Christine Meyer / Paula Prescod (Hg.): Langues choisies, langues sauvées. Poétiques de la résistance

Würzburg: Königshausen & Neumann 2018 – ISBN 978-3-8260-6112-7 – 64,00 €

Diese Publikation geht zurück auf eine internationale Tagung, die im Mai 2016 an der Universität Amiens stattfand und von Christine Meyer konzipiert und organisiert wurde, einer ausgewiesenen Canetti-Spezialistin, die schon allein aufgrund ihrer Forschungen und als aufmerksame Leserin nicht nur der Geretteten Zunge, sondern auch der zeitgenössischen Migrationsliteratur eine besondere Sensibilität für die Phänomene der Mehrsprachigkeit entwickelt hat.

Nationalliteratur, Nationalsprache, in dieses Prokrustesbett wurde die Literatur zwei Jahrhunderte lang gesteckt. Die dichte, äußerst kompetente und methodologisch reichhaltige Einführung von Christine Meyer führt überzeugend vor, wie sehr die Frage nach der gewählten Schreibsprache den Horizont öffnen kann. Richtet man heute den Blick in eine nicht so weit zurückliegende Vergangenheit (man denke an die Renaissance) oder aber über die Grenzen Europas hinaus, etwa nach Afrika oder auf den indischen Subkontinent, dann sieht man, dass die Einsprachigkeit keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist, sondern, ganz im Gegenteil, eine Ausnahme. Rückblickend erscheint sie wie ein Trugbild, eine Fata Morgana, ein nie wirklich erreichter Horizont. Sie ist ein Konstrukt, das die Errichtung der Nationalliteraturen begleitet und uns die Sicht auf die Phänomene der Viel- oder Mehrsprachigkeit verstellt hat, die in der Vergangenheit auch in Europa allgegenwärtig waren und heute den Großteil der Menschheit betreffen.

Seit der Beschleunigung der Globalisierung und dem Eintritt in eine postkoloniale Ära sind diese Phänomene unübersehbar geworden, sei es über Autoren wie Salman Rushdie und dessen Essays (etwa: The Empire Writes Back with a Vengeance, 1982) oder über Autoren der Karibik wie Edouard Glissant oder Patrick Chamoiseau, die mittels verschiedener Strategien das Kreolische in ihre Texte einfließen lassen. Dazwischen erstreckt sich allerdings eine lange Periode der Blindheit für diese Phänomene.

Schriftsteller, die ihre Schreibsprache wählen müssen, stellen sich besonders deutlich die Frage nach dem Bezug zur Macht. Sie besitzen ein bemerkenswert ausgeprägtes sprachliches Sensorium, so etwa die frankophonen Schriftsteller aus Quebec oder die zahlreichen Autoren in postkolonialen Situationen, die sich für die Sprache der früheren Kolonialherren entschieden haben. Die in dieser Publikation versammelten Beiträge verfolgen alle ein gemeinsames Ziel: Sie wollen vorurteilsfrei die vielfältigen – ethischen, politischen, existentiellen und ästhetischen – Aspekte untersuchen, die die Entscheidung für eine Sprache in einem Kontext der Unterdrückung oder der Gewalt determinieren oder auch in einer Kontaktzone zwischen verschiedenen Gemeinschaften, sowie die Auswirkungen auf die Konzeption und die Formen des literarischen Werks. Das erforderte einen transdisziplinären, transnationalen und transhistorischen Ansatz, um grobe oder oberflächliche Zuordnungen oder vereinfachende Polarisierungen (Zentrum versus Peripherie, Konformismus versus Marginalität) zu vermeiden.

Das Forschungsfeld ist hier keineswegs auf die Exophonie (das Schreiben in einer Fremdsprache) beschränkt.

Schriftsteller im politischen Exil können eine andere Sprache wählen, um die politisch vom Totalitarismus instrumentalisierte Sprache ihrer Heimat hinter sich zu lassen. Umgekehrt kann ein Schriftsteller auch an einer radikal pervertierten Sprache festhalten, um gerade ihre ›Reinheit‹ zu retten, wie dies Elias Canetti mit der deutschen Sprache im englischen Exil getan hatte und wie es seine Vorfahren mit der spanischen Sprache gehalten hatten, als sie 1492 aus Spanien vertrieben worden waren. Auch Paul Celan hat bis zu seinem Ende an der deutschen Sprache festgehalten, und jüngere Autoren wie etwa Katja Petrowskaja, 1970 in Kiew geboren und seit 1999 in Berlin angesiedelt, übernehmen a posteriori die deutsche Sprache, gerade weil sie die Sprache des Genozids war. Man kann natürlich an Isaac Bashevis Singer denken, der dem Jiddischen treu geblieben ist.

So gesehen, gibt es Parallelen zwischen den jüdischen Autoren, die sich für die Sprache des Genozids entschieden, und den zahlreichen kolonialen und postkolonialen Autoren, die sich in einer dominierenden Sprache durchsetzen wollen. Natürlich gibt es auch Ausnahmen, etwa den kenianischen Autor Ngugi Wa Thiong’o, der das Englisch der früheren Kolonialherren aufgegeben hat, um in der Vernakularsprache seiner Ethnie, nämlich dem Kikuyu, zu schreiben.

Indem der Fokus auf die Wahl der Sprache und damit das Engagement bzw. den Widerstand mittels des Schreibens gerichtet wird, geraten Situationen in den Blick, die gewöhnlich als exophon, diasporisch, postkolonial, minoritär, regional oder globalisiert abgehandelt werden oder in der Vergangenheit relativ weit zurückliegen (etwa die Mischung des Französischen mit Griechisch und Latein bei Fénelon). Vollständigkeit ist hier natürlich unmöglich, aber der Blick kann durch das ›weite Labor des Möglichen‹ wandern.

Die insgesamt 24 Beiträge sind in sechs Abteilungen gruppiert. Die erste umfasst zwei Beiträge, die aus der einsprachigen Auffassung der Literatur herausführen wollen. Die übrigen fünf Abschnitte enthalten Fallstudien, die thematisch verknüpft werden.

Im ersten Beitrag geht Lise Gauvin, Professorin in Montreal und Spezialistin für die frankophone Literatur Kanadas und der Karibik, auf die Werke von Autoren wie Edouard Glissant und Patrick Chamoiseau ein, von denen bereits einiges auf Deutsch vorliegt, im verdienstvollen Wunderhorn Verlag, und dank der ausgezeichneten Übersetzerin und Kulturvermittlerin Beate Thill. Die deutschen Großverlage glänzen hier durch ihre Abwesenheit. Insbesondere Glissant hat in seinen Romanen und seinen Essays einen Gegenentwurf zum kontinentalen Universalismus entwickelt und ein archipelisches Denken gefordert, in dem das Schreiben angesichts aller Sprachen der Welt praktiziert wird. Charles Forsdick, Professor in Liverpool, Spezialist der frankophonen und postkolonialen Literatur, entwickelt in seinem Beitrag im Anschluss an Emily Apter ein Konzept der Literatur als ›Übersetzungszone‹ und kommentiert die Entstehung einer heterosprachlichen Literatur, in der mehrere Sprachen oder Sprachvarianten zur Verwendung kommen, wodurch die üblichen Kategorien des Übersetzens aus einer Ausgangssprache in eine Zielsprache untergraben werden. Er äußert sich auch sehr kritisch zum Projekt einer ›littérature-monde‹, das in einem Manifest in der Literaturbeilage von Le Monde im Jahr 2007 von einem Kollektiv französischsprachiger Schriftsteller gefordert wurde: Unter den 44 Unterzeichnern befanden sich bekannte Namen wie JMG Le Clézio und Boualem Sansal. Charles Forsdick sieht darin zu Recht die neokolonial konnotierte Behauptung einer Vorherrschaft des Französischen in den mehrsprachigen Regionen der Frankophonie.

In der zweiten Abteilung, in der man Untersuchungen zur jiddischen Literatur in Montreal findet, zu Katja Petrowskaja, zu der Kärntner Schriftstellerin Maja Haderlap, die sowohl auf Deutsch als auch auf Slowenisch schreibt, geht es um die Aneignung der Sprache des anderen oder die Wiederaneignung einer entfremdeten Sprache. So hat der berühmte italienische Schriftsteller Cesare Pavese, der für sein antifaschistisches Engagement gerühmt wurde, während des Zweiten Weltkriegs begonnen, Nietzsches Willen zur Macht zu übersetzen, ein Werk, das von den Nationalsozialisten instrumentalisiert worden war.

In der dritten Abteilung wird nicht nur auf die Regionalsprachen innerhalb Frankreichs eingegangen, etwa auf das Bretonische und das Picardische, sondern auch auf die Situation von Autoren in den Antillen zwischen dem Französischen und dem Kreolischen. In der vierten geht es um Grenzsituationen, in denen sich Autoren in Afrika oder Südamerika befinden können wie der bereits erwähnte Ngugi Wa Thiong’o, der sich für die Rückkehr zu den autochthonen Sprachen einsetzt, während Chinua Achebe meint, die afrikanischen Autoren sollten sich kritisch die europäischen Sprachen aneignen. In der fünften Abteilung entdeckt man unter anderem ein Schlüsselwerk der indischen Literatur, den Roman Kanthapuro (1938) von Raja Rao, der die Ideen Gandhis während der Kämpfe für die Unabhängigkeit vertritt. Das Werk konnte erst nach zähen Verhandlungen mit den Verlegern erscheinen, die sich zwar durchaus mit dem Inhalt, nicht aber mit der Form abfinden konnten. Aber man erfährt auch viel über die Rolle der Mündlichkeit in der Literatur der australischen Aborigines, die des Kalypso in der englischsprachigen Literatur Trinidads oder die der Ironie und der Parodie bei den französischsprachigen Autoren des Maghreb. Im sechsten und letzten Abschnitt findet man Beiträge über zeitgenössische Autoren wie Agota Kristof und Anna Kim, aber auch zu historischen Figuren wie Prévost und Fénelon.

Das Angebot ist groß und vor allem geographisch weit gefächert. Der westliche Kanon, gegen den schon im Frühjahr 1988 die Studenten in Stanford protestierten (»Hey, hey, ho, ho, Western culture s’got to go«) wird radikal geöffnet. Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis ist wie eine Reise um die Welt – eine stimulierende Einladung, die vergleichende Literaturwissenschaft neu aufzubauen. Die Problematik der gewählten und geretteten Sprache erweist sich als ein exzellenter Zugang.

Dieter Hornig