Wiederabdruck nach: Rudolf Münz: Das Harlekin-Prinzip. In: Ders.: Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen. Mit einem einf. Beitrag v. Gerda Baumbach. Hg. v. Gisbert Amm. Berlin 1998, S. 60-65 (Erstveröffentlichung in: Hofmannsthal-Strauss, Ariadne auf Naxos. Programmheft der Staatsoper Dresden zur Spielzeit 1984 / 85 [Semperoper], o.S.).
In seinem Buch Sarter Resartus oder Leben und Meinungen des Herrn Teufelsdröckh sagt Thomas Carlyle gelegentlich der Schilderung des Entenpfuhlschen Viehmarktes:
Hier fanden sich, von allen vier Winden zusammenkommend, die Elemente eines unaussprechlich lärmenden Wirrwarrs ein … Guckkastenmänner vom Lago Maggiore und dem Wiener Schub angehörige Inhaber von Glücksbuden, die laut ausrufend Glücksspiele dirigierten. Bänkelsänger heulten, Auktionäre wurden heiser … allen schlug ein bunter Harlekin, gleichsam als der Genius des Platzes und des Lebens überhaupt, seine Purzelbäume.
Die Vorstellung von Harlekin als dem »Genius des Lebens überhaupt«, dokumentiert allein durch sein bloßes Erscheinen und seine typische Haltung, ist uns – gleichgültig, ob es sich dabei um die Theatermaske handelt oder um einen außertheatralischen Harlekin – offenbar verlorengegangen. Was jahrhundertelange Verfolgung und Verteuflung, was Bemühungen um seine ›Gesittung‹, seine ›Aufhebung im Volkstümlichen‹ nicht vermochten, das hat anscheinend die auf industriemäßiger Warenproduktion beruhende Lebensweise geschafft. Und dennoch: So uralt wie das Prinzip ist, viel älter als der geläufige Begriff, aus der Geselligkeit urgemeinschaftlich tätigen Lebens entstanden, vom Mythos in der Volksphantasie bewahrt und schließlich Kunst geworden, lebt es noch immer, wenn auch nicht stets direkt mit der Figur verbunden, die es bezeichnet. In der Theatergeschichte steht es schlechthin für ein ›anderes‹ Theater und kann als das bestimmende dynamische Element angesehen werden. In dieser Beziehung oft in eine Alternativrolle gedrängt, bilden die geglückten Versuche seiner Symbiose mit dem ›eigentlichen‹ Theater unzweifelhafte Höhepunkte: Shakespeare, Molière, die Commedia dell’Arte beispielsweise. Lag die Hauptphase seiner Wirkung, die das Prinzip konstituierte, in der Zeit des langwierigen Abschieds von der Urgesellschaft, so spricht manches dafür, daß die Zeit der Verabschiedung von der Klassengesellschaft sich wieder verstärkt dafür interessiert.
Was das Verständnis des Harlekin-Prinzips vielfach erschwert, ist seine naivem Evolutionismus konträr entgegenstehende ›Geschichte‹, seine merkwürdige Dialektik von Kontinuität und Atavismus, seine Ambivalenz zwischen folkloristisch-mythologischem und historisch-aktuellem Bewußtsein. Der eigentlichen ›Geburt‹ des Harlekin durch italienische Comici dell’Arte in Frankreich gegen Ende des 16. Jahrhunderts, und damit der Entstehung des modernen Harlekin-Theaters, gingen – so dunkel uns der ganze Prozeß auch immer geblieben ist – elementare Stufen voraus. Neben jüngeren Hochformen – in Gestalt der weltweit bekannten Masken – lebten immer zahllose primitivere, auch anonyme Varianten, oft auch lokalbezogene Sonderformen im Rahmen der ›Fahrenden‹, der ›Giullari‹, der Gaukler, Ciarlatani und Akrobaten. Ein geradezu erstaunlicher Konservatismus des Harlekin-Prinzips liegt darin, daß oftmals die älteste Schicht von Urformen die aus ihr erwachsenen Hochformen überlebt hat. Lebensfürsorge, Wünsche nach stetiger Produktivität, mutter- und erdverbundenes Denken, die Sphäre der ›ersten Natur‹ machen den Kern der ältesten Schichten aus, woraus sich die Indizien der vielgeschmähten ›Primitivität‹, des ›Obszönen‹, des ›Gemeinen‹ etc. erklären. Es geht immer um eine unmittelbare Verbindung mit dem praktischen Gemeinschaftsleben: befriedigende Arbeit und Lebenssicherung, Fortpflanzung, Kampf, Tod und Wiedergeburt des tätigen Menschen sind die ›Themen‹, geprägt oft von karnevalistischem Geist und immer von Elementen der Lachkultur als Ausdruck des Schöpferischen schlechthin.
Die ›Botschaft‹ der Vertreter des Harlekin-Prinzips bestand häufig allein in ihrem Auftreten. Ihre typische Haltung – man denke nur an den berühmten Harlekin-Sprung und sein ›Eccomi‹ (Da bin ich!) – wurde lange Zeit bereits als Ausdruck eines ›anderen‹ im doppelten Sinn verstanden: direkt – als Ausdruck der Insubordination, z.B. gegenüber der Vielzahl gesellschaftlicher Normen und Zwänge; indirekt – als Ausdruck des Boten, des Ambassadeurs, des Verbindungsmannes zur ›anderen‹ Welt und damit zur Utopie, zur Vision vom ›Goldenen Zeitalter‹.
Das Entscheidende dabei ist freilich – dies kann nicht genug betont werden – das Funktionieren des Kommunikationssystems der ›Sprache ohne Worte‹, die Vertrautheit des Publikums mit den (ent)sprechenden ›Gesten‹. Noch von Laroche-Kasperl in Wien, einem der spätesten Repräsentanten des Harlekin-Prinzips am Ende des 18. Jahrhunderts, heißt es:
Nun dreht Kasperl den Fuß auswärts, streckt seinen Kopf vorwärts, krümmt sich zusammen, macht einen Bockssprung, und siehe: da wird geklatscht und gelärmt, als wenn so eine elende Grimasse das größte Meisterstück des Witzes und der seltsamsten Kunst und Laune wäre.
Diese Haltung (Geste) allein wurde im gesellschaftlichen Leben nachgemacht, und nicht nur zum eigenen Vergnügen.
Das Schädliche dieser Einwirkung auf uns will ich nicht untersuchen, genug, daß fast alle unsere munteren Jungs und Männer Toren und Possenreißer werden durch so eine unglückliche Nachahmung.
Um das recht zu verstehen, muß man bedenken, daß das neuere Harlekin-Theater historisch gesehen nach dem Abschluß der sog. ›ursprünglichen Akkumulation‹ mit ihren schwerwiegenden Folgen einer gewaltigen und gewaltsamen Veränderung der Lebensweise für den überwiegenden Teil der damals lebenden Menschheit entstand. Dieses Theater widersetzte sich mit all seinen phantastisch-grotesken Mitteln, seinen ›kraftspendenden‹ Jenseitsbeziehungen oder karnevalistischen Verkehrungen dem Prozeß, der zur »Disziplinierung des neuen Zustandes« (Marx) führen sollte, und zwar in allen entscheidenden Punkten. Es wandte sich gegen die Neubestimmungen von Arbeits- und Freizeit, gegen die Veränderungen der Objektbeziehungen, gegen die Normierung und Regulierung aller Trieb- und Affektvorgänge, gegen die Zähmung herkömmlicher Sitten und Gebräuche durch ›Zivilisation‹ und ›Erziehung‹, gegen die Umbewertung des Sinnlichen. Es setzte seine spezifischen Eigenheiten dafür ein: seine besonderen Raum- und Zeitstrukturen (des Spiels auf verschiedenen Ebenen), seine eigentümlichen, von Verwandlungen und Verzauberungen geprägten Objekt-Subjekt-Beziehungen, seine (von einem bestimmten Standpunkt aus gesehen) akausale, arationalistische, amoralische Gestaltungsweise, seine umfassende Sinnlichkeit und Körpernähe und das darauf bezogene Verhältnis von ›Geist und Bauch‹, seine charakteristische Einheit von Natürlichem und Phantastisch-Absurdem, von Regel, ja Schematismus und Spontaneität – immer vom Boden der schöpferischen, lebenspendenden Lachkultur aus, selbst dort, wo es ›ernsthaft‹ oder auch ›melancholisch‹ wurde.
Die an Bacchus gerichtete Frage der Ariadne:
Wie schaffst du die Verwandlung?
Mit den Händen?
Mit deinem Stab? Wie, oder ist’s
ein Trank,
Den du zu trinken gibst?
hätten Harlekin und seine Freunde mühelos beantworten können, waren sie doch die Inkarnation der (karnevalistischen) Verwandlung. In Italien war Harlekin (nach einem Verzeichnis des Giovan Maria Rapparini von 1817) Arlecchino, Truffaldino, sia Pasquino, Tabarrino, Tortellino, Naccherino, Gradellino, Mezzettino, Polpetino, Nespolino, Bertolino, Fagiolino, Trappolino, Zaccagnino, Trivellino, Taccagnino, Passerino, Bagattino, Bagolino, Temellino, Fagotino, Pedrolino, Fritellino, Tabacchino, Burattino, Francatrippa. Und nicht nur das: Im französischen Théâtre de la foire verwandelte sich Arlequin in manchem Stück mehr als vierzigmal, und auch ein Stück um den österreichischen Bernardon konnte bis zu 25 seiner Verwandlungen aufweisen. Brighella war noch Scapino, Beltrame, Buffetto, Flautino, Pinocchio, und auch das Urbild der Zerbinetta, die zu den ›servette‹ (Dienerinnen) gehört, war bald Franceschina, Olivia, Nespola, Spinetta, Ricciolina, Colombina, Diamantina oder Corallina, deren Verwandlungen wiederum nahezu legendär sind.
Als Hofmannsthal sich der ›maschere‹ bediente, sah er in ihnen nur eine
menschliche, nichts als menschliche Gruppe der leichtfertigen Zerbinetta und ihrer Begleiter, dieser gemeinen Lebensmasken.
Dies erklärt sich vornehmlich dadurch, daß Hofmannsthal nur an die Endphase der Alt-Wiener Volkskomödie angeknüpft hatte. Hier aber geschah gerade die entscheidende Veränderung gegenüber jenen ›Verwandlungen‹ – in den Reformen Philipp Hafners insbesondere – durch die Hinwendung zum ›Charakter‹. Nichtsdestoweniger hat Hofmannsthal durch seine Schöpfung
mit ihrer raffinierten Stilmischung, ihrem unterm Spiel versteckten tiefen Sinn […] eines der allerheikelsten Gebilde
nicht unwesentlich zu den Versuchen einer Erneuerung des Harlekin, die zu dieser Zeit verstärkt unternommen wurden, beigetragen – ja, durch seine Konfrontation des ›Dionysischen‹ mit dem ›Karnevalistischen‹ nimmt er innerhalb dieser Versuche eine ganz besondere Stelle ein. Solche Versuche gab es in der bildenden Kunst – bei Cézanne, Picasso, Miró, Klee, Léger, Derain, Beckmann, Hofer, Kandinsky, Pollock u.a., die dieses Thema aufnahmen –, im Theater: von Craig, Meyerhold, Max Reinhardt, Copeau, Dullin über Jouvet, Barrault bis zu Dario Fo, Ariane Mnouchkine, Benno Besson und Eugenio Bara, und auch im außertheatralischen Bereich: Die alljährlich noch heute im neapolitanischen Karneval gefeierte Canzone di Zeza zeugt von der ungebrochenen Lebendigkeit des Harlekin-Prinzips – in Gestalt des Pulcinella.