Society as Culture, or Why We Have to Describe When We Want to Recognize
Keywords:comparison; concept of culture; contingency; second-order observation; society
Man spricht von Kultur, so als ob man nicht wüsste, dass dieser Begriff erfunden worden ist, um alles zu duplizieren und es dann historischen oder nationalen Vergleichen auszusetzen – also zu verunsichern.
Niklas Luhmann
Eine der Eigentümlichkeiten der modernen Gesellschaft ist ihre Selbstbeschreibung als Kultur. Weder die Griechen noch die Römer, weder die Apachen noch die Chinesen sind je auf diese Idee gekommen. Erst wir heute, die wir unserer Gesellschaft eine Kultur zuschreiben oder auch absprechen, dichten auch anderen Gesellschaften eine Kultur an. Den Griechen und Römern, Apachen und Chinesen hat es völlig gereicht, die Angehörigen des eigenen Volkes für ›Menschen‹ und alle anderen für ›Barbaren‹ zu halten. Damit war klar, mit wem man wie umzugehen hatte, und mehr brauchte man nicht zu wissen. Einiges spricht dafür, dass auch der Umkehrschluss gilt: Sobald man das eigene und das Verhalten der anderen auf »Kultur« zurechnet, ist nicht mehr klar, sondern wird vielfältig und unterschiedlich interpretierbar, mit wem man wie umzugehen hatte.
Doch erst Samuel von Pufendorf (1632–1694) um die Mitte des 17. Jahrhunderts und Jean-Jacques Rousseau um die Mitte des 18. Jahrhunderts sprachen davon, dass gesellschaftliche Zustände als kulturelle Zustände begriffen werden können, zum Guten und zum Schlechten. Für Pufendorf war der Kulturzustand der Glückszustand der Gesellschaft im Unterschied zum Unglückszustand der unzivilisierten Barbaren. Erst im Verkehr untereinander befreien sich die Menschen aus den Bedrängnissen, Ängsten und Armseligkeiten des Naturzustands und werden frei, ihr Schicksal selbst zu gestalten. Hundert Jahre später drehte Rousseau die Wertung um und sprach nun davon, dass die Menschen nur im Naturzustand glücklich und im Kulturzustand unglücklich sind. Eine Kultur sei nichts anderes als Girlanden um die Ketten, die die Menschen der Zivilisation in künstlichen Bedürfnissen, in falscher Höflichkeit, in eitler Neugier und in den leeren Gesten der Galanterie gefangen halten (vgl. Rousseau 1983). Dagegen habe der Wilde noch gewusst, was wann zu wissen und zu tun gewesen sei und habe tapfer für das gestritten, was er für richtig hielt. Auch hier also derselbe Hinweis: Die Einführung der Kultur schafft eher Unklarheit als Klarheit, eher Mehrdeutigkeit als Eindeutigkeit.
Hier und in vielen anderen Beiträgen der Zeitgenossen wird Kultur zu einem eigenen Zustand der Gesellschaft. Sie verliert ihren Genitiv, den sie bei den Griechen und Römern noch mit sich trägt – »agri culti« für Ackerbau, »cultura animi« als Name, den Cicero der Philosophie gibt, »cultura dolorum« als Bezeichnung des christlichen Glaubens –, und wird zum Substantiv aus eigener Kraft (vgl. Perpeet 1984). Bei den Griechen und Römern hatte man noch im Hinterkopf, dass »Kultur« etwas mit der Pflege und Verehrung des Unverfügbaren zu tun hat. Eine fruchtbare Ernte verdankt man der eigenen Bestellung des Ackers und der Gunst der Götter und dem guten Wetter. Eine gute Idee verdankt man der Pflege der eigenen Gemütszustände und einem Einfall, den man sich nicht selber zurechnen kann. Die Intensität des eigenen Glaubens verdankt man der eigenen Bereitschaft zum Glauben und der Gnade Gottes, die einem das Geschenk des Glaubens macht. Im antiken Kulturverständnis, zumindest soweit wir das heute rekonstruieren können, spielt dieses Wissen um die Differenz zwischen dem, was man selbst unter Kontrolle hat, bewirken kann, hervorbringen kann einerseits und den Umständen, Bedingungen, Voraussetzungen und Gewogenheiten, die hinzukommen müssen, ohne dass man irgendeinen Einfluss auf sie hätte, andererseits eine ganz entscheidende Rolle.
Dieses antike Kulturverständnis geht mit dem modernen Kulturbegriff nicht verloren. Es schwingt mit, wenn man auch heute noch weiß oder ahnt, dass eine Kultur etwas mit nicht verfügbaren Grundlagen der eigenen Gesellschaft oder auch nur der eigenen Lebensform zu tun hat. Gerade wer hinreichend ›kultiviert‹ ist, weiß, dass er mit seinen Essgewohnheiten, mit seinen Kleidungssitten, mit seinen Umgangsformen, mit seinem Sprachvermögen viel mehr ›bewegt‹, auch viel mehr ›zitiert‹, als ihm selbst bewusst sein kann. Das ist der Grund, warum man mit Recht von Esskultur, Bekleidungskultur, Umgangskultur, Sprachkultur und so weiter spricht. Diese ›Kulturen‹ halten etwas auf Distanz: das Wissen, dass man nach wie vor Fleischfresser ist, oder die Scham um den eigenen Körper oder die Angst vor Verletzungen durch andere oder die Angst vor dem eigenen Begehren oder die Ahnung, dass jedes Wort sich in ein Urteil verwandeln kann. Aber diese ›Kulturen‹ spielen auch mit dem, was sie auf Distanz halten. Sie beschwören es, sie drohen damit, sie locken damit. Sie erlauben vorzuführen, wie souverän man mit Dingen umzugehen vermag, die Souveränität unmöglich machen. Erst daran zeigt sich wahre Souveränität. Und nur dazu braucht man die Kultivierung. Im Menschen lockt das Tier; im Menschen lockt der Gott. Doch weder das eine noch das andere zu sein und sein zu wollen, macht ihn erst zum Menschen. Und das vor allem gilt es zu entwickeln und unter Beweis zu stellen.
In dieser Akzentuierung überlebt das antike Kulturverständnis bis heute. Und natürlich ist es überall dort präsent, wo wir uns der begrenzten Reichweite unserer Kontrolle über unsere Verhältnisse bewusst werden, ob es sich dabei um den Wirbelsturm handelt, der unsere Dörfer zerstört, um unsere Aggression, mit der wir diejenigen verletzen, die uns am liebsten sind, oder um den Sonnenuntergang an einer Meeresküste, der alle Kultur belanglos werden lässt, ohne Kultur jedoch gar nicht zur Kenntnis genommen werden kann.
Der moderne Kulturbegriff reagiert auf eine strukturell zwar nicht unähnliche, aber dennoch zunächst ganz andersartige Erfahrung. Der moderne Kulturbegriff, wie ihn Pufendorf, Rousseau und viele andere verwenden, reagiert darauf, dass mit dem Buchdruck eine intellektuelle Praxis entsteht, die zuvor allenfalls in Klosterbibliotheken eine Chance hatte und dort von den Pflichten um die Pflege der Schriften der Offenbarung erfolgreich unter Kontrolle gehalten werden konnte. Diese intellektuelle Praxis, wie sie auf ebenso virtuose wie furiose Weise in den Essais von Michel de Montaigne wenige Jahrzehnte nach der Einführung des Buchdrucks bereits beherrscht und vorgeführt wird, ist die Praxis des Vergleichs. Wer liest und weiß, dass andere lesen, muss davon ausgehen, dass bei allen Aussagen über menschliche Lebensweisen in Rechnung gestellt werden kann, dass man jetzt wissen kann, dass die Menschen zu anderen Zeiten und in anderen Regionen anders leben und anderes für selbstverständlich halten, ohne dass man deswegen davon ausgehen könnte, dass es sich um ›Barbaren‹ handelt. Der Buchdruck lässt das historische und regionale Vergleichswissen explodieren. Und darauf reagiert der Kulturbegriff. ›Kultur‹ ist das, was sich an den Lebensweisen der Menschen unterscheidet und in dieser Hinsicht mit den Lebensweisen anderer Menschen verglichen werden kann. Oder kürzer gesagt: ›Kultur‹ ist das, was unvergleichbare Lebensweisen vergleichbar macht.
Der moderne Kulturbegriff ist das Ergebnis der intellektuellen Praxis des Vergleichens. Erst in zweiter Linie, als Begriff zweiter Ordnung, der so tut, als wäre er ein Begriff erster Ordnung, reagiert der Kulturbegriff auf den Vergleich und mobilisiert den Einwand der Unvergleichbarkeit, des Authentischen und Identischen, der es dann um so interessanter macht, jetzt erst recht zu vergleichen. Gerade die Verteidigungsbewegung gegen die intellektuelle Neugier liefert dieser ihren nächsten Stoff.
In der Tat kann man die Rolle, die diese intellektuelle Neugier in der Entwicklung der modernen Gesellschaft gespielt hat, gar nicht überschätzen. Jede Warnung vor dem Buchdruck kam zu spät, kam ebenso zu spät wie die Warnung Platons vor der Schrift oder die Warnung einiger heutiger Zeitgenossen vor dem Computer. Dabei geht es gar nicht um intellektuelle Höchstleistungen, die nur nachgelesen werden können, wenn es Buchdruck gibt, und die auch nur aufgeschrieben werden, wenn man damit rechnet, Leser zu finden. Sondern es geht um die scheinbar ganz harmlose intellektuelle Geste, irgendetwas für ›interessant‹ zu halten und sich mithilfe des Vergleichswissens, das man sich angelesen hat, Gedanken über dieses Interessante zu machen.
Man muss sich das vorstellen. Ein Gläubiger kniet nieder und beginnt ein Gebet. Ein Intellektueller stellt sich neben ihn und sagt: »Wie interessant! Weißt du, dass andere Völker an ganz andere Götter glauben?« Wie kann der Gläubige, der an seinen Gott glaubt, darauf reagieren? Natürlich lehnt er die Zumutung des Vergleichs ab, hält den Intellektuellen für einen Neunmalklugen und die anderen Völker für ungläubig. Aber in Wahrheit ist er bereits erschüttert. In Wahrheit hat ihn bereits eine Unruhe erfasst. Wie kann er glauben, wenn andere anders glauben? Was kann er wissen, wenn andere anderes wissen? Wer ist sein Gott, wenn andere ihn nicht kennen? Wie weit reicht die Macht seines Gottes, wenn andere ungestraft ihren Götzen huldigen dürfen?
Oder stellen wir uns eine andere Szene vor. Eine Ehefrau, vielleicht Flauberts Emma Bovary oder Fontanes Effi Briest, durchaus willens, ihre ehelichen Pflichten ernst zu nehmen, trifft auf einen Intellektuellen – in den Romanen, die sie liest, oder in Jugendfreunden, mit denen sie Strandritte unternimmt –, der ihr andeutet: »Wie interessant! Weißt du, dass nur der europäische Spießbürger es so ernst mit der Ehe nimmt und auf die vielfältigen und unschuldigen und schönen Freuden außerehelicher Affären zu verzichten bereit ist?« Entrüstet weist die Ehefrau die Andeutung zurück, weiß sich ihrer Ehre sicher – und beginnt doch bereits, mit anderen Gedanken zu spielen. Sie sieht ihren Mann mit anderen Augen. Sie nimmt an sich selbst Bedürfnisse, Fähigkeiten und Einfälle wahr, die ihr zuvor nicht aufgefallen waren. Sie bringt sich ins Spiel und entdeckt, dass mit ihr bisher nur gespielt worden ist. Und dann nimmt sie den nächsten Zug in die Stadt oder verabredet sich doch noch einmal mit dem Rittmeister zum Strandausritt.
All das nur wegen einer harmlosen Rückfrage: »Wie interessant!« Auf diese Bemerkung gründen die ersten Intellektuelle der Moderne, die »philosophes« der französischen Aufklärung, ihre Karriere. Es ist nicht einmal nötig, die Rückfrage so spöttisch zu beherrschen, wie das bei Voltaire schon sprichwörtlich der Fall war. Es ist auch nicht nötig, sich daran zu erinnern, dass diese intellektuelle Praxis an die Rückfragen der Priester anschließen kann, die ans Gewissen appellierten. Die Formel selbst: »Wie interessant!«, leitet eine Praxis des Vergleichs, der Reflexion und der Selbstkritik ein, auf die die moderne Kultur gegründet ist und von der die moderne Kultur sich nie wieder erholen sollte. Ob man mit Messer und Gabel isst, wo man dies doch auch mit Stäbchen tun könnte; ob man auf dem Land wohnt, obwohl man auch in der Stadt wohnen könnte; ob man den einen Beruf wählt, obwohl man auch den anderen Beruf wählen könnte; ob man gerne Bier trinkt, obwohl Wein für vornehmer gehalten wird; ob man ins Theater geht, obwohl die aufregenden Sachen sich angeblich im Kino abspielen: Was immer man tut, man hat die Beobachtung »Wie interessant!« im Nacken sitzen. Man kann die Beobachtung nicht abweisen, weil sie ja zunächst gar nicht als Kritik, nicht als Einwand, nicht als Vorwurf daherkommt, sondern ganz im Gegenteil als Geschenk der Aufmerksamkeit für das, was man treibt, denkt und glaubt. Aber dieses Geschenk ist vergiftet. Es ist mit der Beobachtung zweiter Ordnung vergiftet. Und selbst, wenn man weiterhin Bier trinkt und ins Theater geht: Diese Beobachtung zweiter Ordnung, dieses Wissen darum, dass man dabei beobachtet wird, wie man selbst die Welt beobachtet und sich in ihr anstellt, verlässt einen nicht mehr. Und kurze Zeit darauf stellt man fest, dass man nur noch Gründe sammelt, die Dinge so zu treiben, wie man sie zu treiben gewohnt ist, und kaum noch Zeit hat, sie so zu nehmen, wie sie sind.
Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass das Zeitalter der Aufklärung als Zeitalter der Vernunft in die Geschichte eingegangen ist. Denn nur die Vernunft konnte einem dabei helfen, die Gründe zu finden, die man brauchte, um vor den Beobachtern bestehen zu können. Jetzt erst begann man, für alles, was man trieb, dachte und glaubte, auch Gründe zu entwickeln. Und wahrscheinlich war es keine Übertreibung, sondern tief empfundene Dankbarkeit, freilich auch Drohung mit weiteren intellektuellen Beobachtungen, die es den französischen Revolutionären eingab, der Vernunft sogar einen Tempel zu widmen.
Allerdings konnte sich die Selbsttäuschung nicht lange halten. Denn irgendwann musste ein Intellektueller auf die Idee kommen, die Vorstellung, dass man sein Verhalten, seinen Glauben, sein Denken vernunftmäßig begründen könne, schlicht und ergreifend für »interessant« zu halten. Und schon war es um die Vernunft geschehen. Sie hatte jetzt nur noch die Möglichkeit, sich als Kritik des eigenen Vermögens auszugeben, das heißt der Beobachtung anderer durch Selbstkritik zuvorzukommen und mehr Gründe bereitzustellen, sich dieser Selbstkritik anzuschließen, als die Selbstkritik etwa ihrerseits schlicht für »interessant« zu halten. Von Kant bis Husserl verstrickt sich die Philosophie in ein Abenteuer der Selbstkritik, von dem sie sich bis heute nicht erholt hat.
Der moderne Kulturbegriff führt das Wissen um die Kontingenz aller Lebensformen in die moderne Gesellschaft ein. Aber er tut dies heimlich. Er verdeckt seine Operation, indem er nicht den Vergleich betont, sondern das Unvergleichbare, nicht den Zweifel, sondern die Identität, nicht das Zufällige, sondern das Authentische. Der moderne Kulturbegriff ist eine Falle. Er lockt mit Orientierung, aber hat nur die Ungewissheit zu bieten, wie lange die eine Orientierung gegenüber anderen Orientierungen aufrechterhalten werden kann. Er beschwört die Unterstützung durch Traditionen, die eine etwas längere Lebensdauer haben, und durch Moden und Trends, die glücklicherweise schneller wechseln. Aber letztlich hat er nichts anderes zu bieten als das Wissen darum, dass nichts dem Vergleich entgeht und daher nichts wirklich sein kann, was es ist. Alles ist dadurch angekränkelt, dass es das nicht ist, was etwas anderes ist.
Nach all dem überrascht nicht, wenn Niklas Luhmann sagen konnte, der Begriff der Kultur sei »einer der schlimmsten Begriffe, die je gebildet worden sind« (Luhmann 1995a: 398), und die Beobachtung von Religion, Kunst und Philosophie als Kultur habe »verheerende Folgen gehabt« (ebd.: 341; vgl. auch Luhmann 1995b, 1996a u. 1996b). Aber es überrascht auch nicht, dass er nicht etwa dazu auffordert, den Kulturbegriff fallenzulassen, sondern vielmehr zu untersuchen, »was eigentlich geschieht, wenn wichtige Bereiche gesellschaftlicher Kommunikation, inclusive Religion und Philosophie, als Kultur registriert werden.« (Brackert/Wefelmeyer 1984: 8)
Schlimm ist der Kulturbegriff, weil er seine eigene Operation verheimlicht und an die Stelle eines Wissens um die Kontingenz die Emphase für sich selbst setzt. Kultur ist das Bedeutende, das Wichtige, das Unverzichtbare, ja sogar, Gipfel der Verheimlichung, das Notwendige schlechthin. Und verheerende Folgen hat der Kulturbegriff, weil seine Geste des Interessantfindens, auch sie nicht offen, sondern getarnt, das Kunstwerk, den Glaubensakt, die philosophische Lebenseinstellung, den Genuss, die Scham und die Neugier nicht als das nehmen, was sie im jeweiligen Gebrauch sind, sondern als Zeichen für eine Bedeutung, die man nur entdeckt, wenn man sie mit anderen, ähnlichen oder unähnlichen Praktiken vergleicht. Verheerend ist, dass man jetzt laufend mit Beobachtern rechnen muss, die einem eine andere Bedeutung, andere Motive, andere Gründe vorrechnen, als man sie selbst zu haben glaubte. Verheerend ist, dass man jetzt etwas tut und erst noch abwarten muss, wer das wie interpretiert. Man liebt Idyllen und bekommt gesagt, man hätte zu viele schlechte Romane gelesen. Man malt ein Bild und muss sich sagen lassen, der Stil sei zu ›akademisch‹ oder zu ›naturalistisch‹. Man glaubt, und wird für naiv gehalten. Für all dies braucht man jetzt neue Gründe, und das verändert die Liebe, das verändert die Kunst und das verändert die Religion, von anderen Bereichen gesellschaftlicher Kommunikation zu schweigen.
Die Liebe und die Kunst überleben diese verheerenden Folgen. Sie überstehen die ›Katastrophe‹ der Beobachtung zweiter Ordnung, indem sie sie selbst in ihren Dienst nehmen. In der Liebe wird die Verführung, also die Selbstdarstellung eines Beobachters, der mit einer Beobachterin rechnet, die ihn daraufhin beobachtet, wie er sie beobachtet, ohne dass er zu erkennen gibt, dass er das, was er tut, nur tut, weil er sich beobachtet weiß (oder der auch mit diesem Verdacht noch verführerisch zu spielen weiß), zum Inbegriff natürlich kultivierter Liebe. Die Kunst kapriziert sich darauf, den Künstler als Beobachter vorzuführen, der mit den Wahrnehmungen, den Vorurteilen, dem allzu gesunden Menschenverstand der Betrachter zu spielen weiß und dies den Betrachter eines Bildes, den Zuschauer eines Theaterstücks, den Zuhörer eines Konzerts oder den Leser eines Romans genießen lässt. Wie die Philosophie reagiert, haben wir bereits gehört. Aber wie reagiert die Religion? Gehört sie zu den großen Verlierern der Moderne? Hat sie nur die Wahl zwischen dem Rückzug ins Unbeobachtbare eines »ozeanischen Gefühls« (Freud 1994: 31f.) oder der Flucht nach vorne, in den Trotz des Fundamentalismus? Und wie reagieren die Wirtschaft, die Politik, die Wissenschaft? Wahrhaftig ein reichhaltiges Forschungsprogramm!
Die Wirtschaft hat sich als »Marktwirtschaft« vollständig und mit bemerkenswertem Erfolg auf die Beobachtung zweiter Ordnung eingestellt. Hier beobachten Verkäufer nur noch, was andere Verkäufer mit oder ohne Erfolg zu verkaufen versuchen, und Käufer nur noch, was andere Käufer mit oder ohne Distinktionsgewinn kaufen. Die Politik hat sich auf ›Demokratie‹ umgestellt, was nichts anderes heißt, als dass nur noch die Politik gemacht wird, die bei Beobachtern, sprich: Wählern, Erfolg hat, die bei ihren Entscheidungen in Rechnung stellen, wie geschickt Politiker sich ›politisch‹, das heißt auf dem gefährlichen Terrain der Beobachtung zweiter Ordnung zu bewegen verstehen (vgl. White 1981; Luhmann 1988; Baecker 1988). Und die Wissenschaft bietet das Konzept der »Empirie« an: Und das heißt nicht, dass Aussagen nur noch im Hinblick auf ihren Gegenstand zu validieren sind, sondern es heißt, dass sie erkennbar für andere Beobachter gemacht werden, denen eigene Möglichkeiten unterstellt werden, die Aussagen zu überprüfen.
Wir lassen diese Beispiele hier auf sich beruhen, gehen nicht auf den Sport, die Erziehung oder das Recht ein, lassen die weitreichenden Verschiebungen in den Interaktions- und Organisationskulturen der modernen Gesellschaft außen vor und wenden uns versuchsweise und abschließend dem Maximalfall der Registrierung eines Bereiches gesellschaftlicher Kommunikation als Kultur zu: der Gesellschaft. Was geschieht, wenn die Gesellschaft selbst »als Kultur« beobachtet wird? Ist die intellektuelle Vergleichspraxis überhaupt so weit entwickelt worden, sich auch an diesem Gegenstand zu messen? Natürlich ist sie das, die Ethnologie und verschiedene Versionen der Soziologie sind nichts anderes als vergleichende Analysen von Gesellschaften und damit Analysen von Gesellschaften als Kultur. Und auch die Kulturkritik ist seit Rousseau damit beschäftigt, die Gesellschaft insgesamt als Kultur zu betrachten und unter dem Gesichtspunkt ihrer Fortschrittlichkeit zu preisen oder unter dem Gesichtspunkt ihrer Dekadenz zu verdammen, je nach Gemütslage des Kulturkritikers – der dabei auch noch regelmäßig vergisst, wie Theodor W. Adorno einmal festgestellt hat (vgl. Adorno 1955), dass er der Gesellschaft angehört, deren Kultur er kritisiert, sodass sein Preisen verdächtig ist, weil er sich selbst mitpreist, und seine Verdammung, weil er sich selbst mitverdammt.
Mich interessieren hier andere Fälle – wohl wissend, dass ich damit die Geste des Interessantfindens nur verlängere. Mich interessiert, ob es Fälle der Beobachtung von Gesellschaft als Kultur gibt, in denen die Gesellschaft sich vor sich selber warnt. Mich interessiert, ob es Fälle gibt, in denen die Kunst des Vergleichs gegen die Kunst des Vergleichs gerichtet wird: Fälle, in denen mittels Beobachtung zweiter Ordnung die »verheerenden Folgen« der Beobachtung zweiter Ordnung geschildert werden. Mich interessiert, ob die Beobachtung von Kontingenz auf etwas anderes stößt als auf Kontingenz. Dabei nehme ich gleich den radikalen Fall an, nämlich die moderne Weltgesellschaft, in der es nur noch eine Gesellschaft gibt, und wir daher fragen müssen, was man über die Gesellschaft herausfindet, wenn man sie mit sich selbst vergleicht. Ist diese Frage leer? Kann sie nur auf Abstrakta stoßen? Ist sie unsinnig, weil man nichts mit sich selbst vergleichen kann?
Johann Gottfried Herder hat die Art und Weise, wie man mit diesen Fragen umgehen kann, seinerzeit bereits entschieden. »Ich mag gar nicht vergleichen«, ruft er in seiner Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit aus, um dann jedoch dieser Philosophie den schönen Untertitel Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts zu geben (vgl. Herder 1990: 21). Das ist, im Jahr 1774, bereits die ›postmoderne› Geste, die mit einer komplexen, einer polykontexturalen, einer Welt nicht mehr mit einem, sondern mit vielen Beobachtern rechnet, die alle ihr eigenes Recht haben und dieses Recht auch wahrnehmen sollen, wenn sie nur zulassen, bei ihren Beobachtungen von anderen Beobachtern beobachtet zu werden.
Darum wird die Maxime, dass wir beschreiben müssen, wenn wir erkennen wollen, zum obersten Gebot eines Vergleichs der Gesellschaft mit sich selbst. Denn Beschreiben heißt, auf andere Beobachter zu stoßen, auf sich selbst als Beobachter zu stoßen und der Bedingungen gewahr zu werden, unter denen Beobachtungen angefertigt werden können. Beschreiben heißt, einen Text anzufertigen, in dem auch andere Beobachter vorkommen können. Und Beschreiben heißt, einen Text anzufertigen, der seinem Autor Gelegenheit gibt, sich selbst beim Beobachten zu beobachten. Und Beschreiben heißt, feststellen zu können, wie Texte funktionieren und daraus Rückschlüsse, nicht immer eindeutiger Art, darauf zu ziehen, wie man Beobachtungen macht.
Also noch einmal: Gibt es Fälle der Beobachtung von Gesellschaft als Kultur, in denen die Gesellschaft sich vor sich selber warnt? Wir wissen jetzt, dass diese Frage nur so zu beantworten ist, dass man nach Fällen sucht, in denen die Gesellschaft sich selbst beobachtbar macht. Wir suchen also in Wirklichkeit nach Gesellschaftstheorien, die um das Faktum der Beobachtung und hier vor allem der Beobachtung zweiter Ordnung herum gebaut sind. Natürlich fällt einem sofort die Gesellschaftstheorie Luhmanns ein, aber ich denke, es gibt noch mindestens drei andere Fälle von Theorien, die aus dem unmöglichen Manöver des Vergleichs der Gesellschaft mit sich selbst erwachsen sind und die daher als Höhepunkte der intellektuellen Entwicklung der Moderne gelten können. Vier Fälle also insgesamt, aber ich bin sicher, die Liste ist unvollständig:
Der erste Fall ist die Kritik der politischen Ökonomie, wie sie von Hegel und Marx eingeleitet worden ist. Hegels Begriff der »Entzweiung« und Marx’ Begriffe des »Klassenkampfes« und der »Revolution« sind die Voraussetzungen dafür, die Gesellschaft in der Gesellschaft zu spalten und sie mit sich selbst vergleichen zu können. Nach Hegel und Marx gibt es keine Gesellschaftstheorie mehr, die sich überzeugend auf irgendetwas außerhalb der Gesellschaft beziehen könnte, um einen Vergleichsmaßstab für die Gesellschaft zu finden. Nicht die »Schöpfung« der Theologen, nicht die »Vernunft« der Philosophen und nicht der »Fortschritt« der Ideologen bieten jetzt noch externe Anhaltspunkte. Die Gesellschaft ist nichts anderes als die Kultur ihrer selbst, im antiken und im modernen Sinne. Sie ist eine soziale Konstruktion, motiviert durch Klasseninteressen. Und sie ist eine Praxis, die erst noch über sich selbst aufgeklärt werden muss. Das wäre bereits so radikal, wie man es sich heute wünschen kann, würden dann nicht doch noch Vergleiche der Gesellschaft mit dem sittlichen Staat (bei Hegel) und der humanen Gesellschaft (bei Marx) eingeführt, die in die Gesellschaft Gesichtspunkte einführen, die selbst nicht beobachtet werden können.
Der zweite Fall ist die Psychoanalyse und ihre Kritik. Wenn man Das Unbehagen in der Kultur von Freud vor dem Hintergrund eines Interesses an Beobachtung zweiter Ordnung liest, überrascht, wie wesentlich die Rolle der Angst für Freud ist und wie eindeutig sie eine Angst vor dem Über-Ich ist, das seinerseits aus der Erfahrung der Gemeinschaft, das heißt des Beobachtetwerdens resultiert. Das »Unbehagen« in der Kultur ist identisch mit der Kultur selber, jede Lust an der Kultur, so es sie gibt, ist immer auch eine Lust an diesem Unbehagen (Freud 1194: 86ff.). Zur Gesellschaftstheorie wird die Psychoanalyse allerdings erst in dem Moment, in dem ihr von Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem Anti-Ödipus die Ausflucht in die Familie gestrichen wird, das heißt, in dem ihr der Ödipuskomplex als fixe Idee nachgewiesen wird und das Interesse an der »schizogenen« Wirkung der Gesellschaft selbst ins Zentrum der Analyse rückt (Deleuze/Guattari 1974). Das ist natürlich noch marxistisch motiviert, ist noch Kapitalismusanalyse. Aber es trifft den wesentlichen Punkt, dass als Vergleich der Gesellschaft mit sich selbst, und das heißt: als Kulturanalyse, nur zählt, was eine gesellschaftliche Ausgangsdifferenz angeben kann. Dass diese Differenz zunehmend ›leer‹ wird, wie dies die Cultural studies heute vorführen (vgl. Allen 1996), ist eine unvermeidbare Konsequenz. Denn sie kann nur von Beobachtern »gefüllt«, das heißt gesetzt werden, die man dann wieder auf ihre Beobachtungen hin beobachten kann.
Der dritte Fall sind die epistemologischen Bewegungen des Konstruktivismus, und zwar sowohl in ihrer philosophischen Variante der »deconstruction« als auch in ihrer kybernetischen Variante einer ›Ökologie des Geistes‹. Jacques Derrida (1972 u. 1988) ebenso wie Gregory Bateson (1981 u. 1982), um nur diese beiden Vertreter zu nennen, sind unerbittlich beim Nachweis von externen Referenzen jeder Art als »Supplemente« oder »Typenfehler«, die nur die Aufgabe haben, den Blick auf die eigene Konstruktion der Verhältnisse, mit denen man es zu tun hat, zu verstellen. Ob als ›Schrift‹ oder als ›Geist‹: Die Erkenntnis stößt laufend auf sich selbst, wenn sie nach ihren Voraussetzungen fragt, und hat nichts anderes als sich selbst, wenn sie Antworten auf die Voraussetzungen dieser Voraussetzungen sucht.
Der vierte Fall schließlich ist die Kritik der Soziologie, wie sie von Niklas Luhmann in seiner Theorie der Gesellschaft vorgelegt worden ist – eine durchweg soziologische Kritik der Soziologie, denn diese Kritik der Soziologie ist eine Kritik ihres vermeintlich empirischen Programms. Luhmann analysiert die Kultur der Gesellschaft als »Gedächtnis« der Gesellschaft (Luhmann 1997: 586ff.). Dieses Gedächtnis operiert ohne irgendwelche externen Anhaltspunkte, ohne Maßstäbe für das, was richtig oder falsch, wünschenswert oder nicht wünschenswert, moralisch einwandfrei oder moralisch bedenklich ist. Es hat nichts anderes als die Vergangenheit der Gesellschaft, in der es nach Beschreibungen und Unterscheidungen suchen kann, in deren Rahmen die Zukunft oszillieren kann.
Denn das ist der langen Rede kurzer Sinn: Hat die moderne Kultur die moderne Gesellschaft auf einen Weg der immer neuen Entdeckung von Kontingenz gebracht, die in die Erfolgsgeschichte des Kapitalismus ebenso umgesetzt werden konnte wie in die Wahnideen der Totalitarismen, so gilt es jetzt, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Zukunft offen ist und dass wir nichts anderes als unsere Beschreibungen haben, um uns dieser Zukunft zu nähern. Dann würde sich zum guten Ende der Begriff der Kultur doch noch in einen »guten« Begriff verwandeln: Er würde darauf hinweisen, dass wir uns unsere Verhältnisse selber schaffen und dass wir nur uns für sie verantwortlich machen können.1 Und das erklärt sogar, warum die Formel »Wie interessant!« heute keine Unruhe mehr schafft, sondern den Beginn einer Arbeitsbeziehung markieren kann.
* | Erstabdruck in: Lettre International (Sommer) 1999, H. 45, S. 56–58; Wiederabdr. in: Dirk Baecker: Wozu Kultur? Berlin 2000, S. 44–57.
1 | Siehe in wunderbar übermütiger Konsequenz Foerster 1997. Es ist nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, dass der Modus der Frage der Erkenntnis nach sich selbst seit den Griechen und wieder seit Husserls Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1982) als Kennzeichen einer spezifisch »europäischen« Rationalität gelten kann. Siehe dazu auch Derrida 1991 u. Luhmann 1992.
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