The article attempts to explore the semantic function of the intracultural alien in a novel by the Georgian author Grigol Robakidse, Die Hüter der Grals, that was written in 1937 during the author’s exile in Germany. The novel is, in its performative character, a reaction on the sovietization of Georgia: It constitutes affective auto- and hetero-images with the purpose of triggering certain attitudes and actions on the part of readership. By separating auto- and hetero-images based on ideological features instead of ethnical ones, Robakidse represents Georgia as a part of the Western culture. At the same time the construction of the Georgian self-image addresses rather a European or German recipient and aims to make them familiar with this unknown country. Hence, Die Hüter des Grals may be read as an exophonic project that was supposed to establish a connection between Georgian and Western identities on the one hand and, on the other, to oppose them both to Bolsheviks as their cultural other.
Title:The Intracultural Alien in Grigol Robakidse’s Novel Die Hüter des Grals
Keywords:Robakidse, Grigol (1882-1962); grail; alien; intraculturality; exophony
In der imagologischen Forschungsliteratur zu den literarischen Repräsentationen der Fremdheit wird diese vorwiegend mit dem kulturell Andersartigen und Unvertrauten gleichgesetzt (vgl. Florack 2007; Leskovec 2009; Mecklenburg 2008). Sehr sporadisch finden sich in den einschlägigen Abhandlungen Hinweise auf »Überlagerung und Übertragung von Alteritäten, das Ineinanderspielen von Differenzen der Sprache und Kultur, Klasse und Rasse, des Geschlechts, Lebensalters usw.« (ebd.: 12), auf das »binnennational Andere« (Neumann 2009: 386) und auf das »intrakulturelle Fremde«, d.h. »Fremde im eigenen Land« (Uerlings 2006: 19). Dabei ist die Unterscheidung von inter- und intrakultureller Differenz angesichts der Vielfalt von Differenzaspekten keinesfalls zu vernachlässigen (vgl. Mecklenburg 2008: 12). Die vorliegende Arbeit stellt einen Versuch dar, einen Beitrag zur Aufhebung dieses Forschungsdesiderats zu leisten und anhand des 1937 in deutscher Sprache erschienenen Romans des georgischen Exilautors Grigol Robakidse das semantische Funktionspotential des intrakulturell Fremden zu untersuchen.
Grigol Robakidses Roman Die Hüter des Grals ist zu einem Zeitpunkt verfasst worden, zu dem sich der Autor bereits im deutschen Exil befand, während seine Heimat unter der sowjetischen Herrschaft stand. Diese Umstände müssen wohl die Thematik und das Sujet des besagten Romans maßgeblich geprägt haben. Da Grigol Robakidse mit dem Naziregime auf gutem Fuß stand, setzte die Rezeption seines literarischen und essayistischen Nachlasses in seiner Heimat erst nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Aufhebung der Zensur ein. Auch in deutscher Sprache liegen mittlerweile zwei umfangreichere Abhandlungen zu diesem ein halbes Jahrhundert lang vernachlässigten georgisch-deutschen Autor vor: Grigol Robakidse (1880-1962). Ein georgischer Dichter zwischen zwei Sprachen und Kulturen – vorgelegt von Nugescha Gagnidse und Margret Schuchard (vgl. 2011) und Tamara Kirschkes Monographie Grigol Robakidse und sein literarisches Schaffen (vgl. 2014). Im Zusammenhang mit der Rezeption von Robakidses Werk in Deutschland seien außerdem die neulich im Arco Verlag erschienenen Bücher Magische Quellen: Kaukasische Novellen und Die gemordete Seele (Roman) erwähnt, die von Alexander Kartosia herausgegeben wurden (vgl. Robakidse 2018a; 2018b).
Die Schwerpunkte der bisherigen Forschung zu dem Roman, der im Fokus dieses Beitrags steht, liegen auf seinen weltanschaulichen, biographischen und politischen Zusammenhängen. Die Hüter des Grals betrachtet man als »Stelldichein der Bilder, die das gesamte Werk Robakidses prägen« (Kirschke 2014: 221), aber auch als einen Roman, in dem die Zusammenarbeit des Autors mit den georgischen Symbolisten (vgl. Gagnidse / Schuchard 2011: 29) dargestellt wird. Anhand des Briefwechsels mit Ghita Strachwitz weist man ferner auf eine starke Identifikation Robakidses mit seinem Roman (vgl. Kirschke 2014: 240-252) hin, was als ein Indiz für die Bedeutung dieses Textes im Gesamtwerk des Autors gelten kann. Trotz einiger Parallelen zum mittelalterlichen Parzivalstoff und aufgrund des Titels, der einen mittelalterlichen Inhalt vermuten lässt, wird dem Text prinzipielle Gegenwartsbezogenheit bescheinigt (vgl. ebd.: 253-267). Tamara Kirschke macht auf die gegen den Bolschewismus gerichtete Thematik des Romans aufmerksam. Dazu merken auch Nugescha Gagnidse und Margret Schuchard an: »Hier soll das Vorgestern in der von der GPU2 beherrschten Gegenwart das Morgen retten.« (Gagnidse / Schuchard 2011: 155)
Obwohl ursprünglich in georgischer Sprache verfasst3 (vgl. ebd.: 69), sagt der Text ganz explizit einiges über die georgische Identität (»Georgiertum«) so aus, als ob er für eine nichtgeorgische Leserschaft bestimmt wäre. Wie aber in dem oben angeführten Forschungsüberblick wohl ersichtlich geworden ist, bleiben die imagologischen Aspekte von Grigol Robakidses Hüter des Grals nach wie vor ein Forschungsdesiderat. Was sind die Hauptmerkmale des Selbstbildes, das in diesem Roman entworfen wird? In Abgrenzung von welchen Fremdbildern kommt diese Konstruktion zustande? – Um dem Anspruch, diese Fragen zu beantworten, gerecht werden zu können, soll als methodische Vorgehensweise das bereits seit einigen Jahrzehnten innerhalb der vergleichenden Literaturwissenschaft etablierte imagologische Instrumentarium verwendet werden. Dabei wird der Roman als ein Beitrag zur Rhetorik der Nation verstanden, die »vor allem auf Bewusstseins- und Emotionslenkung im Rahmen öffentlicher Diskurse« zielt (Neumann 2009: 11). Sie besteht aus den (wiederkehrenden) Motiven und Verfahren, die zur Konstruktion suggestiver Images genutzt werden können (vgl. ebd.: 10).
Sie setzt auf die Mittel der Anschaulichkeit, Aufmerksamkeitssteigerung, der Eingängigkeit und Evidenzerzeugung, um durch die Bezugnahme auf ein gemeinsames (Bild-)Gedächtnis rezipientenseitig ein mentales Bild des national Eigenen und Fremden hervorzurufen, das so anschaulich, lebendig und affektiv aufgeladen ist, dass es kollektive Denkweisen beeinflussen kann. (Ebd.: 11)
Zu den Verfahren der Rhetorik der Nation, die zur Konstruktion und Dissemination von Fremd- und Selbstbildern eingesetzt werden können, gehören unter anderem kulturell vorherrschende Plotmuster, Metaphern, Figurencharakterisierungen und -konstellationen, die Raumdarstellung und Perspektivenstruktur (vgl. ebd.: 10f.). Im Folgenden soll diesen Elementen und Strukturen des Romans besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.
Bevor der Text einer imagologischen Analyse unterzogen wird, sei kurz das Sujet des Romans skizziert: Der Protagonist des Romans ist Levan Orbelli, ein Dichter, der während eines Besuchs bei einem alten Schlossherrn auf dem Lande, dem Thavad Giorgi, zu seinem Nachfolger, sprich: zum nächsten Hüter des Grals, berufen wird. Levan Orbelli gelingt es, unter seinen Bekannten, die hauptsächlich dem Künstlermilieu angehören, neun Männer (Gralsritter) auszuwählen, mit denen zusammen er nun die Schale des (neuen) Grals hüten will. Der Gral soll – so erzählt es dieser Roman – in uralten Zeiten als Gefäß für den Traubensaft vom Kreuz der Heiligen Nino gedient haben, also derjenigen Heiligen, die das Land christianisiert haben soll. Der Gral wird als das Herz Georgiens periphrasiert und ist somit mit dem Geist und dem Glauben des Volkes gleichzusetzen. Als Antagonisten treten im Text die Träger der Sowjetmacht auf, die die Vernichtung des georgischen Grals anstreben. Die Handlung ist mit dem historischen Aufstand des Jahres 1924 aufs engste verwoben. Obwohl der Aufstand gewaltig niedergeschlagen wird, wird der Gral durch die Selbstopferung Levan Orbellis vor den Bolschewiken gerettet und in einem hohlen Baum versteckt. Das Fazit von Nugescha Gagnidse und Margret Schuchard lautet: »Dass sie letztlich scheitern, wird als tragischer Triumph des Untergangs dargestellt, da sie den Keim für neues Leben der Nation bewahren konnten.« (Gagnidse / Schuchard 2011: 156)
Ein Selbstbild umfasst diejenigen »Eigenschaften, die die Autoren in Literatur, Geschichtsschreibung, politischer Essayistik und in den Medien den Angehörigen ihres eigenen Volkes, ihrer eigenen Kultur und / oder ihrem eigenen Land zuschreiben.« (Beller 2013: 94) Im Roman Die Hüter des Grals beziehen sich die Selbstbilder nicht nur auf Figuren, sondern auch auf bestimmte Landschaften und Orte, Sitten und Bräuche, einzelne historische Begebenheiten und sonstige Bestandteile der georgischen Kultur, wie Sprache, Literatur, Trachten, Sagen und mythische Vorstellungen.
Zu den Figuren, die im Text als Träger der nationalen Identität auftreten, zählen vor allem der Dichter Levan Orbelli und der alte Fürst Giorgi. Der Erstere wird wie folgt charakterisiert: »ziemlich hochgewachsen, mit wohlgefügten, geschmeidigen Gliedern, stark gebaut« (Robakidse 1943: 94), mit großen, leuchtenden Augen, die seine innere Unruhe, das Feuer in ihm zum Ausdruck bringen (vgl. ebd.). Zugleich wird er explizit als männlich und in sich verschlossen dargestellt (vgl. ebd.: 10). Seine träumerische Natur (vgl. ebd.: 22) und sein apokalyptisches Fernweh (vgl. ebd.: 24f.) müssen es wohl bewirkt haben, dass ihm im Text Epitheta wie Fremdling (vgl. ebd.: 9), Mystiker (vgl. ebd.: 239), ein anderer Mensch (vgl. ebd.: 212) oder auch ein sonderbarer Mann, nahe am Wahnsinn (vgl. ebd.: 24), zugewiesen werden. Er gibt auch selber zu, krank (vgl. ebd.: 23) und furchtbar müde (vgl. ebd.: 24) zu sein, was ihn zu einer devianten und somit typisch modernen (Künstler-)Figur macht (vgl. Feulner 2010; Sørensen 2002: 118). Levan Orbelli weist ferner exzessive Emotionalität auf. Von ihm heißt es im Text, er gebe sich jedem Gefühl vollkommen hinab (vgl. HG: 89), so dass er bereit sei, den Sonnenweg der Liebe (vgl. ebd.: 197) zu gehen. Vielleicht ist es eben die Dominanz der Gefühle über die Vernunft, die den Protagonisten als einen ausgewiesenen Tatmenschen (vgl. ebd.: 26), ein Kind (vgl. ebd.: 162, 194, 216) oder einen Ritter (vgl. ebd.: 28) erscheinen lassen. All diese Eigenschaften in ihrer Gesamtheit erlauben dem Fürsten Giorgi, in dem Dichter einen künftigen Hüter der Heiligen Schale (vgl. ebd.: 186, 212) zu erblicken.
Der Fürst (auf Georgisch: Thavad) Giorgi wird im Text als Verkörperung der georgischen Rasse5 (vgl. ebd.: 41) schlechthin präsentiert, und zwar als:
groß und kräftig, breit in den Schultern, schmal und geschwungen in den Lenden, mit wohlgeformter Adlernase und honigfarbenen tiefen, stillen Augen. Die kastanienbraunen Haare lagen glatt und weich auf dem rassigen Schädel, der zarte und unendlich reine Teint machte die mattgoldene Haut durchsichtig. (Ebd.)
Die Figur des Fürsten weist etliche Gemeinsamkeiten mit der Figur Levan Orbellis auf. Ist jener von einem apokalyptischen Fernweh gekennzeichnet, so liest man im Text zu Thavad Giorgi: »In seinem Blick lag eine innere Ferne.« (Ebd.: 42) Auch er wird als fremdartiger / ungewöhnlicher Mann (vgl. ebd.: 201, 206) beschrieben, dem viel Sagenhaftes (vgl. ebd.: 203) und ein gewisser Zauber (vgl. ebd.: 207) anhaftet. Verfasst Levan Orbelli Gedichte, so heißt es vom Fürsten, er meistere die georgische Sprache wie ein Dichter (vgl. ebd.: 42). Dem in sich verschlossenen, träumerischen Dichter nicht unähnlich, wird auch der alte Fürst gelegentlich von abgründiger Schwermut befallen (vgl. ebd.: 44f.). Die Sonne spielt auch in Bezug auf den Fürsten eine kaum zu vernachlässigende symbolische Rolle. Er wird nämlich als ausgesprochener Sonnenmensch (vgl. ebd.: 44) bezeichnet. Genauso wie Levan Orbelli ist Thavad Giorgi ein Ritter (vgl. ebd.: 42), er gehört also dem Adel an und ist folglich – so die Logik des Textes – der Schützer des Volkes (vgl. ebd.: 238). Der auffallende Unterschied zwischen den beiden besteht in der Rollenverteilung, die eindeutig an die in Ritterromanen anzutreffende Konfiguration erinnert, und zwar im Modellverhältnis zwischen dem Herrn und dem Ritter. Während Levan Orbelli die Rolle eines Ritters zukommt, wird von Thavad Giorgi die des Herrn beansprucht: »An seiner Haltung spürte man sofort den Herrn.« (Ebd.: 42, vgl. auch 95) Fasst man die Charakterzüge beider Figuren in einer Tabelle zusammen, so ergibt sich folgendes Bild:
Tabelle 1: Selbstbilder der Figuren
Levan Orbelli | Thavad Georg | |
Aussehen |
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Weltanschauung |
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Fähigkeiten |
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Funktion |
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Die Tabelle weist auf eine gewisse Ähnlichkeit der beiden Figuren vor allem angesichts ihrer Emotionalität und ihres Fernwehs, ihrer Nähe zur Dichtung und ihrer Verbindung zum Sonnensymbol hin. Zudem sind die beiden Sonderlinge und machen auf die Mitmenschen einen etwas befremdenden Eindruck. Der Unterschied besteht allein in ihrer Funktion in Bezug auf den Gral: Während Thavad Giorgi als Herr und Besitzer der wunderbaren Schale fungiert, ist Levan Orbelli die Rolle eines Gralsritters vorbehalten.
Im Roman wird die georgische Identität (»Georgiertum«, ebd.: 67, 118) nicht nur anhand einzelner Figuren exemplifiziert, sondern auch explizit thematisiert. Die Ausdrücke wie »wir / ihr Georgier« (ebd.: 80, 167, 205), »georgische Wesensart« (ebd.: 19, 72), das Verhalten »auf georgische Weise« (ebd.: 133) und »georgische Rasse« (ebd.: 41) kommen im Text relativ häufig vor. Nach dem im Text entworfenen Modell gehören zu dem nationalen Charakter eines typischen (oder vielleicht sogar eines idealen) Georgiers folgende Eigenschaften:
Der Text exponiert zudem bestimmte kulturelle Praktiken, die er zu »essentieller Wesensart stilisiert« (Neumann 2009: 3). Dabei handelt es sich vor allem um ein georgisches Festmahl, das in einem speziellen Kapitel (»Das Sonnenmahl«) ausführlich beschrieben wird. Trinksprüche (»Ohne Trinkspruch keine Tafel in Georgien«, HG: 12), Tanz (»Die Urrhythmen des Kaukasus erdröhnten.« Ebd.: 63), Deklamieren von Gedichten (»In Georgien ist ein Gedicht immer ein Ereignis.« Ebd.: 66), Gesang (vgl. ebd.: 74) und Gebet (vgl. ebd.: 77) werden für unentbehrliche Komponenten einer feierlichen Zusammenkunft erklärt. Es wird gezeigt, dass ein solches Festmahl von einem Tischführer, dem Thamada (vgl. ebd.: 60), geleitet wird, dem beinah die Rolle und die Autorität eines Priesters zukommt (vgl. ebd.: 67), indem er für die Herstellung einer hierarchischen Ordnung (vgl. ebd.: 60f.) verantwortlich gemacht wird. Es ist beachtenswert, dass die besagte Ordnung einerseits als ein Ritual sakralisiert (vgl. ebd.: 67) und andererseits als eine natürliche Erscheinung essentialisiert (vgl. ebd.: 60f.) wird. Somit werden im Text das Natürliche und das Sakrale gleichgesetzt und mit dem georgischen Nationalcharakter in Verbindung gebracht, was typisch für die Rhetorik der Nation ist, welche sich bekanntlich der Naturalisierungsverfahren zur Stärkung der Normierungsansprüche der Stereotype bedient (vgl. Neumann 2009: 52) und den nationalen Charakter als natürliche Gegebenheit darstellt (vgl. Leerssen 2000: 272).
Im Roman wird ein weiteres Naturalisierungsverfahren eingesetzt, indem mythisierte Landschaftsbeschreibungen ins Spiel gebracht werden, »die zur Produktion von Realismuseffekten beitragen und nationale Charakteristika unter scheinbarer Umgehung des Signifikats der Natur selbst zuschreiben« (Neumann 2009: 52). Robakidse entwirft nämlich die sogenannten Nationallandschaften, um auf diese Weise ein Bild der patriotischen Heimat zu prägen, wie es von Lutz Rühling konzeptualisiert worden ist (vgl. Rühling 2014: 22). Im Unterschied zu der parentalen Heimat als einem Geburtsort zeichnet sich nach Rühling die patriotische Heimat dadurch aus, dass sich die dazugehörigen Vorstellungsimagines »weniger auf objektive Eigenschaften, die die Person den Dingen um sich herum zuspricht oder zugesprochen hat (wie Landschaft, Häuser, Städte etc.)«, beziehen, »sondern auf affektive und situativ bedingte Qualitäten« (ebd.: 23f.). »Solche affektiven stereotypen Vorstellungsimagines von Heimat besitzen meist eine der […] identitätsbildenden Funktionen, denn sie tragen dazu bei, zu definieren, als was sich die entsprechende Person selbst sieht; es handelt sich um Imagines des Selbst.« (Ebd.: 24; Hervorh. i.O.) Unter den Nationallandschaften, die im Roman geschildert werden, ist die Repräsentation der georgischen Hauptstadt Tbilissi besonders hervorgehoben. Sie ist affektiv besetzt und emotional aufgeladen. So liest man beispielsweise im Text: »In jedem Häuschen schlägt das Herz, es lauscht dabei dem Herzschlag der anderen.« (HG: 15) Tbilissi selber wird als Herz Georgiens (vgl. ebd.: 233) bezeichnet. Die Stadt sei unsagbar schön und schicksalsträchtig wie eine Braut (vgl. ebd.: 15).
Aus diesen Beobachtungen zur Raumdarstellung in den Hütern des Grals geht hervor, dass Georgien darin sowohl als »soziale Heimat« als auch als »habitäre Heimat« (zu den Begriffen siehe Rühling 2014: 23) präsentiert wird, d.h., das Land fungiert hier als ein Ort, dessen Bedeutung sich daran bemisst, dass dort soziale Kontakte gepflegt (vgl. oben Festmahl) werden und zugleich gewohnt wird. Etwas anders verhält es sich dagegen mit sonstigen Ortsbeschreibungen im Roman. Sätze wie:
samt der Beschreibung der Heerstraße Georgiens (vgl. ebd.: 165) sind ganz eindeutig darauf angelegt, den Lesern das Wissen über ein unbekanntes Land zu vermitteln (vgl. die demonstrative Funktion des Anschauungsraums bei Haupt 2004: 77). Dies legt die Vermutung nahe, dass der Autor beim Verfassen des Romans einen heterokulturellen Rezipienten vor Augen hatte, d.h., der Text ist voraussichtlich von vornherein für eine nichtgeorgische bzw. deutsche oder europäische Leserschaft bestimmt gewesen. Die Schilderungen des Raums (genauso wie alle anderen Elemente des Textes) dienen dazu, die besagte Zielgruppe über das ihnen unvertraute Land zu informieren und sie womöglich für dieses fremde Land zu gewinnen. Offensichtlich verfolgt Robakidse mit all den außerordentlichen Figurencharakterisierungen (Fernweh, Fremdartigkeit, Neigung zur Dichtung, Wehmut usw.), der Beschreibung der einzigartigen Tischsitten und der mystischen Landschaften den Zweck, das Land zu romantisieren (im Text ist auch explizit die Rede von dem romantischen Duft und dem Boden Georgiens, vgl. HG: 103) und zugleich Indizien für dessen besondere Funktion vorzuführen. So steht beispielsweise im Text: »Georgiens hohe Aufgabe ist es, zwischen Gog und Magog6 etwas ganz Großes zu bestehen« (ebd.: 37). Um zu zeigen, dass das Land dieser Aufgabe gewachsen ist, geht Robakidse auf einzelne Aspekte der georgischen Kultur und der Geschichte Georgiens ein. So finden sich im Text Reflexionen über die georgische Sprache (vgl. ebd.: 62, 184), über die georgischen Sitten und Bräuche (wie z.B. der Szorperi-Brauch7, vgl. ebd.: 71), die georgische Literatur und vor allem über das berühmte Epos von Rusthaweli Der Mann im Pantherfell8 (vgl. ebd.: 56, 69, 71) oder über den beinah mystischen Zusammenhang zwischen dem heiligen / weißen Georg und der Bezeichnung des Landes9 (vgl. ebd.: 69, 85). Auch die georgische Hymne (vgl. ebd.: 10) und die georgische Tracht (vgl. ebd.: 55) dürfen in diesem Bild eines exotischen Landes nicht fehlen. Der Roman bietet außerdem eine Übersicht über die ausschlaggebenden Ereignisse aus der Geschichte Georgiens (vgl. ebd.: 145, 177, 231). Die wiedergewonnene Selbständigkeit 1920 (vgl. ebd.: 10), der Märtyrertod von Davith und Konstantin10 (vgl. ebd.: 41), Zotne Dadianis Heldentat11 (vgl. ebd.: 77), die Didgorischlacht12 (vgl. ebd.: 179), die gegenbolschewistische Bewegung (vgl. ebd.: 148, 181, 190), der Aufstand Kakuza Tscholokschwilis13 (vgl. ebd.: 178) – all dies setzt sich zu einer kontinuierlichen Ereignishaftigkeit zusammen, welche von einem Volk mit einer uralten Geschichte und einer langen Kulturtradition zeugen soll.
Unter Fremdbildern versteht man in der Imagologie
die Darstellung fremder Länder, Völker und Kulturen. Die Autoren bringen direkt oder in metaphorischer Umschreibung ihr Urteil zum Ausdruck über alles, was ihnen am Aussehen, der Religion, den Sitten und sozialen Verhältnissen anderer Völker fremd, vom eigenen verschieden und bemerkenswert vorkommt. (Beller 2013: 94)
Zu beachten wäre außerdem, dass »die nationalen Charakteristiken im literarischen Text als positiv oder negativ bewertete Eigenschaften erscheinen, die der jeweiligen Nation in der Form von Vorurteilen, Stereotypen und Klischees zugeschrieben werden« (Beller 2006: 21). Zugleich sind die Fremdbilder und Selbstbilder aufeinander bezogen, indem ihnen die gegensätzlichen Eigenschaften zugeschrieben werden, so dass die Selbstbilder immer positiv und die Fremdbilder dagegen negativ erscheinen (vgl. ebd.: 118-120).
Als Fremde fungieren im Roman Robakidses die Repräsentanten des »Bolschewistenreiches«. Diese werden im Text mehrmals (vgl. HG: 11, 21, 39, 82, 175, 178, 196, 202) erwähnt, und zwar im pejorativen Sinn (z.B. »dämonisch unerschrocken«, ebd.: 191). Sie treten meistens im Zusammenhang mit Macht, Gewalt (vgl. ebd.: 194) und Schrecken auf. Es ist dann die Rede von der bolschewistischen Armee (vgl. ebd.: 20, 120), den bolschewistischen Machthabern (vgl. ebd.: 45, 190), der bolschewistischen Herrschaft (vgl. ebd.: 60) und der bolschewistischen Macht (vgl. ebd.: 181, 193), dem Unheil des Bolschewismus (vgl. ebd.: 195) und der Sowjetmacht (vgl. ebd.: 192f.). Diese dämonische Herrschaft wird von der GPU (vgl. ebd.: 190, 192, 201f., 206, 208) verkörpert, die ihren Sitz im schrecklichen Tschekagebäude14 (vgl. ebd.: 47, 201) hat. Obwohl die Sowjetisierung (vgl. ebd.: 20, 82, 178, 194) als ein aus Russland stammendes Unheil (vgl. ebd.: 43, 203f.) begriffen wird, da die roten Kolonnen aus Russland stammen und das Bolschewistenreich (vgl. ebd.: 176) sein Zentrum in Moskau (vgl. ebd.: 191f., 239) hat, werden die Russen (vgl. ebd.: 152) als eine Nation kaum dämonisiert. Als eigentliches Fremdbild tritt im Text stattdessen das Phänomen »eines entarteten Georgiers« (ebd.: 119) auf. Dieses zeigt sich in Gestalt von drei Burschen (vgl. ebd.: 38), die den seine Gedichte vortragenden Levan Orbelli auslachen, in Gestalt von S.O.15, dem obersten Machthaber Transkaukasiens (vgl. ebd.: 191, 238), und in Gestalt von anderen Kommunisten (vgl. ebd.: 192). Sie sind allesamt durch Zynismus (vgl. ebd.: 138), hässliches Lachen (vgl. ebd.: 39) und hämisches Lächeln (vgl. ebd.: 226) gekennzeichnet. Sie werden von den das Selbstbild repräsentierenden Figuren als Vergewaltiger (vgl. ebd.: 195), Ausgeburten der Schlange, Schänder des Mutterschoßes und Scheusale (vgl. ebd.: 40) gescholten. Neben Giftigkeit (vgl. ebd.: 134, 208) wird ihnen das Teuflische (vgl. ebd.: 194) und der kalte, böse Geist (vgl. ebd.: 195) unterstellt.16
In dieser Figurenkonstellation lässt sich die für die nationalen Narrative des 19. Jahrhunderts übliche Opposition zwischen dem Guten (nationalen Helden), dem Bösen (fremden Unterdrücker) und dem Hässlichen (Verräter) (vgl. Leerssen 2006: 203) wiedererkennen, allerdings mit einem Unterschied: Der Böse und der Hässliche fallen hier zusammen, denn der Unterdrücker wird nicht als ein Aus- oder Fremdländer, sondern als ein unbekanntes Element, als das unheimlich wirkende Fremde (vgl. HG: 194f.) dargestellt, der als Fremdkörper innerhalb der Nation fungiert. Dieser Gedanke wird in den folgenden Worten des Fürsten Giorgi noch deutlicher formuliert: »Die Schicksalsschläge in unserer Geschichte sind nicht einfach durch die äußeren Umstände zu erklären; sie hingen mit unserem Selbstverrat zusammen, mit dem Verrat am heiligen Gral.« (Ebd.: 126; Hervorh. L.T.) Und im gleichen Gespräch zwischen den Hauptfiguren wird präzisiert, was unter dem erwähnten Selbstverrat zu verstehen ist: »Wahrscheinlich haben wir den Glauben verloren.« (Ebd.) Das Narrativ von Robakidse erzählt folglich nicht von einer äußeren, sondern von einer inneren bzw. intrakulturellen Kolonisierung der Nation (vgl. Uerlings 2006: 7, 18), die im gegebenen Zusammenhang eben durch einen Selbstverrat und Glaubensverlust erfolgt ist und die Sowjetisierung bzw. die Bolschewisierung des Landes meint.
Das Verhältnis von Selbst- und Fremdbildern im Roman Robakidses kann wie folgt veranschaulicht werden:
Tabelle 2: Charakterzüge des Selbstbildes und des Fremdbildes im Roman
Selbstbild | Fremdbild |
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Eine derartige Konstruktion des Fremdbildes macht deutlich, dass die für das Oppositionspaar kühler Norden / warmer Süden typischen Charakterzüge (vgl. Leerssen 2000: 275f.) im Roman Robakidses nur eingeschränkte Gültigkeit beanspruchen dürfen. Es werden lediglich einige wenige Merkmale dieses Oppositionspaars übernommen, indem dem eher aus Norden stammenden Bolschewiken Vernunft und Materialismus, dem eher ›richtigen‹ Georgier dagegen Sensibilität und Einbildungskraft zugesprochen werden. Viel bedeutender scheint jedoch der Umstand zu sein, dass das im Roman entworfene Fremdbild nicht das national Andere, sondern das binnennational Andere repräsentiert.17 Grigol Robakidse scheint hier ein Dilemma zu problematisieren, das Giorgi Maisuradze wie folgt formuliert hat: »Es handelte sich insofern nicht nur um eine Fremdherrschaft, vielmehr waren es georgische Bolschewiki, die vor Ort die Führung übernahmen. […] Mit neuer Schärfe stellte sich in dieser Situation die Frage nach dem nationalen und kulturellen Selbstverständnis« (Maisuradze 2015: 61). Wie aus den angeführten Beobachtungen ersichtlich wurde, gibt der Roman eine eindeutige Antwort auf diese Frage, indem darin das Fremde nicht als etwas Außenstehendes oder Heterokulturelles imaginiert, sondern als der Nation Inhärentes, intrakulturell Vorhandenes konzeptualisiert, aber zugleich von der eigentlichen georgischen Identität als Fremdkörper abgesetzt wird.
Die Gültigkeit der Ethnizität bei der Konstruktion von Fremdbildern wird im Text beinah zielgerichtet zurückgewiesen. Im Roman kommen nämlich immer wieder Figuren vor, die anderen ethnischen Gruppen angehören. Im Gegensatz zu den Bolschewiken werden sie aber stets mit positiven Charakterzügen ausgestattet. Gleich auf den ersten Seiten des Buches ist beispielsweise von einem Freund in Berlin die Rede (vgl. HG: 8), der im Brief von einem fremden Gemütszustand berichtet. Dazu meint Levan Orbelli: »Gut, daß es auch einmal einen Abendländer ergreift; […] im Morgenlande ist dieses Erlebnis nicht selten« (ebd.: 9). Mit dieser Aussage distanziert sich die Hauptfigur auf den ersten Blick vom Abendland und ordnet sich ganz eindeutig der morgenländischen Kulturtradition zu. Zugleich suggeriert dieser Satz jedoch, dass es gewisse Gemütszustände gibt, die unabhängig von der Herkunft erlebt werden können. Eben diese transkulturelle Gemeinsamkeit des Abend- und Morgenlandes bildet im Text den Grundbaustein für die interkulturelle Affinität des georgischen Selbstbilds zu den beiden kulturellen Räumen. Die Affinität tut sich nicht nur in Bezug auf die ausländischen Freunde (vgl. ebd.: 204) kund, sondern auch bei der Darstellung von Aischa, der kleinen Jezidin (vgl. ebd.: 13, 249). Die Begegnung mit der jungen Tochter des Jezidenpförtners regt Levan Orbelli zu folgender Reflexion an: »Ist es möglich, daß die Jeziden wirklich den Teufel anbeten, wie es immer behauptet wird? Unfaßlich, dachte er. Wenn man diese Kleine sieht, denkt man überhaupt nicht an so etwas.« (Ebd.: 14) Hier wird ganz offensichtlich ein Versuch unternommen, die ethnokulturellen Stereotype abzubauen, die in Bezug auf Jeziden weite Verbreitung in der damaligen georgischen Gesellschaft gefunden haben müssen. Aischa, die später den Tod des Protagonisten beweint (vgl. ebd.: 249), steht diesem folglich bedeutend näher als die Bolschewiken georgischer Abstammung. Aber auch unter diesen finden sich Figuren, die zwar im Rahmen des Sowjets arbeiteten, ihre »Stammesverbundenheit« aber nicht vergessen hatten (ebd.: 234). Zu solchen Figuren mit einer gemischten Identität gehört beispielsweise der georgische Untersuchungsrichter Schawdia, dem zwar eine pejorative Beschreibung nicht erspart bleibt (er habe nämlich »wie eine Schlange« einen »Natterkopf mit spärlichen Haaren und fast ohne Brauen«, unheimlich wirkende Augen und ein abscheulich fettiges Gesicht, ebd.: 11), der sich aber entschieden weigerte, den Thavaden zu befragen, da der Letztere sein Pate war (vgl. ebd.: 201). Auch von Lega, einem der führenden Bolschewiken (vgl. ebd.: 233), der als ein grausamer (vgl. ebd.: 234) und harter Mann (vgl. ebd.: 237) charakterisiert wird, heißt es im Text: »Er war Bolschewik und – noch etwas.« (Ebd.: 238) Dieses Etwas macht wohl seinen menschlichen Mehrwert aus und setzt ihn auffallend von dem obersten Machthaber Transkaukasiens S.O. ab, der zwar auch aus Georgien stammte, aber »nur Bolschewik« war (ebd.). Eine ähnliche Zwischenstellung nimmt Bessia ein, der Taufbruder Levan Orbellis, dem »nichts so fern wie der Bolschewismus« lag und der daher »mehr Mitgegangener als Gläubiger« geworden ist (ebd.: 242). Absichtlich übersieht er bei der Durchsuchung der Festung den dort versteckten Levan Orbelli. All diese Figuren stellen ihre Zugehörigkeit zum »Georgiertum« durch die Verweigerung einer ehrenlosen Tat unter Beweis, die ihnen vom Regime aufgezwungen wird. Nichtsdestotrotz sind es die »Nichtkommunisten«, von denen es im Text heißt, dass sie das Herz Georgiens in sich trugen (ebd.: 191). Aus diesen Beobachtungen lässt sich ohne weiteres schließen, dass die Grenzlinie zwischen den Selbstbildern und Fremdbildern in Robakidses Roman nicht von der Kategorie der Ethnie oder der Nation gezogen wird, sondern von jener der Ideologie und der politischen Gesinnung.
Statt der ethnisch-nationalen Zugehörigkeit tritt im Roman die kulturelle Affinität zum abendländischen Kulturgut als entscheidender Faktor der Identitätsbildung in den Vordergrund. Obwohl die Repräsentation von Abendland (vgl. ebd.: 57, 131, 167) bzw. Europa (vgl. ebd.: 17, 57, 175, 263) im Text nicht ganz ohne Vorwurf auskommt (»Und Europa! Ich kenne Europa zu gut: es würde keinen Finger für uns rühren.« Ebd.: 176; »die erwartete Hilfe aus Europa kam nicht«, ebd.: 192), sind die vielfältigen Referenzen
ein eindeutiges Indiz dafür, dass der Text eine interkulturelle Affinität der georgischen Identität zum europäischen Raum behaupten will. Die transkulturellen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Kulturräumen werden auch auf einer tieferen Ebene gesucht und gefunden, indem das Gespräch der Figuren, die das georgische Selbstbild repräsentieren sollen, nicht selten auf Begriffe aus dem abendländischen Kulturgut Bezug nimmt, unter anderem auf Druiden (vgl. ebd.: 53, 166), Homeriden (vgl. ebd.: 65), dionysisch (vgl. ebd.: 66), Pythagoräer (vgl. ebd.: 110, 119), Archetyp (vgl. ebd.: 140), Psychoanalytiker (vgl. ebd.: 168). An einer Stelle unterhalten sich die Figuren über die (pseudo-)anthropologische Beobachtung, dass sich die Georgier und die Deutschen die Sonne als ein weibliches Wesen vorstellen (vgl. ebd.: 199). Bezeichnenderweise wird im Text betont, dass Levan Orbelli mit der Witwe des Thavaden Giorgi deutsch sprach (vgl. ebd.: 79, 216). Andernorts heißt es: »Meine Schau aber gestaltete sich allmählich nach der abendländischen Art: sie wurde zum bloßen Wissen.« (Ebd.: 131) Genau diese Teilhabe am abendländischen Wissen neben den Kenntnissen der morgenländischen Weisheit scheint das Besondere im Profil von Figuren auszumachen, die im Roman die georgische Identität repräsentieren sollen. So soll Thavad Giorgi in Europa studiert (vgl. ebd.: 42), Englisch, Französisch, Deutsch, Russisch und Arabisch beherrscht (vgl. ebd.: 42, 203, 211), aber neben Europa auch Indien, Ägypten und den Iran besucht haben (vgl. ebd.: 43, 57). »Die europäische Literatur war ihm ebenso vertraut wie das Urwissen des Morgenlandes.« (Ebd.: 42, vgl. auch 57) Die Kontakte zum abendländischen Raum kommen zudem durch ein Geschenk aus Deutschland (vgl. ebd.: 58) und durch die Erwähnung von Pariser Emigranten (vgl. ebd.: 190), Paris (vgl. ebd.: 257) und Riviera (vgl. ebd.: 259) zum Ausdruck.
Im Roman wird das Abendland als das Weibliche imaginiert. Es wird hier durch die Schwedin Norina, die Witwe von Thavad Georgs Sohn und der Geliebten von Levan Orbelli, vertreten: Der Autor charakterisiert sie als »sehr klug[e]« (ebd.: 89), nordische (vgl. ebd.: 63, 86, 132) und fremde Frau (vgl. ebd.: 113) mit nordischer Sprache (vgl. ebd.: 116), von kindlicher Fröhlichkeit und Schwermut (vgl. ebd.: 258) geprägt. Sie sei »von hohem Wuchse, blond, vollschlank und fest, mit langen, schöngefügten Gliedern. Ihre großen, grünblauen Augen schauten wie aus einem anderen Reich. Sie war Anmut und Abstand zugleich.« (Ebd.: 54, vgl. auch 63, 81, 103).
Norina taucht auch in der Schlussszene des Romans auf, die sich besonders gut für eine imagologische Interpretation eignet. Der letzte Abschnitt des Romans lautet: »Das Mittelmeer ruht draußen in stiller Gewalt. Man vernimmt sein lässiges Raunen. Was raunt es? Auf den Wegen des Mittelmeeres wurde die helläugige Göttin Europa entführt. Eine ihrer Töchter vergießt schmerzzerwühlt Tränen. Lautlos ruft sie nach der Mutter um Hilfe.« (Ebd.: 265) Norina als Vertreterin / Tochter Europas leidet hier unter dem Verlust ihres Geliebten, Levan Orbelli. Der Letztere repräsentiert dabei nicht einfach eine Figur, sondern Georgien als eine kulturelle Gemeinschaft. Durch die mythische Überhöhung wird die Verbindung Europas mit Georgien als etwas Unentbehrliches, durch innere Bindung Festgelegtes und als natürlich Gegebenes dargestellt. Die Unterdrückung Georgiens durch die Bolschewiken erlangt somit globale Bedeutung und wird mit einem Verlust für das ganze Abendland gleichgesetzt.
Nationenbezogene Images fungieren bekanntlich vor allem in Phasen des Umbruchs, in historischen Konflikt- bzw. Umbruchsituationen, als Orientierungsmuster, indem sie Deutungsmuster über Eigenes und Fremdes bereitstellen (vgl. Neumann 2009: 60; Hahn 1995: 10). Das sind die Momente, »in denen das eigene Selbst- und Weltverständnis durch die Konfrontation mit konkurrierenden Werten, Sitten und Umgangsformen unter Druck gerät« (Neumann 2009: 9). Eben eine solche Umbruchphase ist in der Geschichte Georgiens die Sowjetisierung gewesen. Grigol Robakidses Roman Die Hüter des Grals kann folglich als eine Reaktion auf diesen Prozess gelesen werden. Es ist ein Versuch, die Sowjetisierung als existenz- und identitätsbedrohende Krise zu bewältigen und einen Beitrag zum nation-building zu leisten (vgl. Schaff 2011: 90). Insofern erscheint es auch folgerichtig, dass Robakidse im Zuge des Aufschwungs der nationalen Unabhängigkeitsbewegung im Georgien der 1990er Jahre zu einer patriotischen Kultfigur avancierte.
Die Hüter des Grals hat zudem einen deutlich performativen Charakter: Der Roman konstruiert affektiv und normativ aufgeladene Selbst- und Fremdbilder »mit dem Ziel, individuelle Wahrnehmungen und Dispositionen politischen Handelns vorzustrukturieren« (Neumann 2009: 5) und »über die Anrührung von Angst, Stolz, Hass, Begeisterung und Spott patriotische Gesinnungen« (ebd.: 387) herauszufordern. Zu diesem Zweck wird die Abgrenzung der Selbstbilder und Fremdbilder voneinander nicht anhand der ethnischen, sondern der kulturellen und politischen Merkmale geleistet: Während im Roman statt eines heterokulturellen ein intrakulturelles Fremdbild in Gestalt von georgischen Bolschewiken vorherrscht, werden die Selbstbilder in einer tief verwurzelten Affinität zur abendländischen Kultur entworfen, wodurch die Bemühung Robakidses deutlich wird, die georgische Nation als einen Teil der abendländischen Kultur zu repräsentieren.
Dabei ist Robakidses Konstruktion des Selbstbildes an einen europäischen oder deutschen Rezipienten gerichtet, und der Autor ist bestrebt, diesem ein unbekanntes Land und seine Bevölkerung vertraut zu machen. Der Roman Die Hüter des Grals darf daher als ein exophones – im Sinne von »Literatur von Autoren, die nicht in ihrer Muttersprache und außerhalb ihrer kulturellen Herkunft schreiben« (Zemanek / Nebrig 2012: 256) – Projekt betrachtet werden, das hauptsächlich dazu dient, eine Verbindung zwischen der georgischen und der abendländischen Identität herzustellen und diese vom Bolschewismus als dem kulturellen Anderen abzugrenzen.
1 | Der vorliegende Beitrag wurde im Rahmen des Forschungsprojektes »Kulturelle Spuren von Georgiern in Deutschland« verfasst, das von der Shota Rustaveli National Science Foundation gefördert wird.
2 | GPU ist die russische Abkürzung für Staatliche Politische Verwaltung, die Geheimpolizei der Sowjetunion.
3 | Die ursprünglichen (georgischen) Fassungen der in Deutschland erschienenen Romane Robakidses sind leider nicht erhalten.
4 | Dieser Text wird im Folgenden mit der Sigle HG gekennzeichnet.
5 | Robakidse scheut nicht, die Begriffe »Rasse« und »rassig« zu verwenden, was auf seine nationalistische Weltanschauung zurückzuführen ist. Umso folgerichtiger erscheint das Vorkommen dieser Begriffe im gegebenen Text, wenn man sein Erscheinungsjahr (1937) und den zeitgleichen deutschen Kontext beachtet.
6 | Mit Gog und Magog ist wohl die besondere Rolle Georgiens bei der Apokalypse gemeint.
7 | Szorperi-Brauch oder Szorproba (Szorperi – von Robakidse als »gleichfarbig« übersetzt) ist eine alte soziale Praxis, die im georgischen Bergstamm von Chewsuren gepflegt wurde. Sie beinhaltete eine platonische Liebesbeziehung zwischen einem jungen Mann und einer jungen Frau. Diese durften zusammen schlafen, einander küssen und liebkosen, ohne die Grenze des Geschlechtlichen zu überschreiten.
8 | Der Mann im Pantherfell (nach anderen Übersetzungen Der Recke im Tigerfell) ist das georgische nationale Epos, das im 12. oder 13. Jahrhundert (d.h. während der Herrschaftszeit der Königin Tamar, die als goldenes Zeitalter in der Kulturgeschichte Georgiens angesehen wird) verfasst worden ist.
9 | In der Tat hat die Landesbezeichnung »Georgien« kaum etwas mit dem Namen des Heiligen Georgs zu tun. Hier wie andernorts bedient sich Robakidse der Fehletymologie, die seiner mystischen Deutung der Zusammenhänge in die Hand spielt.
10 | Es handelt sich um zwei Märtyrer (Brüder) fürstlicher Abstammung, die laut georgischer Überlieferung im 8. Jahrhundert heftigen Widerstand gegen die Araberinvasion geleistet haben und später von Murvan dem Tauben gefangen genommen und unter Qualen ermordet worden sind.
11 | Zotne Dadiani ist ein georgischer Fürst aus dem 13. Jahrhundert. Er soll an einer Verschwörung gegen die Mongolen teilgenommen haben. Als die Verschworenen von Mongolen gefangen genommen und Qualen ausgesetzt wurden, schloss sich der Fürst seinen Mitkämpfern freiwillig an, um ihr Los zu teilen. Dies ließ die Mongolen glauben, dass die Gefangenen unschuldig seien, und sie ließen sie alle frei.
12 | Diese siegreiche Schlacht führte der georgische König David der Erbauer gegen die Türken (Seldschuken) im Jahr 1121 an.
13 | Kakuza Tscholokaschwili ist ein georgischer Nationalheld, der in den Jahren 1922 bis 1924 Guerillakämpfe gegen die sowjetischen Okkupanten geleitet hat.
14 | Tscheka ist eine russische Abkürzung für die Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage, nach der Oktoberrevolution der Geheimdienst der Sowjetunion.
15 | Gemeint ist wahrscheinlich Sergo Orjonikidze, ein georgischer Bolschewist, später Mitglied des Politbüros, er gehörte der nächsten Umgebung Stalins an. Über ihn heißt es im Roman: »[E]r stammte wohl aus Georgien, war aber nur Bolschewik« (HG 238).
16 | Es mag verwundern, dass Grigol Robakidse, der gegenüber der sowjetischen Diktatur so negativ eingestellt war, das ganze Elend der deutschen Diktatur außer Acht ließ. Der Grund dafür mag einerseits darin liegen, dass er während seines Exils völlig von der Sorge um sein Heimatland in Anspruch genommen war und sich für die politische Entwicklung in Deutschland wenig interessierte (vgl. Gagnidse / Schuchard 2011: viii), andererseits aber vielleicht auch darin, dass georgische Emigranten im ›Dritten Reich‹ einen Verbündeten im Kampf gegen die Sowjetunion zu finden glaubten.
17 | Eine auffallende Ausnahme in dieser Hinsicht stellt die Figur Welskys (»Meister der GPU«, HG: 221) dar, in dem sich alle oben erwähnten negativen Eigenschaften konzentriert versammeln. Dieser weist aber bemerkenswerterweise keine ausgeprägten ethnischen Merkmale auf. Von ihm heißt es im Text ganz ausdrücklich, dass er sich mit einem GPU-Mann (einem Georgier) zwar russisch unterhielt, aber er selber »anscheinend kein Russe« war (ebd.: 11). Welsky wird als ein rational denkender Mensch dargestellt, der »nur zu zersetzender Analyse fähig« (ebd.: 207) und selten klug (vgl. ebd.: 138, 142) ist. Im auffallenden Gegensatz zu Levan Orbelli heißt es von Welsky: »Er war immer der Erwachsene, nie ein Kind.« (Ebd.: 207) Er soll auch wenig Sinn und Verständnis für die Gemeinschaft haben, die sich beispielsweise bei den oben geschilderten Festmahlen ergibt, und als Folge davon ist er auch auf soziale Entfremdung angewiesen. »Wie einsam muß dieser Mensch sein« (ebd.: 143), wird diesbezüglich im Text gefragt. Statt der Liebe zu den Mitmenschen ist diese Figur von (Selbst-)Hass (vgl. ebd.: 143, 207, 220), statt der Kreativität eines Dichters vom Vernichtungsdrang (vgl. ebd.: 207) bewegt. Der Umstand, dass Welskys Ethnizität im Text ausgespart wird, lässt sich bestimmt auf die Intention zurückführen, dem Bolschewismus eine ethnisch gekennzeichnete Gestalt zu verweigern und ihn als das Böse schlechthin darzustellen, das jenseits jeglicher Zugehörigkeit zu einer Nation steht. Diese These wird unter anderem auch dadurch bestätigt, dass Welsky auf eine unzweideutige Weise als »eine unheimliche Verkörperung des Sowjetschreckens selber« (ebd.: 13) bezeichnet wird.
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