Nicole Colin: Deutsche Dramatik im französischen Theater nach 1945. Künstlerisches Selbstverständnis im Kulturtransfer. Mit einem Vorwort von Jack Lang und einer Einleitung von Jean Jourdheuil (mit DVD)

Bielefeld: transcript 2011 – ISBN 978-3-8376-1669-9 – 55,80 €

Politisierung und Anerkennung Das Théâtre public in Frankreich und seine deutschsprachigen Autorinnen und Autoren

Dass ästhetische Produktionen insbesondere im Theater maßgeblich von institutionellen Strukturen und organisatorischen Rahmenbedingungen beeinflusst werden, hat die Studie von Friederike von Cossel (2011) über Repertoireentscheidungen aus neoinstitutioneller Perspektive gezeigt. Betont der Neoinstitutionalismus (jenseits von Rationalität und Effizienz der Institutionen) Aspekte wie Sinngebung, traditionsgebundene Einstellungen und den ›Glauben an etwas‹, so vermag er die habitualisierten Selbstverständnisse von Theatermacher/innen zu beschreiben, ihre institutionellen Konditionierungen und nicht hinterfragten Wahrnehmungen, die Künstlerbilder und Lebensstile ebenso beeinflussen wie ästhetische Entscheidungen.

Diese Selbstbilder können auch mithilfe von Pierre Bourdieus Feld- und Lebensstilanalyse beschrieben werden, wie sie beispielsweise Tanja Bogusz (2007), Doris Eikhof (2004) und Axel Haunschild (2003) herangezogen haben – und neuerdings Nicole Colin in einer ebenso beeindruckenden wie umfänglichen Studie zum deutsch-französischen Theaterfeld nach 1945. Sie entwirft in ihrer interkulturellen Theatergeschichte, die die Übersetzungen zwischen deutscher und französischer Szene en detail rekonstruiert, ein komplexes Tableau, das das Bedingungsgefüge von Kulturtransfers, politischen Selbstverständnissen, Ästhetiken, Publikum und Kritik in beeindruckender Weise anschaulich macht. Colin untersucht auf 1 500 Seiten, von denen die Hälfte (Statistiken, Spielpläne etc.) auf einer beigelegten DVD zugänglich sind – Bourdieus Feldanalysen bedürfen bekanntlich minutiöser Recherchen –, den auf den ersten Blick erstaunlichen Umstand, dass deutschsprachige Autor/innen im französischen Theater ab 1945 eine signifikante Rolle spielen, genauer: im Théâtre public, das nach Kriegsende im Zuge einer umfassenden kulturellen Dezentralisation entsteht; auch die Provinz sollte in den Genuss kultureller Güter kommen. Es ist mithin eine bestimmte Theaterform, die zu der Adaption deutschsprachiger Stücke von Bertolt Brecht, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Peter Handke, Heiner Müller, Thomas Bernhard und anderen führt und die Genese eines autonomen Theaterfeldes forciert, in dem der künstlerisch-schöpferische Ausdruck auf die Regie, nicht primär auf den dramatischen Text zurückgeführt wird. Bis 1945 lässt sich das Theater in Frankreich hingegen dem literarischen Feld zuordnen, denn Regie und Kritik (als intellektueller Ausdruck) spielen kaum eine Rolle.

Colin vergegenwärtigt nach theoretischen Vorüberlegungen zu Bourdieu sowie zur Forschungs- und Quellenlage – ähnlich wie für die Studie von Cossel sind die Spielpläne zentral, die auch statistisch erfasst werden – die Situation im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die Theater waren im Wesentlichen in Paris situiert und widmeten sich mit den wenigen Ausnahmen der staatlichen Theater (wie der Comédie-Française) dem Geschäft der Unterhaltung. Avantgardistische Experimente (am Théâtre de L’Art oder Théâtre de L’Œuvre) sowie der Versuch, den Naturalismus auf der Bühne zu etablieren, wie ihn André Antoine am Théâtre libre unternahm, scheiterten meist aufgrund finanzieller Unsicherheiten (obgleich sie für die europäische Theatergeschichte von großer Bedeutung sind). Für das französische Theater bestätigt sich damit die von Bourdieu profilierte binäre Logik von ökonomischem Erfolg versus ästhetischer Leistung, die in Deutschland nicht in diesem Maße greift – Max Reinhardt beispielsweise vermag beide Kapitalformen zu nutzen, während in Frankreich die Uninteressiertheit am Ökonomischen das symbolische Kapital der Künstlerinnen und Künstler steigert.

Zum Ende des 19. Jahrhunderts kommt der Regie zunehmend größeres Gewicht zu – Effekt eines Professionalisierungsschubs, wie er sich auch in Deutschland vollzieht. Ganz zentral ist in diesem Zusammenhang Colins Überlegung – auch mit Blick auf die gegenwärtige Kulturpolitik in Deutschland und das Phantasma eines ›Kulturinfarkts‹ –, dass das ästhetisch hoch stehende Regietheater allein durch Subventionen entstehen konnte, die dem Théâtre public, also dem öffentlichen Theater an der Peripherie und in der Provinz, reichlich zukamen, allerdings in geringerer Höhe als den Staats- und Stadttheatern in Deutschland; deshalb tendiert man in Frankreich zu Koproduktionen, ›Theaterfamilien‹ und Netzwerken.

Das kulturpolitisch massiv unterstützte Théâtre public stößt zwar zunächst auf Schwierigkeiten, da die künstlerische Arbeit in der Provinz kaum symbolisches Kapital verspricht. Die Lage ändert sich jedoch nach einem ›Urerlebnis‹, der emphatischen Entdeckung Bertolt Brechts, der (rückwirkend) zum großen Initiator einer künstlerischen Bewegung sowie der Intellektualisierung des Theaters stilisiert wird – Ausgangspunkt ist der mythisierte Auftritt des Berliner Ensemble 1954 beim ersten Festival international d’art dramatique in Paris. Brecht wird als Autor, Regisseur und Theoretiker wahrgenommen und kann deshalb für ästhetische Fragen ebenso vorbildlich werden wie für die Theaterkritik, allem voran für diejenige, die in der Zeitschrift Théâtre populaire veröffentlicht wird. Roland Barthes, einer der führenden Köpfe, schreibt provokante Theatertexte, die die Kritik intellektualisieren und ein neues künstlerisches Selbstbewusstsein des Théâtre public zur Folge haben. Roland Barthes diffamiert das Pariser Bürgertheater als »luxe vaniteux« – dazu gehören auch die Avantgardebühnen Rive gauche, die Samuel Beckett und Eugène Ionesco spielen – und fordert eine grundsätzliche Erneuerung der Bühnen sowie ein nicht-bürgerliches, intellektuell-politisches Theater, für das Brecht steht.

Der DDR-Autor ist für die Intellektuellen linker Provenienz selbstverständlich attraktiv; andere Autoren hingegen wie Peter Hacks oder Erwin Strittmatter sowie die Zwangslage der Theater aufgrund der (in der DDR öffentlich dementierten) Zensur und der Zersetzungspolitik der SED werden nicht zur Kenntnis genommen. Brecht steht dabei nicht nur für ein deutschsprachiges Theater, das primär als gesellschaftskritisches gilt, sondern auch für ein bestimmtes Betriebssystem, denn das DDR-Theater erlaubt lange Probenzeiten, sichert die Schauspielerinnen und Schauspieler finanziell ab und ist hoch subventioniert. Andere deutschsprachige Autoren wie Frisch und Dürrenmatt profitieren von dem Image Brechts, Klassiker wie Georg Büchner, Heinrich von Kleist und Reinhold Jakob Michael Lenz werden im Zuge seine Rezeption als politische Autoren entdeckt.

In den 1960er und 70er Jahren verstärkt sich die Politisierung des französischen Theaters, weil sich Vertreterinnen und Vertreter von Elitehochschulen und anderen Universitäten um 1968 auch für das Theater engagieren; es kommt, anders als in Deutschland (bis heute), zu einer engen Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Theater. Diese Politisierung führt brisanterweise zu einer gesellschaftlichen und ästhetischen Aufwertung des Theaters, auch wenn sich in den 1970er Jahren die Hoffnung auf einen politischen Wandel durch das Theater zerschlägt. Das Ziel einer geografischen wie sozialen Ausweiterung des Theaterfeldes wird in dieser Phase aufgegeben und die Kluft zwischen Théâtre privé und Théâtre public verschärft sich. Das Interesse an deutschsprachiger Dramatik, nun an Franz Xaver Kroetz, Rainer Werner Fassbinder und deren Vorbild Ödön von Horváth, schwächt sich jedoch nicht ab, wobei vor allem das Repertoire der Schaubühne stilbildend wirkt.

Anders sieht es nach 1989 aus, als es auch in Frankreich zu einer Renationalisierung kommt, die von globalen Austauschbewegungen flankiert wird. Die sich seitdem vollziehende Internationalisierung kultureller Übersetzungen lassen die deutschsprachigen zeitgenössischen Autorinnen und Autoren, die seit Mitte der 1990er Jahre in Deutschland einen Boom erleben, zunehmend in den Hintergrund treten.

Colins Studie ist in vielerlei Hinsicht in hohem Maße innovativ: für den interkulturellen Vergleich von Theaterlandschaften und die Profilierung eines politisch-intellektuellen Theaters ebenso wie für Professionalisierungsschübe und Distinktionsbildung, die die Bourdieu-Forschung untersucht. Sie profiliert beispielsweise die Differenz zwischen den kulturellen Feldern in Frankreich und Deutschland, die eine simple Übertragung des bourdieuschen Modells in Frage stellt; und sie klärt das Verhältnis von literarischem und theatralem Feld, das in manchen Bourdieu-Studien undeutlich bleibt. Zudem wird der Hiatus, der sich aufgrund der disziplinären Grenzziehungen von Theaterwissenschaft, Germanistik und Soziologie zwischen ästhetischer Produktion und institutionellen Bedingungen auftut, geschlossen. Die Studie entfaltet eine »deep description« der französischen Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts, indem sie die Interferenzen zwischen politischen Entscheidungen, institutionellen Veränderungen und ästhetischen Prozessen freilegt. Für die interkulturelle Forschung sind insbesondere diejenigen Prozesse aufschlussreich, die die Übersetzungen deutschsprachiger Theaterliteratur als selektive Akte, als Deplatzierungen und kreative Aneignung kenntlich machen.

Die historische Analyse, für die Colin im Élysée-Jahr 2013 den Deutsch-Französischen Parlamentspreis erhalten hat, liefert darüber hinaus schlagende Argumente, um dem gegenwärtigen Legitimationsverlust des Theaters zu begegnen. Wegweisend ist beispielsweise der Hinweis des einflussreichen Kulturpolitikers Jack Lang im Vorwort, dass das Theater Bedingung einer demokratischen Zivilgesellschaft sowie transnationaler Verständigung sei, weil es als öffentliches Medium gesellschaftlicher Selbstbeobachtung fungiert. Colins Theatergeschichte belegt zudem den unmittelbaren Zusammenhang zwischen einem politisierten Theater und seiner gesellschaftlichen Anerkennung – auch diese Formel könnte die gegenwärtige theatrale Praxis leiten.

Franziska Schößler

Literatur

Bogusz, Tanja (2007): Institution und Utopie. Ost-West-Transformationen an der Berliner Volksbühne. Bielefeld.

Cossel, Friederike von (2011): Entscheidungsfindung im Kulturbetrieb am Beispiel der Spielplangestaltung im Theater. München.

Eikhof, Doris/Haunschild, Axel (2004): Der Arbeitskraftunternehmer. Ein Forschungsbericht über die Arbeitswelt Theater. In: Theater heute 3, S. 4–17.

Haunschild, Axel (2003): Managing Employment Relation in Flexible Labour Markets: The Case of German Repertory Theatres. In: Human Relations 56, S. 899–929.