Enikő Dácz (Hg.): Räumliche Semantisierungen. Raumkonstruktionen in den deutschsprachigen Literaturen aus Zentral- und Südosteuropa im 20.-21. Jahrhundert

Regensburg: Pustet 2018 – ISBN 978-3-7917-2899-5 – 29,95 €

Deutschsprachige Bevölkerungsgruppen in Osteuropa haben vielfach in ihren Regionen eigene Literatur hervorgebracht. Mehr oder weniger bewusst schrieben sowohl die Schriftstellerinnen und Schriftsteller als auch ihre germanistischen Exegeten nicht nur an der ›Identität‹ dieser Bevölkerungsgruppen mit, sondern auch – was heute wieder sehr viel stärker in den Blick gerät – an der Herstellung des ›Raumes‹ dieser Regionen. Insbesondere dann, wenn die Germanistinnen und Germanisten die Literatur der ›Deutschen‹ in der jeweiligen Region zum Gegenstand ihrer Interpretationen wählten. Insofern hat der ›spatial turn‹ in der Literaturwissenschaft die Aufmerksamkeit geschärft, wie Wort, Sprache und Schrift nicht lediglich einen bereits vorgegebenen Raum wie einen Container füllen, sondern teilhaben an dem Vorgang, einen Raum erst entstehen zu lassen.

»Räumliche Semantisierungen« als Raumkonstruktionen in Zentral- und Südosteuropa begreift der vorliegende Tagungsband denn auch als ein Angebot, mit den Regionen »räumliche Konstellationen als Projektionsflächen« (8) semiotisch zu analysieren, wie die Herausgeberin Enikö Dácz einleitend formuliert. Den theoretischen Vorlauf zum Raumparadigma bietet eine umfassende Übersicht von Magdolna Orosz, die die diversen Debatten um den ›spatial turn‹ skizziert. Von Georg Simmel her und über Michel Foucault und Jurij M. Lotman hinaus hat das Raumparadigma konkrete Füllung in der Geschichts- und Kulturgeschichtsschreibung (etwa durch die Arbeiten von Karl Schlögel) erhalten. Für die im engeren Sinne literaturwissenschaftlichen Analysen erwähnt Orosz neben Wolfgang Kaysers frühem Begriff des »Raumromans« (in Unterscheidung zu »Figurenroman« und »Geschehnisroman«, 22) vor allem Michail Bachtins Begriff des »Chronotops« (22) und Lotmans »Heteronomie« und »Semiosphäre« (24).

Mit diesen theoretischen Perspektiven ist allerdings nur ein Teil der Beiträge zu verbinden. In der Abteilung »Fiktionale Räume« bezieht sich Eszter Propszt explizit auf Lotman, wenn sie Béla Bayers Roman Dort drüben (2002) auf seine Raumkonstruktion hin befragt. Die titelgebende räumliche Richtung wird Propszt Anlass zur semiotischen Analyse einer donaudeutschen Dichotomie von ›hier‹ und ›dort drüben‹ als eine von Paradies und Nichtparadies. Zugleich scheint der Zweite Weltkrieg als Agens der Veränderung in der Zeit auf: »Als Vorlage für das Modell der Welterfahrung der Ungarndeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein Labyrinth auszuweisen, in dessen Mittelpunkt der Teufel lauert, die ›Macht‹, der Widersacher Gottes« (101).

An Propszts Semiotisierung lässt sich Raluca Rădulescus Einstellen der Gedichte von Dragica Rajčić in den Zusammenhang von Heterotopien und Nichtorten anschließen. Rajčić, als ›Gastarbeiterin‹ (Putzfrau, Büglerin) in die Schweiz aus Kroatien eingereist, fand Aufmerksamkeit durch Gedichte und Erzählungen in ihrem bewusst fehlerhaften ›Halbdeutsch‹, in dem Kategorien wie Kultur, Sprache, Heimat, Migration, Identität in ihrer Ideologisierung aufgebrochen und hinterfragt werden. Zugleich scheint in den ›Fehlern‹ ein ästhetischer Widerstand auf, wie ihn Paul Celan als ›Gegenwort‹ dachte. Rădulescu versteht die Lyrik von Rajčić als Ausdruck einer Ent-Ortung durch Migration wie auch als postmodern globalisierte Nichtidentität.

Als Heterotopie und Nichtort (Marc Augé) wird von Réka Sánta-Jakabházi der Roman Warum das Kind in der Polenta kocht von Aglaja Veteranyi (2013) interpretiert. Das literarisch wie biographisch dominierende Motiv des Zirkus legt diese Perspektive nahe, da »Heterotopien aus geografischen Orten veränderliche Räume [konstruieren] und selbst einer ständigen (Re-)Interpretation durch die Gesellschaft [unterliegen]. Es gelten Regeln, die zeitlich bedingt sind, die nur so lange funktionieren, wie sie von Mitgliedern jener Gesellschaft befolgt werden.« (127) Sánta-Jakabházi fügt Foucaults Aufzählung von Friedhöfen, Kliniken, Gefängnissen, Bibliotheken etc. den Zirkus hinzu. Ähnlich wie bei Rajčić ist bei Veteranyi die Entwurzelung des Kindes Anlass für eigene Sprachspiele zum Verständnis einer wenig zutraulichen Welt. Der Zirkus als Ort einer umherziehenden Romafamilie bietet eine fragile Identität, die außerhalb des nicht immer schützenden Beziehungsraums der Zirkusleute nur wenig Sicherheit vorhält.

Differenziert findet auch Raluca Cernahoschi in Horst Samsons Gedichtband La Victoire (2003) die räumliche Konstruktion vor. Während zunächst vor allem die ›Staubküste‹ des Dorfes und der Steppe des Bărăgan, in der Samson als Kind banatschwäbischer Deportierter geboren wurde, im Zentrum stehen, evoziert dessen letzter Teil eine Krisenheterotopie. Samsons letzte Gedichte in dem Band rufen den Bahnhof von Curtici als Grenze aufruft, als ›Ort ohne Ort‹ (Foucault): nämlich als »extrem polarisierten Raum« (79) zwischen Realität und Traum, Müssen und Können oder als präzise in der Realität verorteter Ort an der Grenze.

Geben die Theorien von Foucault, Lotman, Bachtin u.a. in diesen Aufsätzen ein anregendes Instrumentarium zur Analyse, so kann man Milka Cars Beschreibung von Miroslav Krležas Essay Illyricum Sacrum (1963; entstanden 1944) als eine eigenständige Weiterentwicklung des Konzepts einer heterotopen Semiosphäre lesen. Car entwickelt Krležas »paradoxen Raumentwurf« (264) an der Begrifflichkeit von Henri Lefebvres in Nachkriegsjugoslawien intensiv rezipiertem, neomarxistischen Ansatz eines sozialen Raums als Gesellschaftskonstrukt. Krleža imaginierte in seinem viel beachteten Essay eine eigene Vergangenheit ›Illyriens‹, worunter er das Gebiet des heutigen Balkans seit der Antike mit seinen sich als Palimpsest abzeichnenden Metamorphosen verstand, dem er auch eine zukünftige Realität des Raumes als sozialistisches, blockfreies ›Jugoslawien‹ einschrieb. Car zeigt differenziert, welche diskursiven Strategien und historischen Merkmale diesen faszinierenden Essay als ein Musterbeispiel des ›erschriebenen‹ komplexen Raums und »Netz aus diskursiven Praktiken« (253) kennzeichnen. ›Ost-West‹, ›Zentrum-Peripherie‹, ›Nation-Ethnie‹ und weitere Gegensätze sind in Krležas Text utopisch in einer Raumbeschreibung aus Geschichte und Ort aufgehoben.

Ist Krležas Illyrien-Diskurs eine Reaktion auf den Faschismus und den Zweiten Weltkrieg, so geht Enikő Dácz in ihrem Beitrag der literarischen Konstruktion des siebenbürgischen Burzenlandes anhand des seinerzeit häufig gelesenen Romans Zwischen Grenzen und Zeiten des von den Nationalsozialisten intensiv geförderten Autors Heinrich Zillich nach. Der Autor benutzte eine Ansammlung von völkischen Raumstereotypen, die wirkmächtig einen Raum an einer Grenze entwarfen, welche literarisch in der Alltagswelt der Bewohner reproduziert wurde – ein Beispiel für die Verfestigung eines imaginierten Raumes durch die Betonung exkludierender Identität.

Die Rede vom Raum führt unvermeidlich zur Frage nach seinen Grenzen. Ihre diskursive Herstellung kann bei Veteranyi oder Samson oder Bayer verfolgt werden, wie sie auch in der knappen, aber anschaulichen Darstellung von Laura Laza zu Wolf von Aichelburgs Gedichten und ihren räumlichen Verortungen aufscheinen. Eine wirkmächtige, weil staatliche Grenze untersucht im Detail Olivia Spiridon am Beispiel der Gemeinde Hatzfeld im Banat. Diese Kleinstadt eignet sich hierzu besonders, da sie vor dem Zweiten Weltkrieg mehrere Zeitungen hervorgebracht hat, in denen sich Diskurse zur staatlichen Grenze nachweisen lassen. Hatzfeld wurde zudem Thema des völkischen Romans Grenzen wandern von Karl von Möller, aber auch des kritischen Gedichtes hatzfeld – ein wintermärchen von Horst Samson, was die unterschiedlichen Perspektiven von Raumproduktion veranschaulicht. Spiridon ergänzt damit die Konstruktion von Raum durch Grenzen, wie sie Szabolcs János in der Vorstellung von Siebenbürgen als ›Dreiländereck‹ in Reiseberichten thematisiert (vgl. 139-154) und deren Überschreitung Irena Samide an den Kolumbusträumen der deutsch-slowenischen Weltreisenden Alma M. Karlin aufruft (vgl. 267-282). Eine unsichtbare Grenze scheint auch die deutschsprachige siebenbürgisch-sächsische Kultur von Deutschland getrennt zu haben, wie Michaela Nowotnick an den letztlich gescheiterten Bemühungen des späteren Nationalsozialisten Richard Csaki darlegt, mit der Gründung der Zeitschrift Ostland. Vom geistigen Leben der Auslandsdeutschen in Hermannstadt (Sibiu; Nagyszeben) auch ›reichsdeutsche‹ Autoren im damaligen Rumänien gegen die kulturelle Abgeschlossenheit und entsprechende Innovationslähmung der Siebenbürger Sachsen präsent zu halten. Kaum einer der großen Namen allerdings reagierte auf entsprechende Einladungen zur Mitarbeit.

Vielfach sind kulturelle Räume bereits durch Zuschreibungen etabliert – oft durch staatliche Grenzziehungen. So hat die Bukowina als österreichisches Kronland einen legendären Ruf erlangt, weil sich innerhalb ihrer am Ende des 18. Jahrhunderts künstlich gezogenen Grenzen deutschsprachige Kultur sehr intensiv ausbildete. Träger dieser Kultur waren vor allem auch die Juden, die wegen der benutzten deutschen Sprache offiziell behördlich zur Bevölkerungsgruppe der ›Deutschen‹ gezählt wurden. Ihr vor allem in der Unterschicht benutztes Jiddisch war als offizielle Sprache nicht anerkannt. Ana Maria Pălimariu diskutiert am Beispiel des Psychoanalytikers Wilhelm Reich, inwieweit die der Bukowina zugeschriebene Besonderheit nicht eher einer Illusion zu verdanken ist und vielmehr Lotmans Heterotopie denn einem homogenen Raum entspreche. Brüche zeichneten Reichs Biographie ebenso aus, wie die Bukowina keineswegs dem ›Mythos‹ entsprochen habe, der lange von ihr entworfen wurde. Die Bukowina der rumänischen Zwischenkriegszeit wird von George Guţu als Kommunikationsraum entworfen, wenn es um die Beziehungen ihrer deutschsprachigen jüdischen Dichter geht: Diese hätten über alle Streitigkeiten hinaus eine ausgeprägte Kultur des Miteinanders in einer der Dichtung wenig geneigten Umgebung gezeigt, wie sich an der erhaltenen Widmungs- und Briefkultur ablesen lasse. Ein anderer Raum wurde für einige dieser Dichter schicksalhaft – das erst durch die Kriegsentwicklung entstandene ›Transnistrien‹ zwischen Dnjestr und Bug. In der Memorialliteratur wird aus dem von Rumänien beanspruchten Territorium eine Gedächtnislandschaft des Traumas. Francisca Solomon bringt Konzepte von Aleida Assmann und Maurice Halbwachs in das theoretische Netz ein, in dem sie Edgar Hilsenraths Sammelband Sie trommelten mit den Fäusten den Takt verortet. Der jüngst verstorbene Autor habe Raum in der Problematik der (Un-)Beschreibbarkeit der Verbrechen als »fluides mentales Konstrukt profiliert, das sich mittels individueller und kollektiver Erfahrungen ständig modellieren lässt.« (240) Nur noch in der Erinnerung präsent ist vielfach der Kulturraum deutscher Bevölkerungsgruppen, wie etwa der Banater Schwaben, den Johann Lippet in seinen Romanen nach dem Untergang der Dörfer entwirft. Roxana Nubert und Ana-Maria Dascălu-Romiţan beschreiben diesen Erinnerungsraum als Lippets »Suche nach einer verlorenen Zeit, nach einem verlorenen Land.« (95) In der Erinnerung formieren sich Räume neu oder auch zum ersten Mal.

In seinem heterogenen Gesamt bietet der Band anregende Ansätze und Beispiele, die vielfach zerklüfteten Raumkonstruktionen in Südosteuropa präziser zu fassen und in ihrer Historizität besser zu verstehen. Stärker zu beachten wäre die Hinterfragung der räumlichen Bezeichnungen, die, wie etwa im Falle der Bukowina, vielfach erst durch militärisch-politische Entscheidungen als Raum eine Form annahmen und ihre unübersehbare Wirkung entfalteten. Die weitere paradigmatische Untersuchung der Semiosphären etwa der Roma oder auch der Juden könnte einen Hinweis auf Räume jenseits der vorgefertigten Raumcontainer von Territorium, Staat oder Natur liefern.

Markus Bauer