde Ringe in Nasen, Ohren u[nd] Lippen, tattowiert sich, färbt sich Lippen und Nägel, besteckt sich mit bunten Steinen, Federn, ja mit Knochen und Zähnen. (FSA 8, 1043)
Im Gegensatz zu Kant will Schiller diese »ganz nur sinnlich[e]« »Neigung zum Schmuck und Putz« überhaupt nicht als ersten Schritt zur Ausbildung des ästhetischen Geschmacks verstehen; vielmehr betont er: »Aber von allem diesen ist kein Übergang zu einem freien Wohlgefallen an der schönen Gestalt.« (Ebd.) Schiller stellt Kant also die These entgegen, dass gar kein Weg von der »Eitelkeit« der »Wilden« zur schönen Kunst führt. Mit dieser fange vielmehr etwas völlig Neues an. Statt von einer kontinuierlichen sei mithin von einer sprunghaften Entwicklung auszugehen, die Schiller klimatheoretisch begründet, wenn er die künstlerische Gestaltung des Schönen durch die Schönheit der menschlichen Gestalt selbst bedingt sieht: »In Ländern, wo die Natur schöne Gestalten erzeugt, entstand auch die Foderung des Schönen; das Ideal, welches man in sich trägt, bildet sich nach den Eindrücken, die man empfangen.« (Ebd.) Unschwer zu erahnen ist – schon aufgrund der Nähe zu den bekannten Formulierungen aus Winckelmanns Gedancken über die Nachahmung der griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst (1755)37 –, dass Schiller hierbei das antike Griechenland vor Augen hat. Ausdrücklich weist er denn auch am Ende des kurzen Textes auf die ungeheure Kluft zwischen den Wilden und den Griechen hin. So ruft er mit Blick auf die griechische Baukunst aus: »Von den Korbartigen Hütten und den schmutzigen Zelten von Tierhäuten, unter welchen sich der Wilde so erbärmlich hilft – zu der griechischen Säulenordnung, zu den Tempeln und Portikus, was für ein Schritt!« (FSA 8, 1043f.) Ein gleichsam unendlich großer Schritt (so wäre zu erläutern), der nicht auf einen allmählichen Übergang, sondern auf einen evolutionären Sprung schließen lässt.
Zu einer nahezu völlig veränderten Einschätzung gelangt Schiller allerdings schon bald darauf im Zuge seiner ›kulturkritischen Wende‹,38 wie er sie in der Vorstufe zu den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen, den zwischen Februar und Dezember 1793 geschriebenen Briefen an den Herzog von Augustenburg, vollzieht. Schiller relativiert hier, namentlich im Einschluss zum Brief vom 11. November 1793, plötzlich die zuvor noch so strikt formulierte Überlegenheit des aufgeklärten Europäers gegenüber dem Wilden, indem er nunmehr von den spezifischen »Tugenden der Wildheit« spricht, die er der »Erschlaffung« und »Weichlichkeit« des »verfeinerten Kunstmenschen« gegenüberstellt (ebd.: 520f.). Freilich erblickt Schiller in anthropologischer und damit auch in ästhetischer Hinsicht Vorzüge wie Defizite auf beiden Seiten, insofern hier die sinnlich-vernünftige Doppelnatur des Menschen jeweils nur einseitig ausgebildet sei: Der Wilde besitze, was dem Zivilisierten fehle – und umgekehrt. Schiller hat jetzt das Ideal eines dritten, zwischen der »sensualen« Wildheit und der »rationalen« Zivilisation (ebd.: 521) vermittelnden Zustands vor Augen: das Ideal einer umfassenden »Kultur der Menschlichkeit« (ebd.: 519), die beide Dimensionen der menschlichen Doppelnatur, Sensualität und Rationalität, vereint und die in den Ästhetischen Briefen dann den Namen ›ästhetischer Zustand‹ erhält. Das geeignete »Werkzeug« für diese »ästhetische Bildung« (ebd.) sei im Falle des Wilden das ›schmelzende‹ Schöne, im Falle des Zivilisierten dagegen das ›anspannende‹ Erhabene.39
Auffällig ist hieran, dass nun auf einmal doch eine gewisse Empfänglichkeit des Wilden für das Schöne vorausgesetzt wird – unmöglich bliebe sonst die ästhetische Bildung, durch die bei den überseeischen Exoten wie bei den europäischen Vorfahren die eigentliche Menschwerdung beginnt bzw. begann. Zwar hebt Schiller die Primitivität der dabei entstehenden Kunstprodukte hervor, die sich merklich von den idealschönen Werken der »gesittetsten aller Nationen des Altertums« (ebd.: 516), also der Griechen, unterscheiden. Dennoch heißt es im Brief an den Augustenburger Herzog vom 21. November 1793, dass sich durch »die Liebe zum Putz« bei den »wilden Stämmen« schon »die anfangende Humanisierung« (ebd.: 531) bekunde, auch wenn die Hervorbringungen auf dieser frühesten Kulturstufe bizarr anmuten: »Das Schöne des Wilden ist immer das Seltsame, das Schreiende, das Bunte. Er bildet groteske Figuren, liebt grelle Farben, und eine gellende Musik.« (Ebd.: 532) Die Parallelen zu Goethes Ausführungen im Baukunst-Aufsatz über die charakteristischen »Bildnereien« des Wilden sind – auch wenn damit kein direkter Einfluss behauptet werden soll – durchaus auffällig. So klingt es wie eine Anlehnung an Goethes Beschreibung, wie »der Wilde mit abenteuerlichen Zügen, gräßlichen Gestalten, hohen Farben, seine Cocos, seine Federn, und seinen Körper [modelt]« (FGA 18, 116), wenn Schiller die ästhetischen Körperpraktiken des Exoten schildert: »Wie er seine Haare mit Federn, seinen Hals mit Korallen ziert, wie er sogar an seinem eigenen Körper künstelt, und seine natürliche Gestalt, in der Absicht sie zu verschönern bis zum Abscheulichen entstellt« (FSA 8, 533).
Zwar markiert eben diese Voraussetzung, der Wilde wolle seine Umgebung bzw. sich selbst verschönern (wobei ihm allerdings der richtige Begriff des Schönen noch fehle), eine nicht unerhebliche Differenz zum Modell des jungen Goethe, dem zufolge es dem Wilden gerade nicht um Verschönerung, sondern ausschließlich um eine Betätigung seiner »bildenden Natur« geht. Wichtiger als diese und weitere Differenzen bleibt aber die Tatsache, dass Schiller damit seine frühere Ansicht von der unüberbrückbaren anthropologisch-ästhetischen Differenz zwischen Natur- und Kulturvölkern revidiert: So ›unendlich‹ groß, wie noch in der Notiz Wohlgefallen am Schönen angenommen, ist der Schritt vom Putz der Wilden zur Kunst der Griechen in Schillers Augen nun nicht mehr.
Und Schillers ästhetische Rehabilitierung des Primitiven geht noch weiter. Dies betrifft zum einen die Umarbeitung der Augustenburger Briefe zu den 1795 in den Horen erschienenen Ästhetischen Briefen, in welche die Passagen über den Wilden und die Kunst größtenteils integriert worden sind. Zwar hält Schiller vor dem Hintergrund der übergeordneten zeitpolitischen Problemstellung der Briefe daran fest, dass der sinnliche Wilde – ebenso wie das entgegengesetzte Extrem des rationalen Barbaren – lediglich eine einseitige Existenzform des Menschen repräsentiert, die als solche gerade nicht dem Ideal des ›ästhetischen Staatsbürgers‹ entspricht. Zugleich aber universalisiert er dabei sein Konzept des ästhetischen Wilden, der dadurch dem als homo ludens charakterisierten ›ganzen Menschen‹ näher steht als der aufgeklärte Barbar, der die Kunst verachtet: Während Schiller in den Augustenburger Briefen unter Berufung auf »neuere Weltentdecker« einschränkend darauf hinweist, dass es »bei vielen Völkern der Südsee und des nördlichen Asiens« (ebd.: 531) noch gar keine Anzeichen ästhetischer Bildung gebe, so ist er in der endgültigen Fassung seiner Briefe hingegen davon überzeugt, dass der reine Naturzustand ohne jede Kunst und Kultur eine »bloße Idee« (ebd.: 650) ist, während alle realen Naturvölker bereits über primitive künstlerische Praktiken verfügen, die auf »den eigentlichen Anfang der Menschheit« schließen lassen (ebd.: 668). Der Mensch ist ein ästhetisches Wesen – diese (mit dem jungen Goethe geteilte) Grundthese von Schillers Anthropologie bestätigen demzufolge sämtliche exotischen Völker, insofern sich »der ästhetische Bildungstrieb« (ebd.: 673) bei ihnen stets schon in irgendeiner, sei es noch so ›rohen‹ Art und Weise regt.
In der 1795/96 ebenfalls in den Horen veröffentlichten Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung erreicht Schillers ästhetisch-anthropologische Aufwertung des Wilden schließlich ihren Höhepunkt. Die Kategorie des Naiven bringt nunmehr vollends die Überlegenheit der Natur gegenüber der ›unnatürlichen‹ Kultur zum Ausdruck. Diese überlegene Natur, die das Interesse und die Sehnsucht des kultivierten Menschen wecke, indem sie ihn an seine eigene »Unnatur« erinnert, zeigt sich nach Schiller besonders »bei Kindern« (ebd.: 709) und »kindlichen Völkern«.40 Abermals werden mithin Onto- und Phylogenese parallelisiert: Der Naivität der Kinder entspreche diejenige der wilden Völkerstämme, die einst auch in Europa gelebt haben und in entlegenen Erdteilen noch immer leben. Die Naiven sind für Schiller also kein reines Vergangenheitsphänomen. Gleichwohl zeige der Blick auf sie dem Europäer in seiner Gegenwart den eigenen Ursprung, der weit zurückliegt. Wie in der Antrittsvorlesung heißt es auch hier: »Sie sind, was wir waren«. Doch die Wertung hat sich inzwischen genau umgekehrt: Nicht das stolze Bewusstsein des Fortschritts, sondern eine »gewisse[ ] Wehmut« erfüllt den sentimentalischen Zivilisierten, der sich nun sogar, wie bei Rousseau, nach einer Rückkehr in den Naturzustand zu sehnen vermag. Denn jetzt gilt für Schiller: Die Naiven »sind, was wir wieder werden sollen.« (Ebd.: 708) Der Wilde führe dem Kultivierten wie das Kind dem Erwachsenen vor Augen, was er verloren hat und was er – auf anderer Ebene41 – wiedererlangen soll: das in sich ruhende Leben, die harmonische Einheit mit sich selbst.
Am deutlichsten zeigt sich die mit der Kategorie des Naiven verbundene Aufwertung des Wilden jedoch in poetologischer Hinsicht: am Typus des naiven Dichters, dessen paradigmatische Verkörperung Schiller bekanntlich in Goethe sah. Nicht nur der historische oder exotische Wilde ist naiv, sondern auch das künstlerische bzw. dichterische Genie, und zwar notwendigerweise: »Naiv muß jedes wahre Genie sein, oder es ist keines. Seine Naivität allein macht es zum Genie« (ebd.: 718). Insofern steht der naive Dichter, der selbst Natur ist, über dem sentimentalischen Dichter, der die verlorene Natur nur sucht (vgl. ebd.: 728). In frappierend ähnlicher Weise wie einst Goethe in seinem Baukunst-Aufsatz betont auch Schiller in diesem Zusammenhang die Regellosigkeit des autonomen Natur-Genies – gleichsam ein Stück Sturm und Drang mitten in der Weimarer Klassik: »Unbekannt mit den Regeln, den Krücken der Schwachheit und den Zuchtmeistern der Verkehrtheit, bloß von der Natur oder dem Instinkt […] geleitet« (ebd.: 718f.) sei das Genie, das Schiller in der Folge sogar expressis verbis mit dem Begriff des Wilden assoziiert, indem er den naiven Dichter als einen Anachronismus in der modernen Welt herausstellt, der dadurch zum poetischen ›Wild-Laufen‹ gezwungen sei. So wird die Regellosigkeit, die Nicht-Konformität des modernen Genies auch aus seiner unzeitgemäßen Existenz als ›Natur in der Kultur‹ begründet: »Dichter von dieser naiven Gattung sind in einem künstlichen Weltalter nicht so recht mehr an ihrer Stelle. Auch sind sie in demselben […] auf keine andere Weise möglich, als daß sie in ihrem Zeitalter wild laufen«; deshalb erscheinen sie – analog zu den außereuropäischen Naturmenschen – der kultivierten »Sozietät […] als Fremdlinge die man anstaunt, und als ungezogene Söhne der Natur, an denen man sich ärgert.« (Ebd.: 732) Insofern kann man durchaus sagen, dass es sich bei dem von Schiller charakterisierten naiven Dichter, ebenso wie schon bei dem vom jungen Goethe modellierten Natur-Genie, um eine »potenzierte Akkulturation« von Rousseaus homme naturel handelt – ästhetisch gesteigert, wenn auch »nicht vollends domestiziert[ ]« (Alt 2012: 282f.).
Dass es Goethe ist, der für den sentimentalischen Dichter Schiller das naive Genie par excellence darstellt, wird besonders klar, wenn man sich die entsprechenden Selbststilisierungen Goethes vergegenwärtigt, die mit den Ausführungen in der Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung geradezu exakt übereinstimmen. So hat sich Goethe, der in seiner genialischen Jugendzeit aufgrund seines unkonventionellen Auftretens »der Hurone« genannt worden ist (vgl. dazu Jantz 1982: 526f.), selbst auch später noch mehrfach dergestalt beschrieben. Den Hintergrund hierfür bildet Voltaires 1767 publizierte gesellschaftskritische Erzählung L’Ingénu, in der ein ›Naturmensch‹, der bei Indianern vom Stamm der Huronen aufgewachsen ist, nach Frankreich gelangt, wo er durch sein freimütiges, ›naives‹ Verhalten auffällt. So schildert Goethe im 16. Buch von Dichtung und Wahrheit, wie er zu Beginn seiner Dichterkarriere der neugierigen Gesellschaft als der »quasi Fremde, […] als Bär, dann wieder als Hurone Voltaires […], als Naturkind« erschien (FGA 14, 739). Sich selbst charakterisiert Goethe noch um 1820 (nicht unkritisch) als Hurone, indem er in der Campagne in Frankreich 1792 (1819–1822) auf seine ungebundene Freimütigkeit hinweist, die er nicht nur in der Jugend, sondern auch in reiferen Jahren noch an den Tag gelegt habe:
[M]ein Talent gab mir einen ehrenvollen Platz in der Gesellschaft, aber meine heftige Leidenschaft für das was ich als wahr und naturgemäß erkannte, erlaubte sich manche gehässige Ungezogenheit […]. Dabei behielt ich etwas von der Ingenuität des Voltairischen Huronen noch im späteren Alter. (Ebd, 517f.)
Das, was Schiller als Goethes Naivität beschreibt – anfangs noch distanziert, wenn er seine »zu sinnlich[e]« »Vorstellungsart« (an Körner, 1.11.1790; FSA 11, 541) ablehnt, später dann affirmativ, wenn er ihn in komplementärer Rollenzuweisung als »intuitive[n] Geist« vom eigenen, »speculative[n]« (an Goethe, 23.8.1794; ebd.: 703) unterscheidet –, deckt sich mit dem, was Goethe selbst seine »Ingenuität« nennt oder was man das Huronische in seiner (Künstler-)Existenz nennen könnte.42 Diese Selbstreflexion des ›huronischen‹ Dichters findet in Über naive und sentimentalische Dichtung ihr Pendant, wenn Schiller dort von der Denkart des »kindlich gesinnten Menschen« spricht, der »oft mitten unter den gekünstelten Verhältnissen der großen Welt naiv« handelt und sich »mit […] Ingenuität« beträgt (FSA 8, 716). – Vielleicht also hängt Schillers zunehmende Aufwertung des Wilden, die um 1795 ihren ästhetiktheoretischen Höhepunkt erreicht, auch mit der im Sommer 1794 begonnenen Freundschaft mit dem »Huronen« Goethe zusammen. Ihre Bedeutung aber reicht weit darüber hinaus, sowohl in völkerkundlich-anthropologischer als auch in davon nicht zu trennender ästhetischer Hinsicht.
1 | Zur Notwendigkeit, das Gegenstandsfeld in der Interkulturalitätsforschung historisch auszuweiten, vgl. auch Heimböckel 2012: 28f.
2 | Die Fachbezeichnungen Völkerkunde und Ethnologie sind ungefähr gleich alt; beide entstehen um 1770. Allerdings dominiert im deutschsprachigen Raum zunächst die Bezeichnung Völkerkunde, bevor sich erst im 20. Jahrhundert der Begriff Ethnologie durchsetzt. Im Englischen und Französischen hingegen ist Ethnologie schon seit dem 19. Jahrhundert die gebräuchliche Bezeichnung; gegenwärtig wird aber den Begriffen Social oder Cultural Anthropology bzw. Anthropologie sociale der Vorzug gegeben (vgl. Kohl 2012: 14f.). – Wenn ich von völkerkundlicher bzw. ethnologischer Anthropologie spreche, dann soll dies dem historischen Sachverhalt Rechnung tragen, dass das im Zeitalter der Aufklärung herrschende Interesse an fremden Kulturen ein dezidiert anthropologisches ist. »Menschen-Kenntnis«, so heißt es beispielsweise in Wielands Aufsatz Ueber die Rechte und Pflichten der Schriftsteller, in Absicht ihrer Nachrichten, Bemerkungen, und Urtheile über Nationen, Regierungen, und andre politische Gegenstände, habe »Erd- und Völker-Kunde« zu sein (Wieland 1785: 198). Die Aufklärungsanthropologie spaltet sich generell in zwei Zweige auf: in die medizinisch-philosophische Anthropologie, die nach der ›allgemeinen‹ Natur des Menschen als psycho-physisches Wesen fragt, und in die völkerkundliche/ethnologische Anthropologie, der es um die kulturell verschiedenen ›Naturen‹ des Menschen geht (vgl. dazu Košenina 2008: 10–12). – Zu dieser Thematik habe ich kürzlich gemeinsam mit Stefan Hermes eine Konferenz organisiert, die unter dem Titel »Der ganze Mensch – die ganze Menschheit. Völkerkundliche Anthropologie, Literatur und Ästhetik um 1800« vom 22. bis 24. November 2012 am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) stattgefunden hat. Die Publikation des Tagungsbandes ist in Vorbereitung.
3 | Die Unterscheidung zwischen einem »ersten« und einem »zweiten Entdeckungszeitalter« geht zurück auf Parry 1963: 645.
4 | Darauf, dass es besondere »Beziehungen der kleinen Schrift [Von deutscher Baukunst] zu Schillers Aesthetik« gibt, hat bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts Karl Gneiss in einer selbstständig erschienenen Abhandlung hingewiesen (Gneiss 1901: 9). – Die thematische Verschränkung von Ethno-Anthropologie und Ästhetik spielt bei Gneiss freilich keine Rolle.
5 | Zur historischen Semantik der Begriffe »Wilde, Primitive, Naturvölker« und der jeweiligen Gegenbegriffe vgl. Kohl 2012: 17–24; speziell zu dem erst »im 19. Jahrhundert aufkommende[n] Begriff ›Primitive‹« vgl. ebd.: 20.
6 | Zu diesem Versuch, »die noch fehlenden Kettenglieder (missing links)« zwischen Mensch und Affe zu finden, vgl. Martin 1993: 195–215, hier: 203.
7 | Vgl. auch Robert 2012: 25: »Die neue Ästhetik verdankt sich dem Impuls des Wilden. Sie ist der Versuch, die Irritation des Archaischen, der rohen und exzessiven Natur, durch die zivilisierenden Kräfte der Form und der Norm (des Normalisierens) zu bändigen.«
8 | Zur »ethnographische[n] Erfahrung kultureller Diversität im 18. Jh.« bzw. zur zeitgenössischen Wahrnehmung der »kulturellen Hervorbringungen primitiver Völker« vgl. Gisi 2007: 235–317, hier: 243. Als (Zwischen-)Bilanz hält Gisi fest: »In den Beschreibungen der Bewohner der kältesten und heißesten Zonen und ihrer Kultur […] erfolgt immer wieder der Verweis auf eine ›starke‹ Imagination […] als Ursache […] kultureller bzw. (im wörtlichen Sinn) ›poetischer‹ Leistungen« (ebd.: 283).
9 | Brief an Goethe vom 7. Januar 1797 (FSA = Frankfurter Schiller-Ausgabe [Schiller 1992–2002], zit. unter Angabe der Band- und Seitenzahl).
10 | Zur klassizistischen Ästhetik in Schillers philosophischen Schriften vgl. Pfotenhauer 2005.
11 | Begriff und Phänomen des Nicht-(mehr-)Schönen in den Künsten thematisierte zum ersten Mal umfassend der Sammelband von Jauß 1968.
12 | Zu Goethes Kenntnisstand im Hinblick auf Australien und Neuseeland, der vor allem durch die Berichte seines Londoner Korrespondenten Johann Christian Hüttner (1766–1847) mitgeprägt wurde, vgl. Guthke 2011.
13 | Die ältere Forschung wertete dies als Indiz für den vermeintlich unmittelbaren ›Erlebnischarakter‹ des Textes. So spricht etwa Ernst Beutler von einem »Strom der Inspiration«, der »stoßweise« in »Fetzen« ausgebrochen sei (Beutler 1943: 25), und Harald Keller beschreibt den Text vollends als »merkwürdiges Durcheinander von Gedanken, Stimmungen, Ahnungen, Halbwissen und Theorien« (Keller 1974: 7).
14 | FGA = Frankfurter Goethe-Ausgabe (Goethe 1987–2013), zit. unter Angabe der Band- und Seitenzahl.
15 | Goethe wollte freilich kein Gothic revival, keine Wiederbelebung der gotischen Bauweise initiieren, sondern anhand des Straßburger Münsters lediglich die zentralen Merkmale eines genialen Kunstwerks hervorheben.
16 | Vgl. die kulturanthropologische ›Einteilung‹ in Adelungs Wörterbuch: »Die Menschen bestehen in Ansehung der Cultur aus drey großen Classen, aus Wilden, Barbaren und gesitteten Menschen.« (Adelung 1786: 223)
17 | Hans Dietrich Irmscher weist deshalb darauf hin, dass »Goethes Aufsatz […] eine Rettung der gotischen Baukunst für den Harmoniebegriff des Klassizismus« bedeutet (Irmscher 31999: 191). – Zur klassizistischen Prägung der Bewertungsmaßstäbe Goethes, die am Straßburger Münster bestätigt werden, vgl. Kruft 2004: 215.
18 | Vgl. Carsten Zelles prägnante Feststellung: »Im Medium der Ästhetik vollzieht sich Aufklärung über Aufklärung als Kritik des Schönen durch das Erhabene.« (Zelle 1993: 3)
19 | So Burkes Charakterisierung des Erhabenen im Gegensatz zum Schönen: »sublime objects are vast in their dimensions, beautiful ones comparatively small; beauty should by smooth, and polished; the great, rugged and negligent« (ebd.). – Auch Norbert Christian Wolf weist darauf hin, dass das von Goethe genannte Raue »nicht von ungefähr in der Erhabenheitsästhetik Burkes für das Sublime steht.« (Wolf 2001: 227f.)
20 | Vgl. die treffende Beobachtung von Klaus Poenicke: »Das ›Schöne‹ verbindet sich [bei Burke] mit allem, was im Erlebenden nicht Angst, sondern Liebe weckt. […] Seine Bildwelt erscheint von grundsätzlich sanfterem, schwächerem, ›weiblicherem‹ Wesen [als die des Erhabenen]« (Poenicke 1989: 85).
21 | Zu diesem »Vergleich des Genies mit dem Schöpfergott« in Goethes Text vgl. Schmidt 2004: 193f.
22 | Insofern kann keine Rede davon sein, Goethe habe »hier sogar den Zugang zu dem jener Zeit sonst noch ganz verschlossenen Gebiet der primitiven Kunst der Naturvölker« gefunden (Einem 1994: 570). Dieses Gebiet war damals keineswegs »verschlossen[ ]«; die Kunst der Wilden wurde nur zumeist abschätzig behandelt.
23 | Irritiert über diesen Vergleich zeigt sich Reinhard Liess: »Man wundert sich über die Verknüpfung des so überreich verfeinerten Instrumentariums der Erwin-Fassade ausgerechnet mit dem urtümlichen Kunsttrieb des Wilden […]. Man fragt sich, was Goethe an einem so hochentwickelten, spätzeitlichen Kunstwerk an die ›raue Wildheit‹ einer primitiven Kunst gemahnen konnte« (Liess 1985: 149).
24 | Vgl. auch die Feststellung von Detlef Kremer: »G[oethe] […] macht [die Kunst] über den Begriff des Erhabenen anthropologisch begreifbar als einen menschlichen Gestaltungsdrang, der sich in einer ›charakteristischen Kunst‹ vergegenständlicht.« (Kremer 2004: 566)
25 | Norbert Christian Wolf weist mit Recht darauf hin, »daß im Baukunst-Aufsatz mindestens zwei verschiedene Begriffe von Schönheit verhandelt werden […]. Die zweite, positiv gefasste Schönheit ist stets charakteristisch, was aber keineswegs den Umkehrschluß erlaubt, alle charakteristische Kunst sei zugleich stets notwendig schön.« (Wolf 2001: 229)
26 | Mit Blick auf die Funktion dieser ›höheren‹ Schönheit in Von deutscher Baukunst bemerkt Hans Dietrich Irmscher, dass Goethe den »spannungslosen Schönheitsbegriff« des von ihm »bekämpften Klassizismus […] mit äußerster Dynamik erfüllt.« (Irmscher 31999: 193)
27 | Vgl. das »Fazit der Schönheits-Reflexionen des jungen Goethe«, wie es Norbert Christian Wolf zieht: »Die allein ›wahre‹ Schönheit ist der Superlativ charakteristischer Kunst, das ausschlaggebende Ziel künstlerischer Praxis darf sie zunächst jedoch keineswegs sein […], sondern allererst die sich ›bildend‹ einstellende Wahrheit, die ihrerseits zur Erreichung ›wahrer‹ Schönheit notwendig, aber noch lange nicht hinreichend ist. Jene a priori nicht anzustrebende Schönheit kann sich unter gewissen Voraussetzungen, nämlich dem entwickelten ›Gefühl für Verhältnisse‹, dann – gleichsam als Additiv – zusätzlich einstellen« (Wolf 2001: 230).
28 | Vgl. hierzu Karl Eibls Hinweis auf Parallelen zwischen Goethes »Knaben« und der typologischen Figur des Puer aus Vergils vierter Ekloge (Eibl 1981:244–246).
29 | So heißt es in Herders zwischen 1768 und 1770 entstandener Abhandlung Plastik (publiziert 1778), die dem jungen Goethe im Manuskript bekannt gewesen sein dürfte, über den erhabenen Ursprung der Kunst in menschheitsgeschichtlichen Frühstadien: »Die bildende Kunst, sobald sie Kunst wird und sich von signis, d. i. religiösen Zeichen und Denkmalen, Klötzen, Hölzern, Steinhaufen, Pfeilern, Säulen entfernt, muß notwendig zuerst ins Große, Erhabene und Überspannte gehen, was Schauer und Ehrfurcht, nicht Liebe und Mitgefühl erreget.« (Herder 1994: 312) Derartige völkerkundlich-ästhetische Überlegungen Herders haben Goethe vermutlich bei seiner Abfassung der Baukunst-Schrift beeinflusst und wirkten bei ihm noch lange nach.
30 | Zu Schillers Rezeption der Kritik der Urteilskraft vgl. Feger 2005.
31 | Vgl. Georg Bollenbecks Beschreibung von Schillers Wandel vom »Lobredner des Fortschritts […] zu dessen Kritiker«, den er als einen durch den ›Terror‹ der Französischen Revolution katalysierten »Einstellungswandel« begreift (Bollenbeck 2007: 19).
32 | Im Hinblick auf das Verständnis des historischen Prozesses betont bereits Benno von Wiese bezüglich der geschichtsphilosophischen Schriften die »Unbekümmertheit, mit der Schiller sich selbst, bzw. sein eigenes Zeitalter zum Maß geschichtlicher Bewertung machte. In der Tat ist die Abhängigkeit Schillers von der Aufklärung nirgends so deutlich wahrzunehmen wie hier.« (Wiese 1978: 331)
33 | Dieses Lebensaltermodell begegnet bei anderen Autoren freilich auch in kulturpessimistischer Wendung, so etwa in Diderots Supplément au voyage de Bougainville (1796 postum veröffentlicht), wo die Europäer nicht mit dem reifen Erwachsenen-, sondern mit dem schwachen Greisenalter assoziiert werden, während Diderot die Südseeinsulaner zwar mit Kindern vergleicht, die Kindheit aber positiv im Sinne von Einfachheit und Unschuld wertet: »Das Leben der Wilden ist doch so einfach, und unsere Gesellschaften sind so komplizierte Maschinen! Der Tahitianer steht dem Anfang der Welt, der Europäer ihrem Greisenalter so nahe! Der Abstand, der ihn von uns trennt, ist größer als der Abstand zwischen dem neugeborenen Kind und dem Menschen in der Auflösung des Alters.« (Diderot 1965: 15.)
34 | Dazu, wie der ›Universalhistoriker‹ Schiller mit seinem Vertrauen in den zivilisatorischen Fortschritt in der Tradition der aufgeklärten Geschichtswissenschaft steht, vgl. Frick 1995: 86f.
35 | Vgl. ebd.: »Der Geschmack ist jederzeit noch barbarisch, wo er die [sic!] Beimischung der Reize und Rührungen zum Wohlgefallen bedarf, ja wohl gar diese zum Maßstabe seines Beifalls macht. Ein Geschmacksurtheil, auf welches Reiz und Rührung keinen Einfluß haben […], ist ein reines Geschmacksurtheil«.
36 | Kant erläutert sein Drei-Stufen-Modell der ästhetischen Zivilisierung wie folgt: »[S]o werden freilich anfangs nur Reize, z.B. Farben, um sich zu bemalen (Rocou bei den Caraiben und Zinnober bei den Irokesen), oder Blumen, Muschelschalen, schönfarbige Vogelfedern, mit der Zeit aber auch schöne Formen (als an Canots, Kleidern u. s. w.), die gar kein Vergnügen, d. i. Wohlgefallen des Genusses bei sich führen, in der Gesellschaft wichtig und mit großem Interesse verbunden: bis endlich die auf den höchsten Punkt gekommene Civilisirung daraus beinahe das Hauptwerk der verfeinerten Neigung macht« (ebd.: 297).
37 | So heißt es etwa bei Winckelmann, der kultur- und klimatheoretische Konjekturen mit metaphysisch-idealistischen Postulaten verbindet: »Diese häufigen Gelegenheiten zur Beobachtung der Natur veranlasseten die griechischen Künstler noch weiter zu gehen: sie fiengen an, sich gewisse allgemeine Begriffe von Schönheiten […] zu bilden, die sich über die Natur selbst erheben solten; ihr Urbild war eine blos im Verstande entworfene geistige Natur.« (Winckelmann 1995: 20)
38 | Vgl. Georg Bollenbecks Bemerkung angesichts des schnellen Standpunktwechsels Schillers: »In Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte (1789) rühmt er die Fortschritte seines Zeitalters ebenso nachdrücklich wie er sie wenige Jahre später in den beiden kulturkritischen Hauptschriften [gemeint sind die Ästhetischen Briefe und Über naive und sentimentalische Dichtung von 1795] wieder in Frage stellen wird. Offenbar ist es ein kurzer Weg von der Universalgeschichte zur Kulturkritik.« (Bollenbeck 2007: 15f.) Zu präzisieren bleibt freilich, dass dieser Weg sogar noch kürzer ist: Ende 1793, so soll im Folgenden deutlich werden, ist der Wandel in Schillers Auffassung schon weitgehend vollzogen.
39 | So stellt Schiller »die erhabne Anspannung des Gemüts« der »Hinschmelzung des Gemüts bei dem Schönen« (FSA 8, 520) gegenüber und sucht »die doppelte Behauptung zu rechtfertigen, erstlich: daß es das Schöne sei, was den rohen Sohn der Natur verfeinert, […] zweitens: daß es das Erhabene sei, was die Nachteile der schönen Erziehung verbessert, dem verfeinerten Kunstmenschen Federkraft erteilt« (FSA 8, 521). Damit weisen die Augustenburger Briefe bereits auf die Unterscheidung zwischen »schmelzender« und »energischer Schönheit« in den Ästhetischen Briefen (Nr. 16–18) voraus (vgl. FSA 8, 615–622).
40 | Der Zusatz »und kindlichen Völkern« fehlt im Zweitdruck von 1800 (in den Kleineren prosaischen Schriften, 2. Teil) und im Text der Frankfurter Schiller-Ausgabe – vgl. dagegen Text und Stellenkommentar in Bd. 5 der von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert herausgegebenen Sämtlichen Werke (Schiller 1993: 696 u. 1168).
41 | Schiller proklamiert somit nicht einfach die Regression in das Naive, sondern die Progression zu einer höheren Synthese, welche die Vorzüge der Natur mit denen der Kultur vermittelt; »unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit, zur Natur zurückführen.« (FSA 8, 708) Vgl. die These von Peter-André Alt, der hierin eine entscheidende Differenz zu Rousseau sieht: »Im Gegenzug zu Rousseaus vernunftskeptischem Moralismus betont er [Schiller], dass eine Erneuerung der Natur – des Wilden in seiner Selbstbestimmung – für die Moderne kein Weg zum Ursprung, sondern den Transfer in eine dritte Erfahrungsstufe bedeutet.« (Alt 2012: 279)
42 | Vgl. die Überlegung von Walter Hinderer, der mit Bezugnahme auf eine Äußerung Goethes über Gottlieb Hiller darauf hinweist, dass es sich bei dem ›Huronischen‹ insofern auch um eine dezidiert poetologische »Chiffre« handelt, als Goethe es »direkt mit dem Talent des Naturdichters« identifiziert hat (Hinderer 2002: 493).
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