Theatrale Kommunikation in interkulturellen Schreibweisen

José F.A. Olivers Fremdenzimmer

Tobias Akira Schickhaus

Abstract

Taking into account that intercultural literary analysis takes place in and through the co-presence of narrators and readers, and arises out of their encounter, this paper traces various ways in which the application of theater and drama analysis can be applied to other literary genres. Under this approach, the essay collection Fremdenzimmer by José F.A. Oliver, published in 2015, will be presented and discussed.

Title:

Theatrical Communication in Intercultural Writing. José Oliver’s Fremdenzimmer

Keywords:

interculturality; theater communication; José F.A. Oliver (* 1961); Fremdenzimmer

1. Einleitung

Wie vergessen wir uns beim Lesen und finden uns zugleich auf der Bühne der Literatur wieder? Aktuellen Anlass zu dieser (keineswegs neuen) Frage gab eine kleine Beobachtung: Bei viel besprochenen Schriftstellerinnen und Schriftstellern wie José F.A. Oliver (vgl. 20151), Senthuran Varatharajah (vgl. 2016), aber auch Abbas Khider (vgl. 2016), Ann Cotten (vgl. 2013) oder Nicol Ljubić u.a. (vgl. 2003) findet sich eine bemerkenswerte Häufung struktureller Elemente, die sich vorschnell mit dem kulturspezifischen Metaphernfeld ›Theater‹ und dem gattungsbezogenen Begriff des ›Dramas‹ beschreiben lassen.

Erzählen wird hier nicht in Gänze, aber doch in auffälliger Weise in Szene gebündelt, so ›als ob‹ – und hier ist das wesentliche Kriterium theatraler Kommunikation bereits gefallen – Beobachtungsprozesse sowie Umwelt-, Körper- oder Sprachwahrnehmungen eine konstitutive Funktion für die Sinnstiftung übernehmen. Zwischen Erzählenden und Lesenden dient die Theatermetaphorik zur Thematisierung von Präsenz und Repräsentation von Leben und Rolle. Zwischen Bühne und Publikum hingegen dient die Spielebene der Theaterhandlung der Vorführung mehrerer Beobachterebenen. Zuschauende erleben sich selbst als Beobachtende von Bühnenfiguren, die sich wiederum gegenseitig beobachten.

Von dieser Überlegung ausgehend sollen theatrale Kommunikationsstrategien in José F.A. Olivers 2015 veröffentlichter Essaysammlung Fremdenzimmer vorgestellt werden. Nehmen Mittel theatraler Kommunikation wie Dialog, Szenographie, episch vermittelnde oder perspektivengesteuerte Figurenrede für Theatertexte eine konstitutive Funktion ein (vgl. Waldmann 2003: 234f.), entdeckt man ihr Potenzial für interkulturelle Schreibweisen gerade im bewussten Einsatz für nichtdramatische Texte.2

Dieser Ansatz plädiert erstens für ein Verständnis von ›Theater‹ als Ort der Beobachtung von Wahrnehmung (›Aisthesis‹), Körper (›Kinesis‹) und Sprache (›Semiosis‹) unter der Vereinbarung einer Als-ob-Situation. Es ist diese »Doppelstruktur« (Fischer-Lichte 1995: 12; Brauneck 2001: 21), die zweitens eine extratheatrale Beobachtung von intratheatral inszenierten Beobachtungen kulturspezifischer »Weltanschauungen und Denkstile« (Schramm 1996) oder »Gefühlen« (Huber 2003) ermöglicht und Räume für sowohl inhaltliche als auch formale Dialoge des Interkulturellen eröffnet. Bevor Fremdenzimmer anhand dieser Gliederung vorgestellt wird, sollen weitere Argumente dargelegt werden, die ein solches Vorgehen auch rechtfertigen. Es wird hierfür ein fachhistorisch interdisziplinärer Ansatz gewählt.

2. Interkulturalität als Bühne: Probleme und Perspektiven

In Europa und den Vereinigten Staaten ist mit Anbeginn des 20. Jahrhunderts das Interesse am interkulturellen Theater vor allem dem Anspruch geschuldet, durch die Beschäftigung und Aneignung ›fremder‹ Theaterkulturen die Bühne zu einem Ort der wechselseitigen Inspiration zu machen. So wurden um 1900 fernöstliche, damals in erster Linie japanische Theaterformen von den europäischen Theaterreformern wie Max Reinhardt, Adolphe Appia oder Jacques Copeau begeistert aufgenommen. Balme (2007: 21) erklärt dies mit einer westlichen Sehnsucht, wonach »für den europäischen Zuschauer kaum verständlich[e] Konventionen und Symbolsprachen solcher Theaterformen mit einer […] Suche nach Abstraktion und semantischer Dissonanz übereinstimmten.« Historische Beispiele3 erlauben einen Einblick in eine Theatertradition, die einerseits um Völkerverständigung und internationalen Dialog bemüht war; andererseits kann bei der Verbreitung des europäischen Sprechtheaters in weiten Teilen Afrikas, der arabischen Welt und in Indien kaum vom Theatertransfer auf ›interkultureller Augenhöhe‹ die Rede sein. Es ist wohl angemessener, von »einer Begleiterscheinung des europäischen Kolonialismus« (Regus 2009: 45) zu sprechen. Das Problem äußert sich dergestalt, dass einige Ansätze der wissenschaftlichen Theaterrezeption Gefahr laufen, interkulturelles Theater zu einem asymmetrischen Dialog inner- und außereuropäischer Theatertraditionen zu verfestigen und damit traditionellen Vorstellungen dessen, was ›fremd‹ und ›eigen‹ sein mag, Vorschub leisten, anstatt sie zu hinterfragen. Demnach erscheinen westliche Regisseurinnen und Regisseure als vermeintlich aktiv Gestaltende und alles Außereuropäische lediglich als künstlerisches Material.4 Es scheint fast so, als hätte jemand eine Fremdsprache gelernt, um sich durch das Fremde dem Eigenen mitzuteilen, anstatt beiden zuzuhören.

Verbleibt man zudem in der Definition um ein interkulturelles Theater bei den Kriterien der ästhetischen Kopräsenz von »unterschiedlichen Einzelsprachen« und »verschiedenen ethnischen Kulturen« (Regus 2009: 43), kommt der Differenz ein stärkeres Gewicht zu als dem Dialog:

Auch wenn sich der Wille erkennen lässt, die europäische Theatertradition nicht dominant werden zu lassen, um dem Vorwurf des Eurozentrismus zu entgehen, wird durch die Überbetonung der Differenz und das vermeintliche Wissen über das, was das Eigene und Fremde ist, der oder das Andere aus eurozentrischer Perspektive festgeschrieben und somit ein Container-Modell von Kultur zu Lasten eines Verständnisses von Kultur als plurale tantum gestärkt. (Bloch / Heimböckel 2019: 376; Hervorh. i.O.)

Hinzu kommt eine für die Interkulturalitätsforschung spezielle Dokumentationsproblematik: Interkulturelle Literaturwissenschaft ist durch eine einseitige Fokussierung auf Epik gekennzeichnet; die Behandlung von Lyrik und Drama sowie ihre theatrale Inszenierung scheint hingegen ins Hintertreffen geraten zu sein.5 Ein Grund hierfür ist in der Entschiedenheit zu suchen, mit der die Theaterwissenschaften auf Distanz zu den Philologien gingen und die Erforschung interkultureller Gegebenheiten mehr auf der Bühne multimedialer Inszenierungsformen stattfand als im literaturwissenschaftlichen Dramentext.6

Dies verwundert, denn seit jeher wird konsentiert, dass literarische Formen und ihre thematischen Inhalte in einer oszillierenden Wechselbeziehung zueinander stehen. Formen sind gemäß Waldmann (2003: 159) »keine ›Formen an sich‹, sie sind nicht naturgegeben und bestehen nicht unveränderlich zu allen Zeiten, sondern sie sind elementar geschichtlich und hängen von dem ab, was in welcher Zeit und Kultur in ihnen als ihr Inhalt dargestellt […] ist.« In diesem Zusammenhang wäre es für interkulturell und literaturwissenschaftlich geleitete Forschungen durchaus erkenntnisreich, wenn über die Synthese und kritische Hinterfragung von literarischen Gattungsstrukturen Rückschlüsse auf kulturspezifische und -reflexive Diskurse gewonnen werden könnten.

Diese Perspektive ergibt ein viel versprechendes Potenzial zur Erforschung interkultureller Problemhorizonte als interdisziplinäres Fragekonzept (vgl. Glesener / Roelens / Sieburg 2017: 7; Schiewer 2017: 165-195). Schließlich ist von ›Interkulturalität‹ mitunter dann zu sprechen, »wenn Kulturunterschiede bedacht werden und wenn über Kulturgrenzen hinaus gedacht wird« (Heimböckel / Weinberg 2014: 119f.). Dies gilt für den Wissenstransfer zwischen Nationen, Kulturen und Gesellschaften ebenso wie für gattungsübergreifende und -wechselnde Formen literarästhetischer Verfahren.7 Die Interrelation zwischen Eigenem und Fremdem konstituiere sich schließlich durch Prozesse von Wahrnehmung und Auffassung (vgl. Wierlacher 1993: 233), und als Medium interkultureller Kommunikation komme der Kunst sowohl als relatives als auch universelles Potenzial eine entscheidende Rolle zu, »weil Kunst nicht nur kulturspezifisches, sondern auch allgemein menschliches Verhalten ausdrückt« (Mecklenburg 2003: 434).

Besonders auffällig wird die Analogie von Literaturlektüre und Theaterschau bei Krusche (vgl. 2003), sobald er anstelle des Textes den gelesenen Text ins Zentrum literaturwissenschaftlicher Betrachtung rückt und somit die Differenz zwischen gelesenem und anders gelesenem Text zur Grundlage von »Lese-Differenz« (ebd.: 467) macht. Hier wird Rezeption als Situation an den Vollzug der Performanz gebunden – eine Perspektivenverschiebung, die wir bereits im viel zitierten Passus von Hans Georg Gadamers Grundlagentext Wahrheit und Methode (1960: 105) finden, wonach hermeneutisches Verstehen ausgehend von einem Theatermodell entwickelt wird, in dem nicht Schauspielerinnen und Schauspieler, sondern die Zuschauenden im Fokus des Spiels stehen: »Es ist eine totale Wendung, die dem Spiel als Spiel geschieht, wenn es Schauspiel wird. Sie bringt den Zuschauer an die Stelle des Spielers. [Der Zuschauer] ist es […], für den und vor dem das Spiel steht.«

Demnach nimmt ›Theater‹ als methodologische Konzeption einen wichtigen Platz für die Erforschung interkultureller Erkenntnisprozesse ein. Seine Innovation lässt sich im Ausgang von den soeben dargelegten Konzepten von ›Interkulturalität‹ so formulieren: Über bühnenähnliche Mittel oder Elemente des Theaters können literarische Beobachtungsprobleme interkulturellen Zuschnitts insofern modellhaft erfasst werden, als Akteure in Literaturen ihr eigenes Handeln nicht nur vollziehen, sondern auch von außen – in einer Als-ob-Situation – betrachten und reflektieren.

Vor allem im Essayband Fremdenzimmer wird dieser Aspekt dadurch fruchtbar, dass das Bühnenmodell mit dem Wechsel von Innen- und Außenperspektive, mit der Wahrnehmungsfokussierung, Körpersprache und der räumlichen Erweiterung der sinnlichen Beobachtung ein auf Form bedachtes erzähltes Lesen gestaltet. Die Aufmerksamkeit wird, über die Sprache hinaus, auch auf erzählte visuelle und akustische Zeichen im Text wie Licht, Landschaft, Szene, Geräusche oder Musik gelenkt. Somit folgt dieses narrative Bühnenmodell einer Grundhaltung, die interkultureller Literaturforschung doch sehr inhärent ist: Kennzeichnend für interkulturelle Erzählweisen ist gerade nicht, von der Kontinuität einer im Vordergrund stehenden Lebensgeschichte zu erzählen und sich somit den Standards autobiographischen Schreibens anzunähern; »vielmehr sind es Verwandlungen des Ich, die sich als sprachliche und kulturelle Grenzüberschreitungen entfalten« (Schenk 2016: 48). Autorinnen und Autoren der interkulturellen Literatur nutzen die Metamorphose einer Ich-Figur als Schaltstelle für Dissoziationen, Verwerfungen, Verwandlungen und Verfremdungen. Der vorliegende Beitrag vertritt die These, dass dieser Ansatz sprachlicher und kultureller Grenzüberschreitungen gerade mithilfe theatraler Kommunikationsmittel dokumentierbar wird.

3. José F.A. Olivers Fremdenzimmer

3.1 Wahrnehmung von Heimat (›Aisthesis‹)

»In Zeiten, als Integration noch ein Fremdwort war« – so beginnt der Klappentext der 2015 veröffentlichten Essaysammlung Fremdenzimmer. In 12 Essays wird vom Leben eines Jungen erzählt, der mitsamt Familie aus Andalusien auswandert und sich in einer zunächst fremden Welt im süddeutschen Badnerland niederlässt; die Eindrücke der neuen Umwelt ver-dichten sich zunehmend zur lieb gewonnenen Heimat.

Es ist naheliegend, im Fremdenzimmer ein autobiographisches Dokument aus dem Leben von José F.A. Oliver selbst zu lesen,8 jedoch verweigern sich Untertitel und Angaben in der Titelei einer solchen vorschnellen Zuordnung. Dem Untertitel »Prosa« folgt die Angabe »Essays« (5). Die Reflexion über und das Versinken in neue Sprachwelten ermöglichen es dem Jungen einer andalusischen Einwandererfamilie, einen »Kosmos« von neuartigen Spielen, Liedern und Gerüchen, kurzum: von Sinneseindrücken, vermittels Sprache zu entdecken. Das Erkenntnisinteresse, bislang Undenkbares in der Ortlosigkeit der Sprachen denkbar zu machen, lenkt diese literarische Erinnerung des Erzählers durch seine Kindheit. Es ist bereits darin eine entsprechende Fiktionalisierung autobiographischer Erfahrung zu finden. Mit den Augen des Unerfahrenen eignet sich der Junge die Eigenheiten und Tagesrhythmen des »Städtle« an, denn

Kindheit war für mich immer Wirklichkeit und Vorstellung in einem. Hier das Alemannische, dort das Andalusische. Der Inbegriff des Alemannischen waren für mich ein Rucksack und geheimnisvolle Nachtwanderungen, das zünftige Vesper beim Sonnenaufgang und Hosenträgerspeck oder hart geräucherte Bratwürste, die zur wohlverdienten Frühstückspause nach den vielen Kilometern durch den stockdunklen Wald endlich ausgepackt werden durften. Dazu gab es meistens ein paar Scheiben Bauernbrot und, vor allem, dies noch: den Stolz auf ein eigenes Taschenmesser, das man nach dem herzhaften Mahl – ganz wie die Erwachsenen – kräftig am Lederarsch abrieb. Damit war nicht nur das Messer wieder sauber, sondern die Lederhose auch gut eingefettet. Einer der frühesten Sätze aus meinen Kindertagen lautete […]: »E rächte Kerle het e Messer im Sack.« (18)

Wie dieser kurze Beispieltext von José F.A. Oliver zeigen mag, bündelt die Beobachtung eine vertextete Inszenierung vereinzelter Sinneseindrücke. Die Fiktionsbildung vollzieht sich im ersten Satz: »Kindheit war für mich immer Wirklichkeit und Vorstellung in einem«. Damit wird eine theatrale Szene wie auf einer Guckkastenbühne durch die Etablierung eines Beobachters erzeugt, der uns als Lesende Einblicke in seine Lebenswelt gewährt. Ganz entscheidend ist dabei, dass der Beobachter Fragmente seiner Wahrnehmung selektiv auswählt und zu einer szenischen Beschreibung bündelt.

»W:orte« (99) der Inszenierungen sind dabei das »Alemannische«, »dort das Andalusische«. Das Bühnenbild vollzieht sich in einem rhythmischen Wechselspiel »geheimnisvoller Nachtwanderungen« im »stockdunklen Wald« und »zünftiger Vesper beim Sonnenaufgang«. Hierbei handelt es sich um das Spiel einer Lichtregie durch bewusst gesetzte Farbkontraste, wenn einige Zeilen später der Ort des »Andalusischen« durch »goldene Siegelringe« der immer sonntags flanierenden Ehemänner zum Glänzen gebracht wird. Theatrale Inszenierung ist dabei auch ein Behelf für Erinnerung: Während des Sonntagsspaziergangs, an dem sich das »Andalusische« gewiss nie in den alemannischen Wald verirrt hat, waren, »von Weitem« (19) betrachtet, die Tannen eine willkommene Erinnerungsstütze und »Kulisse«, »die den Palmen in der Heimat jedoch nie das Wasser reichen konnten« (ebd.). Umwelt, so lässt sich aus diesem Relationenbündel sinnlicher Eindrücke entnehmen, wird narrativ umfunktionalisiert und durchläuft vermittels strategisch gewählter Inszenierung eine vertextete Figuration von Heimat.

Zum Schluss in Postskriptum (102) schlüpft der Erzähler in die Rolle eines fiktiven Editors und wendet sich mit folgenden Sätzen an die Leserschaft:

Werter Freund,

Sie baten mich in Ihrem letzten Brief, ich möge Ihnen für ein paar Sätze Einblick gewähren in mein Domizil. Ich will es versuchen. Bitte haben Sie ein Nachsehen, dass ich Ihrem Wunsch vielleicht nur mit Ungenügen begegnen, will sagen, Ihnen lediglich meine in vielerlei Hinsicht (eigen erprobten) und damit an die gewohnte Umgebung gewöhnten Augen anvertrauen kann und Sie deshalb viel lieber für ein paar Tage zu mir einladen würde, als Ihnen nur ein Gerippe dessen anzudeuten, was voller Geschichten steckt, die ich oft selber gar nicht mehr wirklich zu erkennen vermag. (Ebd.)

Die Anrede lädt bereits zur Spekulation ein, auf welchen Klassiker hier wohl referiert wird.9 In diesem Zitat wird durch die Wiedergabe einer Anfrage eine Leserrolle entworfen, die bereits ein Interesse an den Geschehen von Fremdenzimmer bekundet hat. Als solche spricht der Erzähler Lesende direkt an. Es folgt ein Gesuch um Nachsehen, dass die Bitte um Einsicht möglicherweise nur ein Gerippe der Vergangenheit zum Vorschein gebracht haben könnte. Außerdem wird eingeräumt, dass die Darstellung erprobt ist. In der Perspektive des erzählenden Subjekts müsse immer auch die gleichzeitige Objekthaftigkeit eines zugrunde liegenden »Denkstils« (vgl. Fleck 1980) mitbedacht werden: Man sieht, was man gelernt hat zu sehen. Die Instanz des Erzählenden wechselt somit in jene eines Publikums; sie ist selbst ein Geschöpf einer Vorstellung, nicht realer als die Figur eines Schauspiels.

3.2 Körper und Leiblichkeit (›Kinesis‹)

Das Alemannische und Andalusische sind mehr als nur Orientierungspunkte einer interkulturellen Erzählung. Beide Sprachen koexistieren im Hause einer Mehrsprachigkeit und zeigen alternative Perspektiven der »Sprachw:erdung« (54) von Heimat auf, die sich auch auf die Konstitution von subjektiven Identitäten auswirkt:

Ich bin in einem Haus aufgewachsen, das zwei Stockwerke hat. Im ersten Stock wurde alemannisch gesprochen, also annähernd deutsch, und im zweiten andalusisch, also annähernd spanisch. Wenn sich eine sternenklare Nacht abzeichnete und man den Mond am Himmel sah, hieß er im zweiten Stock »la luna« und war weiblich. Betrachtete man la luna vom ersten Stock aus, war sie plötzlich männlich und hieß »der Mond«. Ein paar Treppenstufen genügten, und aus der Frau wurde ein Mann oder umgekehrt. (17)

Mit dem Titel: Vaterskizze, m:einen Kühlschrank betrachtend, setzt der Erzähler (vgl. 92-95) diese Beobachtung im Zuschnitt generationenübergreifender Aspekte fort. Von zentraler Bedeutung ist dabei das Wort »Herkunft« (92). Wie lassen sich ihre Spuren zurückverfolgen und findet sich eine Antwort auf die Frage nach dem Anderssein?

Vater war »eigenväterlich«, ein »Fabulant« und ein »andaluz ardiente« (span.; ein leidenschaftlicher Andalusier). In seinem Großmut, der immer für Überfluss an Käse und Wein sorgte, war die wichtigste Errungenschaft der andalusischen Einwandererfamilie »la nevera«, der Kühlschrank; ein Garant väterlicher »Herzensgeste(n)«. »W:orte« (99) für »Herkunft«, so erinnert sich der Erzähler, finden sich im veritablen »Entrad« (span.; herzlich willkommen) am Wochenende, wenn sich das Wohnzimmer in einen Empfangssalon verwandelt, mit Stolz das Kinderzimmer und das natürlich blitzeblank geputzte Bad präsentiert wird – beim Elternschlafgemach belässt man es indes mit einer knappen Deutung – und dann der Gang zum »absoluten Kleinod« (94) erfolgt, zum prallgefüllten Kühlschrank: »Für ihn ein Glücksgefühl und mir Metapher.« (Ebd.) Das Spiel im Spiel wird eröffnet durch eine direkt vermittelte Erzählung des Vaters, der während des spanischen Bürgerkriegs 1936 einen Hunger verspürte, den nur der Krieg gebiert: »Das gefräßigste aller Mäuler« (95).

Durch die Erzählung des Vaters erfährt sich der vermittelnde Erzähler selbst als fühlendes Individuum: Beim Anblick des Kühlschranks »lächle ich mich satt« (ebd.). Der Gegenstand des Kühlschranks durchläuft eine sinnliche Figuration über das Horchen – als bewusstes Hören –, Sehen und Berühren. Dies aber kann nur deshalb passieren, da mit dem Kühlschrank »Herkunft« inszeniert wird, also in seiner erinnerten Bedeutung erweitert und durch die soziale Konstellation mehrdimensionaler Perspektiven erfahrbar wird. Der Erzähler reflektiert dies in einem episch vermittelnden Kommentar, der der Inszenierung vorangeht:

Auf der Suche nach den Fährten b:leiben die Dinge. Sie werden Körpertexte. Distanz der Nähe. Auch umgekehrt. Text und Körper. Es ist der Blick des Blickes, der uns erzählen macht. Der Blick des Blickes auf den Blick. Ein Nebensatz trifft plötzlich ins Mark des Sagens, wo Wahrnehmung imaginiert, sich vorstellt, dass … Ein Schattenfries, der sich umläuft. Gedächtnisschleifen. Gar Wurzelschlingen, die sich verkrallen. Mitunter ein farbgeformtes Kaleidoskop ins Künftige. (92f.)

Dieser Analogie zwischen Körper und Text liegt ein weiteres Moment theatraler Kommunikation zugrunde: Erstens wird durch die typographische Aufspaltung des Verbs »b:leiben« eine ambige Simultanität von Leiblichkeit und Beständigkeit vermittelt. Es ist deshalb von ambig zu sprechen, da sich beide Komponenten gegenseitig erstmal ausschließen; der Verfall des menschlichen Leibes ist so unaufhaltsam, solange dieser nicht ins Metaphysische gesteigert wird oder – wie in diesem Beispiel – durch materielle Repräsentation erinnert wird. Ohne materiellen Unterbau sind Prozesse der Semantisierung des Wortes oder der Verkörperung leiblicher Präsenz nicht möglich; davon geht zumindest die Erzählinstanz aus, wenn sie die Wahrnehmung vom Kühlschrank als »W:ort« (ebd.) väterlich andalusischer Heimat und Gastfreundschaft steigert. Von besonderem Interesse ist zweitens das syntaktisch durch zwei Satzpunkte isolierte Substantiv »Gedächtnisschleifen«. Während in den ›Schleifen‹ zumindest noch eine geometrisch nachvollziehbare Bewegung und Dynamik zum Ausdruck gebracht wird, gerät diese Dynamik mit dem ›Gedächtnis‹ wieder in einen Zustand von Stillstand und Passivität.10 Die eigene Vergangenheit gibt es als solche nicht, aber durch »W:orte« der Erinnerung trifft sie »ins Mark«, und »Wurzelschlingen« »verkrallen« sich, solange auf der Suche nach den Fährten die Dinge »b:leiben« (93).

Die Analogie zwischen Gefühlswahrnehmung und ihrem adäquaten Ausdruck ist in einer Übersetzungsleistung zu suchen, die der Körper der Bühnenfigur vollbringt. Der Leib wird zur körperlichen Spielfläche interkulturell mehrsprachiger Kommunikationsprozesse. Dieses Fazit mag zugegebenermaßen konstruiert wirken; dies ist es aber nicht mehr, wenn man sich Fremdenzimmer auch mit der Definition von ›Theatralität‹ nach Kramer / Dünne (2009: 17) vor Augen führt. Demnach ist ›Theatralität‹

ein komplexes […], ein relationales Gefüge, das nur durch die Interferenz von Körperpraktiken und technisch-materiell gestützten Inszenierungs-, Interaktions- und Wahrnehmungsformen beschreibbar ist, wobei sich je nach historischem und kulturellem Kontext divergierende Relationierungen der genannten Teilaspekte theatraler Performanz ergeben.

3.3 Sprache (›Semiosis‹)

Die Erzählungen im Fremdenzimmer werden immer wieder durch poetologische Einschübe zum Verhältnis von Sprache und Erinnerung unterbrochen. Dies erfolgt durch die Episierung spielinterner Handlung. »Holz«, so heißt es beispielsweise im Kapitel Vier Gerüche Holz (96-101), »riecht im Herbst nach einem unverhofften Déjà-vu« (99). Holz ist als hartes Gewebe von Bäumen und Sträuchern zunächst semantisch unterdeterminiert und leer, figuriert aber durch den erzählenden Blick als Anschauungsmaterial für die geschichtliche Dimension von Sprache:

Ginsterdürre, Borkenbrocken, bleicher Grabenfarn. Allenthalben sieche Fichten. Flechten narbten Wundsilhouetten. Wie hingeworfen Waldgrasfladen. Im eingerollten Ockermatt wuchs stumm und zeitvermummt der wintermüde Boden fort. An sich hinab. Als wäre kein Entrinnen. Und wie ein Scherenschnitt der Schwere verspannten greise Schattenäste die surrealen Zapfenzweige um kranke Knochenhölzer. Vom Nacktgebüsch tropfte die Trauer in moderschwarze Nadelschwämme. So roch der Herbst, wenn er verging, nach Leibvergänglichkeiten. Die Zeit gefror. Wie lang, ich kann es nicht mehr sagen. Nur eines ist mir gegenwärtig: Ein Tag, der kommen würde, versöhnte all die Fäulnisangst. Ein Immerstern, der nirgends war und doch im W:ort zugegen und uns versprach zu bleiben. (Ebd.)

Bereits dieses kleine Zitat vermittelt eine Ahnung von Olivers dynamisch historisierendem Denken. »W:orte« (99) – also am jeweiligen Standort gebundene Sprache oder Orte, die im Resonanzraum von Sprache bedeutsam werden – überdauern Jahreszeitenwechsel und »Leibvergänglichkeiten«. Und so wie die Zeit gefriert, so gewinnt man auch den Eindruck, dass Sprache als ewiges Monument menschlicher Kultur wie eine kalte Vernunft vom Himmel herab auf Sein und Vergehen herabblickt. Doch das Wagnis des episch Metaphysischen wird rasch gebrochen. Sprache überbrückt nicht das transitorisch-theatrale Moment, sondern ist selbst in sprachlich fragmentarisierte Resonanzräume konkurrierender Ideen von Sprache aufgebrochen.

Das wird vor allem auffällig, wenn Literatur ihre Leserinnen und Leser zum Aufbruch in neue Landschaften wie neugierige Wandernde einlädt, aber auch zu Aufruhr anstiftet: In Schimpf und Widerstand. Als die alemannische Sprache in meine Sprache kam (26-34) wird die brisante, durch den Einsatz von wörtlicher Rede wiedergegebene Konfliktsituation im »Provinzklassenzimmer« dramatisiert. Die Eskalation zwischen dem Lehrer und dem Jungen endet in dem erzwungenen Versprechen des Jungen, nie wieder den Dialekt der »Schwarzwälder Gassen« (27) zu benutzen, nachdem er diesen im »dialektverwaisten« Unterricht der 1970er Jahre nur mit den besten Absichten zum Ausdruck brachte. Anerkennung, so der Lehrer, erhalte man schließlich nur durch den angemessenen standardsprachlichen Ausdruck. Mit dem Klassenzimmer als »Sprachpranger« wird hier ein weiteres Kapitel einer für den Jungen wohl nie endenden Integrationsreise aufgeschlagen.

Unser Lehrer – es ließ sich nicht anders zusammenfassen – wurde wahrscheinlich directement aus der Hochsprache in die Hochsprache fortgeboren. Wer weiß. Ohne erkennbare Landschaftsverbundenheit auf den staatsexaminierten Fingerkuppen ein Goetheaner jedenfalls; ja, das könnte er dialektverwaist, wie er sich zeigte, gewesen sein. Dessen bin ich mir (fast) sicher. Durch und durch färbungsneutral. Daher studierte er in dicken Schinken auch nur sie, des Geheimrats Aufzeichnungen, wenn wir Schüler über den Erörterungen, Aufsätzen oder anderweitigen Arbeiten brüteten und »Kirschen brechen« schrieben, anstatt sie zu »pflücken«. Nun gut. So isch s halt gsi [alem., So war es nun einmal]. (Ebd.)

Doch der junge Erzähler gibt sich damit nicht zufrieden, denn »d Hoimet isch au d Sproch« (35), und begibt sich auf einen Spaziergang durch die alemannisch-andalusische Kindheit. Indem der Junge von seinen Erlebnissen im Klassenzimmer erzählt, erweckt die Fokussierung auf die Handlung durch den Einsatz von direkter Rede und Dialektwiedergabe einen Eindruck von Absolutheit und dramatischer Konzentration. Bereits der erste Satz signalisiert durch eine summarische Zusammenfassung aller Ereignisse den noch zu erzählenden Konflikt: »Es hätte nicht viel gefehlt und ich wäre in hohem Bogen aus dem Provinzklassenzimmer geflogen.« (26) Auch der Titel der Erzählung eröffnet mit der Wahl des temporalen Nebensatzes: »Als die alemannische Sprache in mein Schreiben kam«, eine dramatische Fokussierung.

Diese wird dann im Essay Vom Warten (84f.) aufgehoben. Die Figur des Vaters übernimmt im Fremdenzimmer auffallend starke Anteile eines epischen Kommentars, die der Funktion des kommentierenden Chores im Theater nicht unähnlich ist.11 So bildete der Chor im antiken Theater eine epische Instanz außerhalb des eigentlichen dramatischen Geschehens, die dazu dient, es von überindividuellen, gegebenenfalls gruppenspezifischen und gesellschaftlichen Standpunkten aus zu begleiten, zu deuten, zu kommentieren oder zu bewerten. Er historisiert überdies die inszenierte Handlung durch Übernahme einer Nebenrolle und reflektiert den Konflikt Standardsprache gegen Dialekt (84-87) unter Einbezug von Vergangenheit und Zukunft. Migration hat, »so schlängelt die Geschichte her« (84), mit der Vertreibung aus dem Paradiesischen begonnen. Und wie es sich für den deklamatorischen Stil von Chorliedern gehört, wusste Vater davon ein »Lied zu singen« (ebd.): Denn die Reise zur Herkunft ist eine Geschichte des Wartens. Seit Anbeginn der Zeiten begehrt »das Menschenherz« den »frivolen Flügelschlag der Illusion. Ein Flattern, das sich am Gitterzaun der Sehnsuchtsbalz verhake.« (Ebd.) Es folgt eine Aufzählung von Metaphern wie »Luftschlosspilger« (ebd.) für die ewige Warterei. »Warten war schon immer Magie und Fluch in einem. […] Dort, wo das Warten auf das Warten selber wartet, findet mithin die Not ihr verdammtes Glücksgewusel. Diese Einsicht kann ins Tragische versiegen und nur selten ins Exil versöhnen.« (85) Das Warten ist ein »Immersog. Manche verschluckte dabei die Migration. Aus Erwartenden wurden Wartende. Aus den Wartenden die Toten.« (87)

3.4 Paratexte extratheatraler Kommunikation

Die kommentierende Fußnote begleitet Fremdenzimmer als informatives Beiwerk und dies ist nicht nur aus editionswissenschaftlicher Perspektive von Interesse. Im Fremdenzimmer finden sich insgesamt 126 Fußnoten mit ziemlich unterschiedlichen Funktionen; dies rückt auf den ersten Blick die an dramatischen Binnenhandlungen reiche Autofiktion wieder in die Nähe des wissenschaftlichen Essays. Jedoch unterwandern viele Kommentare den Anspruch einer reinen wertfreien Glosse, wie im Folgenden noch zu zeigen ist. Zunächst sind die zahlreichen Worterklärungen zu nennen, die die Leserschaft in Form einer knappen Annotation durch die alemannische Erzähllandschaft begleiten: »Muedersproch (alem.): Muttersprache« (41).

Dann finden sich Worterläuterungen. Sie übersetzen eine alemannische Vokabel nicht nur in die Standardsprache, sondern spüren ihre pragmatische Funktion mithilfe von Wortfeldern auf. Stilistisch sind die ironische Überzeichnung wesenseigener Attribute und die deutliche Wertung auffallend: »Wunderfitz, wunderfitzig (alem.): ein Naseweis, der große Glupschaugen macht, vorwitzig und mit einer gepfefferten Portion Verschlagenheit im Sinn. Nicht ganz unaufdringlich, in seiner Chuzpe jedoch durchaus sympathisch.« (14)

Andere Kommentare versorgen die Leserschaft mit landeskundlichen Informationen zu andalusischen und alemannischen Bräuchen und Traditionen: »Schnurre (alem.): jemandem einen (närrischen) Spiegel vorhalten. Das Schnurren ist ein jährlich stattfindender alemannischer Fastnachtsbrauch, der in der alten Tradition der Moritätensänger steht, die früher von Dorf zu Dorf ihre Bänkellieder vortrugen.« (39)

Besonders interessant sind überdies diejenigen Kommentare, die sich mit der Anredeform der 2. Person als Lese- oder Regieanweisung direkt – und aus dem Bühnengeschehen heraus – an das Publikum wenden: »Lesen Sie sich diese Sätze laut vor, dann rückt Ihnen s Alemannische badischer Couleur wahrscheinlich ganz von selbst auf Ihren hochsprachlichen Leib.« (15)

Den innovativen Impuls einer solchen Schreibweise erkennt man, wenn man in kontrastierender Betrachtung fachhistorische Konventionen zum philologischen Kommentar hinzuzieht. Traditionell fällt dem Kommentar die Rolle eines dokumentierenden Korrektivs zu: »Das Trennen zwischen der wissenschaftlichen Analyse eines Texts und ihrerseits wissenschaftlich begründeten Lesehilfen zu diesem ist eine wichtige und die erste Aufgabe eines Kommentators.« (Scheichl 2014: 30) Ähnlich sieht es Lüdeke (2003): Unter dem Begriff des Kommentars sind »Erläuterungen oder Anmerkungen zu sachlichen und sprachlichen Gegebenheiten« zu verstehen, »deren Erklärungsbedarf aus historischen oder kulturellen Unterschieden zwischen dem Entstehungs- und dem Rezeptionskontext eines Werkes resultiert.« Es wird zudem deutlich gemacht, was der Kommentar nicht ist: »Konsequenzen des wieder hergestellten zeitgenössischen Kontexts für die Interpretation gehören nicht in den Kommentar, der [den Lesenden; T.A.S.] keine bestimmte Sichtweise auf den Text aufdrängen darf.« (Scheichl 2014: 32) Formen der kommentierenden Argumentation sind somit Paraphrasieren, Erklären und Verweisen; Interpretation geht vorrangig analysierend und begründend vor. Interpretation positioniert sich in der Vielfalt, der Kommentar dagegen dokumentiert die Vielfalt.

Einen möglichen Grund für die auffallend dichte Streuung von Kommentaren im Fremdenzimmer liefern die autoreflexiven Überlegungen im Text selbst: »Das Gedächtnis ist ein Kaleidoskop. Seine Bilder sprechen vor, ohne dass man den Tonfall der Stimmen im Nachhinein noch vernehmen könnte. Stimmen verblassen mit der Zeit und sind nicht mehr zu hören.« (10) Mit der Einsicht, dass das Vergessen ein unvermeidlicher Begleiter des Gedächtnisses ist, kommt die aktive Erinnerung als rekonstruierender Behelf transitorischer Erfahrungen von Interkulturalität hinzu. Am deutlichsten wird dies in einem lyrischen Einschub, der in alemannischen, deutschen und spanischen Variationen abgebildet wird:

Da waren bisweilen die Tage

Notunterkunft aus Zigeunerbrot und Zuckerwatte

Straßenwerk des fahrenden Gesindels

Fiedel Pranger Klagemauer

Auch verstummendes Gebell der Hunde

In welches sich die Dämmerung

Ein Gedächtnis wob aus Flüssen (34)

Das Gedächtnis ist in der letzten Zeile ein Objekt der Dämmerung und die Inversion des Verbes »wob« betont die Angabe des Flusses – wann immer man in ihn hineinspringt, ist er bekanntermaßen nie derselbe. Mit dem Vergessen ist man auch nicht mehr der, dem es passierte. Die Verarbeitung durch aktive Erinnerung ist eine Produktion, an der die Gegenwart genauso beteiligt ist wie die Vergangenheit. Daher sind die Anmerkungen im Fremdenzimmer auch weniger als editorischer Bericht oder gar als Korrektiv zu lesen, wie es die oben genannten Forschungsberichte darstellen. Vielmehr bieten sie im Sinne von Bildern, Regieanweisungen oder Aufführungsberichten eine Chance, die literarische Vergangenheit des Erzählers in eine Art von Theaterrealität zu überführen und somit die dramatische Unmittelbarkeit sinnlicher, sprachlicher sowie leiblicher Erfahrungen von Interkulturalität zu vergegenwärtigen.

4. Fazit

Arbeitsziel war die Prüfung, zu welchen Erkenntnissen interkulturelle Literaturwissenschaft kommen kann, sobald man nichtdramatische Literatur als Theaterbühne und narrative Erzählperspektiven als theatrale Kommunikationsweisen betrachtet. Die Absicht dieses Beitrags bestand darin, aufzuzeigen, wie Theater und die damit verbundenen strukturellen Beschreibungsmittel weniger als interkultureller Gegenstand, sondern als methodische Perspektive für ein mögliches Verständnis von interkulturellen Schreibweisen fruchtbar gemacht werden können. Was diese Idee so attraktiv macht, ist, dass sie die Aporie systematischer Kriterienkonstrukte, die interkulturelle Kunstwerke nach spezifischen Eigenschaften zu klassifizieren versuchen, zu vermeiden erlaubt. Im Gegenteil richtet sich das Konzept des Theaters nicht auf Eigenschaften des Interkulturellen, sondern auf den Umgang mit dem Interkulturellen.

Fremdenzimmer spielt und bricht in diesem Zusammenhang mit vorschnellen Identifikationsprozessen, indem sowohl auf Erzählebene als auch auf jener der im Einzelstellenkommentar vermittelten Realien subjektive Erfahrungen und Sprachlatenzen des Erzählers kommuniziert werden. Dieses Spiel von gleichzeitiger Distanzierung und Annäherung findet im rhythmischen Wechselspiel auch Eingang in die formale Gestaltung von Interkulturalität im Fremdenzimmer. Unter der modellierten Architektur des Theaters werden strukturelle Komponenten wie körperorientierte Kommunikation, seinsgebundene Prozesse von Eigen- und Fremdwahrnehmung sowie Wechselprozesse von Innen- und Außenperspektiven innerhalb eines semantisch multiplen Geflechts in Beziehung gesetzt. Der Auftritt eines solchen inszenierten Kaleidoskops der Beziehungen macht die formale Verarbeitung interkultureller Themenfelder wie z.B. ›Flucht‹, ›Migration‹, ›Dialog‹ oder ›Konflikt‹ zu sinnlich erfahrbaren Ereignissen.

Die szenisch theatrale Vergegenwärtigung erzählter Vergangenheit zeigt ferner, dass die Innovation literarischer Erzwählweisen von Interkulturalität mitunter im bewussten, gerne auch spielerischen Umgang mit literarischen Gattungen, sprachlichen Konventionen und Formen bestehen kann. Als Zeuge seiner Wahrnehmung wird im Fremdenzimmer (vgl. 102) gegen Ende Ilija Trojanows 2006 erschienene Gebrauchsanweisung für Indien zitiert: »Das mühsam Erlernte über den Haufen werfen zu müssen, weil der gelüftete Schleier den Blick auf einen weiteren Schleier öffnet. Wir im Westen haben nicht gelernt, mit gespiegelten Täuschungen umzugehen. […] Das Paradoxon ist bei uns eine lästige Unstimmigkeit« (Trojanow 2006: 67f.).

Anmerkungen

1 | In der Folge wird aus dem Fremdenzimmer nur mit Angabe der Seitenzahl zitiert.

2 | Literaturwissenschaftlich wurde die Beziehung zwischen Literatur und Theater im Kontext der Gattungsparallelisierung zwischen Roman und Drama für den ›Bildungsroman‹ erforscht (vgl. Selbmann 1981). Zum Erzählen als ›narrative Inszenierung‹ u.a. am Beispiel des Briefromans im 18. Jahrhundert vgl. Huber 2003.

3 | Antonin Artauds 1938 veröffentlichte Schrift Über das Balinesische Theater (vgl. 1958: 53-67) kann in diesem Zusammenhang als Klassiker erwähnt werden. Seine Studien wurden wiederum intensiv vom japanischen Regisseur Teryama Shūji (vgl. 1991: 50-103) studiert. Peter Brook und Ariane Mnouchkine erarbeiteten sich seit den 1970er Jahren mit Experimenten in Persien und Afrika neue Impulse für ihre Theaterarbeit (vgl. Oida 1992; Seym 1992), und Jerzy Grotowski (vgl. Grotowski / Heibert 2006) studierte intensiv das indische Ritualtheater.

4 | Zur vertieften Lektüre dieses Problems vgl. den an Beispielen reichhaltigen Forschungsbericht von Regus (2009: 33-44). Für die Theatertopographie der Bundesrepublik Deutschland zeigt Sappelt (vgl. 2007: 275-293) mithilfe einer statistischen Produktionschronologie zudem auf, dass sich anstelle eines ›Interkulturellen Theaters‹ noch eher von einer Vielzahl nationaler Minderheitenbühnen der freien Theaterszene sprechen lässt. »Der Zutritt zu den städtischen Bühnen wird der [Theaterarbeit der Migrantinnen und Migranten; T.A.S] weitgehend verweigert« (ebd.: 283).

5 | Aus diesem Grund rücken gattungsreflexive Fragen im Zusammenhang von interkultureller Literaturwissenschaft wieder verstärkt in den Fokus aktueller Diskussionen. Vgl. Titel und Themenbeschreibung der IVG-Sektion in Palermo 2020, H-Germanistik 2018.

6 | Vgl. Bloch / Heimböckel 2019: 376, und Marx 2012: 7.

7 | Gerade der letzte Punkt unter Form und Gattung ist vor allem für die problematische Verflechtung von Kolonialismus und Kunst nochmals hervorzuheben. Fiebach (vgl. 2019) arbeitet beispielsweise für die jüngste Theatergeschichte in Afrika südlich der Sahara heraus, dass die Pluralisierung von Inszenierungsformen das bis in die 1960er Jahre vorherrschende Mittel des Illusionstheaters relativiert hat: »Gemeinsam ist [dieser Pluralisierung; T.A.S.], dass das aristotelische geschlossene, ›gut gemachte‹ Stück Europas nur noch als eine unter vielen anderen Dramenformen genutzt wird und dass die rigide Trennung von Darstellenden und Publikum wie im europäischen Bild-Bühnen- bzw. Guckkastentheater, die unter dem kulturimperialistischen Einfluss als Struktur von Theater überhaupt verstanden wurde, grundsätzlich nicht mehr gilt.« (Ebd.: 210)

8 | José F.A. Oliver wurde als Sohn einer andalusischen Gastarbeiterfamilie geboren, die 1960 aus Málaga in die Bundesrepublik Deutschland gekommen war. Seit den Achtzigerjahren lebt er als freier und mehrfach preisgekrönter Schriftsteller in seiner Heimatstadt Hausach.

9 | Vgl.: »Was ich von der Geschichte des armen Werthers nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammelt und leg’ es euch hier vor, und weiß, daß ihr mir’s danken werdet. Ihr könnt seinem Geist und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe, seinem Schicksale eure Tränen nicht versagen. Und du gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinem Leiden und laß das Büchlein deinen Freund sein, wenn du aus Geschick oder eigner Schuld keinen nähern finden kannst.« (Goethe 2005: 247)

10 | So unterschied Martin Walser (1998) das Gedächtnis in Abgrenzung von der Erinnerung folgendermaßen: »Etwas ist in einen hineingefallen, wie es einem passiert ist, und man kann es dann später gerade so herausholen. Und dann klingt es, als hätte es sich nicht verändert, obwohl es lange her ist. Das ist Gedächtnis. Damit habe ich überhaupt nichts zu tun.«

11 | Zum innovativen Einsatz des Chores vor allem in Antikeninszenierungen auf deutschsprachigen Bühnen vgl. Baur 1999.

Literatur

Artaud, Antonin (1958): The Theater and its Double. Aus dem Franz. v. Mary Caroline Richards. New York.

Balme, Christopher (2007): Deutsches Welttheater? In: Die Deutsche Bühne 78, H. 5, S. 20-23.

Baur, Detlev (1999): Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts. Typologie des theatralen Mittels Chor. Berlin.

Bloch, Natalie / Heimböckel, Dieter (2019): Drama und Interkulturalität. In: Andreas Englhart / Franziska Schößler (Hg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft: Drama. Berlin / Boston, S. 372-391.

Brauneck, Manfred (2001): Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle. Hamburg.

Cotten, Ann (2013): Der schaudernde Fächer. Erzählungen. Berlin.

Fiebach, Joachim (2019): Afrika. In: Andreas Englhart / Franziska Schößler (Hg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft: Drama. Berlin / Boston, S. 207-216.

Fischer-Lichte, Erika (Hg.; 1995): TheaterAvantgarde. Wahrnehmung, Körper, Sprache. Tübingen.

Fleck, Ludwik (1980): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Mit einer Einleitung hg. v. Lothar Schäfer u. Thomas Schnelle. Frankfurt a.M.

Gadamer, Hans Georg (1960): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen.

Glesener, Jeanne E. / Roelens, Nathalie / Sieburg, Heinz (Hg.; 2017): Das Paradigma der Interkulturalität. Themen und Positionen in europäischen Literaturwissenschaften. Bielefeld.

Goethe, Johann Wolfgang (2005): Die Leiden des jungen Werthers. Studienausgabe. Paralleldruck der Fassungen von 1774 und 1787. Hg. v. Matthias Luserke. Stuttgart.

Grotowski, Jerzy / Heibert, Frank (2006): Für ein Armes Theater [1969]. Berlin.

Heimböckel, Dieter / Weinberg, Manfred (2014): Interkulturalität als Projekt. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5, H. 2, S. 119-144.

Huber, Martin (2003): Der Text als Bühne. Theatrales Erzählen um 1800. Göttingen.

H-Germanistik (Hg.; 2018): Call for Papers. Interkulturalität und Gattung. Re-Visionen einer vernachlässigten Beziehung in der Literaturwissenschaft; online unter: https://networks.h-net.org/node/79435/discussions/1561576/cfp-ivg-sektion-10-interkulturalit%C3%A4t-und-gattung-re-visionen [Stand: 1.4.2019].

Khider, Abbas (2016): Ohrfeige. München.

Kramer, Kirsten / Dünne, Jörg (2009): Einleitung. In: Dies. (Hg.): Theatralität und Räumlichkeit: Raumordnungen und Raumpraktiken im theatralen Mediendispositiv. Würzburg, S. 15-32; online unter: www.uni-bi.de/lili/personen/kkramer/downloads/kramer_einleitung.pdf [Stand: 1.4.2019].

Krusche, Dietrich (2003): Lese-Differenz. Der andere Leser im Text. In: Alois Wierlacher /Andrea Bogner (Hg.): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart / Weimar, S. 467-474.

Ljubic, Nicol u.a. (2003): Feuer, Lebenslust! Erzählungen deutscher Einwanderer. Stuttgart.

Lüdeke, Roger (2003): Kompendium der Editionswissenschaften. München; online unter: http://www.edkomp.uni-muenchen.de/ [Stand: 1.4.2019].

Marx, Peter W. (2012): Dramentheorie. In: Ders. (Hg.): Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart / Weimar, S. 1-11.

Mecklenburg, Norbert (2003): Interkulturelle Literaturwissenschaft. In: Alois Wierlacher / Andrea Bogner (Hg.): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart / Weimar, S. 433-439.

Oida, Yoshi (1992): Zwischen den Welten. Mit einem Vorwort v. Peter Brook. Berlin.

Oliver, José F.A. (2015): Fremdenzimmer. Essays. Frankfurt a.M.

Regus, Christine (2009): Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Ästhetik – Politik – Postkolonialismus. Bielefeld.

Sappelt, Sven (2007): Theater der Migrant / innen. In: Carmine Chiellino (Hg.): Interkulturelle Literatur. Stuttgart / Weimar, S. 275-293.

Scheichl, Sigurd Paul (2014): Grenzen des Kommentars. In: Wolfgang Wiesmüller (Hg.): Probleme des Kommentierens. Beiträge eines Innsbrucker Workshops. Innsbruck, S. 29-38.

Schenk, Klaus (2016): Formen des Ich-Erzählens in der inter- / transkulturellen Literatur. In: Raluca Rădulescu / Christel Baltes-Löhr (Hg.): Pluralität als Existenzmuster. Interdisziplinäre Perspektiven auf die deutschsprachige Migrationsliteratur. Bielefeld, S. 47-62.

Schiewer, Gesine Lenore (2017): Interdisziplinäre Perspektiven der Interkulturalitätsforschung. Internationaler Wissenstransfer am Beispiel von Innovationsdiskursen. In: Jeanne E. Glesener / Nathalie Roelens / Heinz Sieburg (Hg.): Das Paradigma der Interkulturalität. Themen und Positionen in europäischen Literaturwissenschaften. Bielefeld, S. 165-195.

Schramm, Helmar (1996): Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts. Berlin.

Selbmann, Rolf (1981): Theater im Roman. Studien zum Strukturwandel des deutschen Bildungsromans. München.

Seym, Simone (1992): Das Théâtre du Soleil. Ariane Mnouchkines Ästhetik des Theaters. Stuttgart.

Terayama, Shūji (1992): engeki ronshū. Shohan. Tokio.

Trojanow, Ilija (2006): Gebrauchsanweisung für Indien. München.

Varatharajah, Senthuran (2016): Vor der Zunahme der Zeichen. Frankfurt a.M.

Waldmann, Günter (2003): Neue Einführung in die Literaturwissenschaft. Aktive analytische und produktive Einübung in Literatur und den Umgang mit ihr – ein systematischer Kurs (für die Hochschulen, für Schulen, zum Selbststudium). Baltmannsweiler.

Walser, Martin (1998): Erinnerung kann man nicht befehlen. In: Der Spiegel v. 2. November 1998, S. 48-72; online unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-8027905.html [Stand: 1.4.2019].

Wierlacher, Alois (1993): Kulturthema Fremdheit. Leitbegriffe und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung. Mit einer Forschungsbibliographie von Corinna Albrecht u.a. München.