»[I]ch bin gerne dort, wo es gärt«

Feridun Zaimoglu im Gespräch mit Natalie Bloch über seine Theaterarbeit

Natalie Bloch: Ihre ersten Theaterstücke wurden 2003 uraufgeführt. Sie haben also erst, als Sie relativ bekannt waren, angefangen, für das Theater zu schreiben. Wie kam es dazu?

Feridun Zaimoglu: Das Telefon hat geklingelt. Es war so, dass die Dramaturgin der Münchner Kammerspiele anrief. Sie hatte meine Handynummer ermittelt und sprach davon, dass der Regisseur Luk Perceval einen Irren suchen würde, der sich tollwütig an der Sprache verbeißt. Er hatte Kanak Sprak gelesen. Das hat mir natürlich sehr gut gefallen, denn es war ja die Zeit, in der man – im Sinne des WG-Geblubbers – auf der Bühne eine seltsame studentische Gefühligkeit an den Tag legte und sich wenig an die Sprache hielt. Was mich bekümmert hat, denn Theater steht und fällt nicht mit irgendwelchen Welleneffekten, sondern immer mit der Sprache. Es war die Zeit, in der Leute wie ich belächelt wurden, weil sie vom erzählerischen Theater sprachen, weil sie von der Neo-Klassik sprachen, weil sie nicht der Meinung waren, dass das, was abgetan und für alt befunden wird, tatsächlich erledigt ist. Und zwar nicht aus einer konservativ-reaktionären Haltung heraus, sondern aus einer wilden, düsteren, abseitigen Haltung heraus.

Es war also ein Anruf und wir [gemeint ist Günter Senkel, Zaimoglus Co-Autor; N.B.] sind dann zum Arbeitsgespräch angerückt. Wir haben uns in München getroffen und es sollte übrigens auch der Anfang einer langen Theaterzusammenarbeit mit Luk Perceval sein. Zunächst haben wir Othello zusammen gemacht. Nach der Premiere wurden Günter und ich zwar von den Kritikern niedergemetzelt, aber es stellte sich als ein Stück heraus, das junge Leute ansprach. Es war ein Stück, in dem die Worte sozusagen ins Fleisch schnitten. Mit Othello fing es an, und wir haben dann in vielen Neuadaptionen den Sang und Klang der Sprache beibehalten, aber auch die Schärfe und das Gift. Der Mund war ein Wortkatapult und die Worte sollten treffen. Nicht wie im üblichen bürgerlichen Theater, in dem irgendwelche Figuren als Ideenbehälter befüllt werden. Als Letztes haben wir zusammen Lulu von Wedekind in München gemacht und Hamlet für das Thalia-Theater. So entstand es: Ein Anruf genügte. Uns fällt es nicht ein, aus eigenem Antrieb etwas zu schreiben. Wir sind Auftragsschreiber.

Sie haben viele Umschriften und Neufassungen erstellt. Sie sagen, Sprache sei das, was Sie am meisten interessiere, weniger große postdramatische Experimente. Wie nähern Sie sich den Figuren und den Konflikten der Originaltexte? Zumindest verändern sie diese ja sehr stark. Othello haben Sie in ein völlig anderes Milieu, ein Mafiamilieu, verlegt, die Sprache ist sehr rassistisch und sexistisch. Damit bleiben Sie allerdings nah an Shakespeares Grundkonflikt, denn es geht auch dort um Macht und Männlichkeit. Bei Antigone haben Sie den weisen Chor der alten Männer durch einen Journalistenchor ersetzt.

Zu Othello: Wenn es denn so ist, dass Shakespeare so großartige Stücke geschrieben hat, die heute noch gelten, dann müssen wir schauen, worum es in den jeweiligen Stücken geht. Die Kritiker haben sich aufgeregt, weil ich mich nicht an die ›versittlichende‹ Übersetzung von Shakespeare ins Deutsche gehalten habe. Dabei ist das Blödsinn. Und es ist Zensur! Shakespeare war obszön. Romeo und Julia zum Beispiel ist sein erstes und obszönstes Stück, ein Stück, bei dem die Leute immer noch jauchzen oder stöhnen. Alles andere ist eine Verdrehung durch die Bürger beziehungsweise das bürgerliche Theater. Man übersetzt es falsch, damit es gewissermaßen den eigenen, verfluchten moralischen Vorstellungen entspricht, und macht daraus einen blöden Zirkus. Oder Othello: Othello ist General und Casio Leutnant, und das Ganze spielt bei der Armee. Bei der Armee werfen die Leute nicht einander Gänseblümchen zu, sondern eine harte Sprache. Und Shakespeare hat hier eine vulgäre Sprache verwendet, aber der blöde Übersetzer hat daraus einen furchtbaren Klimbim gemacht. Mein Co-Autor Günter und ich schauen uns das genau an: Wo spielt die Geschichte? Bei Othello spielt sie beim Militär, im Palast und unter den großen Bürgern des Landes. Eine Desdemona muss natürlich anders sprechen als ein Othello. Ein Othello muss anders sprechen als die Soldaten, weil er ein General ist. Ein Jago muss als Einflüsterer genau wissen, wie er bei wem spricht. Und daran haben wir uns gehalten. Wir begnügen uns also nicht mit einer ›Verheutigung‹ und nicht mit einer Überschreibung, sondern fragen, worum es geht. Ich schreibe für das Theater vornehmlich deshalb, weil es ein schönes und szenisches Schreiben ist. Es steht und fällt für mich mit der Sprache, und da kann ich mich nicht an bürgerliche Normen halten.

Sie haben Romeo und Julia umgeschrieben, indem Sie die Konflikte ethnisch-religiös motiviert haben: Romeo stammt aus einer islamischen Familie, Julia ist ein deutsches Mädchen aus einer christlichen Familie. Könnte man diesen Konflikt nicht auch auf das heutige Europa übertragen, dass es, in Anbetracht des Anderen bzw. der vermeintlichen Bedrohung von außen, wieder diese Rückbesinnung auf konservative Traditionen und Werte gibt? Dass man anfängt, das, was es im gesellschaftlichen Leben eigentlich gar nicht mehr richtig gibt, zu stabilisieren, weil man Angst vor diesem Äußeren hat? Gibt es einen Rückfall in Kulturalismus und Nationalismus aus dieser vermeintlichen Bedrohung? Im Sinne von: Da kommt jetzt ein türkischer Junge, der nimmt unsere Tochter oder unseren Arbeitsplatz weg oder dergleichen?

Der große Irrtum besteht darin, nur die Mehrheitsgesellschaft zu kritisieren. In den sogenannten türkischen, kurdischen, albanischen und den orientalischen ›Parallelgesellschaften‹ ist die Angst vor der ›Blutschande‹, vor dem Fremden, genauso angelegt wie in der Mehrheitsgesellschaft. Im Sinne eines, sagen wir mal, ›hohen‹ Multikulturalismus, einer friedlichen Koexistenz der Speisekarten, hat man aber versucht, da wegzugucken: den Männlichkeitsblödsinn bei den Kurden, bei den Türken, bei den Albanern nicht so festzustellen. Man hat ihn nicht wahrnehmen wollen, diesen ranzigen Maskulinismus.

Die Idee von ›Reinheit‹ ist grundsätzlich eine Wahnverstrickung. All das, was Shakespeare damals in Romeo und Julia gesagt hat, kann man heute noch entdecken. Das Reinheitsgebot bedeutet: »Misch dich nicht ein!« Das Eigene soll sozusagen mein Eigen bleiben und kein Verlachen soll mir da hineinkommen. Das gab es damals, das gibt es heute, und das wird es auch morgen geben. Bei Shakespeare ist die Figur des Eindringlings nichts weiter als ein kleiner, blöder Spinner. Romeo ist nicht … Wie heißt er, der gutaussehende Amerikaner und großartige Schauspieler? … Leonardo DiCaprio. So einer ist er nicht. Nee! Shakespeare hat Romeo als kleinen Deppen angelegt. Der geht mit seinen peinlich spaßenden Kumpels zu dieser Party, um Rosalie, eine andere Frau, – Entschuldigung, das steht da – flachzulegen. Und dann, weil sie nein sagt, guckt er sich um, wie das Deppen halt so tun, und dann sieht er Julia. Nur Julia ist nicht so blöd, dass sie sagt: »Mensch, Romeo, auf dich habe ich gewartet.« Nein! – So fängt es an. Alles andere als die Trübe-Tassen-Vorstellung von Romantik, die man später im Bürgertum hatte. Ein Shakespeare war viel klüger. Romeo ist ein Depp, der über die Liebe zu Julia zu einer Edelröstung kommt; er wird erzogen von Julia. Das geht natürlich nicht gut aus, weil Shakespeare genau wusste, wie öde eine Liebe ist, wenn Mann und Frau zusammenkommen. Vier Jahre später … um Gottes Willen, dann haben wir nicht mehr Romeo und Julia, sondern dann haben wir Mami und Papi.

Ich möchte hier die Literaturkritikerin Wiebke Porombka zitieren, die gesagt hat, Ihr Schreiben sei eine große Irritation von Ordnung. Das finde ich sehr treffend, denn auch hier betreiben Sie ja eine Irritation des bürgerlichen Shakespearebegriffs oder -verständnisses. Sie haben aber nicht nur Neufassungen von Klassikern erstellt. Ihr aufsehenerregendstes Stück war Schwarze Jungfrauen, uraufgeführt 2006, in dem Sie ebenfalls Ordnungssysteme durcheinanderbringen. Das Stück beruht auf Gesprächen mit muslimischen Frauen, die Sie und Günter Senkel zu zehn Monologen umgearbeitet und in eine Kunstsprache übersetzt haben. Es handelt sich also keinesfalls um authentische Protokolle. Dieser Theatertext hat eine große Verstörung auf Seiten der ZuschauerInnen und der WissenschaftlerInnen hervorgerufen, weil es gläubige Musliminnen sind, die sich mit einer unglaublich obszönen Sprache ausdrücken. Verstörend sind darüber hinaus auch die Hasstiraden der Frauen auf die westliche Welt. Zudem sind die Frauen sehr sprachgewandt, selbstbewusst und besitzen eine selbstbestimmte Sexualität. Der Text hat dadurch eine unglaubliche Hybridität bekommen. Die obszöne Sprache, die sexualisierten Kontexte, der religiöse Glaube und natürlich der Titel Schwarze Jungfrauen, der sich in ein Verhältnis dazu setzt: Diese Sprecherinnen sind alles andere als Jungfrauen!

In der Sekundärliteratur gab es verschiedene Interpretationsansätze. Man stellte bspw. die These auf, es gehe darum, muslimische Frauen zu Wort kommen zu lassen, also um eine Form der Emanzipation. Ich finde dieses Stück sehr schwierig zu greifen. Einerseits werden Stereotype zerstört, die man an diese Frauen heranträgt, zum Beispiel dass sie Opfer der Männer sind, Opfer ihres Glaubens und ihrer Herkunft – was eindeutig nicht stimmt, eine Sprecherin ist zum Beispiel eine konvertierte Deutsche. Diese Figuren lassen sich überhaupt nicht mehr greifen, sie sind hybrid und fast schon monströs, ihre Monologe sind sehr furchteinflößend. Handelt es sich hier um eine andere Form von Kritik an der bürgerlichen Sichtweise?

Erlauben Sie mir ein Eingeständnis: Ich schreibe, um von meiner öden Existenz wegzukommen, um mit meiner Existenz zu brechen. Ich habe es nie verstanden, wenn Leute gesagt haben, sie würden im Sinne einer Selbstverwirklichung schreiben. Bei mir ist es Selbstvernichtung! Das klingt jetzt natürlich wieder groß, aber wichtig ist es eben nicht, gemocht zu werden. Ich wurde von diesen Frauen, mit denen ich gesprochen habe, nicht nur nicht gemocht, sondern ich wurde gehasst. Ich war sozusagen der schlaffe Humanist, ich war das verwestlichte Schwein, obwohl ich gesagt habe: »Ich bin Moslem.« Ich war sozusagen der Feierabendmoslem, der nützliche Idiot. Man soll bloß nicht denken, das war eine Verzeichnung dieser Frauen im Sinne einer Nettigkeit. Das sind keine Tugendlämmchen. Im Gegenteil: Oft genug hatte ich einen Speichelregen der Verachtung im Gesicht, und es ist ein Scheißgefühl, mit Verlaub, wenn einem fremder Speichel im Gesicht trocknet.

Aber man soll trotzdem hingucken, und ich bin gerne dort, wo es gärt: in den Randgebieten. Es gibt keinen diskreten Charme der Bourgeoisie mehr. Ich wünschte es, denn dann wäre ich da. Ich mag das Dekadente, das Abgründige, das Düstere, aber was mich nicht interessiert, sind Berlin-Mitte-Geschichten. Was mich nicht interessiert, sind die kleinen Schmusegeschichten von Millionen Spießerinnen und Spießern. Das ist langweilig. Leider Gottes wird in der Kultur, in der Literatur und im Theater versucht, ein bestimmtes Format einzuführen. Und deswegen werde ich von vielen auch nicht gemocht, weil ich offen gestehe: Nein, ich will es nicht.

Zurück zu den Schwarzen Jungfrauen: Nach einer Lesung kam eine junge Frau zu mir und ich dachte: Donnerwetter, ist das eine schöne Frau! Deswegen kam ich überhaupt ins Gespräch mit ihr – also niedere Motive. Und dann stellte sich heraus, dass sie eine Djihadistin ist. Sie kennen vielleicht diese Frauen im Nofretete-Look. Sie sah großartig aus, und sie war voller Hass mir gegenüber, aber sie hat gelächelt. Und ich bin so ein Depp, dass ich denke, wenn jemand lächelt: Oh, das ist eine freundliche Stimmung! Sie lächelte, während sie die unglaublichsten Hassgeschichten erzählt hat. Sie hat gesagt: »Du bist ein Kasper des Betriebs. Da vorne fühlst du dich toll, du hast die Leute beeindruckt. Aber du traust dich doch nichts.«

Solche Leute wie ich, wir sind diejenigen, die man hasst. Natürlich könnte man sagen, das war vielleicht ein Trick von ihr, mich zu angeln, damit ich mit ihr spreche, nichts anderes. Sie war – deswegen habe ich das Wort, das Sie gerade benutzt haben, sehr gemocht – monströs. Ich habe mich bereiterklärt und gesagt, wir sprechen, ich mache daraus ein Theaterstück. Und dann haben wir uns getroffen, die Tür einen Spalt breit offen, weil es heißt, wenn Mann und Frau in einem Zimmer sind, ist der Teufel der Dritte im Bunde. Sehen Sie, wie großartig ist das denn! Plötzlich öffnet sich eine andere Welt. Nicht die herkömmliche, nicht die Latte-Macchiato-Welt, nicht die Campus-Speed-Welt, nicht die Ikea-Welt. Meine Geläufigkeiten, meine Routine, mein Alltag sind langweilig, doch plötzlich entdeckte ich – in derselben Gesellschaft sozusagen – eine andere Welt. Und dann habe ich Günter das erzählt, und der sagte: »Bist du bescheuert? Die Islamisten entführen uns und dann enthaupten sie uns vor laufender Kamera!« Eben darum, weil diese Frau kein Tugendlämmchen war und auf eine Weise über ihre Sexualität gesprochen hat, dass ich knallrot wurde. Ebenso war es mit den anderen muslimischen Frauen, mit denen ich Gespräche für das Stück führte. Es war ihnen doch völlig egal, was ihr Onkel in der Türkei dazu sagt. Die legten los! Erst schnitt der Text in mich hinein und dann in die Leute, die zu dem Stück kamen, denn es ist tatsächlich ein dekadentes Stück, ein Stück, das an die Kultur, an die Veredelung, an den Text und an die Worte glaubt, an die Literatur und an die Lyrik, an Sang und Klang glaubt.

Ihr Interesse an Hasspredigten ist auffällig. Es gibt in Ihrem Werk ja nicht nur predigende Frauen, sondern auch predigende Männer, und einen islamischen Hintergrund haben sie auch nicht immer. Sie haben ein Stück mit dem Titel Nathan Messias verfasst, wo sich zeigt, dass der Missbrauch der Vernunft dem Missbrauch der Religion in nichts nachzustehen scheint. Kurz zur Handlung: Es handelt sich um eine Neufassung von Lessings Nathan der Weise in einem gegenwärtigen Jerusalem. Es gibt auch hier drei monotheistische Religionen, die in einem fragilen Verhältnis zueinander stehen. Und da kommt so ein Messias, der anfängt, Gift und Galle zu predigen. Man weiß eigentlich gar nicht so richtig, was er will, aber die Leute fangen an, ihm zuzulaufen. Er predigt eigentlich gegen alle Religionen, aber auch jegliche Vernunft zerbirst. Denn die vermeintliche Vernunft erzeugt hier die Lügen. Damit sind wir wieder beim Bürgertum. Das aufklärerische Denken, das sich das Bürgertum auf die Fahne geschrieben hat, wird hier genauso dekuvriert wie die Hasstiraden dieser jungen, schönen Frauen. Verkennen wir eigentlich das Böse in unserer vermeintlich aufgeklärten Welt? Wenn wir uns das 20. Jahrhundert anschauen, sehen wir, wohin uns unsere Vernunft und auch das aufklärerische Denken geführt haben, da die größten Gräueltaten nicht aufgehalten werden konnten. Verkennen wir manchmal, dass das Böse nicht nur aus der Religion, sondern auch aus anderen Richtungen kommen kann?

Es gehört zu den großen Märchen der Aufklärer, dass, wenn die kalte Vernunft regiert und man kalten Sinnes auf die Welt hinausstarrt, alles besser würde. Sie haben es gesagt, die Schlimmsten, ein Hitler, ein Stalin, das waren keine religiösen Leute.

Sie haben in den letzten Jahren drei Stücke verfasst, die schon im Titel den Bezug zur christlichen Religion tragen: Moses (2013), wobei Moses ja in allen drei großen monotheistischen Religionen ein Prophet war, Die zehn Gebote (2016) und Luther (2017). Sie sind ein unglaublich guter Kenner des Christentums. Sie selbst sind Moslem, bezeichnen sich als »deutschen Moslem«. Wie schauen Sie auf das Christentum?

Ich hatte das Glück, dass meine Großmutter armenisch war. Das heißt, schon als Kind hatte ich es mit dem Islam und dem Christentum zu tun. Das war nicht voneinander zu scheiden, ich habe auch das Vater Unser gebetet. Das Christliche war für mich niemals fremd. Es gehörte zum Eigenen. Ich schaue genauso kritisch auf den Blödsinn in der islamischen Geschichte und auf den Blödsinn der Moslems, auf das, was sie im ›Namen des Glaubens‹ so machen. Man muss ja nur das heilige Buch aufschlagen und darin lesen. Dann denkt man sofort: Um Gottes Willen, was sind das für Hornochsen? Kommen hierher und sagen, dies und das sei Pflicht, als wäre das eine Urpflicht. Wieso stecken sie die Frauen in schwarze Gardinen? Das steht überhaupt nicht im Koran. Ich meine das nicht im Sinne einer simplen Rechthaberei. Ich meine damit: Die Quellen sind zugänglich. Man kann sie lesen, wenn man sich die Mühe macht und Dichtung und Wahrheit auseinanderhält.

Wie schaue ich auf das Christentum? Sowohl der katholische Glaube als auch der protestantische Glaube haben nicht das Geringste mit Jesus zu tun. Sie müssten sich im Sinne einer Biermarke Paulaner nennen. Paulus ist einer, der Jesus kein einziges Mal in seinem Leben gesehen hat. Aufgrund einer Vision sagt er dann: »Ich stehe über den Aposteln, ich stehe über den Brüdern, über den Frauen sowieso, die gelten ja nix.« Er ist der Begründer der Entwertung der Frau. Von Schwestern, von Jesus-Schwestern ist überhaupt nicht mehr die Rede, auch nicht von den Jüngerinnen, den Apostelinnen – weg, getilgt. Sie können davon ausgehen, dass ich bei so einer Fälschung die nötige Ehrerbietung nicht aufbringe. Denn die Quellen sind zugänglich.

Ähnlich verhält es sich im Judentum. 800 Jahre nach dem Tod von Moses wurde das erste Buch Mose geschrieben. 800 Jahre! Geschrieben ist es aber wie eine Serie, nach dem Motto: Was bisher geschah. Wir waren dabei. Alles überliefert. 800 Jahre! Was erzählen die für einen Blödsinn?

Ich hatte Lust, die heiligen Bücher zu lesen, nicht die christliche Bibel. Das Alte Testament ist ja auch eine Anmaßung! Wieso soll es alt sein? Die hebräische Bibel und das Neue Testament sind die kanonisierten Texte. Was soll das denn heißen? Rechts und links gibt es ja noch viel mehr Evangelien als die, die aufgenommen worden sind, in denen andere Dinge stehen … Egal. Sie sehen, es geht um die Fälschung der Welt. In all diesen Religionen, in diesen monotheistischen Religionen, findet sich die Entwertung des Menschen. Plötzlich ist Jesus nicht mehr einer aus Fleisch und Blut, der aus der untersten Schicht kommt, sondern er ist der entrückte Weltenrichter. In jeder Religion ist der Mensch dazu angehalten, Genickstarre zu haben, weil er nach oben gucken soll. Aber komischerweise sind das Menschheitsgeschichten. Die Fälschung der Welt interessiert mich auch als heutiges Thema, und deswegen wird es auch nicht bei diesen Stücken bleiben.

Sie und Günter Senkel haben auch den germanischen Siegfried-Mythos bereits dreimal bearbeitet, also quasi auch eine kleine Serie. Eine Neubearbeitung, die 2015 uraufgeführt wurde, heißt Siegfrieds Heldentaten, eine derbe Posse, in der Sie alles Heldenhafte dieses Mythos getilgt haben. Ihre Dekonstruktion des Mythos hat etwas sehr Volksnahes.

Wir bekamen folgenden Auftrag von Christian Stückl für das Münchner Volkstheater: »Macht mir einen bayrischen Schwank.« Es sollte sehr derb und zünftig abgehen, trinkend und johlend wie im Bierkeller. Das musste er uns kein zweites Mal sagen. Es gab also keinen Antrieb von uns, es war auch keine Dekonstruktion. Natürlich haben wir Siegfried als Depp dargestellt, das ist er auch im Original, einer, der meint, er kann alles, er hat Kraft, protzt rum. Man schickt ihn los, damit er vielleicht ein bisschen klüger wird. Es ist also die Geschichte von einem, der loszieht, um sich zu bewähren und sich an der Welt zu messen.

Dann bekamen wir den Auftrag, den Mythos für die große Bühne der Nibelungenfestspiele in Worms 2018 zu bearbeiten. Da wurde es plötzlich bitterernst. In Siegfrieds Erben haben wir die Geschichte weitergeschrieben. Es ist komischerweise so, dass es eine ideologische Überlieferung oder Lesart des Stoffes gibt und eine einfache Lesart, in der man zum Beispiel entdeckt, dass Brunhilde, die als Trampeltier dargestellt wird, eine Kriegerkönigin ist und dass sie betrogen wurde von diesem großen Schwindler Siegfried, dem Helden; und auch, dass sie von Siegfried und König Gunther vergewaltigt wird. Wir haben die Toten gezählt und geguckt, wer hat überlebt, und daraus haben wir eine Geschichte gemacht. Brunhilde hat überlebt und sollte ihre Geschichte hinausschreien. Das hat dem einen oder anderen Nibelungenfan nicht gefallen, aber den meisten doch, weil wir es recht blutig gemacht haben, so wie es das Original verlangt. Das ist ja kein nettes Stück, sondern es ist blutig, und der Fluch – deshalb heißt es Siegfrieds Erben – geht weiter. Sie können sich von der Vorgeschichte nicht befreien, denn diese ist so gewaltig, dass von einer neuen Zeit, von einem Neubeginn nicht die Rede sein kann.

Es besteht auch sprachlich ein Cut zwischen beiden Stücken. Die Sprache in Siegfrieds Erben ist sehr düster, fast ein bisschen archaisch. Sie zeigt den Kreislauf der Gewalt, der sich nicht an bestimmten Heldenfiguren festmacht, sondern sich fortsetzt. In der Inszenierung in Worms wurde viel Pyrotechnik und Theaterblut eingesetzt. Braucht es Ihrer Meinung nach diese Wucht, weil es so eine große Bühne ist?

Genau. Die Bühne in Worms ist die Nordseite des Turms. Man hat sozusagen ein tausendjähriges Gotteshaus als Kulisse. Das ist schon eine ziemliche Ansage. Und Sie können natürlich nicht diese große Bühne bespielen wie eine Theaterbühne. Wir hatten Gott sei Dank schon Moses für das Passionstheater gemacht, da waren manchmal 150 bis 200 Leute auf der Bühne. Das ist ein Wahnsinn! Es dauert, bis sie sozusagen von einem zum anderen gelangen und wieder zurück.

Sind Sie stets einverstanden mit den Inszenierungen Ihrer Stücke?

Ich gebe nichts auf die Eitelkeit der Schreiber, auf die Eitelkeit der Autoren. Wer auf Originaltreue setzt, der hat im Theater wenig verloren. So eine Einstellung finde ich erbärmlich. Sie schätzt die Arbeit der Dramaturginnen und Dramaturgen, der Regisseurinnen und Regisseure nicht. Die sind ja nicht dafür da, einen Text eins zu eins zu übersetzen. Wie langweilig! Wie toll ist es dagegen, wenn eine eigene Kunst anfängt. Wir waren jedes Mal von der Großartigkeit der Inszenierung völlig verblüfft. Genau das liebe ich so am Theater. Nieder mit der Originaltreue!

Nur einmal war ich ein bisschen sauer, da hat der Regisseur im Hintergrund Hardcorepornofilme laufen lassen. Das hatte nichts mit dem Stück zu tun und auch nichts mit der Handlung auf der Bühne, also mit der Spielfassung. Ich war ein bisschen stinkig, und es war ein kühler Abschied. Da hat man dann auch nichts mehr zusammen gemacht.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Herrn Senkel und Ihnen genau?

Nie nebeneinander. Gemeinsam in einem Arbeitsraum. Zunächst fahren wir zu einem Arbeitsgespräch, dort heißt es meinetwegen: »Jungs, macht mal was zum Turm von Babel.« Wir fliegen nicht, sondern wir fahren ganz langsam mit dem Auto dahin und danach wieder zurück. Wir sind beide analoge Menschen, ich mehr als er. Ich habe keinen Computer, ich habe kein Smartphone, ich google nicht, ich schaue nicht fern. Ich pfeif darauf. Es hat immer Sprachverhunzung zur Folge. So ein kleiner Bildschirm bedeutet eine völlig andere Wahrnehmung der Welt. Ich benutze Zettel und Papier. Ich bin derjenige – man hat es vielleicht gemerkt –, der viel labert, wenn der Tag lang ist, aber ich muss reden, damit mir Ideen kommen. Günter ist eher derjenige, der nach einer halben Stunde etwas sagt, und ich denke: »Mein Gott, ist das toll!« Und dann schreibe ich das auf. Das heißt, wir sind unterschiedlich, und das ist auch gut so. Wir streiten uns. Sehr häufig. Gut ist, dass er nicht verheiratet ist, keine Kinder, viel Zeit hat. Und auch ich bin nicht verheiratet, habe keine Kinder und viel Zeit. Das bedeutet, dass man noch um zwei Uhr nachts – das ist also wirklich sehr wichtig – dasitzt und es keine ordentliche Arbeitsethik gibt, von dann und dann mach ich das und dann das. Zum Beispiel bei unserem neuen Stück über den Turm zu Babel [2019 uraufgeführt bei den Sommerspielen in Melk unter dem Titel Babylon; N.B]. Wir fangen zunächst das Quellenstudium an. Recherche. Die Sumerer, die Tontafel, die bekannte sumerische Geschichte. Ich fresse dann die Bücher. Und während ich lese, fängt es in meinem Kopf an, dass ich mich – wie bei meinen Romanen – auf den Ton einstimme. Ich bin für die Sprache, die Frauenrollen sowie die Kriminellen zuständig. Günter ist für die Bösen zuständig, und er ist auch derjenige, der weiß, was in der achtzehnten Szene passiert, wenn wir in der zweiten Szene die und die Figur einführen. Er ist Schachspieler. Ich bin immer verblüfft, wenn er sagt, das geht nicht, und ich denke: »Ja, das stimmt. Das geht nicht.« Und dann sprechen wir, aber nie zu Hause. Wir fahren mit dem Auto, er fährt, ich kann nicht Auto fahren, wir fahren irgendwohin, steigen aus, latschen am Wasser entlang, an unüblichen Orten. Nicht ins Café und dann hinsetzen, bloß an keinen Tisch! Viel Bewegung! Entweder bewegt sich die Welt da draußen oder ich mache Gewaltmärsche zu Fuß. Bloß nicht am Schreibtisch hocken. Und dann immer und immer wieder darüber sprechen, Notizen machen; es gärt in unser beider Rüben. Dann gibt es einen groben Szenenablaufplan. Den erstelle ich. Wir hassen Exposés. Gleich ran an die Arbeit. Wenn der Ablaufplan steht, fängt einer an. Mal bin ich es, der sozusagen die erste Fassung schreibt und sie dann ihm gibt, mal ist er es. Er macht dann weiter, hat hier und da etwas zu maulen und hat Recht – meistens –, oder ich hab was zu maulen, wenn es seine Fassung ist –, ich hab dann auch meistens Recht. Ich bin sozusagen der Sprachexperte bei uns. Ich frage, was für eine Sprache haben die beim Turm zu Babel? Wie sprechen die? Die Königin darf nicht so sprechen wie die Priesterin. Der König nicht so wie der Turmbauer und so weiter. Und dann schreiben wir. Dann schreibe ich oder er, und dann geht die Zettelwirtschaft hin und her. Hin und her. Es ist eine Arbeit von vielen Wochen, und ich verbeiße mich, er verbeißt sich. Anders geht es nicht. Bis das ausgeschrieben ist. Es lässt weder ihm noch mir Ruhe. Das muss fertig sein. Er und ich, obwohl wir Arbeiterkinder sind, haben wir einen hohen Schaden – ich mehr –, so ein Arbeitsethos: Pünktlichkeit, Abgabetermin. Dann wird es spätestens an diesem Tag abgeliefert. Wir arbeiten etwa zehn Stunden am Tag. Und das über mehrere Wochen, bis der Ton steht. Also auch viel Verzweiflung, viele Fehlschläge. Ich habe das jetzt sehr verknappt dargestellt, aber es geht um etwas. Es ist kein Spiel. Es ist ein gutes Gefühl, wenn es fertig ist und abgegeben, dann bangen wir. Und wenn dann der Anruf kommt, und der Text stößt auf Gegenliebe, dann: Gott sei Dank!