Harlekin als interkulturelle Figur

Zu Rudolf Münz’ Essay Das Harlekin-Prinzip

Dieter Heimböckel

Harlekin ist ein Meister der Verwandlung und ein Lebenskünstler. Er beherrscht die Kunst des Lebens so sehr, dass der Tod keine Freude daran findet, sich mit ihm abzugeben. Und wenn man ihn mit Gewalt ins Jenseits befördern will, so steht er wie sein neapolitanischer Glücks- und Leidensgenosse Pulcinella unfehlbar wieder von den Toten auf (vgl. Agamben 2018: 65). Sein Talent zur Unsterblichkeit hatten schon Johann Christoph Gottsched und die Schauspielerin und Theaterprinzipalin Friederike Caroline Neuber unterschätzt, als sie glaubten, mit der 1737 effekthascherisch inszenierten Vertreibung des Hanswurst von der Bühne der Harlekin-Figur im deutschen Theater den Garaus machen zu können. Einem Kenner der zeitgenössischen Theaterszene wie Lessing stellte sich dieser theatrale Handstreich in seiner Nachwirkung lediglich als Etikettenschwindel dar, denn im Grunde hätten die deutschen Bühnen, wie es im 18. Stück der Hamburgischen Dramaturgie heißt, »nur das bunte Jäckchen und den Namen abgeschafft, aber den Narren behalten. Die Neuberin selbst spielte eine Menge Stücke, in welchen Harlekin die Hauptperson war. Aber Harlekin hieß bei ihr Hännschen, und war ganz weiß, anstatt scheckigt, gekleidet.« (Lessing 1985: 270) Harlekins Wandlungsfähigkeit zeigt sich nicht nur darin, dass er eine Vielzahl von Masken trägt und auf geradezu bewundernswerte Weise in seiner »quecksilbrigen Regsamkeit« (Stackelberg 1996: 21) sich auf jede Lebenssituation einzustellen versteht, er ist, worauf auch Rudolf Münz in seinem Essay über das Harlekin-Prinzip aufmerksam macht, eine Figur unzähliger Namen (vgl. S. 136 dieser Ausgabe), deren hervorstechende Eigenschaft darin besteht, sich dem Zugriff gesellschaftlicher Normen und Zwänge zu entziehen.

Ein weiterer Irrtum Gottscheds und der Neuberin bestand darin, es bei Hanswurst mit einer gleichsam nationalen Angelegenheit zu tun zu haben, als hätte man nicht wissen können – und wer hätte es besser wissen müssen als Gottsched, dessen Theaterdoktrin der französischen Klassik verpflichtet war –, dass es sich beim Theater traditionell um ein interkulturelles Medium par excellence handelt, das nationale wie auch ästhetische Grenzen nur akzeptiert, um sie zu überschreiten. Dass Harlekin dazu gewissermaßen die figurale Probe aufs Exempel liefert, hat wiederum Lessing in seinem Nachgang zur Kritik an der öffentlichen Hanswurst-Verbannung formuliert, indem er nicht nur dafür plädierte, das Kind weiterhin beim Namen zu nennen, sondern bei dieser Gelegenheit wie nebenher auch eine diachrone Verortung des Harlekin als interkultureller Figur vornahm:

Auch die falschen Vertraulichkeiten haben einen Harlekin, der in der deutschen Übersetzung zu einem Peter geworden. Die Neuberin ist tot, Gottsched ist auch tot: ich dächte, wir zögen ihm das Jäckchen wieder an. – Im Ernste; wenn er unter fremden Namen zu dulden ist, warum nicht auch unter seinem? »Er ist ein ausländisches Geschöpf«; sagt man. Was tut das? Ich wollte, daß alle Narren unter uns Ausländer wären! »Er trägt sich, wie sich kein Mensch unter uns trägt«: – so braucht er nicht erst lange zu sagen, wer er ist. […] Man muß ihn als kein Individuum, sondern als eine ganze Gattung betrachten […]. Warum wollen wir ekler, in unsern Vergnügungen wähliger, und gegen kahle Vernünfteleien nachgebender sein, als – ich will nicht sagen, die Franzosen und Italiener sind – sondern, als selbst die Römer und Griechen waren? War ihr Parasit etwas anders, als der Harlekin? Hatte er nicht auch seine eigene, besondere Tracht, in der er in einem Stücke über dem andern vorkam? Hatten die Griechen nicht ein eigenes Drama, in das jederzeit Satyri eingeflochten werden mußten, sie mochten sich nun in die Geschichte des Stücks schicken oder nicht? (Lessing 1985: 270f.)

Einer immer noch nicht völlig geklärten Vermutung zufolge soll Harlekin, worauf Lessing am Ende seiner Ausführungen anspielt, aus der Figur des Satyr hervorgegangen sein, »dem bocksfüßigen und gehörnten, gleichwohl menschenähnlichen Geschöpf, das die alte griechische Tragödie vorgestellt hat.« (Ränsch-Trill 1993: 17) Seine weitere Vita ist so wenig passförmig wie seine Gestalt selbst. Er wird zwar bis heute in erster Linie mit seiner Präsenz als Arlecchino in der Commedia dell’arte in Verbindung gebracht, folgt man jedoch seiner sprachlichen Herkunft, so ist er französischen Ursprungs, indem er als ›hellequin‹ und Führer eines wilden Heeres in mittelalterlichen Mysterienspielen in der Nähe des Teufels steht und dort sein Unwesen treibt (vgl. Driesen 1904). Von seinen diabolischen Neigungen hat Harlekin nachfolgend, auch wenn seine Anfänge in der Commedia dell’arte noch ganz im Zeichen seiner Herkunft aus einer niederen Schicht standen, im Grunde nie ganz abgelassen, soweit sie einer antibürgerlichen Haltung Vorschub leisteten, die noch umgekehrt aus Mephisto harlekinartige Züge hervorzutreiben vermochte. Seiner Anlage nach war er jedenfalls nicht allein der bauernhafte Tölpel, auf den man ihn gerne zurechtzustutzen suchte, der dann, als er sich massiver Anfeindungen zu erwehren hatte, sich (möglicherweise durch Identifikation mit dem Gegner) zu einem Philosophen mit melancholischen Zügen verwandelte. Anbiederung war und ist Harlekin bis heute fremd oder allenfalls dann opportun, wenn es sein Anderssein stützt(e). Es ist gerade die in seiner Verschieden-Förmigkeit liegende Alterität, die ihn schließlich nicht nur zu einer Referenzfigur der Kunst im Allgemeinen und der Malerei im Besonderen (von Watteau bis Picasso und über ihn hinaus) machte;1 seine Präsenz im Theater der Gegenwart (vgl. Müller-Schöll 2012) wie auch als Denkfigur in der zeitgenössischen Philosophie zeugt davon,2 dass das von Münz inaugurierte Harlekin-Prinzip ästhetisch wie auch anthropologisch nach wie vor einen Referenzpunkt der Auseinandersetzung bildet bzw. bilden kann. Im vorliegenden Zusammenhang versteht sich der Wiederabdruck seines Essays als Einladung, Harlekin als interkulturelle Figur und Interkulturalität vielleicht unter der Voraussetzung (nicht nur) theatraler Figuren und Figurationen vertiefend zu erkunden.

Anmerkungen

1 | Vgl. hierzu den von Clair (2004) herausgegebenen Ausstellungskatalog The Great Parade. Portrait of the Artist as Clown.

2 | Neben den bereits angegebenen Arbeiten von Agamben (2018) und Ränsch-Trill (1993) vgl. auch Starobinski (1985).

Literatur

Agamben, Giorgio (2018): Pulcinella oder Belustigung für Kinder in 4 Szenen. Mit 64 Bildern von Giandomenico und Giambattista Tiepolo und anderen. Aus dem Ital. v. Marianne Schneider. München.

Clair, Jean (Hg.; 2004): The Great Parade. Portrait of the Artist as Clown. New Haven / London / Ottawa.

Driesen, Otto (1904): Der Ursprung des Harlekin. Ein kulturgeschichtliches Problem. Berlin.

Lessing, Gotthold Ephraim (1985): Lessings Werke 1767-1769. Hg. v. Klaus Bohnen. Frankfurt a.M. (= Gotthold Ephraim Lessings Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 6).

Müller-Schöll, Nikolaus (2012): »Der Chor der Komödie«. Zur Wiederkehr des Harlekin in Theater und Performance der Gegenwart. In: Ders. / André Schallenberg / Mayte Zimmermann (Hg.): Performing Politics. Berlin, S. 189-201.

Ränsch-Trill, Barbara (1993): Harlekin. Zur Ästhetik der lachenden Vernunft. Hildesheim / Zürich / New York.

Stackelberg, Jürgen von (1996): Metamorphosen des Harlekin. Zur Geschichte einer Bühnenfigur. München.

Starobinski, Jean (1985): Porträt des Künstlers als Gaukler. Drei Essays. Aus dem Franz. v. Markus Jakob. Frankfurt a.M.