Rundbrief 6.2 (2012)

Ernest W.B. Hess-Lüttich

BERLIN, DEN 31. DEZEMBER 2012

Sehr verehrte Kolleginnen, sehr geehrte Kollegen, liebe Freunde in der GiG, politisch war das Jahr 2012 war ein Jahr der Ernüchterung. So jedenfalls bilanziert mein Berner Freund und Kollege, der Schweizer Medienforscher und Publizist Roger Blum, seinen heutigen Rückblick auf das Jahr des Drachens. So ganz unrecht hat er ja nicht, wenn wir für einen Moment innehalten und uns umschauen.

Wir sind ohnmächtige Zeugen des zügigen Übergangs vom weltweit gefeierten »Arabischen Frühling« in einen islamistischen Winter. Mit tiefer Resignation registrieren wir das Scheitern aller Vermittlungsversuche in Syrien, wo das Regime Menschen mordet und Städte tilgt. Die fragile Balance zwischen den Glaubensgemeinschaften gerät aus dem Lot, ein weiteres Land droht islamistischem Furor anheimzufallen, am Gefängnis ändert sich das Namensschild.

In den USA nehmen fundamentalistische Republikaner lieber das eigene Land in Geiselhaft als dem knapp wiedergewählten Präsidenten einen Zoll breit entgegenzukommen. Kinder schießen Schulen zusammen, wogegen die mächtige Lobby der National Rifle Association ihrer krausen Logik gemäß noch mehr Waffen als Rezeptur empfiehlt.

In Russland erstickt ein erneut gewählter Präsident mit totalitär geschulter Umsicht oppositionelle Regungen. Die in Europa bestehenden Diktaturen (etwa Weißrussland) behaupten sich unbehindert nach wie vor, die Ukraine scheint sich zu ihnen gesellen zu wollen, indem sie ihre Kritiker in Kerker wirft und ihren Killern diskrete Aufträge erteilt.

Im demokratischen Europa hetzen die Spitzen von Gipfel zu Gipfel und produzieren Stillstand. Die Euro-Krise will nicht weichen, der französische Präsident weiß mit seinem Wahlsieg nichts anzufangen, der britische Premier lässt die Europa-Feinde unter seinen Tories kraftlos gewähren, die trotzig die versunkenen Zeiten der »splendid isolation« beschwören, junge EU-Länder wie Ungarn oder Rumänien dürfen den eben errungenen Rechtsstaat aufs Spiel setzen, und niemand wirft sich ihnen in den Arm.

In Deutschland morden Neo-Nazis, und der Verfassungsschutz mit seinem über sie gespannten Netz von V-Leuten hat keine Ahnung. »National befreite Zonen« im Osten, im Westen wütende Salafisten, die Lunten legen.

Und die Schweiz? Die Insel der Seligen, Helvetia felix? Requiescat in pace, fern von Europa ringsum und auf Kosten anderer, misstrauisch nach außen und nach innen, hart gegenüber Flüchtlingen und Fremden, duldsam gegenüber kriminellen Vereinigungen wie Großbanken und Fußballverbänden. Alles ziemlich ernüchternd eben. Aber wo, Herr Kästner, bleibt das Positive?!

Und immer wieder schickt ihr mir Briefe,

in denen ihr, dick unterstrichen, schreibt:

»Herr Kästner, wo bleibt das Positive?«

Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt.

Erich Kästner (1930)

Hier nun kommt die GiG ins Spiel, unsere kleine, aber feine Gesellschaft für interkulturelle Germanistik, aus der, immerhin, es auch Positives zu berichten gibt, rechtzeitig zur Aufhellung trüber Gedanken.

Wieder ist – wenn auch mit Verzögerung, deren Ursachen meine Rundbriefe 5.2 (2011) und 6.1 (2012) in der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3.1 (2012) benennen – ein dickleibiger Band erschienen, der eine großzügige Auswahl aus den eingereichten Aufsätzen bietet, die aus den 2010 in Göttingen präsentierten Referaten hervorgegangen sind. Die zahlenden Mitglieder der GiG halten ihn in Händen, blättern darin und erinnern sich eines inspirierenden Treffens in der Stadt der aufrechten Gelehrten. Für ihre evaluationstechnisch wichtigen Listen notieren sie die bibliografischen Angaben ihres Beitrags in dem fast 700-seitigen ›Wälzer‹:

Ernest W.B. Hess-Lüttich gemeinsam mit Corinna Albrecht und Andrea Bogner (Hg.): Re-Visionen. Kulturwissenschaftliche Herausforderungen interkultureller Germanistik [Symposion Göttingen 2010]. Frankfurt a.M. u.a. 2012 (Cross Cultural Communication 22/Publikationen der GiG 16).

Wieder wurden zwei Bände der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik fertig, deren Lektüre wahrlich lohnt. Im nun schon dritten Jahrgang des referierten Journals publizieren erneut namhafte Vertreter unseres Faches, aber auch literarische Autoren wie Emine Sevgi Özdamar und Thorsten Krämer; der zweite Band ist dem Themenschwerpunkt Mehrsprachigkeit gewidmet und erweitert damit – neben den Rubriken zur Theorie der Interkulturalität, dem Literarischen Essay und dem Forum, den Berichten und Besprechungen – noch einmal das Profil des Periodikums.

Wieder hat die GiG 2012 eine gelungene Tagung veranstaltet, im März, kurz vor der Kirschblüte, in Kyōto, der Stadt der 2 000 Tempel. Da ich im letzten Heft der ZiG ausführlich darüber berichtet habe, kann ich es bei dem Hinweis belassen, ergänzt allenfalls durch eine Bitte um Entschuldigung für den Satzfehler in der Überschrift (der Lektor meinte aus meinem korrekt eingereichten Bericht über ein GiG-Kolloquium im März 2012 in Kyōto einen über das »GiG-Kolloquium im November 2010« machen zu müssen). Vielleicht kam da versehentlich noch eine Schablone von einem früheren Bericht zum Einsatz, dem über die Tagung in Kairo (s. ZiG 3.1 [2012]: 203–209).

Was mich zu einer weiteren Entschuldigung nötigt: Die fertig bearbeiteten Dateien für den Kairo-Band zum Thema Zwischen Ritual und Tabu wurden längst in die Produktion gegeben, und der fertige Band hätte jetzt auch schon erscheinen sollen, aber offenbar gibt es nun wieder einen Stau in der Herstellungsabteilung des Lang-Verlags. Dadurch verzögert sich erst recht die Produktion eines weiteren Bandes, der aus der Tagung in Bangkok Zur kulturellen Bestimmung des Raumes in Text und Film hervorging (s. meinen Bericht darüber in ZiG 3.1), der editorisch und redaktionell in Bern ebenfalls abgeschlossen ist und der eigentlich schon im November 2012 den Sponsoren (dem thailändischen Außenministerium und dem DAAD) hätte zugehen sollen. Hoffen wir, dass es bei den Förderzusagen bleibt und dass wir im Jahre 2013 die Mitglieder (und den Buchhandel) gleich mit drei Bänden erfreuen können.

Und schließlich konnte wieder eine Tagung vorbereitet werden, über die mein letzter Rundbrief 6.1 in der ZiG ausführlich informiert hat: in Johannesburg zum Thema Gesellschaften in Bewegung im Januar 2013. Über diese Tagung informiert mein Bericht (S. 231–244 in diesem Heft). Ich habe den DAAD erneut dafür gewinnen können, im bisherigen Umfang, wenn auch aus einer anderen Abteilung, Drittmittel zur Unterstützung der Tagung bereitzustellen, d.h. für die Förderung der Teilnehmer aus den (von der UNESCO) sog. DAC-Ländern. Leider sahen sich manche GiG-Mitglieder, die formell die harten Kriterien des DAAD nicht erfüllen und daher keine Unterstützung erhielten, nicht in der Lage, die Kosten anderweitig auszugleichen oder aus eigener Tasche zu tragen. Die sehr knappe Begrenzung der Mittel für wissenschaftliche Aktivitäten in unserem Terrain schmerzt umso mehr, wenn man täglich liest, wofür sonst das Geld der Steuerzahler ungleich sorgloser ausgegeben wird. Wer von unseren Mitgliedern also vertrauten Umgang mit reichen Mäzenen pflegt, möge ein gutes Wort für unsere Belange einlegen.

In wenigen Wochen, liebe GiG-Freunde, hoffe ich dennoch – zumal nachdem der vom Maya-Kalender vermeintlich für den 21. Dezember 2012 prognostizierte Weltuntergang einstweilen weiterhin auf sich warten lässt – etliche von Ihnen in Johannesburg wiederzusehen. Nun beginnt weit im Osten bald (am 10. Februar 2013) das Jahr der Schlange und, von Berlin aus und nach hier gebräuchlichem Kalender gerechnet, in wenigen Stunden das Jahr 2013, für das ich uns allen nah und fern bessere Nachrichten wünsche als die eingangs aus 2012 notierten, Euch und Ihnen allen aber auch Glück und Gesundheit, Erfolg und Muße. Der Muße wird es mir und manchem von uns wohl wieder mangeln, das ist schon absehbar, aber ich weiß auch, mit zunehmendem Alter, die Kostbarkeit der allzu rasend schnell verrinnenden Zeit zu würdigen:

Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben!

Sie zu halten, wäre das Problem.

Denn, wen ängstigts nicht: wo ist ein Bleiben,

wo ein endlich Sein in alledem?

Rainer Maria Rilke, Aus dem Nachlass