Die pataphysische Komik

Eine französisch-deutsche Heiterkeit?

Thomas Keller

Title:

The Pataphysic Comic – a French-German Cheerfulness?

Keywords:

Ubu; OULIPO; botulism; displacement; dark undertones; playful

Ein Krokodil oder transkultureller Humor

Der Berlin-Flaneur konnte im Jahre 2015 in der Böhmischen Straße im Hussitenviertel Rixdorf auf ein Krokodil stoßen. Ein Schild wies das Tier als eine Manifestation des Collège de Patapysique aus. Es ist nicht das erste Mal, dass diese Institution, die eher mit Frankreich, mit Jarry und mit der Schriftstellerwerkstatt OULIPO (Ouvroir de littérature potentielle; vgl. Scheerer 1982; Roubaud 1998; Ferentschik 2000; Ritte 2009; Brotchie 2014) in Verbindung gebracht wird, sich in deutschen Dingen bemerkbar macht. So bietet es sich an, die Vorstellung, Begrifflichkeit und Praxis von pataphysischer Heiterkeit in Hinblick auf ihre französisch-deutsche Übertragbarkeit zu untersuchen. Dies soll anhand von grenzüberschreitenden Beispielen der pataphysischen Komik geschehen. Dieser Artikel, in dem ich für einige Passagen auf mein Buch Verkörperungen des Dritten im Deutsch-Französischen Verhältnis zurückgreife (vgl. Keller 2018), will zeigen, dass eine zwischen Kulturen gleitende pataphysische Heiterkeit sowohl gewisse Schärfen der französischen Kritik wie auch humorlose Theorielastigkeit von Deutschen zurücknimmt.

Leider sind Forschungen, die verschiedene Erscheinungsformen von Komik mit der Frage nach Transkulturalität verbinden, sehr selten. Die Thematik ist vergiftet, wird Humor – seine Existenz, sein Ausmaß und seine Raffinesse – doch sehr häufig in nationale Stereotypen eingebettet. Im deutsch-französischen Verhältnis lauert der Vorwurf der deutschen Humorlosigkeit sowie spiegelbildlich die Annahme einer so spaßhaften wie frivolen französischen Kultur. Dagegen geraten Übertragungsprozesse und Dritträume aus dem Blick. Meines Wissens existiert keine systematische Darstellung des transkulturellen Humors in ihrer deutsch-französischen Konstellation. Natürlich gibt es Studien und Ausstellungen über die Karikaturen, die auf den jeweiligen Bildern vom Selbst und vom Anderen beruhen (vgl. Koch 2011). So kann deutsche Ernsthaftigkeit stark abwertend lächerlich gemacht oder eher heiter parodiert werden. Die imagologisch fundierten Humorformen beantworten indes noch nicht die Frage nach einem transkulturellen Humor, der von Deutschen und Franzosen geteilt oder sogar gemeinsam hervorgebracht wird. Eine besondere Form des Humors bzw. der Komik liegt vor, wenn eine gewisse Heiterkeit Franzosen und Deutsche verbinden kann, wie hier durch ein Krokodil, ein transkulturelles Objekt, das das Collège de Pataphysique über Grenzen hinweg verschoben hat.

Die Pataphysik in der Tradition und Nachfolge von Alfred Jarry, also die Wissenschaft des zur Regel erhobenen Einzelfalls, ist zwar deutlich gegen die idealistische metaphysische Tradition und insofern auch gegen deutschen Ernst angelegt, nährt sich aber zugleich aus deutschen Quellen. Zudem ist die pataphysische Bewegung ein Netzwerk, eine grenzüberschreitende Gruppe, die auch deutsche Ableger hat.

Die pataphysischen Formen der Komik zerreißen das klassische Band zwischen Heiterkeit und Tragik und auch zwischen Heiterkeit und Schönheit bzw. Erhabenheit. Auch sie haben aber eine Kehrseite, einen schwarzen Bodensatz, wie es etwa bei François Le Lionnais und Georges Perec überdeutlich ist. Heiter ist diese Komik durch Unförmiges (die Gestalt des Père Ubu, das Krokodil als Vorstand des Collège, absurde Gesetzmäßigkeiten von Texten, bizarre Denkmäler und Auszeichnungen …), das gleichwohl Maß und Regeln einhält. Der Ulk vermeidet scharfe Aggressivität und Verletzungen. Damit wird eine überlappende Zone beschreibbar, deren verspielte Übertragungstätigkeit in Kontrast zu den vielen hohen Schwellen im deutsch-französischen Verhältnis steht. An die Stelle geordneter Übertragungen treten ›imaginäre Lösungen‹. Texte und Dinge zu verschieben und in unerwartete fremde Umgebungen einzupflanzen, erzeugt nicht eine Gegenposition, sondern einen komischen Drittraum.

Ein Kugelmensch

Alfred Jarry ist der Begründer der sogenannten Pataphysik, der Wissenschaft der imaginären Lösungen. Bereits in der Wortbildung signalisiert er eine komische Inversion der Metaphysik, die sich vor allem in der idealistischen Philosophie verkörpert. Die Kugelform des berühmten Père Ubu zeichnet Jarry erstmals 1896, seither wird sie immer wieder abgebildet (vgl. Wikipédia 2019). Sie parodiert Platons Mythos vom Kugelmenschen und hat sowohl ein reales Vorbild, den Lehrer Hébert, wie auch eine theoretische Verankerung in Fechners Idealform.

Félix-Frédéric Hébert ist Jarrys Physiklehrer am Lycée de Rennes; über ihn ergießen sich die Pennälerwitze, der sogenannte humour potache. Seine äußere Erscheinung ist in der Kugelform abgebildet: Ein Riesenbauch stolziert auf zu kurzen Beinen. Sein Körperbild und sein hochtrabendes Geschwafel von Familie, Ruhm der Nation und unaufhaltsamen Fortschritten der Wissenschaften machen Hébert zum Gespött. Die tragikomische Figur, in der das Erhabene unaufhörlich ins Lächerliche kippt, ist ein ideales Opfer für Schülerwitze.

Für die Reduzierung auf die Kugelform greift Jarry die Idee von Gustav Theodor Fechner auf, der unter dem Pseudonym Dr. Mises in seiner humoristischen Schrift Vergleichende Anatomie der Engel (vgl. 1825, als Essay bereits 1821) diese Wesen als Kugeln und Licht beschreibt. Er versöhnt eine panphysische Anschauung mit einem wissenschaftlich-mathematischen Geist. Er hat psychologische Prinzipien wie Unterscheidungsschwellen und Kippfiguren beschrieben. In der Vergleichenden Anatomie der Engel berichtet Dr. Mises:

Ich betrachtete die menschliche Gestalt, ich sah [...] ein Aggregat von Unebenheiten, Erhöhungen und Vertiefungen [...]. Ich fing an, es von seinen Unebenheiten und unsymmetrischen Auswüchsen zu entkleiden, als ich fertig damit war, als ich ihm den letzten Höcker abgenommen und ausgeglättet hatte, der seiner Formeinheit noch Eintrag tat, lag eine Kugel vor mir. (Ebd.: 6)

Die Kugelform taucht mehrfach auf: als Engel, in einer Annäherung als Ei, als Auge, als Planet. Dahinter verbirgt sich die Überzeugung von Fechner, dass die menschliche Gestalt mit ihren Höhlen und vorstehenden Auswüchsen alles andere als den Kriterien der Schönheit entspricht. Erst der Sprung der Engel in die kugelförmige Existenzform wirkt dem entgegen (vgl. Weigel 2015: 362-364). In Frankreich hat der Islamforscher und Heidegger-Übersetzer Henry Corbin (vgl. 1983) solche gnostisch-esoterischen Gedanken weitergeführt.

Jarry indes setzt die humoristische Linie Fechners fort und verbindet sie mit dem humour potache, dem Ulk über Hébert:

Le docteur Mises a excellement comparé les êtres embryonnaires aux plus complets [...], aux premiers manquent tous les accidents, protubérances et qualité, ce qui leur laisse la forme sphérique, [...] aux seconds s’ajoutent tant de détails qui les font personnels qu’ils ont pareillement forme de sphère, en vertu de cet axiome, que le corps le plus poli est celui qui présente le plus grand nombre d’aspérités.1 (Jarry 1972)

Die Vergleichende Anatomie der Engel ist erst 1987 ins Französische übertragen worden. Bisher wurde die Anleihe von Jarry auf seine Bergson-Rezeption zurückgeführt (vgl. David 2003). Jarry hat die Vorlesungen gehört, in denen Bergson über Fechner spricht. Aber Jarry konnte auch Ausschnitte aus Fechners Vergleichender Anatomie lesen, die bereits 1856 im Magasin Pittoresque erschienen sind (vgl. Schuh 2010). In pataphysischer Perspektive kann man formulieren, dass Jarry eine Idee von Fechner als ›erfundene Lösung‹ weitergedacht hat. Ubu ist ein ins Groteske verschobener Kugelengel. Jarry realisiert zugleich einen Gedanken von Fechner über die Beziehung zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit. Sie zeigt sich darin, dass die Kugel als glatte Form wie auch mannigfaltig in extremen Unebenheiten (aspérités) zutage treten kann. Sie bildet darin die Brücke zu Ubu, der in seinen Unebenheiten eine Karikatur der idealen Form darstellt.

Die Übertragung von Fechners Kugelform vollzieht sich transmedial. Die schriftliche Schilderung des kugelförmigen Engels verwandelt sich in die Zeichnung von Ubu. Jarry treibt aber die transmediale Übertragung noch weiter: Er kostümiert sich als Ubu, er verwandelt sich in ihn. Jarry verkörpert nicht nur selbst Ubu in seinem Stück als Schauspieler, er hat sich selbst Ubu genannt und mit diesem Namen unterzeichnet. Er lässt sich vom Publikum verspotten. Der Satiriker verlacht nicht nur andere, er tauscht die Rolle mit dem Verlachten und lacht über sich selbst. Auch außerhalb der Aufführung des Stückes übernimmt Jarry Aussehen und Verhaltensformen seiner von ihm geschaffenen Kunstfigur. Dies bedeutet zugleich, dass die Grenzen zwischen Autor und Figur im Stück verschwinden, aber auch diejenigen zwischen dem Autor Jarry und dem ein Leben führenden Jarry, das zumindest in Teilen ein Leben in der Rolle des Ubu wird. In diesen Grenzverletzungen treffen sich deutsche Komiktraditionen und pataphysische Wissenschaft. Dabei bilden die Geschlechtslosigkeit – von Fechners Engeln, von Ubu – sowie die Grenzüberschreitungen zwischen Fiktion und Realität ein Kontinuum.

Hier ist ein weiterer Bezug verborgen, der Komik deutsch-französisch buchstabiert. Jarrys parodistische Gelehrtenfigur Dr. Faustroll führt nicht nur Faust im Namen, sondern hat in seiner Bibliothek auch Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung von Christian Dietrich Grabbe stehen. In der Komödie von 1827 wird der Teufel von seiner Großmutter auf die Erde geschickt, weil die Hölle geputzt wird und er nur stört. Er stört aber auch auf der Erde, denn es heißt: »Der Teufel passt nicht in unser System« (Grabbe 1960: 219). Dies kann man auch als Lehrsatz der pataphysique nehmen. In Grabbes Stück tritt der Autor selbst am Ende der Aufführung leibhaftig mit Laterne in der Hand auf. Er wird als Verfasser der Komödie und schiefbeiniger schielender Affe verspottet. Der lächerliche Nachtwächter ist ein komisches Äquivalent zum anderen Leibhaftigen im Stück. Grabbe greift seinerseits die ähnliche Grenzüberschreitung auf, die Tieck in seinem Gestiefelten Kater (1797, erst 1844 uraufgeführt) unternimmt, wo der Dichter regelwidrig auf die Bühne kommt und auch das empörte Publikum zum Theaterschauspieler wird. Auch in Ritter Blaubart fegt Tieck die Grenze zwischen Repräsentation und ›Realität‹ hinweg. Das Geschehen auf der Bühne wird gänzlich unberechenbar; sicher indes ist die Absicht Tiecks wie auch Grabbes, dem Unsinn, einer gesetzlosen Freiheit, in poetisch-anarchistischen Lösungen Raum zu verschaffen (vgl. Menninghaus 1995).

Jarry bedient sich beiderlei Normverletzungen: Der Autor Jarry spielt selbst den Ubu und er setzt das Publikum als Störer ein. Die Grenzen zwischen Schauspielern und Publikum sowie zwischen Theaterstück und Autor setzt er außer Kraft und schafft so das Theater der Moderne. Aber er geht noch einen Schritt weiter und lässt Kennzeichen der Kunstfigur auf das Leben übergreifen. Hier ist ein dramatisches Äquivalent zu sogenannten Metalepsen (›Herübernahmen‹) in Romantexten, dann auch in Filmen zu besichtigen. In Texten mit narrativen und ontologischen Metalepsen wechseln Figuren zwischen Erzählebenen, taucht der Autor in der Erzählung auf, greifen Texte auf den Zuschauer oder Leser über oder mischen sich sogar in das Leben ein. In den Dramen von Tieck, Grabbe und Jarry ›töten‹ lächerliche, komische Übertragungen. Sie sind Grenzüberschreitungen, die die Grenzen zwischen Erzähler, Autor, Text, Publikum und Leben verletzen. Sie nehmen damit den Figuren und ihren Schöpfern jeglichen Anspruch auf Innerlichkeit, auf Authentizität. So wie die Ähnlichkeit zwischen den Kugelformen ganz an der Oberfläche bleibt, so stellt das Gleiten des Ubu zwischen erfundener Figur, Schauspieler und lebendem Menschen Übergänge zwischen Rollen dar. Diese eröffnen zugleich jenseits der Vorstellung von der einen und einzigartigen, ›wahren Identität‹ den Spielraum für abweichende, verzerrende Handlungen.

Ubu in den deutsch-französischen Avantgarden der Zwischenkriegszeit

In den Avantgarden bilden der Père und Ubu roi ein transkulturelles Zwischenglied. Dass der Witz von Jarry den französischen Dadaisten und Surrealisten, ob Tzara, ob Breton, ein willkommener und beliebter Schatz ist, kann nicht erstaunen. Er erlaubt zugleich eine gemeinsame Bezugnahme von deutschen und französischen Künstlern in der Zwischenkriegszeit. Dazu zwei Beispiele: Im Jahr 1923 schafft Max Ernst seinen Ubu imperator (vgl. Max-ernst.com o.J.). Ernst ist kurze Zeit vorher von Köln nach Paris übergesiedelt. Im Bild ist aus dem König Ubu ein Imperator geworden. Diese Steigerung ist indes riskant. Die runde Form ist erhalten und verändert zugleich. Die Stelzenbeine sind ersetzt durch einen Kreisel. Ubu ist nach unten zugespitzt. Er droht jeden Moment umzufallen. Der Körper ist aus Behausungen gebildet, nachgebildet den Fächern, den Wohnungen in Breughels Turmbau zu Babel. Ubus vogelartiger Kopf ist geneigt, die Topfform des Kopfes verstärkt den Eindruck, der Imperator ähnle einem Schneemann oder einer Vogelscheuche. Nur wenig bedeckt ist der Imperator durch einen grün-blauen Umhang, zwischen Haar und Kleidungsstück changierend – kein Hermelinfell! Die erhobenen Hände signalisieren Hilflosigkeit: ›Was soll ich bloß machen?‹ Die Figur kämpft um Gleichgewicht. Der Imperator tanzt bzw. schwankt auf Sand. Die Tage seiner Herrschaft sind gezählt. Der Kaiser ist noch grotesker als der König Ubu. Bewegt sich Jarrys König Ubu in einem imaginären Polen, so bildet der lächerliche Imperator ein Anschauungsobjekt, das die deutschen und französischen Avantgarden gemeinsam wahrnehmbar machen, nämlich die Brüchigkeit der Zivilisation.

Die ohnmächtig erhobenen Hände wie auch der leere oder in die Ferne schauende Blick (von Fisch, Vogel, Mensch) tauchen von der Chinesischen Nachtigall (1920) über Ubu imperator (1923) zu den furchtbaren Monster- / Engelfiguren, etwa dem Ange au foyer der dreißiger Jahre, immer wieder auf. Sie stellen ein durchgehendes Leiden in den Bildern von Max Ernst dar. Gerade dadurch, dass diese Hilflosigkeit der Kreatur, die mit ihrer eigenen Gewalt, ihrer Wut nicht zurechtkommt und ihr unterliegt, sich im Werk durchzieht, liegt es nahe, die Lächerlichkeit und Grausamkeit des Ubu als Eigenes zu begreifen: Ubu in uns. Das wusste bereits Jarry selbst, der als Ubu auftrat.

Ubu kann indes auch als lachender Dritter eingesetzt werden. Dies demonstriert seine Rolle als Joker im jeu de Marseille (vgl. Le Journal de Jane 2016). Dieses Kartenspiel wird von der Gruppe der Surrealisten entworfen, die im Jahr 1940 in der Villa Air-Bel in Marseille auf ihre Rettung hoffen – die mit Hilfe von Varian Fry dann gelingt. Zu der Gruppe gehören Max Ernst, André Breton, Victor Serge, Victor Brauner, Vilfredo Lam, Jacqueline Lamba, André Masson und Oscar Dominguez.

Die Anregungen aus Deutschland oder Österreich sind im Kartenspiel präsent, verwiesen sei auf die Novalis-Karte und die Freud-Karte. Sie verbinden die Erforschung des Unbewussten mit der Romantik. Die vier Farben sind ersetzt durch Liebe, Erkenntnis, Traum und Revolution. Die Figuren sind auf drei Gruppen verteilt: Genie, Zauberer, Sirene. Hegel und Freud sind jeweils eine Kartenfigur in der Reihe der Genies, Novalis eine in der Reihe der Zauberer und Seher. Die Avantgardisten signalisieren damit auch, dass sie nicht in eine Gegenhaltung zur deutschen Kultur gehen. Sie halten angesichts des vorrückenden Faschismus die Vernunft für wehrlos, aber sie suchen widerständige Kräfte in Bewegungen, die Zugang zum Unbewussten haben, bei den Romantikern und in der Psychoanalyse. So wollen sie selbstzerstörerische Strukturen von Gesellschaft durchschauen. André Masson fertigt in diesen Jahren der Bedrohung Porträts von Goethe, Kleist, Jean Paul, Hölderlin und Novalis an. Max Ernst gestaltet die Karten Pancho Villa (révolution) und As d’amour. Oscar Dominguez zeichnet Freud, Victor Brauner das Genie der Erkenntnis Hegel.

Bei allen Wettkämpfen zwischen den Karten sticht aber letztlich der Joker, das ist die bekannte Zeichnung Jarrys des Père Ubu als rettende Spielkarte. Das Gelächter obsiegt in der Gefahr.

Die Pataphysik und ihr Collège

Jarrys Ubu ist docteur en pataphysique. Pataphysique ist auch die Anschauung von Jarrys Dr. Faustroll. In Gestes et opinions du docteur Faustroll, pataphysicien (geschrieben 1897 / 98) (vgl. Jarry 1980) führt Jarry das Prinzip vor, nicht nach verallgemeinernden Regeln vorzugehen. Äquivalenzen reichen. In den imaginären Welten des Schachtheoretikers und Schriftstellers Raymond Roussel herrschen formale Zwänge. Im Readymade von Marcel Duchamp, ebenfalls Schachtheoretiker und Künstler, herrscht das radikale Äquivalenzprinzip. Die fountain, das ist das umgedrehte Urinal, ist genau so viel wert wie ein Gemälde Altdorfers. Die Ausnahmen von der Regel betont Boris Vian.

Das im Jahre 1948 u.a. von Raymond Queneau und Boris Vian in Paris gegründete Collège de Pataphysique streitet wider das Ernste. Die pataphysische Wissenschaft von den imaginären Lösungen stellt die Ausnahme, das Partikulare gegen das Allgemeine. Sie schafft ein künstlerisches und künstliches Paralleluniversum. Pataphysique, eine Kontrastbildung zu métaphysique, wendet sich notwendig auch gegen das idealistische Erbe der deutschen Philosophie. Sie ist eine ganz eigene Wissenschaft, die nach fiktionalen Lösungen sucht, die Verfahren durchführt, die vom beschriebenen Objekt virtuell vorgegeben sind (»la science des solutions imaginaires qui accorde symboliquement aux linéaments les propriétés des objets décrits par leur virtualité«2, Jarry 1980: 32). Gemeint ist, unauffällige zufällige Dinge ans Tageslicht zu holen, diese aber nach einem strengen Prinzip zu ordnen.

In der Pataphysik treffen sich Mathematik und Poesie. Die Pataphysiker rezipieren die Mengenlehre von David Hilbert (vgl. Wallwitz 2017). Hilbert (1862-1943) gibt unter dem Begriff Formalismus das Ziel möglichst widerspruchsfreier Axiome an. Raymond Queneau und François Le Lionnais übertragen diesen extremen Szientismus, der Widerspruchsfreiheit garantieren sollen. Eine Zwischenstufe stellt die 1934 gegründete Mathematikergruppe Nicolas Bourbaki (der Name stammt von einem Scherz) dar. Deren wichtigstes Mitglied ist Jean Dieudonné (1906-1992), der vor 1933 auch kurze Zeit in Berlin studiert hat. Dieudonné, der die Euklidische Geometrie erbittert bekämpft, ist auch Pianist. Er verfasst einen Artikel zu Hermann Weyl und gibt die Werke von Camille Jordan heraus. Auch Claude Chevalley (1909-1984), in den dreißiger Jahren nicht nur Mitbegründer der Bourbaki-Gruppe, sondern auch Mitglied der personalistischen Ordre-Nouveau-Bewegung (vgl. Keller 2001; Roy 1993), hat Kontakte zu deutschen Vertretern einer axiomatischen Begründung der Mathematik. Er studiert bei Emil Artin in Hamburg. Ab 1939 erscheinen dann die zahlreichen Bände der Eléments de mathématique. Eine Regel ist die Geheimhaltung und das Anonymat. Die Texte erscheinen ohne Verfasserzeichnungen und werden ständigen Überarbeitungen unterzogen. Darin erwähnt Chevalley explizit die Ähnlichkeit zwischen mathematischem Stil am Beispiel Hilberts und pataphysischer Literatur, hierin Raymond Queneau folgend.

Die Pataphysiker üben nach dem Modell der axiomatischen Begründung der Mathematik das Denken der Widersprüche bzw. ihrer Auflösung. Phänomene der Mathematik übertragen sie auf die Sprache (vgl. Queneau 1976). Die grundsätzliche Austauschbarkeit von Punkten, Geraden, Flächen mit Wörtern wie Tische, Stühle und Humpen stellt bereits Hilbert fest. Queneau ersetzt die Punkte, Geraden und Fläche mit Wörtern, Sätzen und Absätzen. Die Pataphysiker erfassen zwar Phänomene, die zufällig von anderen produziert werden, gehen damit aber anders um als die Dadaisten und Surrealisten. So erlegen die Dichter des OULIPO (vgl. Scherer 2004) den zufälligen Phänomenen einen freiwilligen Zwang (contrainte) auf, was sie von den ›Dilettanten‹ von Dada unterscheiden soll. Die Pataphysiker wollen eine, wenn auch krumme, so doch logische und amüsante Methode anwenden und den Effekt des Komischen gerade durch streng durchgesetzte Widerspruchsfreiheit erreichen.

Seit 1948 existiert das Collège de Pataphysique. 1975 tritt es in eine bis 2000 dauernde Phase der Verdunkelung ein. Seine Mitglieder verpflichten sich, die pataphysische Botschaft zu verbreiten, nur darf ihre Aktivität nicht ernsthaft sein. Le Lionnais, seit 1961 régent, also Vertreter des Collège de Pataphysique, hat Ähnlichkeitsbeziehungen aufgeschlüsselt, die sich über verschiedene logische Operationen wie Reflexivität, Symmetrie und Transitivität bilden. Queneau hat Beziehungen durchgespielt, in denen eine Person X eine Person Y für die Person Z hält. Dadurch entstehen Äquivalenzen. Ein Beispiel ist dasjenige mit drei Verrückten. A, B und C halten sich für Napoleon. Jeder von ihnen nimmt die zwei anderen für das, was sie tatsächlich sind. Roubaud schlüsselt die Beziehung auf, in der X sich mit Y gegen Z verschwört.

Die Protagonisten des OULIPO lehnen den reinen Zufall ab, sie wollen Zufall nur unter Zwang. Das berühmteste Beispiel ist das Lipogramm in La disparition von Perec, ein Text, in dem der Vokal e nicht vorkommen darf, verschwunden ist. Ein anderes Beispiel ist das Vorhaben, die Versform der Sixtine der Troubadoure (sechs Worte bilden in den aufeinanderfolgenden Strophen immer wieder das Versende) wiederzubeleben. Solche Verfahren stehen in der pataphysischen Tradition, insofern sie eine imaginäre Lösung für ein gestelltes Problem versuchen. Derartige Sprachspiele mögen auf den ersten Blick als eine sehr französische Angelegenheit erscheinen. Sie haben indes auch Übertragungen zwischen deutsch(sprachig)en und französischen Kontexten zur Grundlage. Dies zeigt sich nicht nur darin, dass Hervé le Tellier, einer der Schöpfer von Botul (dazu später), 1991 zusammen mit Oskar Pastior ins OULIPO aufgenommen worden ist. Das Spiel mit den imaginären Lösungen verbindet sich mit imaginären Lebensläufen. Diese ›Hochstapelei‹ sowie die Regel der Geheimhaltung haben eine auch durchaus unheimliche Dimension, wie nicht zuletzt Pastiors nachträglich aufgedeckte, wohl erpresste Mitarbeit bei der rumänischen Securitate zeigt.

Grausamkeit, Grauen und Spiel

Die Pataphysik hat von Anfang an, seit den Zeiten von Jarry, eine gewaltsame und grausame Seite. So zeigt der Ubu roi in dem gleichnamigen Theaterstück von Jarry Züge der Gewalt und Gemeinheit. Der pataphysische Humor ist nicht nur harmlos. Mit François Le Lionnais und Georges Perec erhält der dunkle Bodensatz der Pataphysik eine besondere historische Konkretion. Mit Le Lionnais ist die Figur eingeführt, die das Bindeglied zwischen Jarry, dem OULIPO und Botul bildet. Der schwer zu fassende Ingenieur und Mathematiker (vgl. Salon 2016) gehört zu den Intellektuellen der nonkonformistischen Generation (Le Lionnais ist 1901 geboren und 1983 gestorben), die nach 1945 in internationalen Organisationen tätig werden. Er arbeitet in den fünfziger Jahren für die UNESCO. Der Schachspezialist, der in den dreißiger Jahren für Ballards Cahiers du Sud schreibt, unter der deutschen Besatzung résistant, wird deportiert (vgl. Le Lionnais 2016). Er überlebt, seine Tochter nicht. Er gründet 1961 mit Raymond Queneau OULIPO, das mathematische und literarische Prinzipien miteinander kreuzt. Er führt fiktive Interviews um den kollektiven Autor Nicolas Bourbaki, so der erfundene Name der 1935 gegründeten Gruppe von Mathematikern, die die Mengenlehre von David Hilbert verbreitet. Le Lionnais hat selbst fast keine Texte geschrieben, er war Berater und Herausgeber, als Leiter der Wissenschaftssendung La science en marche popularisiert er im Fernsehen Wissenschaft. Seine Publikation Les grands courants de la pensée mathématique, Band 1 (vgl. Le Lionnais 1948), gibt berühmten Mathematikern eine Stimme. So bleibt sein – neben den Schachabhandlungen – umfangreichstes und immer noch kurzes Werk La peinture à Dora (vgl. Le Lionnais 2016).

Der Text, 1946 in der Zeitschrift Confluences erschienen, stellt einen Triumph der Bild-Erinnerung über die Barbarei im deutschen Vernichtungslager Dora dar. Dass Geschichtenerzählen das Leben retten kann, ist seit den Tagen der Scheherazade und in neuerer Zeit mit Reich-Ranickis Autobiographie Mein Leben (1999) bekannt. Die Erinnerung in La peinture à Dora erlaubt, mit Hilfe von erinnerten Details in Bildern zu leben, die »schwerer wogen als die erbärmliche Wirklichkeit« (ebd.: 12). Le Lionnais setzt seine »Theorie der zwei Pforten« eines »Liebhabers der Mathematik« (ebd.: 11) um. Er entnimmt aus vorgestellten Bildern Details wie kleine Grasbüschel, stellt Korrespondenzen zwischen zwei oder mehreren Bildern her und transplantiert Elemente zwischen ihnen; so bringt er Chardins kleine Pfeife unter dem Kissen von Vermeers Spitzenklöpplerin unter. Mit Cézannes Stillleben hingegen sei die Entnahme, etwa eines Apfels, nicht möglich. Kunstwerke lassen sich so danach ordnen, ob Elemente wandern und in verschiedene Kontexte eingehen können.

Auch Georges Perec legt mit Un cabinet d’amateur. Histoire d’un tableau (vgl. Perec 1979)/Ein Kunstkabinett. Geschichte eines Gemäldes (vgl. Perec 1989) eine Beschreibung von Gemälden vor, wobei allerdings nur die Maler real sind, nicht aber ihre Werke. In W ou le souvenir d’enfance (vgl. Perec 1975)/W oder die Kindheitserinnerng (vgl. Perec 2012) lässt Perec seine autobiographischen Erinnerungen als jüdisches Kind unter deutscher Besatzung, Erinnerungen, deren Lückenhaftigkeit er mit Dokumenten auffüllen muss, mit der fiktionalen Geschichte von Gaspard Winckler alternieren, den es auf die Insel W auf Feuerland verschlagen hat. Der die Rettung scheinbar versprechende Ort erweist sich mit seiner Sport- und Körpervergötzung immer mehr dem Lageruniversum zugehörig, in das Perecs Mutter deportiert wurde. Sie ist verschwunden. Imaginäre Lösungen wie das Ausweichen auf die Insel oder die Unterdrückung des Buchstaben e in La disparition bekommen so eine ganz eigene Hintergründigkeit. Schließlich ist auch der Name Georges Perec von dem Vokal e geprägt, so dass dessen Verschwinden auch als eine Auslöschung des Autors gelesen werden kann. Die Verbindung von hintersinnig, unheimlich und verspielt ist typisch für die Pataphysiker. In der Not kann das Spiel eine Lösung sein.

Pataphysik auf Deutsch: Übersetzung und literarische Praxis

Es fehlt nicht an Bemühungen, die Pataphysik unter den Deutschen heimisch zu machen. Seit langem setzt sich der Berliner Dramaturg und Theaterkritiker Klaus Völker für eine Übertragung der Pataphysik ein. Er hat Alfred Jarry, Boris Vian und Raymond Roussel ins Deutsche übersetzt, eine Biographie von Vian publiziert und eine Werkausgabe von Jarry in 11 Bänden bei Zweitausendeins herausgegeben (zwischen 1987 und 1993 erschienen). Ein Pataphysisches Institut wird 1997 in Berlin von dem Theatermaler Wolf Dieckmann gegründet.

Das OULIPO ist bereits seit Ende der sechziger Jahre durch die Arbeit seiner saarländischen Adepten bekannt geworden, durch Helmlés Übersetzungen von Queneau, Perec und Roubaud und eigene lipogrammatische Texte sowie durch Ludwig Harig. Beide waren Mitglied des Collège de Pataphysique. Der 2018 gestorbene Schriftsteller und Queneau-Übersetzer Harig verbindet die Sprachexperimente der Konkreten Poesie nach Max Bense mit Anleihen bei mundartlicher Oralität. Der Anwalt für eine witzig-kritische Haltung im deutschen Südwesten macht in dem bissigen Text Tafelmusik für König Ubu über den deutschen Wahlherbst 1980 seine Verbindung zu Jarry kenntlich (vgl. Harig 1982).

Die Häufung des Vokals e im Namen teilt Georges Perec mit seinem deutschen Übersetzer Eugen Helmlé. La disparition lautet in der Übersetzung Anton Voyls Fortgang. Helmlé, der mit Perec befreundet war, hat auch W ou le souvenir d’enfance übersetzt. Er hat gemeinsam mit Perec Lesungen veranstaltet, auch ein Hörspiel verfasst. Er hat selbst lipogrammatische Romane mit der systematischen Auslassung bestimmter Buchstaben geschrieben, Im Nachtzug nach Lyon ohne r und e (vgl. Helmlé 1993), in Knall und Fall in Lyon ohne e, dann ohne r (vgl. Helmlé 1995).

Nach dem Tod von Helmlé ist dieses Erbe an der deutsch-französischen Grenze in dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis institutionalisiert worden. Der Preis ging 2013 an Jürgen Ritte. Dies hat eine besondere Schlüssigkeit, da Ritte nicht nur Perec-Spezialist (vgl. Ritte 1992), sondern auch Übersetzer von Pataphysikern wie Le Lionnais ist. Er und seine Frau Romy Ritte haben auch die Romane des Botulisten Hervé Le Tellier übersetzt (vgl. Le Tellier 2011; 2013; 2017). Ritte gibt im Diaphanes Verlag die Reihe Oulipo & Co heraus.

Sich in der deutschsprachigen Verlagslandschaft durchzusetzen, ist für die Pataphysiker eher schwerer geworden. Die kleine Berliner Edition plasma hat in den neunziger Jahren Texte von Perec, Roubaud und Pastior und die lipogrammatischen Romane von Helmlé publiziert. Anton Voyls Fortgang ist zunächst bei Rowohlt und Zweitausendeins erschienen, der Text wird wie andere Perec-Übersetzungen heute vom Züricher Diaphanes Verlag angeboten.

Ein Text bzw. eine Übersetzung ohne den Buchstaben e wie Disparitions/Anton Voyls Fortgang unterwirft sich dem pataphysischen Zwang, insofern ist sie treu; sie muss aber gerade in der neuen Sprache eine eigene Kreativität entwickeln, sie muss die Übersetzung von disparition mit »Verschwinden«, ein Wort mit zwei e, zurückweisen, also stark abweichen, um diesen Zwang durchführen zu können. Das sprichwörtliche Paradox der Übersetzer traduttore / traditore ist in eigener Weise von der Pataphysik erneuert. Insofern ist es nur plausibel, dass Klaus Völker und Klaus Ferentschik, zwei deutsche Mitglieder des Collège de Pataphysique, Mitglieder der Intermission des Traductions et Trahisons sind. Ferentschik ist auch Regent für démonologie spéciale.

In jüngerer Zeit versucht Klaus Ferentschik sich an einer doppelten Vermittlung. Ferentschik, gebürtig aus Baden, lebt in Berlin, arbeitet aber auch viel in Wien, wo er seine sogenannte Kabelenzyklopädie erstellt hat, die alle Begriffe mit Kabel als Wortteil auflistet. Er veröffentlicht seine Einführung in die Pataphysik im Berliner Matthes und Seitz Verlag (vgl. Ferentschik 2006). In seiner Romantrilogie führt er eine geschlechtsspezifische pataphysische Übung durch. In dem Doppelroman Schwelle und Schwall (vgl. Ferentschik 2000) schreibt er den ersten Text nur mit weiblichen, den zweiten nur mit männlichen Substantiven, Scharmützel (vgl. Ferentschik 2003) ist auf sächliche Substantive beschränkt.

Der Roman Scharmützel lehrt das Gruseln. Die Szenerie versammelt ein Trio, gebildet aus »Geschöpf« und zwei »Individuen« auf einem Triptychon, das in einem verfallenden Tollhaus hängt. Ein verstorbener Wissenschaftler, der mit seinen Experimenten an Menschen an Josef Mengele erinnert, liefert das schreckliche Material an Gehirnen. Das Geschöpf entspringt dem Bild, um das Gehirnwasser zu trinken; der Inhalt des Gehirns bleibt lebendig im Modus des »Geschöpfes«, das immer wieder die Fäden zieht für die »Scharmützel« zwischen den zwei Individuen. Das Bewusstsein, der sächliche Text, besteht so nur als Zwietracht. Das Individuum erscheint als sich selbst feindliches Dividuum, als gänzlich fremdbestimmt. Seine einzige Existenzform ist die Feindseligkeit dem anderen Individuum gegenüber, ein Zwangsvertrag mit dem anderen. Alle Aktivität der Individuen ist vom Geschöpf bestimmt. Ein Text wie Scharmützel demonstriert, wie – hier ›gezwängte‹ – Handlung durch Sprache entsteht. So bekommen die Individuen vom Geschöpf Texte übermittelt, etwa ein Telegramm zu einer Theatervorstellung, in der sie dann nicht Zuschauer, sondern Malträtierte sind. Das Lachen bleibt im Halse stecken. Zum Schluss übernehmen die Insekten das Tollhaus, das Trio entkommt gerade noch der Invasion. Die drei fliehen in den zusammengeschweißten Autos der Individuen, das Geschöpf mit dem Triptychon im Arm. Die Metalepse, das ist das Entspringen von Geschöpf und Individuen aus dem Bild in den Text, wird noch einmal weitergedreht.

Dabei gelingt es Ferentschik beiläufig, die pataphysische Theorie zu übertragen. Er lässt die dahinvegetierenden Individuen Buchstaben in Kreuzworträtsel einsetzen, ihr Hirn reicht indes keinesfalls aus, um Texte zu schreiben

wie das Verfassen eines Heteropangramms oder eines einwandfrei lipogrammatischen Gedichtes. Eines Sonetts etwa, ohne ein A, ohne ein E, ohne ein I, ohne ein O, und ohne ein einziges U. Dafür aber nur mit sächlichen Substantiven versehen. Adjektive, Verben, die wären kein Problem gewesen, aber sinnvolle, sächliche Substantive fielen ihnen noch nicht einmal beim konkreten Denken ein und schon gar nicht beim Dichten oder Kreuzworträtsellösen, was für sie dasselbe ist (ebd.: 62).

Das heißt: Über das Individuum hinauskommen ist allein möglich im Schreiben pataphysischer Texte. Der formal ausschließlich sächliche Text findet seine Entsprechung in der Erzählung einer totalen Verdinglichung.

Die Sprache von Scharmützel ist sorgfältig, auch zuweilen altmodisch wirkend. Dazu passen die eingefügten alten Tapetenmuster, die, sicherlich mit einem Zwinkern, den Textfluss unterbrechen und die Sensibilität für Dinge bezeugen. Sie bekommen im Kontext des Textes aber auch etwas Unheimliches. Die drastische, auch eklige Schilderung von Materie und Objekten wie Gehirnen und Gehirnflüssigkeit versetzt den metaphysischen Anwandlungen den Todesstoß.

In Ferentschiks Scharmützel geht eine Spur von der Pataphysik zur Literaturszene, die ein DDR-Erbe verwaltet. Der Roman ist bei Galrev (Galrev ist Anagramm von Verlag) erschienen, dem Verlagshaus, in dem Sascha Anderson und Rainer Schedlinski, die ehemaligen Poeten und IMs vom Prenzlauer Berg, tätig sind. Ferentschik lässt Schedlinski am Ende von Scharmützel einen Dank zukommen. Es existiert wohl eine Verwandtschaft im artistischen Sprachbewusstsein.

Die Einführung der Pataphysik in die deutsche Gegenkultur: Merve

So lassen sich sowohl Übertragungen und Aneignungen der pataphysischen Methode wie auch eine eigene pataphysische Kreativität nachweisen. Die Kultur des großen Gelächters hat es gleichwohl lange in der deutschen Gegenkultur schwer. Ob Frankfurter Schule, ob Theoriezirkel nach 68 – die verspielte Aktion und damit die Heiterkeit ist fern. Dann schafft die sogenannte Merve-Kultur Verbindungsstücke zwischen der Pataphysik und deutsch(sprachig)en Kontexten. Der in Berlin beheimatete Merve-Verlag von Heidi Paris und Peter Gente, ein Gegenentwurf zur Suhrkamp-Kultur, nimmt mit Jean Baudrillard und Harald Szeemann zwei Mitglieder des Collège de Pataphysique in sein Programm auf.

Die Merve-Kultur bietet zu den Vertretern der Frankfurter Schule und den theoriebesessenen Marxisten eine Alternative, als sie die sogenannte Franzosentheorie einführt. In diesem Verlag erscheinen ab 1977 Texte von Lyotard, Foucault, Deleuze / Guattari, Virilio und Baudrillard. Damit findet die Abkehr vom Marxismus ein Echo in Deutschland. Die Hoffnung ist erloschen, die Arbeiterbewegung hätte noch revolutionäre Energie; künstlerische Randgruppen und die Kunst selbst bilden den neuen Horizont. Unter dem Stichwort Intensität reimportiert Merve den (jetzt linken) Nietzscheanismus aus Frankreich. Baudrillard schließt an die pataphysische Wissenschaft von den imaginären Lösungen an, indem in der von ihm herausgestellten Simulation die Kunst als eine gesteigerte Illusion von Macht kenntlich wird. Im Imaginären, im Fiktionalen hat die gegenwärtige Kultur die Verbindung zur Geschichte unwiederbringlich verloren.

Merve veröffentlicht 1979 den Ascona-Kongress des Schweizers und Leiters der Documenta 5 Harald Szeemann. Vorher, 1978, hat in Berlin der Tunix-Kongress stattgefunden, mit dem sich die Gruppe der Spontis von den theoriebesessenen Marxisten der Studentenbewegung absetzt (vgl. Felsch 2016). Jetzt wird eine Öffnung zur Kunst möglich. Jahre später macht Merve die Verbindung zur Pataphysik explizit mit zwei Veröffentlichungen Baudrillards: Pataphysik des Jahres 2000 (vgl. Baudrillard 1992) und Philosophie und Kunst (vgl. Baudrillard 2005). Das Denken will Baudrillard mit einer pataphysischen Un-Logik widerständig gegen die Herrschaft der Realität machen. In seinem Stil mischt er grobe Ironie – das »Gefurze von Ubu« steht für die lächerliche Wirklichkeit (ebd.: 264) – und Grausamkeit mit Bezügen zu Antonin Artaud zu einem brisanten Cocktail, der dem überraschenden Ereignis Raum geben soll. Die zweite Publikation geht auf die Ausstellung zum 75. Geburtstag von Baudrillard zurück, die Peter Gente 2004 mit Peter Weibel am Karlsruher ZKM (Zentrum für Kultur und Medien) kuratiert. Der Anschluss an die Pataphysik macht Baudrillard und seine Adepten zu Künstlerphilosophen. Dies kommt in Kunstformen wie der Photographie, vor allem aber in ausgestellten Dingen zum Tragen. Bereits Jarrys Dr. Faustroll hatte schließlich die Erfassung der Eigenheiten von Objekten, beschrieben durch ihre Möglichkeiten, als Aufgabe der Pataphysik hervorgehoben.

Ein übertragender deutsch-französischer Humor, der Elemente des jeweils anderen aufnimmt und daraus etwas Neues macht, ist mit der bloßen Rezeption von pataphysischen Elementen noch nicht gegeben. Nun finden die spielerisch-heiteren Elemente der Pataphysik ein weiteres Feld in dem Werk La vie sexuelle d’Emmanuel Kant eines gewissen Botul. Hier schlägt die Komik transkulturelle Kapriolen. Aber auch der dunkle Grund ist nicht ganz abwesend. Denn das Vorbild für die in diesem Buch geschilderte Kolonie Neu-Königsberg in Paraguay ist die präfaschistische Kolonie Neugermania von Bernhard Förster. Botul aber ersetzt den Nietzsche-Schwager durch Kant-Jünger.

Das Erscheinen von Botul und Botuladen

Das Buch mit dem Titel La vie sexuelle d’Emmanuel Kant (vgl. Botul 1999) soll dessen Autor, den zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Philosophen Jean-Baptiste Botul, der Dunkelheit entreißen. Jean-Baptiste Botul (1896 geboren in Lairière, 1947 dort gestorben) hält vor den deutschen Auswanderern in Paraguay seinen Vortrag über die Umkehrung des Sexualakts nach Kant. Sexuelle Reproduktion geschieht nicht mehr über Penetration, sondern durch Rückzug. Sie ist von biologischer Vermehrung befreit. Der durch seine umstrittenen Medienaktionen berühmt-berüchtigte Publizist Bernard-Henri Lévy (BHL) schreibt in De la guerre en philosophie (vgl. Lévy 2010), bereits Botul habe die unverdauliche Trockenheit von Kant in La vie sexuelle d’Emmanuel Kant durchschaut. Eine schönere Werbung hätten sich die Herausgeber der Abhandlung von Botul nicht vorstellen können. Lévy ist nämlich auf eine Ente, einen canular, hereingefallen. Dass Frédéric Pagès, der in das Werk und das Leben von Botul einführt, Journalist vom Canard enchaîné ist, und das Buch im Verlag Mille et une Nuits (also in einem Märchenverlag) erschienen ist, hätte BHL stutzig machen müssen. BHL hat denn auch 2010 den prix Botul bekommen, der jedes Jahr für ein Werk verliehen wird, das sich mit Botul beschäftigt und ihn so bekannt macht und indirekt in seiner Existenz beglaubigt. La vie sexuelle d’Emmanuel Kant ist auf Deutsch 2001 bei Reclam Leipzig erschienen und nicht als Joke durchschaut worden.

Botul wird ab 1995 von Frédéric Pagès und Hervé Le Tellier erfunden. Beide arbeiten beim Canard enchaîné. Im Unterschied zur aggressiv-bissigen Satire der Kollegen von Charlie Hebdo praktizieren die Botulisten einen eher gutmütigen Humor, der andere weniger verletzt als intelligent verspottet. Während die religionsfeindliche Satire der ermordeten Karikaturisten von Charlie Hebdo mit ihren dramatischen Folgen eine französische Tradition fortsetzt, die keinen Religionsfrieden – früher nicht zwischen Katholiken und Protestanten, später nicht zwischen den Kirchen bzw. Religionen und den Anwälten der laïcité – findet, setzen die Botulisten eine andere, etwas weichere Tradition fort. Es gibt so eine Weggabelung, die den Canard enchaîné von Charlie Hebdo trennt und auch zwei Formen des Komischen ausdifferenziert. Der sogenannte No(yau)Du(r)Bo(tulien) bezieht sich immer wieder auf die Auseinandersetzung der sensualistisch-materialistischen Linie der Aufklärung mit der fleischlosen deutschen Tradition des Idealismus. Er macht sich über den trockenen asexuellen Geistmenschen Kant lustig.

Die Erfindung von Botul ist in pataphysischer Perspektive ein Gegenstück zu Perecs Disparition. Nicht das Verschwinden (disparition), sondern das Auftauchen, das Erscheinen (apparition) mittels Fabulieren, ist hier das auferlegte Programm. Die Publikation La vie sexuelle d’Emmanuel Kant ist nur ein Baustein in einer umfassenden Strategie, einen Autor Botul durch botulades mit einem Leben, einer Biographie, einem Werk, einem Stammbaum, einem Herkunfts- und Gedächtnisort, einem Preis, einem Museum, Veranstaltungen ihm zu Ehren u.a.m. in die Welt zu setzen. An den Initiativen im südfranzösischen Ort Pomy, etwa die Benennung einer Straße nach Botul und die Errichtung eines Kenotaphs, nehmen auch Deutsche teil.

All dies setzt das pataphysische Verfahren fort, das eine imaginäre Lösung, hier eine Erzeugung von Mensch, Werk und anderen Zeugnissen, verwirklicht. Botuls Bekannte sind mal erfunden wie der Schriftsteller Jaime de Montestala, mal real wie Pancho Villa, der bereits im jeu de Marseille eine Karte bildet, oder Le Lionnais und die Spionin und Hochstaplerin Marthe Richard. Es entsteht allmählich eine materiale Kultur von Spuren, die die Existenz von Botul zu bezeugen scheint. Es sind existente und doch falsche Spuren. Da immer mehr gelegt werden, gibt es zunehmende Indizien für den Philosophen. Seine Existenz wird immer wahrscheinlicher. Die Regel bzw. der Zwang ist hier, pausenlos neue Fährten auszulegen.

Frédéric Pagès bringt die Enthüllung Botuls bereits in seiner Einleitung auf den Punkt: »[D]as Kant’sche Gestirn [wird] man sich nach der Lektüre dieses Sexuallebens nicht in der Gestalt der Sonne, sondern eines beängstigenden schwarzen Lochs vorstellen.« (Pagès 2001: 9) Die Sonne als schwarzes Loch ist ein Bild, das sich bei Nerval und auch in Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft findet, wo Nietzsche dazu aufruft, das zu tun, »was der Erhaltung der menschlichen Art dient« (Nietzsche 1980: 352). Was Botul mit der Frage nach dem Sexualleben entschleiert, ist Kants Angst vor dem weiblichen Geschlecht. Der Autor greift hier Wendungen aus der Fröhlichen Wissenschaft Nietzsches auf: »Man sollte die Scham besser in Ehren halten, mit der sich die Natur hinter Räthsel und bunte Ungewißheiten versteckt hat. Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen? Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, Baubo?« (Ebd.)

Pagès hat sich von Batailles Nietzsche-Lektüre inspirieren lassen. Bataille feiert den ›verfemten Teil‹, die orgiastische Sexualität ist das Gegenstück zu Kants Asexualität.

Das Sexualleben selbst wird krude, ohne jede Scham in einem anderen, fast gleichzeitig erschienenen Text geschildert. Der Titel La vie sexuelle d’Emmanuel Kant kehrt fast gleichlautend und gleichzeitig wieder in La vie sexuelle de Cathrine M. (vgl. Millet 2001), dem Skandaltext von Catherine Millet von 2001.

Das schwarze Loch bekommt zwei Dimensionen. Es ist nicht nur das weibliche Geschlecht, sondern auch das Nichts, aus dem der Philosoph Botul und sein Werk gezaubert werden. Die entscheidende Information – die Nichtexistenz von Botul – bleibt verborgen, ist aber Bedingung für das gesamte Geschehen des Botulismus und der Botuladen.

Ein gekreuzter Effekt: Witzels Parodie der Pataphysik

Frank Witzels Roman Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 (vgl. Witzel 2016) spiegelt umgekehrt zur Kant-Parodie der Botulisten die Rezeption der Franzosentheorie in der alten Bundesrepublik, um damit den zusammengesponnenen Lebenslauf eines 1955 in Wiesbaden geborenen Manisch-Depressiven aufzuschlüsseln. So wie die Pataphysiker in Frankreich den deutschen Ernst durch den Kakao ziehen, versucht sich Witzel an parodistischen Neurahmungen der ›Franzosentheorie‹. Witzel lässt sein heranwachsendes Alter Ego eine Verwicklung in die Anschläge der RAF zusammenphantasieren. Er verquickt die Gewaltgeschichte der Jahre nach 1968 und subjektive biographische Teile, darunter psychiatrische Erfahrungen, mit einer Kontroverse am Leitfaden von poststrukturalistischen Auffassungen von Wahn. Das nichtausgewiesene Zitat aus Derridas Le monolinguisme de l’autre: »Je n’ai qu’une langue, et c’est pas la mienne [sic]« (ebd.: 535), ist gegen Heideggers Auffassung gerichtet, er könne nur in der eigenen, das heißt der deutschen Sprache denken. Der Romantext referiert dann Derridas Weigerung, den psychisch Kranken als den schönen Wilden und besseren Menschen darzustellen. Das vorletzte Kapitel 97 »Mon corps, ce papier, ce feu« zitiert einen Text, in dem Foucault Derridas Vorwurf zurückweist, den Wahnsinn zu romantisieren. Witzel verarbeitet auch das provokative Denken von Deleuze und Guattari, die den Schizo als das befreite neue subversive Subjekt ausgeben (vgl. Deleuze / Guattari 1972).

Deleuze selbst hat die Pataphysik als Vorwegnahme einer wahren Phänomenologie bezeichnet, die die Metaphysik im Namen des unvorhersehbaren Ereignisses, des Lebens selbst überwindet (vgl. Deleuze 1993: 125). Witzel parodiert Mille Plateaux / Tausend Plateaus von Deleuze / Guattari (vgl. 1992), wonach Rhizomatik Popanalyse ist. Die Hauptfigur in Witzels Roman interpretiert Beatle-Songs, etwa das Album Rubber Soul, mit Deleuzes Begriffen. Die repressiv-bedrückende wie befreiende Zeitstimmung wird immer wieder mit Musiktiteln und der Konkurrenz von Beatles und Rolling Stones erzeugt. Im Jahr 1969, das ist das Jahr des Romantitels, kommt das Album Abbey Road der Beatles heraus. Darin befindet sich das Stück Maxwell’s Silver Hammer mit den Zeilen: »Joan was quizzical, studied pataphysical / Science in the home / Late nights all alone with her test tube«. Etliche Titel der Beatles tauchen auch in Witzels Roman auf, aber ausgerechnet Maxwell’s Silver Hammer nicht.

Das unheimliche Klima sowie die manisch-depressive Verfassung des Ich-Erzählers spiegeln eine Generationserfahrung in den Jahren nach 1968, wie sie für die »Zaungäste« (Felsch / Witzel 2016: 59), das heißt für Menschen, typisch ist, die in den Jahren ab 1953 geboren, also keine Achtundsechziger mehr sind. Die Zeit steht still. Der Wahnsinnige ist nicht nur Opfer, der Wahn ist auch eine Ausdrucksweise, ein Widerstand (vgl. ebd.: 85). Der Vorzug des Wahns ist es, in Imaginationen gegen die geheimen Zonen zu wirken (vgl. ebd.: 110). Witzels Buch macht die unheimliche Kehrseite der harmlosen BRD, ihre »Latenz« (Gumbrecht 2016) kenntlich. Der roman noir et fou erfasst die Stimmung der alten Bundesrepublik mit Kindheit in den Fünfzigern und Sechzigern mit ihren Abgründen, alten Nazis, Triebtätern, Entführern, der RAF und anstößigen Scherzartikeln.

In dem Roman interviewt ein Journalist des Magazine Pataphysique (M ’P) einen nach Frankreich ausgewanderten bzw. geflohenen deutschen Psychoanalytiker namens Dr. Bernhard Lückricht. Lückricht, der frühere Freund und Komplize des Ich-Erzählers, also Bernd, ist jetzt der Analyst des Ich-Erzählers geworden, er hat den Manisch-Depressiven therapiert. Der Witz hier ist, dass der interviewte Lückricht das pataphysische Rezept anwendet, nämlich die imaginäre Lösung, die Erfindung von Lebensläufen, wählt, der Interviewer vom M ’P hingegen an Physik, am geraden ›realen‹ Lebenslauf, klebt. Lückricht probiert in seiner Therapie eine erfundene Kindheit in der Nazizeit oder in einem anderen Land aus, beim manisch-depressiven Ich-Erzähler wie auch bei sich selbst. Die Therapie besteht im Konfabulieren, wohingegen der Interviewer den interviewten Lückricht als ehemaligen RAF-Terroristen enttarnen, somit dessen »verfemten Teil« (Witzel 2016: 728) identifizieren will. Der Interviewer vom M ’P schwafelt in einem aus Heidegger und Bataille zusammengerührten Kauderwelsch. Batailles Formel vom ›verfemten Teil‹ soll jetzt in einem psychologistischen Kurzschluss auf die terroristische Vergangenheit des Interviewten weisen. Der allerdings wird immer wütender. Lückricht entzieht sich dem Zugriff, er zeigt nur noch das ›Rücklicht‹, wie es das Anagramm seines Nachnamens in pataphysischer Manier sagt. Das Interview endet im Eklat. Die besondere Heiterkeit der Pataphysik überlebt im konfabulatorischen Erzählmodus und im Entzug von Sinn und Identität.

Dass Witzel 2012 für ein unfertiges Manuskript des Romans der Robert Gernhardt Preis zuerkannt wurde, ist nur schlüssig. Schließlich steht Gernhardt für die neue Frankfurter Schule, eine für die Satirezeitschrift Titanic schreibende Gruppe von Komikern, die Adorno persifliert und sich auch von deutscher Innerlichkeit absetzt. Ihr Witz und ihre Spielfreude können wohl am ehesten an die pataphysische Tradition angeschlossen werden. Es handelt sich um Spielwiesen, auf denen die Versatzstücke – Objekte, Textfetzen aus der ›Franzosentheorie‹ – jahrzehntelanger Übertragungsgeschehen verstreut sind. Sie sind im Wortsinne ent-stellt.

Lutembi oder der komische Effekt von unebener Materie

Lebendige, nicht unbedingt menschliche Wesen können das Collège de Pataphysique leiten. Hier ist der Schlüssel für das Krokodil auf der Böhmischen Straße in Berlin. Es handelt sich um Lutembi. Lutembi, Krokodil am Viktoriasee in Uganda, ist Gerichtsinstanz. Es verschlingt denjenigen, der schuldig ist. Es schreibt Texte in den Sandstrand. Anne Wilsdorf, elsässische Kinderbuch-Autorin, Nichte von Tomi Ungerer, 1954 in Luanda geboren, schildert in Lutembi aime trop les filles (vgl. Wilsdorf 2002), wie das Krokodil Lola so heftig liebt, dass es das kleine Mädchen verschlingt. Das, was man überaus liebt, verleibt man sich ein. Die starken Emotionen, Lachen und Sichfürchten, ähneln sich und heben sich auf.

Lutembi ist seit den fünfziger Jahren Mitglied im Collège. Es wird 1997 zum neuen Vorsitzenden des Collège gewählt, dies allerdings heimlich, denn das Collège ist zwischen 1975 und 2000 in Dunkel gehüllt. Seit 2007 ist Lutembi verschollen. Es scheint zu wandern. 2015 war es in der Böhmischen Straße zu bestaunen. 2016 ist es dort verschwunden. Wo mag es inzwischen aufgetaucht sein?

Warum aber ausgerechnet ein Krokodil? Die Antwort liegt in den sehr ausgeprägten Unebenheiten und der horizontalen Lage dieser Kreatur. Bereits in Carl Gustav Carus’ Stufenleiter der Arten steht das Krokodil ganz unten in der Schöpfung, es kriecht am Boden und ist unförmig. Ganz oben thronen die Heiligen, die Engel, Marie und Christus (vgl. Weigel 2015: 354-356). Genau dies kehrt das Collège de Pataphysique um. Das Krokodil ist in seinen Kanten, Zacken, Vorsprüngen das exakte Gegenteil der Kugelform. Es wird zum Oberhaupt des Collège und parodiert so nicht nur die Stufenleiter der Engelskosmologie, sondern setzt auch einen Kontrapunkt zum kugelrunden Père Ubu. Jegliche Referenz auf Transzendenz ist verkehrt in eine Welt der Unebenheiten, die vom Viktoriasee bis zur Böhmischen Straße in Berlin und weiter reicht. Der personale Dritte verschwindet zugunsten der wandernden Bestie. Die ihr innewohnenden physisch-haptischen Eigenschaften, ihre intrinsische Resistenz (vgl. Bredekamp 2015: 229f.) – die harte abweisende Panzerung, die zackige Linie – widerstehen als Gestalt der ästhetischen Einhegung etwa durch Vorstellungen vom Schönen. Die Übertragbarkeit beruht auf Formgesetzen, die Einzelfälle und doch grenzüberschreitend sind. Die unförmigen Wesen sind attraktiv für deutsch-französische Transkulturalität, da sie ein Pendant zur schön-eleganten S-Linie, der wavy line bilden. Der Heiterkeitseffekt entsteht dadurch, dass das Wesen zwar immer wieder de- und rekontextualisiert, nicht aber assimiliert wird. Das nichtzugehörige Dritte liegt im Wege und amüsiert.

Schluss

Die pataphysische Komik ist deutlich durch Prozesse von transkulturellen Übertragungen gekennzeichnet. Dabei lassen sich mehrere Momente unterscheiden. Jarry selbst integriert Fechners paradoxe Formel der Kugelform durch viele Unebenheiten, um seinen Père Ubu zu zeichnen. In der Zwischenkriegszeit machen Avantgarden Ubu zu einer emblematischen Figur von Lächerlichkeit und Grausamkeit, diejenige der anderen und der eigenen. In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts entsteht die Wissenschaft von den widerspruchsfreien imaginären Lösungen durch eine Aneignung der axiomatischen Begründung der Mathematik Hilberts. Erst ab den sechziger Jahren strömen pataphysische Anregungen in die deutsche Gegenkultur ein. Es entstehen deutschsprachige Texte – von Helmlés kongenialen Übersetzungen und lipogrammatischen Romanen bis zu Ferentschiks Textexperimenten –, die ebenfalls die Methoden des OULIPO praktizieren.

In jüngster Zeit kommt es dann zu gekreuzten Konstellationen. Im Botulismus parodieren französische Autoren den kantischen Idealismus, während Witzel die deutsche Aneignung des Poststrukturalismus einer Verspottung aussetzt. Das Krokodil Lutembi, ein transkultureller Gegenstand, verkörpert eindrucksvoll die leiblich-räumlichen Verschiebungen der Komik.

Angesichts dieser komplexen Landschaft von Verschränkungen ist es wenig sinnvoll, die Pataphysik als ein allein französisches Phänomen von Heiterkeit zu begreifen. Vielmehr bildet sie ein drittes Feld, das sich sowohl von der scharfen religionskritischen Linie wie auch von der heiter-tragischen romantischen Linie absetzt. Ist der Botulismus ganz frei von der aggressiven Polemik von Charlie Hebdo, so macht umgekehrt die pataphysische Komponente die deutsche Gegenkultur nicht nur spielerischer, sie legt auch einen unheimlichen Bodensatz von Nachkriegsdeutschland frei. Die abgründige Dimension der Heiterkeit zeigt sich auch in der Vorliebe der Pataphysiker für geheime und unheimliche Gestalten, für mal reale, mal erfundene Spione, Hochstapler und im anderen Land Untergetauchte.

So bespielt die pataphysische Komik zahllose Register der transkulturellen Übertragungen, von Rezeptionsprozessen über grenzüberschreitende Netzwerke und alternierende Medien (Texte, Bilder, Monumente, Objekte) bis zu wandernder sperriger materieller Kultur. Die transkulturelle Dimension der Pataphysik steht letztlich für die Unmöglichkeit, sich durch Komik der eigenen Lächerlichkeit zu entledigen.

Anmerkungen

1 | »Dr. Mises hat die primitivsten bis zu den komplexesten Wesen beschrieben […], den ersten fehlen alle Zufälligkeiten, Auswüchse und Eigenschaften, was ihnen die Kugelform bewahrt; […] den zweiten sind so viele Einzelheiten hinzugefügt, die sie persönlich machen, so dass sie parallel hierzu die Kugelform haben, nach dem Grundsatz, dass der glatteste Körper zugleich der Körper ist, der die meisten Unebenheiten hat.« (Übers. T.K.)

2 | »]D]ie Wissenschaft der imaginären Lösungen, welche die Eigenschaften der Objekte, beschrieben durch ihre Möglichkeit, symbolisch mit den Denkmustern in Einklang bringt« (Übers. T.K.).

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