Fremdheitskonstruktionen und Kolonialdiskurs in Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher

Ein Beitrag zur interkulturellen Dimension der Kulturkritik um 1900

Eva Wiegmann-Schubert

Abstract

The analysis of intercultural aspects of Julius Langbehns Rembrandt as Educator (Rembrandt als Erzieher) shows, how intracultural changes in the context of the modernization process are projected on an intercultural level in order to defend traditional identity constructions. This strategy of defense is also following imperialistic principles. Compared with modes of reaction on today’s globalization process, there are some decisive parallels, so that it seems indispensable to subsume failures of the intercultural dialogue and strategies of exclusion observable in Langbehn’s text under the research paradigm of interculturalism which up to now has largely been oriented towards the present.

Title:

Constructions of Foreignness and Colonial Discourse in Julius Langbehn’s Rembrandt as Educator (Rembrandt als Erzieher): A Contribution to the Intercultural Dimension of Cultural Criticism around 1900

Keywords:

anti-semitism; colonial ciscourse; conservative revolution; cultural criticism; Langbehn, Julius (1851–1907)

Die Beurteilung des Menschen August Julius Langbehn oszilliert zwischen psychotisch und genialisch. Seine Biografie ist reich an kuriosen Anekdoten. So bildete er sich etwa ein, Nietzsche heilen zu können, und bemühte sich sogar um die Vormundschaft für den kranken Philosophen (vgl. u.a. Stern 2005: 156f.). Er führte das Leben eines exzentrischen, einen primitiv-bäuerlichen Lebensstil pflegenden Aussteigers ohne festen Wohnsitz und schickte seine Promotionsurkunde, die ihn immerhin als Doktor der Kunstgeschichte auswies, zerrissen an die Universität München zurück.

Weder die ausgesprochen schillernde Persönlichkeit Langbehns noch seine individuelle Pathogenese sollen hier jedoch im Vordergrund stehen. Das Werk Rembrandt als Erzieher wird hier vielmehr in erster Linie als eine Art Repräsentationsschrift für die sich ausbildende kulturkritische Mentalität an der Schwelle zum 20. Jahrhundert und den spezifischen Redaktionsmodus auf einen »Modernisierungsprozess von kulturrevolutionären Dimensionen« (Sloterdijk 1995: 310) gelesen. Wenn man so will, werden die das Werk prägenden psychotischen Charakteristika (vgl. Bürger-Prinz 1932 u. dies./Segelke 1940) hier nicht als Ausdruck einer individuellen Krankengeschichte interpretiert, sondern als Manifestation einer zeittypischen »Tendenz zu einer paranoiden politischen Denkstruktur« (Titzmann 1991: 131), die aus der kognitiven Überforderung weiter Bevölkerungsteile durch eine sich in rapidem strukturellen Wandel befindliche Umwelt erwächst (vgl. Wiegmann-Schubert 2012: 157ff.). Die gewaltige Resonanz auf dieses Buch, das bereits »ein Jahr nach seinem Erscheinen […] seine 38. Auflage erzielte« (Zimmermann 1975: 54), kann als ein Indiz dafür genommen werden, wie sehr sein kulturkritischer Tenor mit der allgemeinen Stimmungslage im ausgehenden 19. Jahrhundert übereinstimmte. Obwohl im Vorfeld bereits Paul de Lagardes Deutsche Schriften (1878) ähnliche Töne anschlugen und diesem auch zunächst der 1890 anonym erschienene Rembrandt als Erzieher zugeschrieben wurde, begann sich die deutsche antimoderne Bewegung im eigentlichen Sinne erst mit dieser Schrift zu formieren. Nietzsches kulturkritische Schriften entstanden zwar schon in den 1870er Jahren, eine breitere Rezeption setzte jedoch erst nach dem Erscheinen des langbehnschen Werkes ein. Insofern kommt man an einer genaueren Betrachtung dieses mühsam zu lesenden Buches, das Fritz Stern »eine Rhapsodie des Irrationalismus« (Stern 2005: 144) nennt, nicht vorbei, will man der schwellenzeitlichen Mentalität auf den Grund gehen.

Das Werk Rembrandt als Erzieher, das »fast jeden Streitpunkt[ ] und [jedes] Reizwort[ ]« (Behrendt 1984: 138) seiner Zeit berührt, verwebt die verschiedenen zeittypischen Diskursfäden zu einem dichten Textgewebe, das arabeske Züge trägt. In dieser Form der »aphorismenartigen« Verschlingung, in der sich »wörtliche und metaphorisch Ebene permanent durchkreuzen« und »autoreflexive sprachliche Strukturen an die Stelle konventioneller […] Argumentationsformen« (Heinßen 2003: 447 u. 450) treten, liegt das Neuartige dieses Buches, ja dessen »zukunftsweisende Wirkung« und »Modernität« (ebd.: 434 u. 438), in der Johannes Heinßen »auf eigentümliche Weise die Entwicklung der Literatur der kommenden Jahre« (ebd.: 449) vorweggenommen sieht. In dieser neuen Form versucht Langbehn die als Gegenentwurf zu einer diagnostizierten Zersplitterung des Gesamtzusammenhangs im Zuge umfassender Modernisierungsprozesse konzipierte »Synthese« (Langbehn 1890: 2) auf der Textebene zu vollziehen, indem er das Nebeneinander einzelner, hier als ›modernes Spezialistentum‹ bezeichneter, Einzeldiskurse wieder zu einem untrennbaren Ganzen zusammenzufügen sucht. Mit dieser Textform intendiert er im Grunde eine in diesem Werk immer wieder als Antidot gegen die fragmentierende Wirkung der analytischen Naturwissenschaft beschworene Kunst vorzuführen, die – in den Worten des von Langbehn verehrten Nietzsche – »in Eins« zu dichten »und zusammen zu tragen« vermag, »was Bruchstück ist.« (Nietzsche 1999: 248)

Die langbehnsche Strategie der Gegenwehr gegen die Auswirkungen des Modernisierungsprozesses lässt sich jedoch nicht allein auf formalästhetische Aspekte reduzieren. Sein ästhetisches Programm geht, so die hier vertretene These, vielmehr untrennbar mit einem interkulturellen Reaktionsmodus einher, dessen Berücksichtigung zwar nicht alle Paradoxien des Werkes aufzulösen vermag, aber die Argumentationsstruktur insgesamt doch deutlich einsichtiger macht und damit auch die Figur Langbehn in ein anderes, weniger pathologisch gefärbtes Licht rückt.

Im Folgenden soll insbesondere gezeigt werden, wie in Rembrandt als Erzieher gesellschaftspolitische und geistige »Achsenverschiebungen« (Langbehn 1890: 2), welche die gewohnten Identitätskonstruktionen in Frage stellen, in einem Prozess der Übertragung auf interkulturelle Gemengelagen abgebildet werden und inwieweit das von Langbehn heraufbeschworene ›erlösende‹ Kunstzeitalter auf der Grundlage von expansiven Grenzverschiebungsprozessen gedacht ist. Dabei bezieht sich das Erkenntnisinteresse auch auf ein mögliches Fortwirken spezifischer Denkmuster der Zeit um 1900 als der »Inkubationsphase jener Bewegungen und Momente, die bis in unsere Tage hineinragende soziokulturelle Muster, Lebensstile, Lebensrhythmen und Werthaltungen geprägt haben« (Dipper 2012: 56). Das Phänomen der Entgrenzung, das charakteristisch ist für den Umbruch zur »Moderne im engeren Sinne« (ebd.), findet darüber hinaus eine gewisse Entsprechung in den heutigen Globalisierungsprozessen. Insofern stellt sich die Frage danach, inwiefern diese Ergebnisse für die bislang vorwiegend gegenwartsorientierte Interkulturalitätsforschung fruchtbar gemacht werden können, die bislang das »potentielle[ ] Scheitern« des interkulturellen Dialoges und »Exklusionsstrategien, die entweder subkutan oder ostentativ über das Interkulturalitätsparadigma ausgetragen werden« (Heimböckel 2012: 28), nicht in die Forschung miteinbezieht. In diesem Sinne intendiert die vorliegende Untersuchung der interkulturellen Dimension in Langbehns Rembrandt als Erzieher die Stärkung des kritischen Potentials der interkulturellen Literaturwissenschaft.1

Im Folgenden werden zunächst die in Rembrandt als Erzieher feststellbaren interkulturellen Reaktionsmodi analysiert, die sich in nachstehende Hauptaspekte gliedern lassen: Projektion (1.), Abgrenzung und Exklusion (2.), Inklusion (3.) und Expansion (4.). Im Anschluss daran wird dann die Frage nach möglichen strukturellen Parallelen in den Reaktionsformen auf die Wandlungs- und Globalisierungsprozesse der heutigen Schwellenzeit aufgeworfen.

1. Projektion intrakultureller Konflikte auf interkulturelle Gemengelagen

Der Umbruch zur technischen Moderne wurde begleitet von allgegenwärtigen Entgrenzungsprozessen, die eine »umfassende Erschütterung tradierter Verständnismuster« (Plumpe 1978: 75) hervorriefen, wie den Zerfall der Ständeordnung, der als »Auflösung der […] Volkskörper zu formlosen Massen« (Spengler 2003: III. Tafel) empfunden wurde, die Veränderung der traditionellen Raumstruktur durch die fortschreitende Verstädterung, die Ablösung ›authentischer‹ Kommunikationsstrukturen (vgl. Lévi-Strauss 1972: 53) durch mediale Innovationen etc. Diese Auflösung gewohnter Strukturen und Orientierungspunkte steigerte die Angst des Individuums in einer immer unübersichtlicher und unverständlicher werdenden Umwelt »wie ein verlorener Punkt im leeren Raum zu versinken« (Jaspers 1999: 56).

Die umfassende Transzendierung traditioneller Grenzziehungen bedingt ein Bedürfnis nach Festschreibung der eigenen Identität, das sich in Langbehns Rembrandt als Erzieher in dem leitmotivisch auftretenden Terminus »Individualität« manifestiert. Dieses Schlagwort bezeichnet hier allerdings nicht nur die Einzigartigkeit eines jeden Menschen, sondern weist darüber hinaus auf eine besondere, heimatverbundene Kultur, deren normative Implikation gegen eine moderne ›Allerweltszivilisation‹ gerichtet ist, in der sich die individuelle Kultur nicht verlieren dürfe. Die Bedeutungserweiterung von ›Individualität‹ verweist darauf, dass der die Axiome menschlicher Handlungsorientierung radikal verändernde Modernisierungsprozess nicht nur die Identität des Einzelnen, sondern auch die Kollektividentität der Gruppe herausfordert. In einem Prozess der »Identifizierung« mit dem »social self«, der »sich bis zu einer Überidentifizierung« (Waldenfels 1999: 22) steigert, wird der Subjektstatus vom einzelnen Individuum auf das Volksganze übertragen, wodurch der individuellen Identitätskonstruktion mehr Substanz verliehen wird. Um diese Identität in Zeiten des rapiden Wandels möglichst stabil zu halten, werden definitorische Grenzziehungen vorgenommen, denn so wie die Selbsterkenntnis des Einzelnen nur durch den Prozess der Objektivierung, d.h. der intellektuellen Trennung zwischen Ich und Welt erfolgen kann, sind auch »Kulturen erst infolge ihrer Abgrenzung profilierbar und traditionsfähig« (Košt’álová 2003: 239). Auch ein kulturelles Ich kann demnach nicht »ohne Widerparts, Negationen und Oppositionen« (Said 1994: 93) existieren.

Generell ist die identitätskonstruierende Notwendigkeit der Differenzierung von Eigenem und Fremdem umso größer, je näher dieses Fremde dem Eigenen kommt. Entsprechend werden in Rembrandt als Erzieher ›fernfremde‹ (vgl. Weinrich 1990) Kulturen wie etwa die Japaner zwar als »geographische[ ] und geistige[ ] Antipoden« (Langbehn 1890: 220) der Deutschen bezeichnet, da jedoch fast ein ganzer Erdball zwischen Asien und der niederdeutschen Tiefebene liegt, die für Langbehn ›Heimat‹ bedeutet, ist das konkrete Bedrohungspotential dieser vollkommen andersartigen Kultur im Grunde vernachlässigbar. Afrika stellt hier ohnehin keine Bedrohung dar, weil seine Einwohner in den Augen der zeitgenössischen Europäer als schlichtweg dumm eingestuft wurden. So gilt auch Langbehn »der Neger« als einfältig, da er »sein Land und seine Freiheit für eine Flasche gefälschten Rums und einige Glasperlen verkauft.« (Ebd.: 278)

Der Orient, den Edward Said als die Gegenkonstruktion schlechthin zu Europa definiert (vgl. Said 2009), wird ebenfalls als andersartiger Kulturraum benannt und mit den üblichen Stereotypisierungen der moralischen Verwerflichkeit belegt, wenn Langbehn ihn als Heimat »greisenhafte[r] Völker«, d.h. einer dekadenten, dem Untergang geweihten Kultur bezeichnet. Beispielhaft angeführt wird das Image der »heutigen Türken« (Langbehn 1890: 240), die ihre große Zeit längst hinter sich hätten. Das Adjektiv ›orientalisch‹ wird pejorativ verwendet, etwa um die ›Liederlichkeit‹ einer Kultur bzw. Gesellschaft herauszustellen, wie etwa die des »überwiegend orientalisirte[n] [sic!] kaiserliche[n] Rom[s]« (ebd.: 103). ›Zuwider‹ ist Langbehn außerdem »das egyptische [sic!] Hinbrüten« (ebd.: 296), dem er die heroische Tatkraft der Niederdeutschen entgegensetzt. Dennoch geht in Langbehns Vorstellungswelt von den im Orient lebenden Menschen keine konkrete Gefahr aus.2 Diese konkretisiert sich für ihn erst in räumlicher Nähe, in Gestalt der »Hauptfeinde, Frankreich und Rußland« (ebd.: 155).

Insbesondere gegen Frankreich wird eine radikale Abgrenzung vorgenommen, wobei eine Projektion all jener Aspekte des Modernisierungsprozesses, die die eigene Identität zu bedrohen scheinen, auf das südwestliche Nachbarland stattfindet. Dabei wird die, im Vergleich mit den ›fernfremden‹ Kulturen, an sich nicht außerordentlich große Fremdheit zwischen den beiden europäischen Kulturnationen Deutschland und Frankreich bis zum absolut Gegensätzlichen ausgeweitet.3 Diese Fremdheit »wird zum Etikett«, das den zivilisatorischen, angeblich »von außen kommenden« Einflüssen »angehängt wird«, mit der Zielsetzung die eigene kulturelle Identität von den Modernisierungsprozessen abzugrenzen und »einen Sündenbock zu finden.« (Sundermeier 2003: 550) Das Frankreich-Image ist also eine »intendierte Fremdheitskonstruktion«, die eine »Fremdstellung« vornimmt, »um […] das Fremdgestellte auszugrenzen und zum normativ Fremden zu erklären.« (Albrecht 2003: 237; vgl. auch Ohle 1978 u. Horn 1987)

Diese Fremdheitskonstruktion geht hauptursächlich zurück auf die Unbegreifbarkeit der vielschichtigen, hyperkomplexen Wandlungsprozesse, die in ihrer Gesamtheit eigentlich nicht lokalisierbar und personalisierbar sind, da sie sich analog zu den anonymisierten internationalen Wirtschaftsverflechtungen de facto länderübergreifend vollziehen. Ein konkreter Verursacher ist dabei zunächst nicht adressierbar. Diese unheimliche »Angst« (hier verstanden im Sinne Heideggers) vor den diffusen Kräften, die den Bereich der eigenen Heimat radikal verfremden, hat also »zunächst kein Objekt […]. Sie muß sich das Fremde außen erst schaffen.« Dieser »projektive Mechanismus«, der die intrakulturelle Problemlage auf eine interkulturelle Ebene verschiebt, erschöpft sich jedoch laut Uli Bielefeld nie in sich selbst, sondern geht immer »zusammen mit einer Ich-Ideal-Bildung, die sich gerade auf der Basis einer Destruktion des Ichs vollzieht.«

Die Projektion nimmt dem Ich die Ambivalenz und macht es so zu einem ›reinen‹ Ich, läßt Grenzen als fest, als nicht verschiebbar, ›natürlich‹ erscheinen. Die ängstigende Destruktion des Ichs kann u.a. durch eine Konstruktion des Imaginären als Realem aufgefangen werden. Das Zeichen ist dann nicht mehr ein aus dem Realen entwickeltes, sondern wird ihm übergestülpt. (Bielefeld 1992: 105)

Die Kritik am ›Erbfeind‹ Frankreich bzw. seine identifikatorische Gleichsetzung mit der modernen Zivilisation findet allerdings scheinbar eine gewisse historische Begründung in der Prägung des Zivilisationsbegriffs durch Napoleon, in der »nationaler Gedanke und civilisation als universelles Fortschrittskonzept verbunden« (Nünning 2008: 391) werden. Außerdem kann die Französische Aufklärung und Revolution gleichsam als Initialzündung der Moderne gelten und damit als Startpunkt für sämtliche rationalistischen und liberalen Neuerungen auf dem europäischen Festland gesetzt werden. In der geistigen Nachfolge der »Generation von Arndt und Fichte«, die bereits »die Ideen und politischen Institutionen des Liberalismus als fremdländisch, ›undeutsch‹ und westlich verworfen« (Stern 2005: 17) hatten, werden auch in der Kulturkritik um 1900 die unter dem Oberbegriff des Zivilisatorischen zusammengefassten Neuerungen (insbesondere die Demokratie- und Arbeiterbewegung, aber auch der Siegeszug der Naturwissenschaften, der gewissermaßen die Grundlage für eine beängstigenden Innovationsdynamik der industriellen Moderne bildete, die wiederum dem gesellschaftspolitischen Aufstieg der Arbeiterklasse vorausgeht, sowie der modere Kunststil) dem Einfluss eines ›französischen Ungeistes‹ zugeschrieben, der eine ›geistige Krankheit‹ sei und eine essentielle Bedrohung der Volksgesundheit darstelle (vgl. Langbehn 1890: 307).

Dass die Projektion der angsteinflößenden Moderne auf Frankreich mit der eigenen Identitätskonstruktion auf einer dichotomischen Basis untrennbar verknüpft ist, zeigt sich u.a. in der in dem Werk Rembrandt als Erzieher zu Tage tretenden Symbolik. Im Gegensatz zu dem, sich aus dem Kollektivsymbol des Organismus ableitenden »Subjektstatus […] des deutschen Nationalcharakters« (Gerhard/Link 1991: 26f.), wird Frankreich ein oppositionelles Maschinensymbol zugewiesen und zum »Vertreter einer mechanischen Weltauffassung« (Langbehn 1890: 96) stilisiert: »Mechanik […] ist französisch und das ist undeutsch«, »Organik« (ebd.: 305) hingen ist deutsch. Während Deutschland also für »Individualität« steht, steht Frankreich für »Desubjektivierung« (Gerhard/Link 1991: 28). Diesem ›entmenschten‹ Maschinenwesen der auf die französische Kultur projizierten Zivilisation wird das ›Menschsein‹ (vgl. Langbehn 1890: 307) als oberster Wert der deutschen Kultur entgegengesetzt. Mensch und Maschine – größer könnte der postulierte Gegensatz kaum sein.

Als solchermaßen existentielle Bedrohung für das ›Menschsein‹ markiert, wird die französische Kultur (Zivilisation) als ›teuflisch‹ (vgl. ebd.: 306) und ihr Einfluss auf die deutsche Kultur und Kunst insbesondere in Berlin als ausgesprochen verderblich verdammt:

Demimonde und […] Demokratie […] sind beide als ›französische Krankheit‹ nach Deutschland eingedrungen. Sie müssen auf den Tod bekämpft werden; und ebenso ein dritter Faktor, welcher von jeher in Paris heimisch war: jenes lebensfeindliche akademische Wesen, der seelenlose Scholastizismus. (Langbehn 1893: 344)4

Das Französische ist bei Langbehn in einer diachronen Parallelisierung, die sich zudem auf genealogische Zusammenhänge beruft, mit dem Römischen verknüpft. Er spricht häufig nicht allein von einem französischen, sondern viel mehr von einem verderblichen ›galloromanischen‹ Einfluss. In der Verlängerung der Tacitus-Rezeption der deutschen Humanisten wird hier, von einer »Kontinuität und Konstanz von Merkmalen in der Diachronie« (Titzmann 1991: 126) ausgehend, der deutsche ›Barbarenkult‹ der römischen Zivilisation antithetisch entgegengesetzt. Dieser »antirömische[ ] Affekt« ist typisch für die Germanenideologie, die »von allem Anfang« an »ein Denken in Antithesen« ist, das »den Germanen nicht ohne den Gegentyp des Römers erfassen kann« (See 1975: 9f.). Das Germanenbild bezieht seine Charakterisierung letztlich allein aus der antithetischen Funktion und ist im Grunde nichts anderes als die Gegenkonstruktion zum Zivilisatorischen. Dem entsprechend sind auch bei Langbehn die mit dem – analog zum Germanischen gedachten – ›Niederdeutschen‹ assoziierten Attribute ›sippengebunden‹, ›individuell‹ und ›mythisch‹ Antithesen zu den kosmopolitischen und rationalistischen Merkmalen des auf das Galloromanische projizierten Zivilisatorischen. Niederdeutschland ist im erklärten »Gegensatz zu […] Rom« (Langbehn 1890: 227), ›zart‹ und ›feingestimmt‹ (ebd.: 71). Es hat ›Substanz‹, während das Römische nur »mit leeren Dimensionen« (Spengler 2003: 357) prunkt, da ihm angeblich keine »subjektive Sittlichkeit« (Langbehn 1890: 72) zugrunde läge, sondern nur eine »Zweckmäßigkeitsidee« (ebd.: 71).

In Frankreich findet die kulturpessimistische Angst ein Objekt, auf das sie projiziert werden kann. Noch stärker als eine ›französisierende‹ Bildung und Kultur werden jedoch – insbesondere in den späteren, überarbeiteten Ausgaben von Rembrandt als Erzieher – »gemein-jüdische Einflüsse« (Langbehn 1893: 340) als Verursacher des kulturellen Verfalls gebrandmarkt. Dem Judentum, das sich nicht außerhalb, d.h. nicht im fernen Orient, sondern innerhalb der Grenzen des Eigenen befindet, wird mit einem noch deutlich aggressiveren Abgrenzungswillen begegnet.

In der Unterscheidung zwischen orthodoxem und modernem Judentum zeigt sich, dass Langbehns Antisemitismus wesentlich durch eine Ablehnung der Moderne getragen ist. Die Vertreter des traditionellen Judentums Spinoza und Rahel von Varnhagen gelten ihm noch als Bereicherung und »wertvolle Ergänzung« (Stern 2005: 196) der deutschen Kultur. Insbesondere Spinoza, dessen Substanzbegriff für den Idealismus und entsprechend auch für Langbehns »Vulgäridealismus« (Fritz Stern, zit. n. Nipperdey 1990: 818) nach eigenen Angaben von großer Bedeutung ist, gilt hier durchaus als dem ›Genie‹ Rembrandt in manchem ›verwandt‹, wenngleich er als »Orientale« dennoch »fremd« (Langbehn 1890: 49f.) bleiben muss. Als »echter und altgläubiger Jude« hat Spinoza hier noch »unverkennbar etwas Vornehmes an sich«. Zu der, sogar als »uralte[ ] sittliche[ ] und geistige[ ] Aristokratie« (ebd.: 41) bezeichneten Form des traditionellen Judentums, das gut erkennbar und insofern klar abgegrenzt von dem eigenen kulturellen Erbe als Gegenpol existiert, kann hier das Eigene noch in eine konstruktive Spannung treten. Anders verhält es sich mit dem modernen, assimilierten Judentum, dessen Fremdheitsaspekte unkenntlich geworden sind und das dadurch die klare kulturelle Grenzziehung transzendiert hat. Diese diffus gewordene, kaum noch vom Eigenen zu unterscheidende Fremdartigkeit in »der unmittelbarsten Nahwelt« (Husserl 1973: 428) ist im Unterschied zu der vollständig anders evaluierten geringen kulturellen Differenz der ›nahfremden‹ Niederlande, deren Antipoden sie in Rembrandt als Erzieher darstellt, eine unheimliche »Nahfremde«, deren ›geringe Andersheit‹ als absolutes »Ärgernis« empfunden »und mit starken […] negativen Emotionen belegt« (Weinrich 1990: 49f.) wird. Dieser radikale Unterschied in der normativen Fremdheitskonstruktion ist wesentlich durch eine, für die Germanenkonstruktion relativ typische, graduelle Abstufung kultureller Fremdheit bestimmt. Während die Niederlande nämlich durch minimale kulturelle Differenz und minimale räumliche Distanz gekennzeichnet sind, treffen im Falle des als ›orientalisch‹ definierten Judentums maximale kulturelle Fremdheit und absolute Nähe aufeinander, was als ›unnatürliche‹ Asymmetrie empfunden wird.

Da nach dem um 1900 noch immer gängigen romantisch-holistischen Kulturverständnis, das »Kulturen als in sich abgeschlossene Sphären, gewissermaßen als einheitlich-unveränderbare Kugeln« (Yousefi/Braun 2011: 16) begreift, ›kulturelle Hybridität‹ (Bhabha 2000: 9) ausgeschlossen ist und eine Fremdkultur sich nicht mit der eigenen »verbinden« kann, sondern die Kulturen auch bei einer oberflächlichen multikulturellen Mischung immer ontologisch voneinander geschieden bleiben müssen wie »Oel und Essig« (Langbehn 1890: 128), ist die Möglichkeit, dass ein assimiliertes Judentum im Deutschtum tatsächlich aufgehen könnte, nicht vorstellbar. Insofern macht die Unkenntlichkeit der kulturellen Differenz Angst. Eine angeblich »dem reindeutschen Wesen […] völlig entgegengesetzte« (Langbehn 1893: 349) Kultur, die unsichtbar wie ein Gespenst im Kernbereich des Heimischen lebt und die »Heimwelt« (Husserl) sozusagen zu einem unheimlichen Zuhause macht, »in dem es spukt« (Freud 1997: 264), ist anfällig für Verschwörungstheorien. Von Langbehn und anderen Antisemiten wird die Assimilation als absichtliche Tarnung missverstanden und alle neuen Einflüsse, die aus Sicht der Kulturkonservativen die deutsche Kultur ›verderben‹, werden auf die Juden projiziert. Als Fremde im Herzen des nationalen »Organismus« stellen sie in Rembrandt als Erzieher den »Todeskeim[ ]« (Langbehn 1893: 292) dar, der die deutsche Kultur, die im heutigen Berlin bereits »jüdisch gefärbt« (ebd.: 113) sei, vollständig auszulöschen droht. Durch diese Konstruktion wird das Unfassbare der Moderne fassbar gemacht und das »Unbehagen in der Kultur« (vgl. Freud 2004) als immanente Größe bekämpfbar.5 Nach dem für die konservative Kulturkritik typischen dichotomischen Schema werden die Juden zu »den Söhnen […] der Finsterniß« (Langbehn 1893: 294), d.h. zum Bösen schlechthin stilisiert, das dem Niederdeutschen/Arischen/Germanischen als positiver Gegenkultur entgegengesetzt ist. Es heißt: »sie sympathisieren mit der Fäulniß«, sie sind dem »Teufel […] verfallen« und »wollen uns unsere Seele nehmen« (ebd.: 292ff.).

Die in der Furcht vor der Moderne gründende Form der Judenfeindlichkeit kann man mit Uwe Puschner und Fritz Stern als ›idealistischen Antisemitismus‹ (vgl. Puschner 2001: 54ff.; Stern 2005: 3 und Stackelberg 1981: 91)6 bezeichnen, der nicht primär von einem »biologistischen Rassebegriff« ausgeht, sondern von einem ›geistigen‹ (Puschner 2001: 71). Langbehns »Verflechtung des Antisemitismus mit verschiedenen ideologischen und geistigen Strömungen« ist relativ typisch für die »deutsche[ ] Gesellschaft um die Jahrhundertwende«, in der die Judenfeindlichkeit eine »zentrale Chiffre für die Ablehnung einer breiten Palette der – in ihrem Verständnis – zerstörerischen Elemente des deutschen Volkstums« (ebd.: 56) darstellt. Antisemitismus gehörte um 1900 gewissermaßen zum Zeitgeist und »selbst die Sozialdemokratie [hatte] lange Zeit eine unentschiedene Haltung zum Antisemitismus« und hielt ihn zeitweise durchaus »für politisch ausnutzbar« (Behrendt 1984: 118f.). Insbesondere der »Glaubenssatz […], daß Judentum und Modernität identisch seien« (Stern 2005: 199f.), war weit verbreitet. Aufgrund dieser fatalen Gleichsetzung wird der Versuch der Abwehr der Moderne zum Kampf gegen die Fremden, gegen das ›fremde Blut‹ (Langbehn 1893: 218f.) gemacht. Der ›idealistische Antisemitismus‹ ist also in seiner Folgewirkung keinesfalls harmloser als eine überwiegend ›rassenhygienisch‹ motivierte Judenfeindlichkeit, da seiner perfiden Logik zufolge die ›Errettung der deutschen Kultur‹ ebenfalls von einer entschiedenen Zurückdrängung dieser fremden Einflüsse abhängt. Unter Verwendung mystischer Beschwörungselemente werden in Rembrandt als Erzieher die »Söhne[ ] des Lichts« (ebd.: 294) entsprechend zum Kampf gegen das Judentum aufgerufen, das für die vermeintliche ›Entartung‹ der Kultur zur Zivilisation verantwortlich gemacht wird. Die folgenschwere Gleichsetzung der Moderne mit dem Judentum nimmt in den immer wieder überarbeiteten Auflagen von Rembrandt als Erzieher sukzessive zu, was meist dem wachsenden Einfluss von Max Bewer und Theodor Fritsch auf Langbehn zugeschrieben wird. Übersehen werden darf dabei jedoch nicht, dass sich auch die Modernisierungsdynamik, für die die Juden ja verantwortlich gemacht wurden, in diesen Jahren steigerte.

Die Antwort darauf, was das Judentum so sehr dazu prädestinierte, die Projektionsfläche für die kulturkonservativen Ängste darzustellen, ist im Wesentlich in der Vorstellung von einer überproportionalen Involvierung jüdisch-stämmiger Menschen in der Kreditwirtschaft zu suchen. Neben dem gesellschaftspolitischen Aufstieg des Proletariats und der Angst vor der ›roten Internationale‹ war auch die Ausbreitung einer anonymisierten Geldwirtschaft, der ›goldenen Internationale‹, einer der angstauslösenden Hauptfaktoren. Das moderne weltumspannende Netz kapitalistischer Wirtschaftsströme, das sich dem Verständnis des ›ungleichzeitigen‹ (vgl. Bloch 1985: 116) Individuums vollständig entzieht und dennoch auch seine konkreten Lebensumstände, etwa in der Folge des großen Gründerkrachs 1873, stark beeinflusst, wird als neue, anonyme Weltmacht, die wie eine führerlose Maschine das Schicksal der Völker bestimmt, in der Kulturkritik häufig zum diabolischen Widersacher der Menschheit überhaupt. Um dem Ohnmachtsgefühl und der völligen Hilflosigkeit zu entkommen, die die Bedrohung durch diese unfassbare, gar nicht mehr territorial und national gebundene Machtinstanz auszulösen vermag, wird in der Zeit um 1900 durch einen mehr oder weniger unterbewussten Verschiebungsprozess diese Angst häufig in einer Hilfskonstruktion auf das Judentum projiziert und die anonymisierten, unsichtbaren Geldströme als ›jüdische Weltverschwörung‹ mental fassbar gemacht. Ähnlich wie im Falle der Identifizierung von Franzosentum und Modernität hat auch diese Gleichsetzung einen realgeschichtlichen Ausgangpunkt, denn tatsächlich traten die meisten Juden »für den Liberalismus, die Verweltlichung und den Kapitalismus« ein, da sie hofften »in einer offenen Gesellschaft jenen Einschränkungen und Vorurteilen [zu] entgehen, die sich noch aus der geschlossenen feudalen Gesellschaft früherer Zeiten erhalten hatten. Sie waren die Vorkämpfer und Nutznießer der Modernität und mußten dies in gewisser Hinsicht auch sein« (Stern 2005: 199f.).

Bei Langbehn werden die Juden aber nicht nur für die Transzendierung der nationalen Grenzen durch einen weltumspannenden Kapitalismus verantwortlich gemacht, sondern auch für »den russischen Nihilismus« und »die deutsche Sozialdemokratie« (Langbehn 1893: 349). In einem für die Argumentationsstruktur typischen Akt der vorschnellen Verallgemeinerung wird die Transzendierung kultureller Grenzen durch das assimilierte Judentum zum Wesen des Judentums schlechthin extrapoliert. Insofern werden alle grenzauflösenden Phänomene des Modernisierungsprozesses auf diese ethnische Gruppierung zurückgeführt, deren Mitglieder als in der Diaspora lebende Juden von vornherein als heimatlos bestimmt sind. So wird nicht nur die kapitalistische ›goldene Internationale‹, sondern auch die ›rote Internationale‹ einer antinationalistischen Arbeiterklasse als Folgewirkung eines zu stark gewordenen jüdischen Einflusses postuliert und es ist kurzerhand die Rede vom »plebejischen Semitismus« (ebd.: 293) – eine Bezeichnung, die auch noch einmal den Unterschied zwischen dem modernen assimilierten Judentum und dem vormaligen ›Adel‹ eines Spinoza unterstreicht. Dieses moderne Judentum steht also nicht nur für eine grenzenlose »Ausbeutungsgier«, sondern auch für eine ›demokratische Gesinnung‹ und die ›plebejische Masse‹ (vgl. ebd.: 292). Damit wird der sonst gemeinhin mit dem Amerikanischen identifizierte Kapitalismus, der mit dem Französischen verbundene Demokratismus und das auf das Slawische projizierte Proletariertum in nur einem Image gebündelt. Diese spezielle Fremdheitskonstruktion erwies sich für viele Menschen auch in der Folgezeit als besonders attraktiv, weil durch die Ineinssetzung von zivilisatorischer Moderne und Judentum das von den Modernisierungsprozessen überforderte und ohnmächtig ins Abseits gestellte, kleinbürgerliche Individuum scheinbar seine Handlungsmacht zurückgewinnt, da es der Suggestion erliegt, dass allein durch die Ausweisung dieser fremdgestellten Minderheit eine Restauration der überkommenen Werte und Normen möglich sei.

2. Abgrenzung und Exklusion

Fremdstellung des Eigenen

Neben der Fremdstellung des Judentums, dem schon aufgrund seiner in der Bibel zugewiesenen Sonderstellung »die Fremdheit […] ursprünglich […] eingeschrieben« (Kristeva 1990: 74) ist, findet in Rembrandt als Erzieher aber eine weitere besondere Form der Fremdstellung statt, die nicht nur eine Exklusion von innerhalb des eigenen Kulturbereichs gut angepasst lebenden Fremden, sondern eine Fremdstellung des Eigenen ist.7 Dabei handelt es sich um eine absolute Distanzierung von der Hauptstadt, dessen enorme Fortschrittlichkeit um 1900 in einem deutlichen Gegensatz zu der Peripherie steht. Hier akkumulierten sich die Auswirkungen der Modernisierungsprozesse, die den ländlichen Raum noch deutlich weniger prägten.

Berlin, der Ort, in dem sich der Umbruch zur technischen Moderne am stärksten manifestiert, wird nicht nur bei Langbehn, sondern in der ganzen antimodernen Bewegung des deutschsprachigen Raums zum Symbol der Moderne schlechthin, in der sich die unverrückbar geglaubten Grenzen rundherum auflösen, die soziale Verortung des Individuums variabel und alles bislang fraglos Geglaubte relativ wird. Darüber hinaus gilt Berlin als »Sitz des Rationalismus«, geprägt durch einen ›rastlosen Geschäftssinn‹ und eine »geistige Atmosphäre«, die »heiß und trocken« ist wie die einer »Wüste«, in der »der eigentliche fruchtbare und befruchtende Hauch fehlt« (Langbehn 1890: 110). Hier herrscht der »rohe Geldkultus« (ebd.: 292) und ein rastlose, an nordamerikanische Verhältnisse erinnernde Gigantomanie, die als »Raubbau an der Kultur« (ebd.: 110) verstanden wird. In dieser modernen Welt findet sich das ›ungleichzeige‹, typischerweise aus der ländlichen Peripherie stammende Individuum (vgl. Rossbacher 1975: 70ff.) nicht mehr zurecht, sie ist ihm fremd. Da sich die ›strukturelle Fremdheit‹ (vgl. Waldenfels 1999) der modernen Gesellschaft nicht mehr auf der Folie tradierter Deutungsmuster interpretieren lässt, vermag die Ver-Fremdung der hauptstädtischen Metropole »eine intellektuelle Unsicherheit« (Freud 1997: 256)8 zu erzeugen, die das politische Zentrum des Reiches zu einem unheimlichen Ort macht. Angst auslösender Faktor ist vor allem die amorphe Masse der Arbeiter, das »immer organisierter und handlungsfähiger« werdende »Proletariat« (Plumpe 1978: 70), das die Städte in den Augen der kulturkonservativen Mittelschicht zu »Massenbehältern« (Haß 1993: 27) mutieren lässt, die nur noch von gänzlich entindividualisierten »Nullen« (Langbehn 1890: 218) bevölkert werden. Träger des Unheimlichen ist nach Jentsch auch das Mechanische (vgl. Freud 1997: 250f.), das sich hier zusehends nicht nur in den Fabriken, sondern auch im Stadtbild rasant ausbreitet – 1881 fährt z.B. in Berlin die erste elektrische Straßenbahn der Welt – und das als Antonym des Organisch-Lebendigen für Langbehn zum Schreckbild schlechthin wird. Derart »entfremdet« ist Berlin nun ein Zuhause, »in dem es spukt« (ebd.: 264).

»Die Definition, das Fremde sei das jeweils nicht Selbst-verständliche, das, was es erst noch zu verstehen gilt, ist«, wie Andrea Polaschegg schreibt, »durch den Umkehrschluß zu ergänzen, daß gleichzeitig jeder Akt eines ›nicht unmittelbaren‹ Verstehens seinen Gegenstand aus dem Bereich des Vertrauten löst und ihn dabei notwendig zu einem fremden macht.« (Polaschegg 2005: 44) Ganz in diesem Sinne kommt es in Rembrandt als Erzieher zu einer Exklusion und Fremdstellung Berlins, zu einer Ablösung vom übrigen deutschsprachigen Raum. Die moderne Metropole gilt Langbehn nicht mehr als Teil des deutschen Kulturraumes, sondern als von fremden Mächten okkupierte »Kolonie« (vgl. u.a. Langbehn 1890: 120 u. 162).

Zu Berlin wird eine kritische Distanz geschaffen, es wird »isoliert«, vom nationalen »Ich abgespalten« und »als etwas Fremdes aus dem Ich hinausprojiziert« (Freud 1997: 258f.). Mit Bhabha gesprochen wird es zum ›de-platzierten Differenzbereich‹ (Bhabha 2000: 2) erhoben. Diese Fremdstellung dient dabei sowohl der ›Reinigung‹ der kulturellen Identitätskonstruktion als auch einer Distanzgewinnung, die »Selbstbeobachtung und Selbstkritik« (Freud 1997: 258) ermöglicht. Die Kulturkritik Langbehns bestimmt sich nämlich aus eben dieser Differenz zwischen dem modernen Zentrum und der vormodernen Peripherie.

In der Gegenüberstellung von Metropole und bäuerlich geprägter niederdeutscher Tiefebene versucht Langbehn die Entfernung bzw. den Grad der Ent-Fremdung Berlins von der deutschen Kultur zu bestimmen. Dabei kommt er zu dem bereits bekannten Ergebnis, dass sich »das heutige Berlin« (Langbehn 1890: 106) so sehr verändert habe, dass es selbst als ›undeutsch‹ gelten müsse. Es entspricht nicht mehr dem, was Langbehn unter ›deutsch‹/›germanisch‹/›arisch‹ versteht und taugt deshalb nicht mehr zum Prototypen kultureller Identität. Dieses unheimlich gewordene politische Zentrum Deutschlands wird gewissermaßen aus ›Selbstschutzgründen‹ zum ›falschen Ich‹ erklärt, weil der dort vorherrschende moderne Geist die eigene, im Wesentlichen noch auf den Idealen des 18. Jahrhunderts beruhende Identitätskonstruktion in Frage stellt. Das, was sich als derart »fremdartig erweist und somit der kulturellen Aneignung widersetzt« (Waldenfels 1999: 143), wird sorgsam vom Eigen abgetrennt und aus dem nationalen Körper »hinausprojiziert« (Freud 1997: 259). Diese »Selbstexklusion« ist ein »Ausdruck höchster subjektiver Not« (Münkler/Ladwig 1997: 24), in dem sich die Angst vor dem Untergang, vor dem vollständigen Identitätsverlust in den alles umwälzenden Strudeln des Modernisierungsprozesses offenbart.

Als alternativen Prototypen des kulturellen Selbstverständnisses, als adäquates neues ›geistiges‹ Zentrum präsentiert Langbehn die Niederlande. In einer Form doppelter Deplatzierung wird Berlin also aus dem geistigen Zentrum Deutschland exkludiert, zu einem »ex-zentrischen Ort« (Bhabha 2000: 6) gemacht und durch das exterritoriale Holland ersetzt. Aus dem Wunsch heraus, die kulturelle Identität – die von Langbehn immer wieder beschworene ›Individualität‹ – zu wahren, wird eine Art »Ich-Verdopplung« vorgenommen, die ein anderes, angeblich ›wahres Ich‹ erschafft und »an die Stelle des eigenen«, fremd gewordenen Zentrums »versetzt.« Ein solcher Akt der »Ich-Vertauschung« dient nach Freud der »Abwehr gegen die Vernichtung«, und ist »eine Versicherung gegen den Untergang des Ichs« (Freud 1997: 257f.). Es ist die »Verteidigungsgeste des Opfers« (Magris 1983: 323), das sich mit dem Verlust kultureller Hegemonie konfrontiert sieht und mit einem vollkommen ungleichzeitigen ›urzeitlichen Narzissmus‹9 darauf reagiert. In dieser vollzogenen Rochade erfüllen die Niederlande diese rettende Funktion des imaginierten »Doppelgänger[s]«, sie werden zur »›unsterbliche[n]‹ Seele« des entkernten »Leibes« (Freud 1997: 258) stilisiert. Das hier vorherrschende Niederlandebild bildet selbstverständlich keinesfalls die zeitgenössische Realität ab, sondern ist ein funktionalisiertes Image, auf das all jene Aspekte projiziert werden, die nach einer dichotomischen Strukturierung den gefürchteten Symptomen der Moderne entgegengesetzt sind. Insbesondere die angebliche Ursprünglichkeit und Heimatverbundenheit der Holländer gelten Langbehn dabei als »Gegengift« (Langbehn 1890: 9) gegen ›falsche‹, ›undeutsche‹ Einflüsse. Die leitmotivische Antithese zur technischen und analytisch-rationalistischen Moderne bildet hier die Kunst, der auch im überkommenen, aber noch das Selbstverständnis der bürgerlichen Mittelschicht prägenden Deutungsmuster »Bildung und Kultur« (vgl. Bollenbeck 1996) eine zentrale Stellung zukommt und deren prototypischer Hauptvertreter in diesem Werk der titelgebende Rembrandt ist.

Mit Harald Weinrich lassen sich die Niederlande aus deutscher Sicht als »Nahfremde« (Weinrich 1990)10 spezifizieren. Sie sind, wie Langbehn schreibt, »verwandt und doch wieder fremd« (Langbehn 1890: 48). Während jedoch im Falle der assimilierten Juden die von Weinrich für eine Nahfremde als charakteristisch bestimmte ›geringe Andersheit‹ (Weinrich 1990: 49) häufig als unheimlich und als »Irritation oder Ärgernis« empfunden »und mit starken meist negativen Emotionen belegt« wird, wertet Langbehn diese »geringe Abweichung von der geltenden Norm« (ebd.: 50) des zeitgenössischen Deutschlands hier positiv. Das Niederlandbild ist in Rembrandt als Erzieher nicht mit dem Unheimlichen konnotiert, sondern birgt vielmehr gerade in seiner »relative[n] Differenz« (Mecklenburg 1990: 87) konstruktive Aspekte. So heißt es: »Ihre verwandte und doch fremde Bildung ist ein passendes Gegengewicht gegen jene drückende Last […], unter welcher die jetzigen Deutschen seufzen.« (Langbehn 1890: 224) Dem hier erwähnten Fremdheitsaspekt wird also keine Destruktions-, sondern eine Regenerationskraft zugesprochen, da die Niederlande vermeintlich weniger stark von den kulturellen Transformationsprozessen des Umbruchs zur Moderne betroffen sind als Deutschland.11 Dabei ist die Orientierung an der Nahfremde hier nicht mit einem echten Interesse am Niederländischen verknüpft, sondern Teil einer kulturellen Machtaneignungsstrategie, die der gesellschaftspolitischen Bedeutungsnivellierung der bildungsbürgerlichen Eliten zu begegnen versucht.

Die Orientierung an dem kontrastiv konstruierten Holländischen intendiert eine Interferenz, d.h. eine hemmende Überlagerung bzw. Verdrängung des rationalistischen, naturwissenschaftlich-technischen Denkens durch eine künstlerische geistige Orientierung – ein Prozess, den Langbehn auch »Verholländerung« (Langbehn 1890: 155) nennt. Das angeblich ursprünglich Niederdeutsche, das mit einem erd- und heimatverbundenen Geist identifiziert wird, soll das kosmopolitisch-Fortschrittliche in seiner Wirkung behindern und überlagern. Sein mystisches ›Dunkel‹ soll eine ›Schattierung‹ (vgl. ebd.: 15 u. 64) des allzu Hellen bewirken, das in Anlehnung an das die französische Aufklärung charakterisierende Schlagwort »Lumières« für das rationale Bewusstsein steht. Kunstmetaphorisch gesprochen sollen die ›schreienden Farben‹ (ebd.: 42) der Moderne durch eine bodenständige niederdeutsche Malerei á la Rembrandt »dunkel abgetönt« werden. Deren spezieller Stil, der die dargestellten Figuren lebendig wirken lässt, stellt den Gegensatz zu einer, in den Augen der konservativen Kulturkritiker als dekadent geltenden Kunst dar, die jeden Bezug zum wahren Leben verlorenen habe, die nicht portraitiere, sondern konstruiere und sich nicht mit »wirklichem Farbenreichtum und wirklicher Farbenvornehmheit […] messen« (ebd.) könne. Mit Rembrandt soll gewissermaßen der »jüdisch gefärbt[e]« (Langbehn 1893: 113) Charakter Berlins mit den »Nationalfarben« (Langbehn 1890: 284) eines neuen Deutschlands überpinselt werden.

Dekolonisierung – Rückeroberung Berlins

Die kulturhegemoniale Verteidigungsstrategie Langbehns orientiert sich an den für das Zeitalter des Imperialismus typischen kolonialistischen Strategien, was auch die Verwendung bestimmter einschlägiger Diskurselemente belegt. Wie schon erwähnt, wird dem fremd gewordenen Berlin explizit der »Charakter einer Kolonie« (ebd.: 113) zugesprochen. Auch diese Metaphorik versucht die Fortschrittlichkeit der modernen Metropole im Gegensatz zur ländlichen Peripherie als durch fremde Einflüsse verursacht darzustellen. So werden die abrupt auftretenden multiplen Modernisierungsprozesse auf die Kolonisierung durch einen zivilisatorischen Geist zurückgeführt, der – wie oben beschrieben – auf ›undeutsche‹, insbesondere »slavische oder orientalische« (Langbehn 1893: 134)12 Einflüsse projiziert wird. Da ja alle Modernisierungserscheinungen als »Kind eines fremden, nicht eines deutschen Geistes« (Langbehn 1890: 176) gebrandmarkt werden, scheint es möglich, durch eine Zurückdrängung der fremden Einflüsse wieder zu einer vormodernen Kultur zurückzufinden. Insofern ist mit der Fremdstellung des Eigenen von vornherein auch eine Rückeroberung des exkludierten Teils des nationalen Selbst, d.h. die Wiedererlangung einer geistigen Vormachtstellung des national gesinnten Bildungsbürgertums intendiert.

Diese Vision der Wiedereinsetzung der überkommenen Werte und Normen folgt in etwa einer Logik der Dekolonisierung, da durch die Mobilisierung der völkischen ›Kraftreserve‹ (vgl. ebd.: 224) in der Peripherie eine Befreiung von der »innerste[n] Kolonisation« (ebd.: 245), von den ›undeutschen‹, »dem Kern des deutschen Volksthums fremd gegenüberstehen[den]« (ebd.: 176) Einflüssen erwirkt werden soll. Das Hegemonialverhältnis soll sich umkehren und das zivilisationskranke, an »Nervenzerrüttung« (ebd.: 112) leidende Berlin nicht mehr von den auf das Fremde projizierten, zivilisatorischen Einflüssen und einer, für das Auftreten einer politisch ambitionierten Arbeiterklasse verantwortlich gemachten, fremden »Bildungstünche« (ebd.: 232) beherrscht werden. Es soll sich also von den als fremdartig markierten Modernisierungstendenzen befreien und sich wieder zu seiner angeblich ursprünglichen, d.h. vormodernen Kultur bekennen, wodurch gleichsam das ungleichzeitige Individuum der soziokulturellen Peripherie seine kulturelle Machtposition zurückerlangen soll, die es vor dem Umbruch zur Moderne inne hatte. Wie Hermann der Cherusker die germanischen Stämme von der Fremdherrschaft durch die Römer erlöst hat (vgl. ebd.: 301), so soll nach Langbehns Vorstellung eine ›urniederdeutsche‹ Persönlichkeit, ein »Kunstpolitiker« wie Bismarck Berlin und ganz Deutschland von der Übermacht des Zivilisatorischen befreien, indem er »einerseits« die fremden Einflüsse ›abwehrt‹ und »andererseits« die »guten Bestrebungen des nationalen geistigen Lebens« (ebd.: 244) fördert. Letztendlich soll er ein ›neues deutsches Reich‹ (ebd.: 163) erschaffen, indem er den durch die fremdgestellten Modernisierungsprozesse sozusagen zur diffusen Gesellschaftsmasse aufgelösten Volkskörper wieder nach vermeintlich ›naturgegebenen‹, ›nationaltypischen‹ Gesetzen strukturiert und hierarchisiert.

Die Rückeroberung des exkludierten Teils des nationalen Selbst soll von den noch nicht von der Moderne affizierten »äußeren Stämme[n]« (ebd.: 223) ausgehen, deren Gesellschaft noch vornehmlich aristokratisch organisiert sei und in denen sich die »ältesten und besten Traditionen« (ebd.: 140) der Niederdeutschen noch erhalten hätten. »Eine innere und womöglich äußere Anlehnung« insbesondere »an […] Holland«, in dem sich »die dortige ordnungsliebende Bevölkerung schon wiederholt […] gegen jene Umstürzler Partei [sic!]« (ebd.: 149) erfolgreich zur Wehr gesetzt habe, die für die Ermächtigung der Arbeitersicht eintritt, soll »heilsam wirken« (ebd.: 148). Ihre Wehrhaftigkeit soll das ansteckende Vorbild für einen Befreiungskampf der »von falscher Bildungstünche noch weniger angegriffenen Volksschichten« sein, die nicht kosmopolitische Arbeiter oder Aktionäre, sondern »eingeborene[ ] Berliner« (ebd.: 232) sind. Berlin wird als ›innere Kolonie‹ gewissermaßen zum Schauplatz eines Kulturkampfes erklärt, in dem niederdeutsche »Urkräfte« gegen die »Überkultur« (ebd.: 3) ins Feld geführt werden. Der zivilisatorische »Kolonialgeist[ ]« soll durch »Bauerngeist« (ebd.: 122) zurückgeschlagen werden und »die gesunde Natur der verwandten niederdeutschen Stämme […] etwaiger unechter Kulturbestrebungen bald Herr werden.« (Ebd.: 114)

Da die Dekolonisierung um 1900 noch nicht im heutigen Umfang begrifflich fassbar war,13 bewegt sich Langbehns Annäherungen an dieses Phänomen mehr oder minder im kolonialistischen Diskursfeld, was zu einer undifferenzierten Vermengung von Dekolonisierungs- und Gegenkolonisierungsstrategien führt. So ist zwar einerseits – im Rekurs auf Hermann den Cherusker – von Befreiung die Rede, andererseits aber auch von einer geistigen Kolonialisierung des eigenen politischen Zentrums, dessen Fremdheitsgrad mit dem von »Ostafrika« (ebd.: 2) gleichgesetzt wird und das von den mit den »alte[n] Deutschen« ›geistes- und blutsverwandten‹ Niederländern, die ihre von Langbehn gelobte Kolonisationskraft zu dieser Zeit »in der südafrikanischen Boerenrepublik« (ebd.: 122) unter Beweis stellten, kolonisiert werden soll. Dadurch, dass Berlin der Charakter einer Kolonie zugesprochen wird, manifestiert sich auch ein impliziter Erziehungsauftrag, wie ihn sich die großen Kolonialstaaten bezüglich afrikanischer Völker etc. einredeten, nur das hier die Bevölkerung nicht zivilisiert, sondern vielmehr zur »Natur […] zurückerzogen werden« (ebd.: 3) soll. Die durchgängige Betonung der Schlichtheit und Provinzialität des niederdeutschen Charakters ist dementsprechend nicht pejorativ gemeint, sondern stellt den positiv evaluierten Gegensatz zu einer ›grellen Affektiertheit‹ der Moderne heraus.

3. Inklusion

Aneignung der Nahfremde

Die Rede von den »äußeren Stämme[n]« (ebd.: 223) deutet bereits an, dass Langbehn sein ›Niederdeutsches‹ weit grösser fasst als den geografisch begrenzten Raum der norddeutschen Tiefebene. Es bezieht schließlich nicht nur die Niederlande mit ein, sondern u.a. auch Großbritannien und sogar Nordamerika. Dabei steht die Ausdehnung der Peripherie immer in Bezug zum fremd gewordenen Zentrum und stellt den Versuch dar ein möglichst starkes kulturelles Gegengewicht zu den zivilisatorischen Kräften zu bilden bzw., wie Langbehn es formuliert: den »geistigen wie moralischen und künstlerischen Renforts [zu] verstärken.« (Ebd.: 47) Das Interesse an der Peripherie entspringt sozusagen der Sehnsucht nach einer »postkolonialen Gegen-Moderne« (Bhabha 2000: 9) und nach einer »neuen Verortung von Heim und Welt« (ebd.: 13), hervorgerufen durch das Gefühl des ›Unbehaustseins‹ (vgl. Holthusen 1955), das symptomatisch ist für die geistige Krisenerfahrung der Zeit um 1900.

Die Ausdehnung des niederdeutschen Kulturbereichs ist also eine affektive Reaktion auf die als enorm bedrohlich wahrgenommene Verfremdung des Eigenen bzw. auf die vermeintliche geistige Okkupation des politischen Zentrums. Sie dient dazu eine möglichst große Gegenmacht zu den ›undeutschen Elementen‹ (vgl. Langbehn 1890: 127) in der ›inneren Kolonie‹ zu konstruieren. Da – um es mit Herder zu sagen – die deutsche »Nation […] ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit« verloren hat, verschiebt sich die Gewichtung von innen nach außen. Alles Nahfremde, das mit der »Natur« der Deutschen »noch gleichartig ist«, wird »assimiliert« (Herder 1967: 44f.). Neben den Niederlanden werden auch die skandinavischen Staaten als »ur- und reindeutsche[ ] Nordlande« (vgl. Langbehn 1890: 207) bezeichnet. Österreich wird ebenfalls unter das Deutsche bzw. Niederdeutsche subsumiert, um den eigenen Machtbereich signifikant zu vergrößern, denn: »Der Deutsche Doppeladler, Preußen und Oesterreich, blickt zugleich nach Westen wie nach Osten« (ebd.: 156). Darüber hinaus wird England als »uralte[ ] Tochterkolonie« (ebd.: 229) tituliert und Shakespeare entsprechend nicht als Britannier, sondern als niederdeutscher »Kolonist« (ebd.: 227). Venedig ist hier ebenfalls »eine alte deutsche Kolonie auf italienischem Boden« (ebd.: 268), und selbst Nordamerika mutiert zur »niederdeutsche[n] Siedlung nach Westen« (ebd.: 110) und seine Einwohner zu »transozeanischen Niederdeutschen« (ebd.: 120).

Über fadenscheinige Konstruktionen, die mit Völkerwanderungs- und Auswanderungsströmen argumentieren, wird das Niederdeutsche also von der norddeutschen Tiefebene über die Niederlande und England bis nach Nordamerika ausgedehnt und sogar noch das historische Venedig unter diese Kategorie subsumiert. Diese Aneignung der Nahfremde erfolgt unter dem Gesichtspunkt einer angeblichen Familienzusammenführung (»Familienpolitik«; ebd.: 224), da für die verschiedenen akkumulierten Nationen gewissermaßen eine ›Familienähnlichkeit‹ (Wittgenstein 1984: 278) im Sinne Wittgensteins festgestellt wird, die jedoch nicht allesamt als ›niederdeutsch‹ klassifiziert werden können, ohne dass sich »der Verstand […] Beulen« (ebd.: 301) holt. Langbehn konstruiert deshalb die Gemeinsamkeit – ähnlich wie in der von Eleanor Rosch begründeten Prototypensemantik (vgl. Rosch 1973) –, indem er die von ihm als ›niederdeutsch‹ bezeichnete Nationenfamilie gegen etwas anderes abgrenzt, das notgedrungen im Süden liegen muss, wo er das »Mechanische«, d.h. die dekadente Zivilisation verortet, zu der sein Niederdeutschland die antithetische Gegenkonstruktion darstellt. Die Nationenfamilie bildet also ein »negatorisches Wir«, das sich »durch die […] feindselige Entgegensetzung zu einem Kollektiv« (Münkler/Ladwig 1997: 39; vgl. Wingert 1996) konstituiert. Das Antithetische zum Zivilisatorischen manifestiert sich dabei bereits in der Bezeichnung des akkumulierten Kulturkreises als nieder- bzw. norddeutsch, was den Gegenpol zum südwestlichen, mit dem Zivilisatorischen identifizierten ›galloromanischen‹ Kulturkreis sowie zu dem als »Filiale von Frankreich« (Langbehn 1890: 155) bezeichneten Ober-, bzw. Süddeutschland markiert. Auch die normativen Merkmale des Niederdeutschen speisen sich dementsprechend aus Gegenattributen zum sog. Zivilisatorischen. So wird etwa die ›echt nordische‹ Kunst Rembrandts, des »Prototypen des deutschen Künstlers« (ebd.: 9), den »fremden südlichen glühenden Natur- und Kunsteffekten« (ebd.: 41) entgegengesetzt. Die Konstruktion des Niederdeutschen stimmt darüber hinaus auch insofern mit dem Modell der Prototypentheorie überein, als ausgehend vom Zentrum des norddeutschen Kernlandes Schleswig-Holstein, das als Prototyp bzw. Urbild des Norddeutschen fungiert, eine klassifizierende Abstufung in Richtung einer Peripherie vorgenommen wird. Diese Abstufung wird nach genealogischen Prinzipien vorgenommen. Im Zentrum der Machtstruktur steht also Mutter »Germania«, in der näheren Peripherie ihre »Kinder« (ebd.: 224) und in der ferneren Peripherie ihrer ›Enkel‹, wobei sich der »engste konzentrische Ring […] von der russischen bis zur holländischen Grenze Deutschlands« (ebd.: 138) zieht.

Langbehns Konstruktion des Niederdeutschen ist – wenn auch anders konnotiert und funktionalisiert – strukturell in etwa vergleichbar mit der westlichen Konstruktion des Orients, denn auch dieser liegt im Grunde eine »imaginäre Geographie« (Said 2009: 65) zugrunde, die keine Übereinstimmung mit tatsächlichen politischen und kulturellen Grenzen zeigt. Sie orientiert sich »nicht mehr nach den unsicheren politischen Grenzen sondern nach den […] Blutströmungen, in Vergangenheit und Gegenwart« (Langbehn 1890: 290). Die Subsumierung unterschiedlicher Nationalitäten unter einen bestimmten ethnischen Begriff ist allerdings keine Erfindung Langbehns, sondern eine gängige Praxis in der damaligen Völkerkunde. Entsprechend findet sich in der einschlägigen Literatur des 19. Jahrhunderts auch eine der langbehnschen Konzeption verwandte grenzüberschreitende Konzeption des ›Germanischen‹, die sich an folgenden, von Michael Titzmann beschriebenen Kriterien orientiert:

Als ›germanisch‹ scheint zu gelten (1) jedes raumzeitliche soziale System, (2) dessen Sprache der germanischen Sprachfamilie angehört, (3) das vor der Ausdifferenzierung in die späteren Nationalsprachen und Nationalstaaten liegt, die das 19. Jahrhundert unterscheidet, (4) in dem eine hypothetisch angenommene, ursprüngliche kulturelle Gemeinsamkeit des Germanischen die spätere regionale Verschiedenheit überwiegt. (Titzmann 1991: 123)

Nach dieser Konzeption kann also das Germanische durchaus weit über die aktuelle politischen Grenzziehungen hinaus reichen. Analog dazu subsumiert Langbehn über die Zugehörigkeit zur germanischen Sprachfamilie14 und über Völkerwanderungsbewegungen Holland, England sowie das durch Einwanderungen ›germanisierte‹ Nordamerika und Südafrika unter das Paradigma des Niederdeutschen.

Die als Familienzusammenführung getarnte Expansionspolitik kann auch als »Grenzkolonisation« (Osterhammel 2001: 10)15 bzw. als ein Fall von »reichsbildender Eroberung« (ebd.: 13) definiert werden. Die Aneignung der Niederlande, ihre umstandslose Subsumierung unter das Germanische – insbesondere unter das Niederdeutsche – ist ein Akt der kulturellen Usurpation. Zwar wird Holland zur »Wiege des Arierthums« (Langbehn 1893: 346) und zum Ausgangspunkt bzw. »Brückenkopf« (Langbehn 1890: 223) für eine geistige Befreiung Deutschlands stilisiert, dennoch folgt die Vereinnahmung für die deutsche Sache der Logik »des europäischen Expansionsdenkens«, nach der »eine Aneignung des Fremden, […] durch eine Zentrierung auf das Eigene bestimmt ist.« (Reif-Hülser 1999: 93) Diese ethnozentristische (oder nach Freud ›narzisstische‹) »Aneignung […] durch Zentrierung auf Eigenes«, die »das Ich, auf dem Weg über eine Identifizierung mit anderen« erweitert, »entspringt« auch hier »einem Drang zu kollektiver Selbsterhaltung und Selbsterweiterung.« (Waldenfels 1999: 150) Deutschland soll zwar von seinem Nachbarn lernen, letztlich wird jedoch »mit der vertrauten Vorstellung einer spezifisch deutschen Universalität unter agonalen oder gar hegemonialen Vorzeichen das Fremde und Neue angeeignet […], um es zu überbieten.« (Bollenbeck 1999: 136) Das wird etwa dann ganz deutlich, wenn Langbehn betont, dass man trotz allem nicht in eine Niederlande-»Manie« verfallen dürfe, sondern »endgültig […] dem Deutschthum Platz […] machen« (Langbehn 1890: 233) müsse.

Nach Jürgen Osterhammel ist »Kolonialismus […] ein […] Verhältnis […], bei dem eine gesamte Gesellschaft ihrer historischen Entwicklung beraubt, fremdgesteuert und auf die […] Bedürfnisse und Interessen der Kolonialherren hin umgepolt wird.« (Osterhammel 2001: 19) Dementsprechend findet mit der Subsumierung niederländischer und anderer Kulturleistungen unter das Primat des Niederdeutschen, ihre Instrumentalisierung und Reduzierung auf eine deutsche ›Kraftreserve‹, eine – für den Kolonialismus charakteristische – Beraubung der Geschichte und Unterdrückung der spezifischen kulturellen Identität statt (vgl. Said 1994: 126). Bei dieser Form der »Absorption« wird »das Fremde gelöscht, dem Eigenen angeglichen und dessen Strukturen schlicht eingepaßt« (Waldenfels 1999: 151). Die »relative Differenz« (Mecklenburg 1990: 87), die etwa zwischen dem Niederländischen und dem Deutschen besteht, wird von Langbehn durch die Berufung auf eine gemeinsame Abstammung im Grunde getilgt. Am sinnfälligsten wird die Eliminierung einer eigenständigen kulturellen Identitätszuschreibung wohl in der Umetikettierung des holländischen Nationalmalers Rembrandt zum »deutscheste[n] aller deutschen Künstler« (Langbehn 1890: 9). In ähnlicher Weise werden aber u.a. auch der englische Dramatiker William Shakespeare, der österreichische Komponist Wolfgang Amadeus Mozart, der schwedische Mystiker Emanuel Swedenborg oder der schweizerische Schriftsteller Gottfried Keller vereinnahmt und zum Exempel deutscher Wesensart und -aristokratie gemacht. Dass diese Strategie der nationalistischen Aneignung von herausragenden Künstlern und Geistesgrößen eigentlich eine Strategie des französischen Nationalismus ist, der zufolge all jene Persönlichkeiten, »die Großes für die Menschheit geleistet haben, unter ihnen Klopstock, Pestalozzi und Schiller, als Franzosen« (Waldenfels 1999: 152) etikettiert werden, scheint Langbehn, der sonst alles Französische als ›falsche‹ Bildung ablehnt, hier offenbar nicht zu stören. Die Usurpation kultureller Höchstleistungen dient in Rembrandt als Erzieher der Gewinnung von Substanz, sie verleiht dem durch den kulturrevolutionären Umbruch zur Moderne scheinbar essentiell bedrohten ›deutschen Wesen‹ ein ideelles, beinahe mystisches Gewicht. Sie dient der »ungeheure[n] Identitätssteigerung« (Georg Simmel, zit. n. Scherpe 2002: 181), von der Georg Simmel spricht. Zu diesem Zweck wird nicht nur Rembrandt zum deutschen Maler, sondern auch Shakespeare zum deutschen Dichter. Vor allem dessen Figur Hamlet gilt Langbehn als »der vornehmste Typus, welchen germanischer Geist jemals erschuf.« (Langbehn 1890: 44) Der Selbstvergewisserungsdrang in dieser Zeit des radikalen Umbruchs zur Moderne ist so stark, dass der Wunsch nach Identitätssteigerung, nach Wachstum gigantische Dimensionen annimmt, sodass schließlich beinahe jede kulturelle Höchstleistung der westlichen Welt als Ausdruck des norddeutschen Geistes und als Teil einer weltumspannenden deutschen Kultur vorgeführt wird. Beispielhaft zu nennen wäre hier etwa »die ganze oberitalienische Malerschule«, die nichts anderes als »eine deutsche Kolonie auf keltoromanischem Boden« (ebd.: 245) gewesen sei.

Reichsbildende Synthese

Um die Struktur der von Langbehn vorgenommenen Erweiterung des deutschen Kulturraumes modellhaft zu veranschaulichen, kann man das aus der gängigen Herder-Rezeption herrührende Kulturverständnis heranziehen. Langbehn geht ja – wie bereits erwähnt – von einem romantisch-holistischen Kulturverständnis aus, das Kulturen als Organismen definiert. In dieser organischen Sichtweise entsteht eine Kultur immer in Verbindung mit einer bestimmten Landschaft, hat also einen besonderen Bezug zu dem Boden, aus dem sie ›erwächst‹, weshalb dem Aspekt der ›Verwurzelung‹ in der konservativen Kulturkritik, die in der Regel dieses Kulturverständnis teilt, eine besondere Bedeutung zugemessen wird. Kulturen werden in der vermeintlichen Nachfolge Herders als Individuen, Organismen mit festen Grenzen definiert.16 Auch Langbehn spricht von »geschlossene[n] nationale[n] Individualitäten«, »Persönlichkeit[en]«, die je »ein Mikrokosmus [sic!] d.h. eine Welt oder ein Himmel für sich« (Langbehn 1890: 88) sind. Nach dieser Kulturdefinition müssen »Kulturen wie Kugeln, die aufeinanderprallen und ohne Bezug zueinander sind, aufgefasst werden.« (Yousefi/Braun 2011: 16) Da nach den normativen Grundsätzen dieses romantischen Kulturverständnisses eine Kultur idealerweise ein in sich geschlossenes Ganzes ist, kann eine substanzbildende Erweiterung eines Kulturraumes prinzipiell nur als ›Synthese‹ eines im Laufe der Geschichte in verschiedenen Teilen der Erde beheimateten, im Grunde aber einheitlichen Volksganzen oder in Form eines organischen Wachstums ablaufen.

Langbehn folgt diesen Vorgaben und entwirft ein groß angelegtes Reichsbildungskonzept nach dem Muster der hellenistischen Kultursynthese,17 wobei er die Notwendigkeit des Anschusses umliegender Nationen an Deutschland mit einer dem kollektiven Organismussymbol folgenden Argumentation zu begründen sucht. Der organische Zusammenschluss verschiedener Nationalkulturen zu einem ›dritten Reich des Ästhetischen‹ (vgl. Georg Simmel, zit. n. Dörr 1993: 103ff.) ist dabei als oppositionelle Konstruktion zu der »mechanischen Weltauffassung« (Langbehn 1890: 96) der Moderne zu sehen. Mit Rekurs auf die idealistische Philosophie wird die reichsbildende Kultursynthese zudem mit der Möglichkeit, »den bisher vorherrschenden Zersetzungstendenzen innerhalb der deutschen Bildung« (ebd.: 228) Einhalt zu gebieten, verquickt, wodurch die reichsbildende Expansion zur idealistischen Wiedervereinigung von im Verlauf der Geschichte in einzelne politische Segmente zersplitterten niederdeutschen Kultur mutiert. Über die Identifizierung von Kultur und Individuum wird dementsprechend die Absicht, ein »pangermanische[s] Bauwerk« (ebd.: 281) zu errichten, mit einem pseudoidealistischen Bildungsauftrag verknüpft, der den »ganze[n] Menschen« (ebd.: 172) als Überwindung des »Bruchstücksmenschen« (Langbehn 1893: 163) im Blick hat. Die einzelnen nationalen Zellen sollen sich gewissermaßen zu einem (über-)lebensfähigen und schlagkräftigen Organismus vereinigen. Das Mittel zur grenzaufhebenden Verbindung ist hier die Kunst, die – nach Nietzsche – »in Eins« zu dichten »und zusammen zu tragen« vermag, »was Bruchstück ist.« (Nietzsche 1999: 248) Stärker noch als die Dichtkunst ist für Langbehn jedoch die Malerei dazu geeignet, die modernistische Fragmentierungen zu überpinseln. Dass hier ein Maler und nicht ein Dichter ins Feld geführt wird, obwohl Goethe hier überall Pate zu stehen scheint, versinnbildlicht eine »ästhetische Position konservativen Schreibens«, die sich in der Formel »Bilder gegen Worte« zusammenfassen lässt. »Die Abwertung des Begrifflichen, argumentativer Rede und diskursiven Denkens hat hier ihren Ursprung. Sie geht vom Bild aus und setzt Betrachtung gegen die Rede, die ablenken und überzeugen will.« (Weyergraf 1995: 289) In einer von »Induktion« (Langbehn 1890: 2) übersättigten Gesellschaft bedarf es nach Langbehns Ansicht keines ›wortreichen‹ Kunsterziehers, sondern eines ›wortkargen‹ (ebd.: 157), eben des Malers Rembrandt, von dessen Wirkung er sich eine »Erlösung vom papiernen Zeitalter« erhofft, »eine Rückkehr zur Farbe und Lebensfreudigkeit, zur Einheit und Feinheit, zur Innigkeit und Innerlichkeit.« (ebd.: 3) Die ›sprachlose‹ Kunst ist aber auch insofern für Langbehns Zwecke eher geeignet als die deutschsprachige Dichtkunst, da sein ›Reich des Ästhetischen‹ weit über die Grenzen eines dezidiert deutschsprachigen Bereichs hinaus reichen soll.

Bei dieser aus einem imperialistischen Geist geborenen Reichgründungsidee kann also nicht mehr – wie etwa in der Romantik, z.B. bei Ernst Moritz Arndt, – allein die deutsche Sprache das einigende Band darstellen, das die verschiedenen politischen Einheiten zu einer faktischen Nation zusammenschmieden soll. Bei seiner großzügigen »Ansippung« beruft sich Langbehn deshalb auf einen mythischen Volksgeist, dessen Träger letztlich die norddeutschen Gene sind. Die vergemeinschaftende Funktion erfüllt hier also das »Blut« (Langbehn 1893: 218) als »geheimes tieferes Band, welches die Bewohner der deutschen und außerdeutschen Nordseeküste […] verbindet.« (Langbehn 1890: 138) Damit ersetzt es im ›Deutungsmuster Bildung und Kultur‹ die Funktion, die unter dem Einfluss Herders in der Romantik der Sprache zukam. Nicht mehr die Sprache, sondern eine postulierte gemeinsame genetische Abstammung bildet nun »das gewaltigste Band aller Bänder« (Ernst Moritz Arndt, zit. n. Bollenbeck 1996: 220). Das gemeinschaftsstiftende Element einer postulierten gemeinsamen genetischen Abstammungslinie, d.h. im zeitgenössischen Jargon: der ›Rasse‹, wird gegen Ende des 19. Jahrhunderts en vogue, weil sich mit »dem Ende der liberalen Ära und der einsetzenden kulturellen Moderne« der »konsensuelle Kunstnationalismus« auflöst und »die deutsche Kultur […] argumentationsbedürftig« (Bollenbeck 1999: 43) wird. Das um 1800 konzeptualisierte Deutungsmuster von Bildung und Kultur (vgl. ebd.: 19) wird jedoch von Langbehn in abgewandelter Form auch weiterhin bemüht und als Antidot gegen die Zersplitterungstendenzen der Moderne beschworen. Kunst bezeichnet dabei, wie bereits angedeutet, sowohl den Gegensatz zu den Naturwissenschaften, die in der konservativen Kulturkritik gemeinhin für die Fragmentierung der Kultur verantwortlich gemacht werden, als auch das Integrationsinstument, das »diese kulturelle und politische Segmentierung« (ebd.: 104) in der ›Synthese‹ überwinden soll. Um im völkisch-nationalen18 Sinne identitätsbildend zu wirken, soll diese Kunst volkstümlich sein, d.h. sie muss sich radikal von einer kosmopolitischen modernen Kunst unterscheiden und auf individuelle Eigenheiten der Kultur rekurrieren, so wie dies nach Langbehns Ansicht die Malerei Rembrandts verwirklicht. Kultur und Bildung stehen nun also nicht mehr im Zeichen universaler Humanität und einer »liberalen Emanzipationsideologie«, sondern bekommen einen völkisch-nationalistischen und im Laufe der immer wieder neu überarbeiten Ausgaben von Rembrandt als Erzieher auch einen immer schärfer werdenden antisemitischen Zug, der darüber hinaus mit einem imperialistischen Anspruch verknüpft wird. Das Blut bietet die biologische Grundlage einer anvisierten Weltreichsbildung, während Kunst und Kultur eine identitäts- und einheitsstiftende Funktion auf der Grundlage von »Letztbegründungsbegriffe[n]« wie »Nation und Reich, Volk und Rasse, Kampf und Auslese« zukommt, die eine individuelle »Unterwerfung« (Bollenbeck 1999: 117) sowohl der Individuen als auch der angegliederten Staaten verlangen.

Analog zu Schiller als der Identifikationsfigur der Generation von 1848 wird nun Rembrandt zur neuen »nationale Kulturfigur« (ebd.: 44) erhoben. Die Tatsache, dass es sich hierbei um einen Künstler des 17. Jahrhunderts und nicht um einen Zeitgenossen handelt, beinhaltet eine massive Kritik an dem Zustand der deutschen Kultur um 1900, der nach Langbehns Auffassung kein integratives Potential zugesprochen werden kann. Die zeitgenössische Kunstproduktion ist nach seiner Ansicht vor allem deshalb nicht in der Lage, die ihr zugedachte identitätsbildende Funktion zu erfüllen, weil sie sich an den falschen, d.h. im langbehnschen Sprachgebrauch ›artfremden‹ Vorbildern des französischen Impressionismus und Symbolismus orientiert, im Akademiestil nur nach technischer Perfektion trachtet oder aber einen naturalistischen Stil pflegt, der in erster Linie Armut und Leid abbildet und sich somit der der Kunst zugedachten Funktion eines Repräsentationsorgans völkischer Kraft vollkommen entzieht.

Während dem Rekurs auf die Malerei der Vergangenheit nicht unbedingt ein innovatives Potential innerhalb der Kulturkritik zukommt, so steht der Umstand, dass es sich bei dem zum Prototypen eines niederdeutschen Künstlers erhobenen Maler explizit um einen Niederländer handelt, hier für einen modernen imperialistischen Anspruch, der gewissermaßen eine ›Expansionsverpflichtung‹, eine Notwendigkeit zum Anschluss der umliegenden Nahfremde an das deutsche Kernland beinhaltet.

Es ist bezeichnend und eine äußere Bestätigung für den exzentrischen Charakter der Deutschen, daß ihr nationalster Künstler ihnen nur innerlich, nicht auch politisch angehört; der deutsche Volksgeist hatte sozusagen den deutschen Volkskörper aus den Fugen getrieben. Das muß jetzt anders werden; Geist und Körper, im Volk wie im Einzelnen, sollen sich wieder zusammenfinden; der Riß, welcher durch die moderne Kultur geht, muß sich wieder schließen. (Langbehn 1890: 9)

So wie ehedem Kunst und Kultur das in etliche Fürstentümer zersplitterte Deutschland zu einer Nation vereinen sollten, so sollen nun Rembrandt und Shakespeare die unterschiedlichen Nationen zu einem Reich schmieden und so die mit der Einzelstaatenbildung assoziierte geistige Zersplitterung in der Moderne überwinden helfen. Von ihnen soll eine »Integrationskraft« ausgehen, die »die Menschen, ungeachtet ihrer sozialen Lage und politischen Ansichten«, vor allem aber ungeachtet ihr tatsächlichen Nationalität »miteinander vereint.« (Bollenbeck 1999: 47)

Diese Vereinigung der unterschiedlichen Nationen zu einem ›dritten Reich des Ästhetischen‹ soll nicht von oben verordnet werden, wie die Reichseinigung von 1871, sondern so etwas wie die logische Folge eines bestimmten kollektivvölkischen Selbstverständnisses sein. Dieser grenzüberschreitenden kulturellen Identitätsbildung, die im »festes Zusammenhalten der Gutgesinnten« (Langbehn 1893: 267) eine solide Ausgangsbasis für den gemeinschaftlichen Kampf gegen das Zivilisatorische finden soll, folgt dann idealiter die politische Reichsbildung und tatsächliche Formation einer militärisch schlagkräftigen Weltmacht nach.19 Das transformierte Deutungsmuster von Bildung und Kultur wird am sinnfälligsten in der von Langbehn auf der Folie Bismarcks entworfenen Figur des »Kunstpolitikers«, der die »künstlerische Volksbildung« (Langbehn 1890: 236) im Sinne einer Reichsbildung mit »schöpferischem Weltblick« (ebd.: 60) zugedacht ist. »Kunstpolitik« (ebd.: 241) in diesem Sinne meint eine Expansionspolitik, eine Synthese aus verschiedenen, miteinander verwandten Nationen, die bis dato noch separat voneinander existieren, zu einem Reich, in dem der Kunstpolitiker den einzelnen Nationen »ihren richtigen Platz« (ebd.: 63) innerhalb des hierarchischen Reichsgefüges anzuweisen hätte, wobei nach Langbehns Ansicht »Deutschland […] naturgemäß zum Vorsitz berufen« (ebd.: 155) wäre. Der Begriff des Künstlerischen umfasst hier also immer auch eine politische Dimension, da die »echte Kunstgesinnung«, die den Gegenpol zum materialistischen Zeitalter bildet, nach Langbehns Ansicht zwingend eine »kriegerische Seite« (ebd.: 199) benötigt, um sich durchsetzen zu können. So heißt es: »Die Kunstpolitik wird zuweilen ein Kunstkrieg sein müssen« (ebd.: 248).

Das humanistische Ideal der »Bildung« des individuellen Charakters durch »Erziehung« erfährt ebenfalls einen Bedeutungswandel in Richtung Nationen- bzw. Reichsbildung, wobei sich die spezifische Bedeutung der »Individualität« ebenfalls vom individuellen, einzelnen Menschen zur individuellen Kultur verlagert und hier die Funktion übernimmt eine Gegenposition zur »Vermassung« (der von den Sozialisten geforderten gesellschaftspolitischen Egalisierung der Klassen) zu postulieren. Bei Langbehn wird das humanistische Bildungsideal, auf das er sich beruft, insofern pervertiert, als seine ›deutsche Bildung‹ nicht mehr auf die Herausbildung eines ›reinen Menschtums‹, sondern eines ›reinen Deutschtums‹ abzielt. Die Aneignung der Nahfremde, die ja in Zentrierung auf das Eigene erfolgt, bezweckt nach diesem ›vulgäridealistischen‹ Bildungskonzept die Vervollkommnung der deutschen Kultur bzw. der ›niederdeutschen Individualität‹. Die Aneignung anderer Länder entspricht dabei der Aneignung bestimmter Fähigkeiten und Tugenden, die eine Ergänzung und damit eine Vertiefung des deutschen Wesens bedeuteten sollen. Der Titel Rembrandt als Erzieher verweist bereits auf eine solche Bildungsfunktion des Niederländischen. Dabei geht es im Wesentlich darum, das ›bodenlose‹ Selbstverständnis der bildungsbürgerlichen Deutschen als »Volk der ›Dichter und Denker‹« (vgl. Gerhard/Link 1991: 34)20 durch ›wechselseitige Befruchtung‹ von »fremdem und einheimischem Geiste« (Langbehn 1893: 292) mit territorialen und expansiven Aspekten anzureichern und so zu einer allumfassenden, ›reifen‹ Kultur heranzubilden, die die Verwurzelung im heimischen Boden mit der bildenden Kunst und Kultur und dem Kolonialismus verbindet.

Der territoriale Aspekt ist vor allem deshalb für die konservative Kulturkritik von Bedeutung, weil er das Gegenkonzept zu einem kosmopolitischen, nicht mehr räumlich gebundenen Kapitalismus sowie Kommunismus markiert. Langbehn ist jedoch kein Anhänger antimoderner Regressionsphantasien, der von der Wiederkunft eines mythischen goldenen Zeitalters träumt. Seine Konzeption zielt vielmehr darauf, das ›deutsche Wesen‹, d.h. im Prinzip das vom Absinken in eine gesellschaftspolitische Bedeutungslosigkeit bedrohte und mit einer kollektiven Volksidentität identifizierte Bildungsbürgertum zukunftsfähig zu machen, wobei die Expansivstrategie von herausragender Bedeutung ist, da nach dem zeitgenössischen Verständnis »nur dasjenige Volk lebt, welches wächst.« (Langbehn 1890: 118) Man war allgemeinen der Ansicht, dass das deutsche Volk ohne »Raumerweiterung […] von den Weltvölkern zerquetscht und an innerer Fäulnis zugrunde gehen« (Neitzel 2000: 117) werde. Daher intendiert Langbehns Werk eine Verschmelzung des bildungsbürgerlichen Deutungsmusters mit dem zeitgenössischen Kolonialgeist bzw. dem Weltreichsdenken, das der »Angst vor dem drohenden Untergang« entspringt, von der die um 1900 populäre Weltreichstheorie insgesamt geprägt ist (ebd.: 82).

Mit der genealogisch begründeten Vereinnahmung der Angel-Sachsen wird die koloniale »Expansivkraft« (Langbehn 1926: 51) des British Empire eingedeutscht. Über die Aneignung Englands wird darüber hinaus auch die Aneignung Nordamerikas möglich, dessen zukünftige Weltmachtstellung sich in der Zeit um 1900 abzeichnete. Die USA legten den Maßstab für die zeitgenössische Raumidee, der zufolge der »verfügbare Raum […] eine[ ] der wesentlichen Machtgrundlagen einer Nation« darstellt. Als »Riesenstaat[ ] kontinentalen Ausmaßes« (Neitzel 2000: 85) ist dieses offenkundig zukunftsträchtige Panamerika das Vorbild für Langbehns Pangermanien. Über seine völkische Aneignungsstrategie, die das aufstrebende Nordamerika zu einer überseeischen Kolonie der Deutschen degradiert und dessen zivilisatorische Auswüchse er auf eine mangelnde Bindung zum niederdeutschen Mutterland zurückführt, sucht er diese potentielle Weltmacht in sein deutsches Weltreich zu integrieren und damit noch zu überbieten. Die »Aneignung« von Eigenschaften schließt dabei selbstverständlich das »schlechte« Zivilisatorische aus und beschränkt sich auf die »besten und größten Züge« (Langbehn 1893: 292).

Den »Wahlspruch der transozeanischen Niederdeutschen: excelsior« (Langbehn 1890: 120) sollten sich die Deutschen nach Langbehns Ansicht auf allen Gebieten zu eigenen machen, denn nur die Expansion garantiere ein Überleben der deutschen Kultur. Sie sei der »Weg zum Ideal; der Weg zu einer bessern [sic!] Zukunft.« (Langbehn 1893: 241) Auch die Aneignung des relativ kleinen niederländischen Nachbarlandes passt in dieses Schema der Aneignung von Expansivkraft. Erstens stellt es mit seinem Meerzugang einen »Brückenkopf« (Langbehn 1890: 223) zur Eroberung überseeischer Länder dar, zweites waren die Niederlande dank ihrer unumstrittenen Seemacht im 17. Jahrhundert eine der bedeutendsten Kolonialmächte der Welt. Die weltumspannende Ausbreitung des niederländischen Kolonialreichs (von Nord- und Südamerika über Afrika bis nach Asien) bescherte dem Mutterland darüber hinaus ein sog. Goldenes Zeitalter der Kultur und Kunst. Aufgrund dieser Historie eignen sich die Niederlande also perfekt als Folie für Langbehns kunstpolitische Gegenstrategie zum Siegeszug rationalistischer Modernisierungstendenzen.21 Entsprechend schreibt er:

Das deutsche Volk muß sich so entwickeln, wie sich der holländische Volkscharakter entwickelt hat – um einen Rembrandt hervorbringen zu können. […] Die beiden Pole des niederdeutschen Charakters, Festigkeit und Freiheit, haben hiebei [sic!] als Richtpunkt zu dienen. Das deutsche Volk muß seine inneren politischen und nationalen Verhältnisse erweitern, indem es sie theils festigt theils lockert; denn nur in dem gleichzeitigen Zusammenwirken diese beiden Thätigkeiten besteht alles Wachsthum; und nur dasjenige Volk lebt, welches wächst. (Ebd.: 118)

Die Niederländer als »Bauern von besonderem Schlage«, als »Seebauern« (ebd.: 139), sind in Rembrandt als Erzieher das Sinnbild der gelungenen Synthese aus einer stabilen kulturellen Identität und Weltmachtpotential (vgl. Parr 2001: 68). Damit geben sie das Vorbild ab, von dem es zu lernen gilt, um in Deutschland die von Langbehn angestrebte Synthese aus Kunst und militärischer Macht zu einer schlagkräftigen Kunstmacht vollziehen zu können.

Im Hinblick auf diese Kunstmachtbildung soll »Groß-Holland« gewissermaßen als Trainingslager zum Erlernen von »Freiheit und Selbstständigkeit«, vor allem aber von Techniken zur expansiven Reichsbildung dienen. Dabei knüpft Langbehn daran an, dass u.a. auch »der große Kurfürst, Peter der Große« sich hier für seine »spätere große geschichtliche Rolle vorbereitet« (Langbehn 1890: 224) habe.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Inklusion im Wesentlichen drei Funktionen erfüllt: Sie dient a) der Regeneration der volkseigenen Kräfte bzw. der Stärkung der Abwehrkräfte gegen fremde Einflüsse im Inneren des völkischen Organismus, b) der Stärkung der militärischen Macht, insbesondere der Seemacht und damit als »Brückenkopf« für eine überseeische Expansion, c) als erzieherische Bildungsstätte, in der sich die Deutschen Expansionswillen und- kraft sowie Techniken der Reichsbildung aneignen sollen.

4. Expansion

Die Frage nach ›Weltmacht oder Untergang‹, die sich aus der zwischen 1880 und 1900 von führenden deutschen Nationalökonomen entwickelten »Weltreichslehre« ergab, der zufolge das 20. Jahrhundert voraussichtlich von den drei Weltmächten USA, Großbritannien und Russland dominiert werden würde und Deutschland zum Untergang verdammt sei, wenn es ihm nicht gelänge, »als viertes Mitglied in den exklusiven ›Klub‹ aufgenommen zu werden« (Neitzel 2000: 15), wird von Langbehn auf die Frage ›Kultur oder Zivilisation‹ ausgeweitet. Damit dehnt er diese sich aus den Modernisierungsprozessen ergebende, primär intrakulturelle Konfliktlage zu einer globalen Herausforderung aus, wenn er die Frage, wer zukünftig die »Führung« im »europäischen Geistesleben« (Langbehn 1890: 222) übernehmen werde, mit der machtpolitischen Frage verknüpft. Indem Langbehn Deutschland bzw. Niederdeutschland und Kultur in eins setzt, macht er die deutsche Weltherrschaft zur Voraussetzung eines Siegeszugs der Kultur über die Zivilisation. Alle Strategien der Weltreichslehre, die auf die Ausweitung der deutschen Machtstellung in der Welt abzielen, werden über diese Gleichsetzung auf die Ausweitung einer Kunstmacht übertragen: »Raumgewinn durch kontinentale Expansion« (Neitzel 2000: 118), »Zusammenschluß Mitteleuropas als Waffe im Kampf gegen die Weltreiche« (ebd.: 126), »Kolonien und Flottenbau als Voraussetzung für den Einzug in den ›Klub der Weltreiche‹« (ebd.: 181).

Langbehn verbindet mit der angestrebten ›deutschen Weltherrschaft‹ die Hoffnung auf eine Restitution der in der industrialisierten Moderne obsolet werdenden Normen und Werte. Durch eine Fokussierung auf die Kunst und auf das Mythische soll das deutsche Weltreich sich gerade auf Prinzipien gründen, die die Antithese zu den für die Moderne charakteristischen Schlagwörtern Naturwissenschaft und Rationalismus bilden. Das Prinzip des Individualismus beschwört noch einmal die Werte des deutschen Idealismus und führt sie gegen die amorphe Masse der Arbeiterklasse ins Feld. Die Axiome der Weltreichslehre von ›Weltmacht oder Untergang‹, »dominiren oder dominirt [sic!] […] werden«, sind auf diese intrakulturelle Konfliktsituation abgebildet. In der Übertragung zeigt sich, wie existentiell die Bedrohung durch die neue Klasse von einem ›ungleichzeitigen‹ bildungsbürgerlichen Individuum wie Langbehn wahrgenommen wurde. Bei der gesellschaftspolitischen Machtfrage kann es für Langbehn auch hier »ein Drittes […] nicht« (Langbehn 1890: 222) geben. Entweder kann das Bildungsbürgertum seine »Geisteshegemonie« (ebd.: 107) behaupten, d.h. die mobilisierten Massen verschwinden wieder und das Proletariat wird als machtloser »Kitt« (ebd.: 149) der Gesellschaft wieder in das Volksganze eingegliedert, oder aber der »Insektengeist« (ebd.: 277) der Arbeitermassen siegt und das alte Deutungsmuster von Bildung und Kultur wird vollständig abgelöst von einer ›falschen‹, allein dem Materialismus huldigenden Bildung und »die ganze Welt in ›Mechanik‹« (ebd.: 96) aufgelöst.

Alle Argumente, die sich darauf beziehen, dass in einem zukünftigen Weltreich jedem Volk sein Platz, seine ›naturgemäße‹ Position in der Hierarchie zugewiesen werden müsse,22 speisen sich letztlich aus dieser Furcht vor der neuen, politisch immer erfolgreicher werdenden Arbeiterklasse, die die ›gottgegebene‹ Ständeordnung unterläuft und sich dabei an keine Nation, an keinen Boden und keine überlieferten Normen und Werte, also an keine spezifische kulturelle Prägung mehr gebunden fühlt. Auf ihre Parole: »Proletarier aller Länder, vereinigt Euch«, lautet Langbehns panikartige Gegenantwort: »Germanen aller Länder, vereinigt Euch«, ›verteidigt‹ eure kulturelle Identität und zieht in den »Kunstkrieg« (ebd.: 248), ›sonst droht Euch der Untergang‹, denn »das geistige Leben des deutschen Volkes [befindet] sich gegenwärtig in einem Zustande des langsamen, Einige meinen auch des rapiden Verfalls« (ebd.: 1).

Da die ›strukturelle Fremdheit‹ der Moderne mit all ihrem Bedrohungspotential auf eine vorzugweise außerhalb des Eigenen befindliche kulturelle Fremdheit projiziert wird, soll die Verteidigung der eigenen Kultur über die Aneignung und Überwindung dieser Fremdheit bewältigt werden. Die Bedrohung durch die Moderne, die hier auf andere Nationen und Ethnien projiziert ist, wird als so gewaltig eingeschätzt, dass letztlich nur die vollständige Unschädlichmachung ›fremder Kulturelemente‹ (ebd.: 72) als letzte Möglichkeit der Identitätswahrung gesehen wird.

Diese, auf Überwindung der strukturellen Fremdheit des Zivilisatorischen abzielende Aneignungsstrategie ist konzipiert als usurpatorische Expansion der ›Heimwelt‹. Dabei wird der Bereich des Bekannten, der alten Denk- und Deutungsmuster, gewissermaßen des ›Denkens-wie-üblich‹ (vgl. Schütz 1972) – analog zu einem militärisch-politischen Kampf um die Weltherrschaft – in Konkurrenz zu den ›unüblichen‹, neuen Paradigmen der technischen Moderne gesehen. Der auf Wiederverdrängung eines modernen Denkens ausgelegte geistige Eroberungsfeldzug soll in einem Prozess sukzessiver Ausdehnung des – parallel zum romantisch-holistischen Kulturverständnis – kugelförmig gedachten »Kernbereich[s] der Bekanntheit« (Waldenfels 1999: 92) erfolgen. Dieser Kernbereich der deutschen bzw. niederdeutschen Kultur ist in Rembrandt als Erzieher gewissermaßen von »Fremdheitsringe[n]« (Ebd.; vgl. Husserl 1973: 429f. u. 438) umgeben, die im Grunde einer graduellen Abstufung von Fremdheit entsprechen, die relativ typisch ist für die Germanenkonstruktion um 1900, d.h. von dem engeren Kreis der »Germanen« über die römisch-griechischen oder slawischen »Nicht-Germanen« zu den »Nicht-Indogermanen« (Titzmann 1991: 131) reicht. Während diese Fremdheitskonstruktionen in der allgemeinen Germanenkonzeption jedoch tendenziell als feindliche Strukturen gewertet werden, denen man sich distanzwahrend erwehren muss, werden sie in der langbehnschen Konstruktion dem wachsenden Kunstreichskörper sukzessive einverleibt. Die »Fremdheitsringe« sollen sich – ähnlich wie in Husserls phänomenologischer Beschreibung der apperzeptiven »›Erweiterung‹ der Normalsphäre der Lebenspraxis« (Husserl 1973: 428), die sich allerdings auf eine grundlegend andere Form der geistigen Horizonterweiterung bezieht – »stufenförmig« an den Kernbereich des Eigenen anlagern wie an einen ›wachsenden Baumstamm‹ und ›ineinander fundieren‹ (Waldenfels 1999: 92; vgl. Husserl 1973: 429f. u. 438). Nach diesem Muster der grenzauflösenden Erweiterung der ›Heimwelt‹ soll die stetige Erweiterung des Deutschen Reiches zu einer ›deutschen Weltherrschaft‹ (Langbehn 1890: 222) als globaler Siegeszug der ›Kultur‹ erfolgen.

Die Rechtfertigung der Einverleibungsstrategie läuft über eine »über den Profit hinausweisende[ ]«, mythologische Erzählung, die ausgehend von einer postulierten ontologischen ›Hochwertigkeit‹ des Niederdeutschen eine »nahezu metaphysische Verpflichtung zur Beherrschung unterlegener, minderer oder weniger fortgeschrittener Völker« (Said 1994: 45f.) beinhaltet. Damit folgt Langbehns Argumentation einer im Zeitalter des Imperialismus gängigen Diskursstrategie, wie sie Edward Said in Kultur und Imperialismus beschreibt, wenn es heißt, dass sich von Deutschland aus eine »segenbringende Kulturströmungen über die Welt« (Langbehn 1926: 52) ergießen soll. Ein wesentlicher Unterschied etwa zum britischen Kolonialismus besteht jedoch darin, dass bei jenem durch die Meta-Erzählung von »the white man’s burden« die primär ökonomische Motivation der Kolonialisierung überdeckt werden soll. Langbehns Motivation ist dagegen von vornherein als eine ›geistige‹ bestimmt. Sein intendierter Machtgewinn zielt ja gerade nicht auf wirtschaftliche Macht, sondern auf eine kulturelle Hegemonie, die den Gegenpol zu der für die zivilisatorische Moderne charakteristischen Macht des Geldes darstellt. Sein Expansionsmodell orientiert sich vordergründig also nicht an der »Horizontalität«, sondern an der »Vertikalität der symbolischen idealistischen Tiefe« (Parr 2001: 60),23 und ist vornehmlich auf Eroberungen »auf geistigem Gebiet aus« (Langbehn 1890: 2). Dementsprechend grenzt er sich explizit gegen den britischen Imperialismus ab, der – wie eine zeitgenössische Karikatur es veranschaulicht – wie ein monströser Oktopus seine Fangarme nach den lukrativsten Erdteilen ausstreckt. Diesem eklektizistischen Kolonialismus des British Empire setzt er ein ›organisch‹ gewachsenes »Pangermanien« entgegen, das nicht von einem ›Krämergeist‹, sondern von einem »verständige[n] und schlagfertige[n] […] Bauerngeist« (ebd.: 122) beseelt sein soll. Langbehns eigentümliche Vermischung von Idealismus und Imperialismus geht dabei konform mit der allgemeinen Tendenz, sich von dem vorwiegend ökonomisch motivierten britischen Imperialismus und dem dahinter stehenden Manchestertum »durch die Betonung des nach wie vor gültigen ›idealistisch-romantischen‹ Moments im deutschen Charakter« (Parr 2001: 57) abzusetzen und der realpolitischen Ausdehnung eine idealistische Tiefendimension zu geben, die der deutschen Expansion eine geistige Legitimation verleihen soll.

Die Paradoxie, dass die deutsche Kultur, die doch zu Beginn des Buches bereits als »in einem Zustande des […] Verfalls« (Langbehn 1890: 1) befindlich charakterisiert wird, »zur Rechtfertigung des deutschen Imperialismus« (Stern 2005: 211) herangezogen wird, erklärt sich als impulsive »Verteidigungsgeste des Opfers« (Magris 1983: 323), die diesen gefährlichen »Sprung von der Verzweiflung zur Aggression« bewirkt. Dem Machtverlust des kleinbürgerlichen Individuums wird in einer heroischen Geste mit einem großspurigen Konzept der Machtaneignung begegnet. Ankämpfend »gegen das tiefverwurzelte Gefühl der Verzweiflung«, wird die angebliche »Berufung des deutschen Volkes zur Weltherrschaft« sowie eine Überlegenheit behauptet, »zu welcher der Imperialismus erst noch hinführen sollte« (Stern 2005: 211).

Die aus der Verzweiflung geborene ›Synthese‹ aus Expansionspolitik bzw. »Krieg« und Kunst sowie das illusorische Projekt einer ›dritten Reformation‹ als kulturrevolutionärem »Bruch mit (…) der gesammten [sic!] sogenannten modernen […] Geistesrichtung« (Langbehn 1893: 299) ist Ausdruck einer allgemeinen »Tendenz zu einer paranoiden politischen Denkstruktur«, die aus der Konfrontation des Individuums »mit übermächtig-feindseligen Umwelten« und dem drohenden Verlust der »Wertgemeinschaft« (Titzmann 1991: 131f.) erwächst. Von hier aus »ist Langbehns Imperialismus als Ergänzung, nicht aber als Überwindung seines Kulturpessimismus zu verstehen« (Stern 2005: 212), da der Traum von der Weltmacht und die Betonung einer Höherwertigkeit der niederdeutschen, gewissermaßen zum Herrschen geborenen Rasse allein der »Angst vor dem drohenden Untergang« (Neitzel 2000: 82) entspringt. Dennoch zeigte sich seine Vision als verhängnisvoll zukunftsträchtig, da seine Verknüpfung von mythischer Beschwörung, ästhetischem Programm und machtpolitischem Kalkül den verhängnisvollen ›dritten Weg der Moderne‹ (vgl. Bensch 2006) vorzeichnete, den in der Folge der Nationalsozialismus mit seinem speziellen Aneignungskonzept beschritt.

Zusammenfassung und Parallelen zur Gegenwart

Die interkulturellen Reaktionsmodi in Langbehns Buch Rembrandt als Erzieher lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

  1. In der grundsätzlichen Negation intrakultureller Heterogenität findet eine Projektion negativ evaluierter Zeiterscheinungen auf Fremdkulturen innerhalb und außerhalb des nationalen Bereiches, d.h. von »intrakulturelle[n] Varianten« auf »interkulturelle[ ] Gegensätze[ ]« (Mecklenburg 1990: 87) statt.
  2. Durch die Abgrenzung von jenen Kulturen, die als Verursacher des Modernisierungsprozesses und Träger der ›Zivilisation‹ postuliert werden bzw. durch die Exklusion Berlins als der Metropole der Moderne wird eine Reinigung des Autoimages vorgenommen, das als positive Gegenkonstruktion zur Zivilisation mit ›Kultur‹ identifiziert wird.
  3. Auf die umfassenden Entgrenzungsprozesse des Umbruchs zur Moderne wird nicht nur mit Abgrenzung, sondern in der usurpatorischen Aneignung der Nahfremde auch mit interkulturellen Grenzverschiebungen reagiert, die die Abgrenzung zwischen den Nationen mit relativ geringem Fremdheitsgrad transzendieren. Als Identitätssteigerung und Gewinn von kultureller Substanz in Abgrenzung zu den zivilisatorischen Heteroimages wird dieser grenzkoloniale Prozess jedoch nicht als interkultureller Akt verstanden, sondern als prinzipiell intrakulturell definiert, da hier die unterschiedlichen Nationen zu Subkulturen degradiert werden. Kultureller Austausch, »das […] Wechselspiel zwischen fremdem und einheimischem Geiste« (Langbehn 1893: 292), findet hier nur in Zentrierung auf das Eigene statt, d.h. unter dem Aspekt der Identitätssteigerung und des Machtgewinns.
  4. Die abwehrende Reaktion auf die Modernisierung erschöpft sich nicht in Ausgrenzung und inkludierender Identitätssteigerung. In der Adaption der zeittypischen Weltreichslehre reicht es Langbehn keinesfalls, ein relatives Gleichgewicht der nach dem manichäischen Schema in Gut und Böse sortierten Kräfte ›Kultur‹ und ›Zivilisation‹ zu erzielen. Vielmehr sieht er die einzige Chance die nationale Hegemonie, die hier mit der intrakulturellen Stellung des Bildungsbürgertums in eins gesetzt ist, zu behaupten bzw. zu restituieren in einer offensiven Expansionsstrategie, in der sukzessiven Kolonisierung der auf fremde Nationen projizierten strukturelle Fremdheit der Moderne, die auf eine restlose kulturelle Überlagerung angelegt ist.

Bei einem diachronen Vergleich dieser Ergebnisse mit Reaktionsformen auf die heutigen soziokulturellen Transformationsprozesse lassen sich gewisse strukturelle Parallelen erkennen, die »von einer verstehensfixierten interkulturellen Hermeneutik leicht übergangen und kaum mehr analytisch erfasst werden.« (Bachmann-Medick 2003: 444) Die hier analysierten Formen der Aneignung basieren ja gerade nicht auf einem »Verstehenwollen und Verstanden-werden-Wollen des Eigenen und des Anderen« (Yousefi/Braun 2011: 30), sondern intendieren vielmehr dessen Eliminierung. Parallelen die sich ziehen und auf ein relativ ungebrochenes Fortwirken von bestimmten Denkmustern schließen lassen sind u.a. die xenophobische Projektion diffuser Ängste. Dieser mehr oder minder unterbewusste Verschiebungsprozess tritt heute wiederum insbesondere bei jenen auf, die sich hilflos einer anonymen globalen Wirtschaftsmacht ausgeliefert fühlen oder die, wie z.B. Thilo Sarrazin, als ›ungleichzeitige‹ bildungsbürgerliche Mittelschichtler die deutsche Kultur von innerdeutschen ›Fremden‹ bedroht sehen. Ein weiterer interessanter Aspekt ergibt sich, wenn man die Frage danach stellt, in wie weit auch heute der interkulturelle Austausch in Zentrierung auf das Eigene erfolgt. Dass dieser nicht immer auf einer Ebene funktioniert und grundsätzlich lieber nur die »besten«, nicht aber die »schlechte[n] Züge« (Langbehn 1893: 292) einer Fremdkultur toleriert werden, scheint zumindest ausgemacht. Ein wesentlicher Unterschied zu Langbehn und seinen Zeit- und Gesinnungsgenossen besteht allerdings darin, dass die Unkenntlichkeit einer Fremdkultur heute nicht mehr als unheimliche Bedrohung empfunden wird, sondern gerade die Assimilation, d.h. die Unterordnung unter die jeweilige ›Leitkultur‹ gefordert wird. Ein neuerlicher Einstellungswandel in dieser Sache kann aufgrund des relativ neuen Phänomens terroristischer Anschläge vonseiten augenscheinlich gut angepasster, bis dato vollkommen unauffälliger Islamisten jedoch nicht vollkommen ausgeschlossen werden.

Auch der Modus, dem potentiellen Bedeutungsverlust im globalen Machtgefüge mit einem sich immer weiter ausdehnen Zusammenschluss, z.B. zu einer Europäischen Union, entgegenzuwirken, zeigt zumindest eine gewisse strukturelle Parallele zu Langbehns Vision von Pangermania. Insgesamt könnte man der westlichen Welt auch einen ähnlich offensiven Umgang mit den grenzauflösenden Globalisierungsprozessen unterstellen, denn diese Prozesse werden doch zumindest partiell zu einem Transfer westlicher Lebensart in alle Teile der Erde genutzt, was durchaus einer ähnlichen Strategie der Absicherung hegemonialer Verhältnisse gleichkommt. All diese, zugegeben provokativ formulierten, diachronen Parallelen der interkulturellen Reaktionsmodi auf entgrenzende Wandlungsprozesse machen es schließlich für eine gegenwartszentrierte Interkulturalitätsforschung unumgänglich, auch das »potentielle[ ] Scheitern« des interkulturellen Dialoges und »Exklusionsstrategien, die entweder subkutan oder ostentativ über das Interkulturalitätsparadigma ausgetragen werden« (Heimböckel 2012: 28) in die Forschung miteinzubeziehen.

Anmerkungen

1  | Diese Fragestellung liegt insgesamt dem vom FNR geförderten Forschungsprojekt Repräsentationen des Fremden in der deutschsprachigen Kulturkritik um 1900 an der Universität Luxemburg zugrunde, dem die Ergebnisse dieses Beitrags entsprungen sind.

2  | Ganz anders verhält es sich dagegen mit den im europäischen Raum lebenden ›Orientalen‹, doch dazu später mehr.

3  | Diese Ausweitung ist deshalb möglich, weil nach Wierlacher »Fremdheit kein absoluter Maßstab ist und sich aus der Differenz zum Vertrauten ergibt, also ein Relationsbegriff ist« (Sundermeier 2003: 550).

4  | Die in den ersten Ausgaben noch nicht enthaltenen Abschnitte werden aus dieser überarbeiteten Ausgabe zitiert.

5  | In der Transformation des Bösen von einer transzendenten zu einer immanenten Macht zeigt sich auch »der Übergang vom metaphysischen Pessimismus zur Kulturkritik« (Pauen 1994: 88).

6  | Andere Vertreter dieser Form des Antisemitismus sind Friedrich Lienhard, aber auch Paul de Lagarde.

7  | Mit dieser Exklusion vollzieht Langbehn paradoxerweise selbst eine Fragmentierung, die er als Folge des Modernisierungsprozesses ansonsten stark kritisiert. Gerade hierin offenbart sich Langbehn, der engagierte Verfechter der ›Synthese‹ und leidenschaftliche Kämpfer gegen die ›Zersetzung‹, selbst als bereits vom Geist der ihm unverständlichen Moderne affiziert, worin sich die Unmöglichkeit offenbart, »auf dem Boden einer Geistes- und Gesellschaftslage, die durch Prophetie und Aufklärung bestimmt ist […], die Gegenbewegung gegen Prophetie und Aufklärung« (Tillich 1962: 44) zu bilden.

8  | Freud referiert hier Jentschs Definition des Unheimlichen.

9  | Freud beschreibt diese Art der Erschaffung eines ›freundlichen Doppelgänger- tums‹ als »zum alten überwunden Narzißmus der Urzeit« (Freud 1997: 258f.) gehörig.

10  | Zur Anwendung des Begriffs auf die Vereinnahmung niederländischer Kultur bei Langbehn vgl. Amann 2004: 57.

11  | In dieser »konstruierten Kontrastfunktion« verblasst die Nahfremde gewisser- maßen »zu einer Fremde zweiten Grades« (Krusche 1993: 21).

12  | In den ersten Ausgaben ist an dieser Stelle noch ausschließlich von der Schäd- lichkeit slawischer Einflüsse die Rede (vgl. Langbehn 1890: 127).

13  | Den Begriff prägte Moritz Julius Bonn in seinem Werk Economics and Politics (Boston 1932).

14  | Zu den wichtigsten indogermanischen Sprachen zählen neben Deutsch auch Englisch, Niederländisch, Schwedisch, Afrikaans, Dänisch, Norwegisch, Niederdeutsch und Jiddisch. Letzteres findet bei Langbehn jedoch keine Beachtung.

15  | Osterhammel charakterisiert die »Grenzkolonisation« als eine Kolonisation ohne Koloniebildung, was dem Muster der Aneignung der Nahfremden insofern entsprechen würde, als Langbehn von einer kulturellen Großmacht zu träumen scheint, die sich auf eine gemeinsame Herkunft beruft und innerhalb der Reichsstruktur nicht als Herrschaft der Kolonisierer über die Kolonisierten konzipiert ist.

16  | Dieser folgenreiche Rezeptionsstrang reduziert Herders kulturtheoretische Texte auf die Organismus-Metapher sowie auf die Definition von Kulturen als vollständig in sich abgeschlossene Systeme. Die Analyse Till Dembecks hingegen belegt, dass Herder ›Kulturen‹ tatsächlich »gerade nicht als festumrissene Einheiten« (Dembeck 2010: 108) versteht.

17  | Entsprechend wird das Griechische als mit dem Niederdeutschen geistig verwandt akzentuiert, wobei diese Analogiebildung sich auch auf eine postulierte gemeinsame kulturelle Gegenposition zum Römischen, d.h. zum Zivilisatorischen bezieht.

18  | Die Verwendung des Terminus ›völkisch-national‹ erfolgt hier rein deskriptiv und impliziert keine Teleologie im Hinblick auf den Nationalsozialismus.

19  | In diesem Zusammenhang bedeutet die Aneignung der Niederlande die Gewin- nung eines militär-strategischen »Brückenkopfes« und ist Teil einer expansiven »Stütz- punktvernetzung«, die die deutsche Position im Europäischen Machtgefüge gegen England und Frankreich stärken soll (vgl. Amann 2004: 60; Osterhammel 2001: 15).

20  | »Die Zeiten, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, dem anderen das Meer und sich selbst den Himmel reservierte, wo die reine Doktrin thront […] – diese Zeiten sind vorüber. […] Mit einem Worte: Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.« (Graf Bülow, 6. Dezember 1897, zit. n. Fenske 1982: 123f.).

21  | Eine ähnliche Funktion erfüllt auch der Rekurs auf Venedig, das ebenfalls Welt- und Kunstmacht miteinander verbindet.

22  | So soll für eine dauerhaft stabile Weltordnung gesorgt werden, in der jeder seinen ›angestammten‹ Platz kennt. Hierin offenbart sich die Sehnsucht nach der Restitution einer klar strukturierten Ordnung, in der der soziale Ort nicht mehr variabel ist (vgl. Wiegmann-Schubert 2012: 252).

23  | Rolf Parr äußert sich hier nicht direkt zu Langbehn, sondern zu dem Weltbild der Mitglieder des »Deutschen Burenhilfsbunds«, das allerdings erheblich von Langbehns Rembrandt beeinflusst ist.

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