Nordhausen: Traugott Bautz 2012 – ISBN 978-3-88309-689-6 – 40,00 €
»Dulden heißt beleidigen«. Dieser Auszug aus Goethes Maxime Nr. 875 prägt die gesamte Studie Hartmut Reinhardts, die neues Licht auf die Interkulturalität in Goethes literarischem Werk zu werfen sucht. Eingeteilt in sechs Kapitel, geht Dem Fremden freundlich zugetan kritisch auf die Ansätze einer seit der Jugendzeit bei Goethe zu findenden Neigung zum Fremden ein. Von den frühen Übersetzungen von Koran-Auszügen über den West-östlichen Divan bis zu den indischen Balladen und zur ›Amerika-Utopie‹ in Wilhelm Meisters Wanderjahre spannt Reinhardts Forschung einen Interkulturalitätsbogen, der sich über die gesamte Schaffenszeit Goethes bis in die heutigen Debatten erstreckt. Die Studie lässt sich – aufgrund ihrer längsschnittlichen Griffigkeit – wohl eher als essayistisch denn als rigoros akademisch bezeichnen, was den an mancher Stelle etwas lockeren Umgang des Autors mit dem Gegenstand erklärt. So warnt der Autor im Einführungskapitel den Leser davor, von seiner Studie »eine deklarierte Theorie des ›Interkulturellen‹« (11) zu erwarten.
Reinhardt, emeritierter Professor für Germanistik an der Universität Trier, hat seit 1970 mehrere Arbeiten zur deutschen Literatur des 18., 19. und 20. Jahrhunderts vorgelegt, vornehmlich zu Goethe, Schiller, Kleist, Hebbel, Broch und Bernhard. Der Schwerpunkt seiner Arbeiten liegt freilich auf Goethes literarischem Werk. Er beteiligte sich an der Vorbereitung der großen Frankfurter und Münchner Ausgaben zu Goethes Werk, und 2008 erschien seine Studie zu Goethes dramatischem Schaffen unter dem Titel Die kleine und die große Welt (Würzburg). Er gilt als einer der wichtigsten Goethe-Forscher unserer Zeit und ist aktiver Mitarbeiter des Goethezeit-Internetportals.
In seiner Studie von 2012 zu den ›interkulturellen Bezügen in Goethes literarischem Werk‹, so der Untertitel, ist ›Dialog‹ ein Schlüsselwort. Laut Reinhardt hat Goethe sich seit seinen frühen literarischen Versuchen intensiv mit fremden Kulturen und Sitten beschäftigt, und das hat sein gesamtes Werk so stark geprägt, dass es »wie geschaffen für interkulturelle Fragestellungen«(13) sei. Der Autor benutzt hier das Wort »interkulturell«, ohne an der aktuellen kulturwissenschaftlichen Forschung anzuknüpfen, die es nicht erlaubt, die Kulturauffassungen von heute und die der Goethe-Zeit zu vermischen. Zwar hat Reinhardt die Frage der Interkulturalität nicht unkritisch beleuchtet, an mancher Stelle jedoch die Haltung Goethes zu fremden Nationen und Sitten allzu milde behandelt, wie z.B. bei seiner Schilderung der Annäherung Goethes an die indische Kultur in Kap. 5, wo die Widersprüche dieser Annäherung tiefer kritisiert und nicht nur als ein scheinbar verzeihlicher Makel des Dichters betrachtet werden sollten. Der diplomatische Konservatismus des Dichters wird dabei nicht angetastet, da, laut Reinhardt, seine Kritik am »indischen Götzendienst« (als direktem Gegensatz zu den vom Dichter gewürdigten ›Offenbarungsreligionen‹) in einer selektiven Weise die Wertschätzung der indischen Dichtung nicht ausschließe. Dass solche ›Selektivität‹ oft als hegemonial und eurozentrisch kritisiert wird, scheint Reinhardt entkräften zu wollen, um dabei Goethes Idee der diplomatischen Weltliteratur vor der »Schlagwort-Fixierung« (173) des 20. Jahrhunderts zu retten und das Respektvolle in Goethes Annäherungsstrategie zu bekräftigen.
Basierend auf der mutmaßlichen interkulturellen Beschaffenheit von Goethes Werk – doch ohne eine klare Definition von ›Kultur‹ –, analysiert Reinhardt in den ersten beiden Kapiteln die frühen literarischen Versuche Goethes und betont, dass der Umgang mit dem Fremden von Anfang an eine äußerst produktive Wirkung auf Goethe hatte. Von den Übersetzungen des Hohen Liedes Salomons und mancher Koran-Auszüge bis zu den frühen Aufsätzen über serbische Dichtung und seinen ›Gedichten aus der Fremde‹ war Goethes frühes literarisches Schaffen stark von einer Sehnsucht nach fremden Sitten, Sprachen und Menschen geprägt. Reinhardt scheint es indes viel mehr zu interessieren, ein dialogisches Bild dieser Sehnsucht zu zeichnen, um die hegemonial-eurozentrischen Vorwürfe gegen Goethe zu relativieren und zu entkräften. Eine theoretische Wiederaufnahme der Spannungen in Goethes Werk hätte es dem Autor jedoch eher erlaubt, die komplexen Beziehungen zwischen dem Dichter und dem ›Fremden‹ – die sich ja nicht unter der Dichotomie ›das Eigene und das Fremde‹ zusammenfassen lassen – tiefgründiger darzulegen und somit Goethes Haltung besser zu verteidigen.
Wer sich selbst im Spiegel des Anderen betrachtet, findet eventuell bei sich auch Fehler, die man sich nicht eingestehen will. Darauf spielt Goethe in der Iphigenie-Tragödie an, in der der taurische König Toas – selbst ein Grieche – von den Griechen als ›Barbar‹ bezeichnet und somit aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird. Der hochgelobte Humanitätsbegriff der Antike wird relativiert, und damit schließt sich Goethe etwas überraschend der herderschen ›Gegenaufklärung‹ an, die neben anderen Idealen auch das aufklärerische, eurozentrische Humanitätsideal infrage gestellt hat. Ein wichtiger Beitrag zu der in der Tragik debattierten Universalität der Menschenrechte, der jedoch z.B. mit Therese Augsts Studie zur Übersetzung und Rezeption griechischer Tragödien bei den Romantikern (Tragic Effects, 2012) erweitert werden könnte.
Es ist in der Goethe-Forschung nichts Neues, dass der West-östliche Divan als das beste Beispiel für Interkulturalität und Weltliteratur in Goethes Werk gilt. In vierten Kapitel gelingt es dem Autor, durch das dialogische Prinzip der Interkulturalität, einen umfassenden Überblick über die Divan-Rezeption zu geben. Dieses Werk, das als Höhepunkt von Goethes Alterswerk gilt, hat in seiner Entstehungs- und Wirkungsgeschichte interkulturelle Bezüge – was Reinhardt angesichts der Fülle von Forschungsarbeiten und Kommentaren nur im Überblick darstellen kann, da er eigentlich die Wirkung dieser Bezüge in der Rezeption des Divans diskutieren will (die Interessierten weist er auf ausführlichere Beiträge der Divan-Forschung sowie auf den Divan-Wortschatz und auf die zahlreichen kritischen Ausgaben hin). Reinhardt interessieren also mehr die durch den Divan ausgelösten Reaktionen, die mit dem darin enthaltenen, komplex-komplizierten ›Bezug auf den Orient‹ zu tun haben. Beispielsweise wird die harsche Kritik der Brüder Schlegel an der bereits erwähnten Abneigung Goethes gegen den »indischen Götzendienst« diskutiert. Der Autor hebt aber auch die wohl umstrittensten Wirkungen des Divans hervor, die freilich mit dem Islam bzw. dem Islamismus zu tun haben. Ein eher lustiges Beispiel dieser Reaktionen ist das 1995 verfasste Fetwa, das Goethe postum islamisieren und ihn dabei in »Muhammad Johann Wolfgang von Goethe« umtaufen wollte. Die religiös motivierten Reaktionen waren jedoch nicht immer so humorvoll; dies zeigt die Thilo-Sarrazin-Debatte über Deutschland und den Islam – entfacht durch dessen Buch Deutschland schafft sich ab und die darauf folgenden kritischen Reaktionen in den Medien, vor allem in der FAZ –, bei der Reinhardt sich offenbar auf die Seite der Goethe-Verteidiger stellte. Eine Verteidigung des vermeintlich Wohlwollenden in Goethes Divan dürfte aber keinesfalls die Stimme derjenigen verstummen lassen, die die komplizierten Verhältnissen zwischen ›Okzident‹ und ›Orient‹ (sprich: dem Islam) kritisch hinterfragen wie viele Islamforscher unserer Zeit.
In Goethes Alterswerk darf auch die Wertschätzung Chinas in den »Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten« nicht unerwähnt bleiben, und im sechsten Kapitel analysiert Reinhardt diesen Zyklus mitten in der von ihm identifizierten »Divan-Welle der Orientalisierung«. Im letzten Kapitel führt der Autor diese Diskussion näher aus, wenn er die Dialogizität des Divans als den Zündfunken für die Idee der Weltliteratur versteht und als deren Zenit die »Amerika-Utopie« der Wanderjahre lokalisiert: Das (Vor-)Bild des Wanderers – ein ›Dauerbrenner‹ in Goethes Symbolik – erstrecke sich von den ersten poetischen Reisen des Dichters bis hin zu seinen weltliterarischen Voraussagen. Reinhardt betont, Weltliteratur der Denkform bedürfe einer über nationale Grenzen hinaus zielenden Kommunikation. So solle sich der interkulturelle Ausblick in Richtung einer interkulturellen Verständigung schließen und »neue Öffnungen« bieten – so der Titel des Kapitels. Der erste Teil der im Epigraf zitierten Maxime Goethes könnte diese Offenheitsstimmung bekräftigen: »Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein; sie muß zur Anerkennung führen« (7).
Reinhardt präsentiert eine epochenübergreifende Studie zur Interkulturalität in Goethes gesamtem literarischen Schaffen und versucht, eine meist übersehene Fassette seines dichterischen Schaffens zu beschreiben und dadurch die oft als hegemonial bezeichnete (diplomatische) Haltung Goethes gegenüber dem Fremden ›diplomatisch‹ zu relativieren. Ohne sich im akademischen Theoriedschungel zu verirren, hebt Reinhardt den kulturellen Austausch und die ständige Neugier Goethes als ausschlaggebende Faktoren für die schöpferische Kraft des Dichters hervor.