Durch die Initiative von Herrn Erhan Altan, Übersetzer, Literaturvermittler und Essayist, fand am 12. Oktober 2018 an der Philosophischen Fakultät der Ege Universität unter der Leitung von Prof. Dr. Faruk Yücel, Direktor der Hochschule für Fremdsprachen und Leiter der Abteilung Übersetzen und Dolmetschen, eine Tagung zum Thema Lyrik und Übersetzen mit dem Titel »Ein Tag in Atlantis« statt.
Das Ziel der Tagung war, Einblicke in die vielseitige und faszinierende Welt der Lyrikübersetzung zu ermöglichen und Übergangssituationen sowie Grenzüberschreitungen in der literarischen Übersetzung transparent zu machen. Der im Titel der Tagung bereits angekündigte Begegnungsraum Atlantis wurde hierbei als ein Ort des Treffens, des Austauschs und ständigen Wandels aufgefasst. Ermöglicht durch die finanzielle Unterstützung des österreichischen Kulturforums und des Bundeskanzleramts, konnten Franz Josef Czernin, Erhan Altan, Miriam Rainer und Peter Waterhouse an diesem besonderen Event teilhaben. Sie spiegelten in ihren Beiträgen anhand von konkreten Beispielen die komplexe Herausforderung lyrischer Texte wider, aber zugleich auch deren Potenziale, die sie im Übersetzungsprozess bieten. Aus unterschiedlichen Perspektiven befassten sie sich in diesem Sinne mit dem Verhältnis von Literatur, Übersetzung und Interkulturalität.
Die Veranstaltung richtete sich an Studierende und Forschende des Fachbereichs Übersetzen und Dolmetschen. Da die Tagung offen für alle Besucher war, nahmen in dem Konferenzsaal der Philosophischen Fakultät auch zahlreiche Studierende der Germanistik und weitere Interessenten teil.
In seiner Eröffnungsrede ging Faruk Yücel auf grundsätzliche Probleme des Literaturübersetzens ein und wies auf einen dritten Raum hin, der sich in literarischen Texten zwischen den Sprachen und Kulturen eröffnet. Er betonte explizit, dass durch den Übersetzungsprozess das Original eine Erweiterung erfährt und die Übersetzungsleistung nicht als bloße Widerspiegelung zu bewerten ist. Der Übersetzer suche nämlich nach Möglichkeiten, die im Ausgangstext vorliegende Beziehung von Inhalt und Form neu zu kreieren, etwas Neues zu schaffen, wobei er sich daran orientiere, sowohl dem Text als auch dem Autor gegenüber loyal zu sein, und im Sinne von Leupold einen ›Tanz in Ketten‹ wage. Der Übersetzungsprozess vollziehe sich hierbei in einem komplexen Wechselspiel miteinander interagierender Sprachen und Kulturen. Yücel warf die Frage auf, ob nicht gerade deshalb Schriftsteller die ›größten‹ Übersetzer oder im benjaminischen Sinne die ›echten‹ Übersetzer seien, da sie eher in den Geist des Textes dringen können und über die Kompetenz verfügen, sprachlich eine fiktive Welt zu erschaffen.
Den ersten Vortrag mit dem Titel »Zum Übersetzen von Shakespeares Sonetten« hielt der renommierte österreichische Schriftsteller und Lyriker Franz Josef Czernin. Anhand Shakespeares Sonett Nr. 1 gewährte er Einblicke in seinen eigenen Übersetzungsprozess. Er hielt fest, dass durch zahlreiche Übersetzungen, die sich am Original ausrichten, der Duktus des Ausgangstextes bereits bekannt sei. Gerade deshalb sei es wichtig, den Ideen und den Gedanken bzw. dem Gedankengang des ausgangssprachlichen Dichters nachzugehen und nach einer sprachlichen Verkörperung dafür zu suchen. Dabei zeigte er, wie er abgenutzte Wörter meidet und als Dichter in den Text eingreift, um einen zeitgemäßen, aber auch autornahen Textzustand zu erreichen. Dieses Verfahren machte deutlich, dass er Sorge für die Überbrückung von Zeitdifferenzen trug, die zwischen der Entstehung der Sonette und ihrer Übersetzung liegen. Sein Atlantis-Bild war geprägt durch die Suche nach einer Nische in diesem zeitlichen Zwischenbereich.
Erhan Altan, der im zweiten Vortrag auf konkrete Beispiele dieser unüblichen Übersetzungspraxis einging, verdeutlichte unter dem Titel »Ein Jetzt im Nirgendwo. Die Übersetzung vom Sonett Nr. 1 von William Shakespeare bei Franz Josef Czernin« diesen Prozess. Er legte seine eigene Sichtweise in Bezug auf die Übersetzung von Czernin dar. Altan stellte die Behauptung auf, dass Czernin das Sonett Nr. 1 mithilfe zeitgenössischer sprachlicher Elemente »in ein Jetzt ohne festen Zeitpunkt situiert« und diese Verortung ihm die Möglichkeit eröffnet, jenseits von Raum und Zeit zu agieren. Die türkische Übersetzung von Talat Sait Halman nutzte er in diesem Kontext für einen weiteren Zugang, dieses Verfahren zu verdeutlichen.
Der dritte Vortrag von Miriam Rainer trug den Titel »Kollektiv, Übersetzen«. Als Mitbegründerin des gemeinsam mit Studierenden und Peter Waterhouse initiierten Versatoriums, Verein für Gedichte und Übersetzen, zeigte sie anhand von verschiedenen Audioeinspielungen, dass das »gemeinsame Suchen nach Wörtern« ein weiteres Fenster in Bezug auf das Übersetzen von literarischen Werken öffnen kann. Anhand der konstruktiven Auseinandersetzung mit Charles Bernsteins Gedichten führte sie Transformationsprozesse vor, die sich auf weitere Ebenen – wie z.B. die Theaterbühne – ausweiten. Sehr deutlich konnte sie anschaulich machen, dass nicht das Produkt an sich wichtig ist, sondern dass der Prozess gleichermaßen einen Zugang zum Text bietet und eine neue Sicht auf die Übersetzung als grenzüberschreitendes Verfahren vermitteln kann.
Peter Waterhouse hielt den letzten Vortrag dieses inhaltsreichen »Tag[es] in Atlantis«. Unter dem Titel »close, close« konzentrierte sich Waterhouse darin auf Rosmarie Waldrops Gedichte. Waterhouse regte das Publikum an, nach rätselhaft verborgenen Spuren in A Key into the Language of America zu suchen, ein ursprünglich von Roger Williams verfasster Text, der die Indianersprache in Neuengland im 17. Jahrhundert beschreibt. Denn in diesem Werk schreibe Waldrop über »etwas, was verschlossen ist«, und gerade die Art, wie sie spricht, »würde das Verborgene näher bringen«. Sie schreibe zwar auf Englisch, würde aber über die Grenzen dieser Sprache hinausgehen, um einen Zwischenbereich für neue Ausdrucksmöglichkeiten zu finden. Waterhouse bezeichnete die Übersetzung als »noch im Zustand des Werdenden« begriffen, und gerade dieser prozessuale Charakter lege für den Übersetzer den Spielraum offen, um eine poetische Transformation zu schaffen.
Der »Tag in Atlantis« wurde gekrönt durch die Lesungen, die Czernin und Waterhouse im Anschluss hielten. Franz Josef Czernin las aus dem Werk Sätze, das in Zusammenarbeit mit Hans-Jost Frey entstanden ist – ein Aphorismusbuch, in welchem sich die beiden Autoren ›Sätze zuwerfen‹ und reziprok aufeinander reagieren. Die zweite Lesung bezog sich auf Andere Menschen von Peter Waterhouse. Die Auszüge aus diesem Werk brachten die Teilnehmer der Tagung zum Nachdenken über zwischenmenschliches Verstehen und zwischenmenschliche Verständigung. Daneben wurden die türkischen Übersetzungen zu den vorgelesenen Textausschnitten von Erhan Altan vorgetragen.
Insgesamt beleuchtete der »Tag in Atlantis« verschiedene Perspektiven des Übersetzungsprozesses im Hinblick auf poetische Transformationen. Es wurde offensichtlich, dass gerade die in Gedichten zum Tragen kommende symbolische Struktur der Sprache einen Spielraum offenlässt, von eigenen Ideen und Vorstellungen geleitet in die dargebotene poetische Welt einzutauchen. Die Beiträge ließen zudem erkennen, dass diese individuellen Zugänge aber auch auf den Ausgangstext zurückwirken, zumal sie dessen Bedeutung bereichern. In dieser Hinsicht ist eine wechselseitige Beziehung zu erkennen, die zwischen alt und neu bzw. zwischen hier und dort erzeugt wird. Hieraus ergibt sich außerdem die Bedeutung des Übersetzers, der als Auslöser für neue Zusammenhänge dem Leser eine neue schöpferische Gestaltung des Originalwerkes präsentiert.