Working with Jean-Didier Urbain’s semiotic categories of expanse (étendue), space (espace) and place (lieu), this article examines the spatial poetics of the sea. These categories are used to explore the process of spatialising as a poetic device in Alexander von Warsberg’s travel writing: In Das Reich des Alkinoos (1878) he recollects, translates, and transposes idyllic reminiscences of Homer and Goethe in order to present the sea as a literary space and eventually as part of collectively shared memory.
Title:Recollect – Translate – Transpose: The Spatial Poetics of the Sea and Idyllic Reminiscences of Homer and Goethe in Alexander von Warsberg’s Das Reich des Alkinoos (1878)
Keywords:semiotics of space; idyll; travel writing; Greece; Warsberg, Alexander von (1836-1889)
Raumsemiotisch kann das Meer im Sinne Jean-Didier Urbains als »étendue« verstanden werden, das heißt als »espace sans qualité« (Urbain 2010: 100), wobei diese ›Qualität‹ jeweils aus der semantischen Bestimmung eines Raumes resultiert. Im Gegensatz zur Fläche (étendue) ist der Raum (espace) keine ›rohe Materie‹ (»matère brute«), sondern ein ›konstruiertes Objekt‹ (»object construit«), das durch menschliche Eingriffe entsteht, die die ›natürliche Welt‹ formieren und ihr eine spezifische Form geben: Diese Formgebung erweist sich als Semantisierung und die dazu führenden Prozesse der »intervention de l’homme sur le monde naturel [pour] lui donn[er] une forme« bezeichnet Urbain als »spatialisation« (ebd.; Hervorh. i.O.). Eine derartig formgebende ›Verräumlichung‹ erfolgt stets mittels einer »nomination toponymique«; als sprachliche Handlung ist eine solche ›Ortsbenennung‹, die eine ›Konvertierung zum Raum‹ (»conversion en espace«) bewirkt, stets als ›performativer Akt‹ (»acte performatif«) zu begreifen (ebd.). Die historisch sich aus der Geschichtsschreibung entwickelnde Disziplin der Geographie mit ihren Teilgebieten der Kartographie und Topographie geht auf derartig performative Akte der Verräumlichung zurück, und wenn diese nicht im wissenschaftlichen Bereich, sondern in dem der Literatur und bildenden Kunst erfolgen, avanciert die »conversion en espace« (ebd.) zur poetischen Tätigkeit.
Das von Urbain beschriebene semiotische Verfahren der Verräumlichung etabliert letztlich die elementare Opposition von Natur und Kultur, wie sie John Fiske seiner kultursemiotischen Untersuchung des Strandes als »anomale Kategorie zwischen Land und Meer« (Fiske 2000: 56) zugrunde legt. Natur ist nämlich solange als étendu zu begreifen, bis sie durch »kulturelle Wahrnehmung oder Prozesse der Sinnproduktion« (ebd.: 58) zum espace wird. Das kulturgeschichtlich älteste und wohl bedeutendste Verfahren der Verräumlichung von Natur ist ihre durch Literatur und bildende Kunst tradierte Darstellung als Landschaft: »Seit Petrarcas brieflichem Bericht über seine Besteigung des Mont Ventoux im Jahre 1336 wird Natur in der ästhetischen Wahrnehmung des Abendlandes nämlich als Landschaft vorgestellt.« (Jablonski 2018: 172) Joachim Ritter definiert Landschaft deshalb als »Natur, die im Anblick für einen fühlenden und empfindenden Betrachter ästhetisch gegenwärtig ist« (Ritter 1974: 150). Dabei gilt allerdings, dass eine »Zuwendung zur Natur als Landschaft […] sie geschichtlich und sachlich voraus[setzt]« (ebd.: 144). Aus diesem Grund begreift Fiske Natur als »prä-kulturelle Realität«, die lediglich »als konzeptioneller Gegensatz zur Kultur« existiert (Fiske 2000: 58).
Gleich der Wüste entzieht sich das Meer allerdings solch menschlicher Eingriffe der Sinnproduktion, was nach Urbain an der räumlichen wie zeitlichen ›Menschenferne‹ der beiden liegt: »[L]e désert est […] toujours une étendue«, denn die Wüste existiert »non pas sans l’homme mais d’avant l’homme« (Urbain 2010: 100; Hervorh. i.O.). Sie erscheine daher als »proche de Dieu« (ebd.) und diese ›Gottesnähe‹ ist dem Meer und der Wüste gemeinsam: Wie Alain Corbin darlegt, präsentiert schon die Literatur der Antike »das Meer […] als einen rätselhaften Ort par excellence« (Corbin 1994: 26), wo das Göttliche und damit Unerklärliche wirke. Noch in nachantiken christlichen Vorstellungen gilt das Meer als »Überbleibsel jenes undifferenzierten Urstoffes« (ebd.: 14), wie ihn die Genesis als ›finstere Tiefe‹ beschreibt, über der der göttliche Geist schwebt. Deshalb erscheint dem Menschen das Meer als »unzähmbar[es] Element«, das nicht nur auf die »Unvollendetheit der Schöpfung« verweist, sondern das »Vorstadium der Zivilisation« (ebd.) überhaupt symbolisiert.
Das dem Menschen vom Meer gegebene »Bild des Unendlichen, des Unfaßlichen« (ebd.) wirkt insofern bis in das »kollektive Imaginäre« (ebd.: 13) eines kulturellen Gedächtnisses nach, als diese »Wassermasse ohne Orientierungspunkt« (ebd.: 14) die Bildspenderin einer transhistorischen Metaphorik ist, die von der Antike bis in die Gegenwart reicht: Wie Hans Blumenberg in seiner diachronen Untersuchung der »Metaphorik von Seefahrt und Schiffbruch« (Blumenberg 1997: 10) nachweist, kommen dem Meer im Kontext dieser sprachlichen Bilder zwei Funktionen zu. Beide gehen auf eine seit der Antike bestehende doppelte Traditionslinie der Semantisierung jener »elementaren Realitä[t]« (ebd.: 9) zurück, die dem Menschen als »Festlandlebewesen« gewissermaßen ›unnatürlich‹ erscheint: »einmal das Meer als naturgegebene Grenze des Raumes menschlicher Unternehmungen und zum anderen seine Dämonisierung als Sphäre der Unberechenbarkeit, Gesetzlosigkeit, Orientierungswidrigkeit.« (Ebd.: 10)
Es ist jedoch nicht nur die »nautisch[e] Daseinsmetaphorik« (ebd.: 9), durch die das Meer sich ins kollektiv geteilte kulturelle Gedächtnis einschreibt. Die Literaturgeschichte des Meeres nimmt ihren Anfang mit den großen Epen der Antike, die – wie Homers Ilias und Odyssee (beide ca. 8. bis 7. Jh. v.Chr.) oder Vergils Aeneis (ca. 29 bis 19 v.Chr.) – von Seefahrenden und ihren Irrfahrten handeln. Entsprechend erkennt Margaret Cohen in Homers Odysseus den Prototypen für die Helden der sog. »sea fiction« (Cohen 2010: 2), einer literarischen Gattung, deren neuzeitlichen Anfang im frühen 18. Jahrhundert Daniel Defoes Roman Life and Strange Adventures of Robinson Crusoe of York, Mariner (1719) markiert. Wie Thorsten Feldbusch herausstellt, eignet das Meer diesen Seefahrtsgeschichten gerade deshalb als Schauplatz, weil es als »ansonsten konturlos[e] Fläche« (Feldbusch 2003: 9) in der Literatur zur doppelten »Projektionsfläche« (ebd.: 7) werden kann: Es ist »Erlebnisort« und »Erzählraum« (ebd.: 15). Zu Letzterem wird das Meer in der Regel aber erst durch die Erinnerung an Erlebnisse auf See und das nachträgliche Erzählen darüber: Gemäß dem antiken Modell des poeta vates, wonach der Dichter als »begeisterter Seher« buchstäblich »deshalb ›wahr-sagt‹, weil sein Sprechen und Schreiben einer divinen Eingebung seitens Apollos oder der ihm unterstellten Musen folgt« (Jablonski 2019: 125; Hervorh. i.O.), sind es ebendiese göttlichen Instanzen, die in Homers Odyssee von den »Taten des vielgewanderten Mannes« (Homer 1963: I, 1) singen, der nach dem Ende des Trojanischen Krieges »auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet« (ebd.: I, 4) hat. In Defoes Robinson gestaltet sich die poetische Verantwortlichkeit wesentlich säkularer als bei Homer, denn für die Authentizität des aus der Erinnerung des Protagonisten als »just history of fact [without] any appearance of fiction in it« (Defoe 1994: 7) Präsentierten bürgt die poetische Konstruktion einer Herausgeberfiktion. Und was für die Literatur gilt, trifft auch auf den Film zu: James Camerons Hollywoodspielfilm über den Untergang des wohl bekanntesten Schiffes der Welt ist als eine erinnerte Erzählung aus der Perspektive der Protagonistin gestaltet, »die durch Voice-over-Kommentare als Erzählinstanz« (Jablonski 2019: 459) innerhalb der filmischen Diegese von Titanic (USA 1997, R.: James Cameron) fungiert.
Die neuzeitliche Tradition erinnerter ›Seefahrtsgeschichten‹ korrespondiert insofern mit den medialen Praktiken der nautischen Wirklichkeit, als sowohl das diaristische als auch epistolarische Aufzeichnen zum Usus derjenigen gehören, die in einer entweder kommandierenden oder wissenschaftlichen Funktion an Seereisen teilnehmen: So gründet etwa Adelbert von Chamissos doppelter Bericht seiner Reise um die Welt (1836), die im ersten Teil aus dem literarisierten Tagebuch und im zweiten aus den naturwissenschaftlichen Bemerkungen und Ansichten besteht, auf seinen zahlreichen Aufzeichnungen in Notizheften und Journalen sowie in während der sog. Rurik-Expedition zwischen 1815 und 1818 verschickten Briefen (vgl. Jablonski 2017b). Durch diese Praktiken des Aufzeichnens wird bei einer Reise, gerade wenn sie über das Meer führt, der sonderbaren Eigenart dieses étendue entgegengewirkt: Wie Blumenberg herausstellt, bemerkt Johann Wolfgang Goethe im fünfzehnten Buch von Dichtung und Wahrheit, »daß auf dem Meere keine Spuren hinterlassen werden« (Blumenberg 1997: 64). Anders als das Reisen auf dem Meer hinterlässt das Reisen zu Land auf und in ebendiesem Spuren, die ihrerseits bereits eine Verräumlichung zum espace implizieren: Seine territorialen Ansprüche markierte das römische Imperium weniger durch Grenzanlagen wie den Limes oder den Hadrianswall als vielmehr durch ein logistisch modern wirkendes System von befestigten und gesicherten Verkehrswegen. Derartig bleibende Spuren durch Eingriffe zur Verräumlichung eines étendue besitzen Zeichencharakter: In der Antike weisen diese viae das römische Herrschaftsgebiet als Imperium Romanum und damit als espace aus und genauso erscheinen die im 19. Jahrhundert in den britischen Kolonialgebieten verlegten Eisenbahntrassen als stählerne Zeichen der verräumlichten Macht Queen Victorias und ihres Empires.
In der Literatur erfolgt eine durch Verräumlichung sich vollziehende conversion en espace des Meeres mittels Spuren anderer Art. Jedoch zeugen auch sie wie die oben beschriebenen ›imperialen Verkehrsnetze‹ von einer »appropriation d’un espace« (Urbain 2010: 102). Allerdings verbleiben die Spuren der spezifisch literarischen Aneignung eines Raumes insofern im Bereich des Immateriellen, als es sich bei ihnen stets um ein »supplément narratif« (ebd.: 101) handelt. Ein derartig narratives Supplement transformiert den Raum (espace) zu einem Ort (lieu). Entsprechend stellt Urbain den Zusammenhang zwischen den drei Elementen Fläche, Raum und Ort in seiner Raumsemiotik dar: »Si l’étendue est un vide primitif, et l’espace un état intermédiaire de droit ou de fait structuration de ce vide, le lieu survient ensuite, quand un imaginaire s’empare de cette structure pour s’y mettre en scène […].«1 (Ebd.: 102) Die Literatur erzeugt solche Orte (lieux), indem sie ihnen durch eine poetische Verräumlichung eine spezifisch ästhetische Qualität verleiht, und jenes Imaginäre, das die literarische Semantisierung des Meeres inszeniert, ist die Erinnerung. Inwiefern eine solche Inszenierung von Erinnerung in der literarischen Darstellung mithilfe der beiden Verfahren des Übersetzens und Transponierens erfolgt, wird im Folgenden anhand von Alexander von Warsbergs Reisebericht über seinen Aufenthalt auf Korfu untersucht.2 Durch verschiedene intertextuelle Bezüge zu Homer sowie zu Goethe, die sich als idyllische Reminiszenzen erweisen, gelingt Warsberg mit seiner Darstellung eine poetische Verräumlichung des Meeres, das dergestalt zum kulturellen Erinnerungsraum der Literatur avanciert.
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ist der österreichische Adelige Alexander Freiherr von Warsberg (1836-1889) Konsul der K.-u.-k.-Monarchie auf Korfu. In seinen dreibändigen Odysseeischen Landschaften (1878) berichtet er später von seinen Reisen durch Griechenland und das östliche Mittelmeer. Zwar beteuert er im Vorwort des ersten Bandes, der den Titel Das Reich des Alkinoos trägt, dass das Werk »auf der Reise selbst« entstanden sei – und zwar ganz unabhängig davon, ober er sich »[z]u Pferde, zu Wagen, wandernd [oder] schiffend« (W: III) fortbewegt habe –, jedoch wurde die »redaktionell[e] Überarbeitung« (W: IV) nachträglich vorgenommen. Wie Warsberg darlegt, habe sie »im Herbste des Jahres 1872« (ebd.) während eines Aufenthalts am Comer See begonnen und sich dann bis zur Veröffentlichung der Odysseeischen Landschaften im Jahr 1878 erstreckt. Warsbergs Griechenlandreisen stehen in einer gleich zweifachen Traditionslinie. Die erste ist eine wissenschaftliche, weil der deutsche Archäologe Heinrich Schliemann zur selben Zeit wie der österreichische Konsul auf Homers Spuren in Griechenland unterwegs ist und seit Ende der 1860er Jahre Grabungen in Troja sowie in Mykene durchführt (vgl. Jablonski 2017a: 113). Die zweite Traditionslinie, in der Warsbergs Reisen stehen, ist die des »modernen Tourismus« (ebd.), denn die Ionischen Inseln, zu denen Korfu gehört, bilden eine Station der ersten Pauschalreise durch das Mittelmeergebiet, die der britische Reiseveranstalter Thomas Cook im Jahr 1868 organisiert und anbietet (vgl. ebd.).
Warsbergs kulturgeschichtliche Leistung liegt aber nicht in seiner Griechenlandreise, sondern in dem schriftlichen Bericht darüber. Durch diesen wird die Ionische Insel zu einem espace (Raum), wobei ihre schriftliche Verräumlichung zugleich verschiedene lieux (Orte) hervorbringt – und wie Urbain feststellt, ist der Ort stets Teil des Raums: »[L]e lieu est dans l’espace« (Urbain 2010: 101). Dies belegt der erste Band der Odysseeischen Landschaften, denn die von Warsberg beschriebenen Sehenswürdigkeiten auf der Insel zählen seitdem zum touristischen Besichtigungsprogramm für Korfu-Reisende (vgl. Jablonski 2017a: 113). Das den Ort (lieu) kennzeichnende ›supplement narratif‹ verleihe ihm laut Urbain eine »capacité de séduction« (Urbain 2010: 101). Die Intensität dieser ›Anziehungs-‹ bzw. ›Verführungskraft‹ eines Ortes sei abhängig von ihrer »densité fictionelle ou historique« (ebd.). Warsbergs Darstellung von Korfu zeichnet sich durch eine besonders hohe ›fiktionale‹ wie auch ›historische Dichte‹ aus, denn es gelingt ihm, Fakt und Fiktion zu verbinden: Von Anfang an stellt er nämlich heraus, dass die Ionische Insel wie überhaupt »doch eigentlich das ganze Mittelmeer in den Bereich homerischer Landschaftsbilder« (W: V) gehöre. Entsprechend weist der Titel des ersten Bandes seines Reiseberichts, der Korfu gewidmet ist, die Insel als denjenigen Ort aus, an den es Odysseus kurz vor seiner Heimkehr nach Ithaka verschlägt. Insofern hat das antike Epos für Warsberg nicht den Status einer literarischen Fiktion, sondern den eines historischen Berichts. Deshalb kann er den Homer lesen und gebrauchen wie einen modernen Reiseführer: »Das homerische Werk ist wirklich ein poetischer Murray, ein in’s Dichterische übertragener Bädecker dieser schönsten und denkwürdigsten Gegend unserer Culturgeschichte.« (Ebd.: V)3
Die Odyssee hat für Warsberg also den Status eines Dokuments, das letztlich »an der Grenze zwischen Realität und Fiktion zu verorten« ist (Gradinari 2020: 213). Aus diesem Grund fungiert Homers Werk hier zugleich als literarisches Dokument im metaphorischen Sinne einer ›Erinnerungsfigur‹, deren Spezifik nach Irina Gradinari darin besteht, »Vergangenheit und Gegenwart zusammen[zuführen]« (ebd.). Wie Gradinari weiter ausführt, wirken Erinnerungsfiguren »identitätsstiftend«, und das trifft auf den ›Gebrauch‹ der Odyssee bei Warsberg zu: Durch ihre Lektüre transformiert sich für ihn die durch Homers Werk anschaulich werdende »Geschichte in die Sprache der Gegenwart«, weil die von Warsberg als historisch-faktisch begriffenen Ereignisse in der literarischen Darstellung durch ebendiese »in aktuelle Begehrensbilder und entsprechende ästhetische Wahrnehmungsformen« übersetzt werden (ebd.).
Den Beleg dafür, dass ›der‹ Homer tatsächlich als ein ins Dichterische übertragener Reiseführer für Griechenland gelten kann, will Warsberg erbringen. Ziel seines Berichts sei daher, »dem edelsten und vollendetsten Gedicht […] in möglichst breiter und deutlich ersichtlicher Ausführung den landschaftlichen Hintergrund« (W: V) zu geben. Für seine Darstellung der Ionischen Insel ergeben sich also zwei Aufgaben, die sich beide als Prozesse einer Übersetzung erweisen: Erstens muss Warsberg Korfu als Landschaft anschaulich machen. Dazu übersetzt er die visuellen Eindrücke, die ihm die Natur auf der Insel bietet, mittels verschiedener Vergleiche zur Architektur sowie zu bekannten Werken der bildenden Kunst in ein sprachliches Bild. Dieses übersetzt er zweitens dann in eine homerische Landschaft, indem er seine Erinnerungen an die Lektüre der Odyssee in dieses vom ihm gestaltete landschaftliche Bild projiziert. Durch eine derartige Semantisierung gelingt Warsberg eine poetische Verräumlichung Korfus, die den espace der Insel inmitten des Meeres zu einem mit Bedeutung versehenen lieu transformiert. Hieran wird deutlich, dass ein solcherart poetisch verräumlichter lieu dem entspricht, was Pierre Nora als lieu de mémoire bezeichnet: Korfu avanciert für Warsberg durch die Lektüre der Odyssee also zu einem ›Erinnerungsort‹ (vgl. Nora 2005).
Von Anfang an betont Warsberg in seinen Landschaftsdarstellungen die architektonische Gestalt(ung) der Natur, die insbesondere von den »kunstverständigen Bäumen« (W: 114) auf Korfu ausgeht – allen voran vom Olivenbaum und von der Zypresse mit ihrer natürlichen »Säulengestalt« (ebd.: 187). Sie wirken entweder »[w]ie architektonischer Schmuck«, der andernorts »um Säulenhäupter und Gesimse« (ebd.: 121) liegt, oder aber »wie Thürme einer Stadt« (ebd.: 172). Die Wirkung, die ein solch »architektonischer Aufputze [der] Landschaft« (ebd.: 187) zeitigt, beschreibt Warsberg in seiner Darstellung einer Ansicht vom Land aufs Meer an der Ostküste Korfus:
Es ist ein herrlicher, uralter Hain, voll tiefen Schattens und völliger Abgeschiedenheit und dann auch wieder, wenn man dem hohen Ufer näher kommt, mit eingerahmten Blicken zwischen den zitternden Zweigen auf den Canal von Corfu, die Berge Albaniens und die weiteste Ferne des jonischen Meeres. […] Vor sich sieht man durch die Obeliskenpforte schwarzer Cypressen das blaue Meer, ein schroffes hohes Cap, das Oelbäume krönen, eine weite Welt des sonnenbeglänzten Lichtes. (Ebd.: 114f.)
Da die Bäume wie architektonische Elemente wirken, rahmen sie auf gewissermaßen ›natürliche‹ Weise den Blick; erst durch diese Rahmung wird die korfiotische Natur für Warsberg als Landschaft wahrnehmbar. Dies entspricht einem Verfahren, das man seit dem 18. Jahrhundert als ›Rahmenschau‹ bezeichnet (vgl. Jablonski 2019: 155). In seinem Gedicht »Bewährtes Mittel für die Augen« empfiehlt schon Barthold Heinrich Brockes die Rahmenschau, damit das menschliche Auge den »Schmuck« (Brockes 1748: V. 3) einer »schönen Landschaft« (ebd.: V. 1) angemessen wahrnehmen kann. Die ›natürliche‹ Rahmenschau auf Korfu ermöglicht es zudem, der konturlosen Fläche (étendue) des Meeres eine ästhetische Form zu geben und sie entsprechend verräumlicht als Teil der Landschaft (espace) darzustellen – so im Fall einer Ansicht des korfiotischen Zentralmassivs von der Südostküste der Insel aus: »Daneben ragen rabenschwarze Cypressen auf, säulensteif und säulenernst, und zwischen diesen lebenden Pfeilern einer monumentalen Natur hindurch breitet sich ein entzückender Fernblick auf die See […].« (W: 127)
Eine derartige Rahmung, die sich dem Blick durch die Natur auf Korfu wie von selbst bietet, veranlasst Warsberg schließlich dazu, das Angeschaute mit bekannten Werken der bildenden Kunst zu vergleichen: Dort, wo »blendender Sonnenglanz […] rothglühend durch die Oelzweige [fällt]«, erscheint ihm die Landschaft »[w]ie ein Gemälde von Carl Marko«, das genau »diese milden gezähmten Formen und Farben der Landschaft« (ebd.: 121) aufweise, wie sie Warsberg auf Korfu wahrnimmt. Andernorts erscheint ihm »das saftigste Grün« der Insel als »Claude Lorrainsche Staffage« (ebd.: 122). Offenkundig ruft die korfiotische Landschaft in Warsberg die Erinnerung an die Gemälde des französischen Malers des 17. Jahrhunderts wach – und der Verweis auf solche Kunstwerke liegt deshalb nahe, weil sie insofern Teil eines transkulturellen Gedächtnisses sind, als berühmte Gemälde wie diejenigen Lorrains in Form von Reproduktionsstichen europaweit in gebildeten Kreisen zirkulierten.4 Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden graphische Gemäldereproduktionen außerdem vielfach in illustrierten Zeitschriften wie Die Gartenlaube oder Über Land und Meer abgedruckt, um sie einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Warsberg rekurriert mit seinen Kunstvergleichen also auf einen zu dieser Zeit bildungsbürgerlich zu nennenden Wissenskanon und kann daher voraussetzen, dass seine Leser*innen verstehen, wovon er spricht.
Für diejenigen allerdings, denen der bloße Vergleich noch keine Evidenz vor dem geistigen Auge liefert, übersetzt Warsberg die erinnerte malerische Darstellung in eine sprachliche – so im Fall eines Gemäldes von Nicolas Poussin, das jene »wahre Pastoralsymphonie« (W: 122) zeige, wie sie die Landschaft Korfus für Warsberg anschaulich macht:
Im Bilde für denjenigen, der das nicht gesehen und sich doch vorstellen möchte, gibt sie ein Gemälde des Poussin wieder, das mit drei anderen als die vier Jahreszeiten zum Ausschmucke des Schloßes von Meudon für den Herzog von Richelieu gemalt worden ist. […] Sein [Poussins; N.J.] Eden hat wie Corfu eine Fülle dunkelschattiger Orangenbäume und die braungrüne warme Färbung, welche die einzig wahre ist um den immergrünen Laubreichtum des Südens wiederzugeben. (Ebd.: 122f.)
Der Vergleich der korfiotischen Landschaft mit bekannten Werken der bildenden Kunst steigert allerdings die Artifizialität des von Warsberg Beschriebenen. Diese Wirkung scheint jedoch intendiert, denn diese Betonung der Künstlichkeit ermöglicht es Warsberg, die Landschaft Korfus zur Idylle zu stilisieren: So erinnert ihn der »Eindrucke primitiver Idyllik welchen die Insel gibt« an das von Hesiod und Lukrez beschriebene »goldene Zeitalter« (ebd.: 119) – und spätestens seit Jean-Jacques Rousseaus Reflexionen über den sog. état de nature gilt dieses mythische Säkulum als das kulturgeschichtlich idyllischste (vgl. Jablonski 2019: 217-226). Dass die Landschaften Korfus tatsächlich ein ›idyllisches Potenzial‹ besitzen, stellt Warsberg durch seine bereits oben zitierte Beschreibung eines Hains heraus. Seit der Antike gehört »[d]er ›ideale‹ oder idealisierte ›Mischwald‹« (Curtius 1969: 201) zu den konstitutiven Versatzstücken des materialen Topos der Idylle, denn im Sinne der antiken Topothesie – also dem poetischen »›Hinstellen‹ des amönen Ortes mit Hilfe topischer und das heißt in diesem Fall stereotyp wiederholter landschaftlicher Elemente« (Jablonski 2019: 73) – reicht seine bloße Erwähnung aus, um eine literarische Darstellung als Idylle zu markieren.
Warsbergs Idyllisierung der korfiotischen Landschaft trägt zu deren poetischer Verräumlichung bei, weil der so hergestellte Bezug zur literarischen Gattung als jenes ›supplément narratif‹ begriffen werden kann, das den espace (Raum) zum lieu (Ort) macht. Das Idyllisieren semantisiert Korfu also und macht die Insel zu einem Ort im Urbain’schen Sinne, weil ihre poetische Verräumlichung mit der Inszenierung eines Imaginären einhergeht. Wie eingangs dargelegt, ist es bei Warsberg die Erinnerung, die dergestalt in Szene gesetzt wird. Am Beispiel des korfiotischen Hains wird dies daran deutlich, dass weitere Elemente in die Landschaft gedichtet werden, die de facto dort zwar nicht vorhanden sind, sehr wohl aber hineinpassen würden: »Nichts fehlt ihm [dem Hain; N.J.] als der Tempel oder wenigstens die Ruine um ihn heilig zu glauben aus ältester Zeit einem homerischen Gotte.« (W: 114) Mit der Ruine verweist Warsberg hier implizit auf eine idyllische Variante der romantischen Landschaftsmalerei, zu der beispielsweise die Gemälde Caspar David Friedrichs (1774-1840) gezählt werden können. Über die poetische Lizenz seiner fiktiven Anreicherung der korfiotischen Landschaft reflektiert Warsberg wenig später und betont dabei die besondere Produktivkraft, die der Erinnerung als Teil des aisthetischen Prozesses bei der Rezeption von bildkünstlerischen wie auch sprachlichen Artefakten zukommt:
Mir scheint für alle Künste zu gelten: wer den höchsten Effect erzielen will, muß immer unter dem Maße bleiben. Der Zuschauer soll selbst hinzudenken, nicht wegdenken müssen, das erhöht stets die Wirkung, denn seine Phantasie malt dann in den aufgerufenen Erinnerungen besser als alle Pinsel und Farben der Welt es vermögen. (Ebd.: 123)
Auch bei der ›Homerisierung‹ der korfiotischen Landschaft kommt der Erinnerung eine dergestalt supplementäre Funktion zu: Indem Warsberg seine Erinnerungen an die Lektüre der Odyssee als landschaftliche Ergänzung seiner Beschreibung der Insel nutzt, wird der Inselraum nicht nur als Schauplatz des antiken Epos verräumlicht, sondern gleichsam zum »espace dramatisé« (Urbain 2010: 101). Hierdurch erscheint Korfu als »poetische Insel« (Brunner 1967), wie sie Horst Brunner als Motiv in der deutschen Literatur untersucht. Die poetische Insel der Literatur ist trotz ihres möglichen Bezugs auf das geographisch Reale in der außersprachlichen Wirklichkeit ein »konstruierter imaginärer Raum« (Jablonski 2019: 149), weil er »für die Anschauung der Leser ebenso ›objektiv‹, ›wirklich‹ wie der zugrundeliegende ›wirkliche‹ Raum« (Brunner 1967: 16) erscheint. Anschaulich macht das bereits der erste Eindruck von Korfu, den Warsberg während seiner nächtlichen Anreise übers Meer gewinnt:
Corfu lag trübe, wirklich »wie ein Schild im dunkelwogenden Meere«. Es ist diese sprechende Aehnlichkeit mit dem homerischen Vergleiche das erste, durch keine philologische Theorie wegzuleugnende Zeugniß welches dem Kommenden wird für die Identität Scheria’s mit dem historischen Korkyra und Corfu. Besonders bei trübem Wetter oder wenn die Nacht die Ferne schon dunkelt und die Einzelheiten im Bilde auslöschen und nur der äußerste schwarze Schattenriß bleibt und am meisten für den aus dem Norden Herabsteigenden meldet es sich mit dieser Täuschung an. Und Odysseus kam ja ziemlich mit mir denselben Weg und auch das Licht, in welchem er die Insel zuerst sah, war wie heute nächtlich dunkel. (W: 13)
Zum Beweis, dass die Beschreibung des antiken Scherias, wo sich das Reich des Phäakenkönigs Alkinoos befindet, in der Odyssee mit demjenigen Eindruck übereinstimmt, den Warsberg beim ersten Anblick Korfus erhält, zitiert er direkt zu Beginn seiner Beschreibung den Schildvergleich Homers. Das verdeutlicht, inwieweit »Warsbergs ›real-empirisch[e]‹ Eindrücke von Korfu […] vorgeprägt [sind] durch seine identifikatorische Homer-Lektüre« (Jablonski 2019: 146). Diese »Projektion der Literatur in die außersprachliche Wirklichkeit« (ebd.) macht es Warsberg überhaupt erst möglich, die poetische Ambition seiner Reisebeschreibungen einzulösen und der Odyssee ihren »landschaftlichen Hintergrund« (W: V) nachträglich zu erschreiben.
Warsbergs Übersetzungen der korfiotischen Landschaft zur poetischen Verräumlichung der Insel durch Vergleiche mit der Architektur und bildenden Kunst erweisen sich allesamt als sprachliche Inszenierungen von Erinnerungen. Wenn die zur Semantisierung des insularen Raumes gebrauchten Erinnerungen die Lektüren literarischer Texte betreffen, dann erhält das Erinnerte, sofern es nicht direkt zitiert wird, den Status einer Reminiszenz: Im Gegensatz »zum bewußten Plagiat«, heißt es bei Gero von Wilpert, und der damit »erstrebten Imitation einer Stelle in einem Schriftwerk oder einer Rede«, handelt es sich bei der Reminiszenz um etwas, das bloß »anklingt und vermutlich vom Verfasser unabsichtlich, erinnerungsmäßig übernommen wurde« (Wilpert 1964: 573).
Wie Warsberg darlegt, provoziert die natürliche Artifizialität der korfiotischen Landschaft derartige Reminiszenzen, wenn man – wie er – den Versuch unternimmt, die Natur sprachlich zur Anschauung zu bringen. Dabei ändert das seit der Antike gültige Mimesisparadigma einer Nachahmung der Natur durch die Kunst seine poetischen Vorzeichen: »Das Schaffen wird ein gerade umgekehrtes, die Natur zum Künstler, der Künstler zur Natur […].« (W: 115) Da für Warsberg die Identität von Korfu mit dem Scheria der Odyssee von Anfang an und ohne jeglichen Zweifel feststeht, erscheint ihm die Insel als »ein Luftsitz der Poesie« (ebd.: 234). Entsprechend anregend wirkt die korfiotische Landschaft auf ein »poetisch[es] Gemüth[]« (ebd.) wie das seine, das sich durch die verschiedenen idyllischen Orte auf der Insel in einen wahren »Studirsaal« (ebd.: 262) versetzt glaubt:
Und wie werden auf solchem Boden, vor diesem Meere und unter diesen Bäumen alle griechischen Sagen und Geschichten lebendig. Man braucht die Geister nicht zu citiren; die Helden und Götter kommen von selbst aus den golddunstigen Weitungen der Olivenbäume heraus und über das lichte Meer. Von unserer Seite ist nur die Treue der Erinnerung nötig, damit man sie wieder erkenne und freundlich aufnehme. (Ebd.)
Die Landschaft Korfus weckt in Warsberg also gewissermaßen wie »von selbst« die Erinnerung an »alle griechischen Sagen und Geschichten« (ebd.). Sobald man diese literarischen Engramme allerdings sprachlich fasst, werden sie zur Reminiszenz – eben weil man »die Geister nicht zu citiren [braucht]« (ebd.). Warsberg rechtfertigt so seine identifikatorische Homer-Lektüre und entsprechend erweist sich die Ionische Insel als espace dramatisé, weil sie sich ihm als eine Landschaft der Erinnerung an die Odyssee darbietet. Diese Erinnerung, die sowohl vom insularen »Boden« wie von dem das Eiland umgebenden »Meere« ausgeht, ist letztlich die eines transkulturellen Gedächtnisses, schließlich ist ganz Griechenland für Warsberg die »schönst[e] und denkwürdigst[e] Gegend unserer Culturgeschichte« (W: V), und deren Gründungsmythos ist – neben Ilias und Aeneis – die Odyssee. Ihr landschaftlicher Hintergrund sei derjenige der Ionischen Insel und diesen liefert Warsberg mit seinem Reisebericht.
Warsbergs Reminiszenzen beziehen sich allerdings nicht ausschließlich auf Homer. Die Schilderung der Begegnung mit einem korfiotischen Mädchen liest sich wie das intertextuelle Konzentrat der verschiedenen idyllischen Szenen in Johann Wolfgang Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther:
Von den Mädchen war sie die schönste, aber diese war geradezu bezaubernd, sinnverwirrend, Alexandra, welche eben in den Garten der Villa Braila kam, Blumen vom Gärtner zum Einpflanzen in ihre Vigne zu kaufen. Er gab ihr für ein paar Obolen die Schürze voll mit Rosen und Geraniumzweigen, und der Gärtner, ein alter wackeliger Mann, sagte, daß dieses schönste Mädchen der Gegend auch ein Engel an Sittsamkeit und Güte sei. Sie lebe mit ihrer Mutter abgeschieden in dem abgelegenen Weingarten und komme nur von Zeit zu Zeit Blumen bei ihm zu holen. Auch wollte sie um keinen Preis sich in ein längeres Gespräch mit uns verknüpfen lassen. Aber es freute mich daß sie meinen Namen trug. Welches Glück für einen Maler ein solches gleich körperlich wie geistig schönes Modell für eine heilige Jungfrau zu erhalten. Ich dachte mir, daß so die Gestalten geartet gewesen sein müßten, welche uns die Heil. Cäcilia von Bologna und die Madonna des Palastes Torregiani vermacht haben. (Ebd.: 178)
Bekanntlich macht Werther in Wahlheim, seinem ländlichen Refugium, das in fußläufiger Nähe zu der von ihm begehrten, aber bereits anderweitig vergebenen Lotte liegt, zahlreiche Begegnungen, die er in seinen Briefen nachträglich zu Idyllen stilisiert – wie etwa die Wasser holenden Mädchen am Brunnen oder die junge Mutter mit ihren beiden Kindern, die ihm wie die Heilige Familie erscheinen. Auch wenn Warsberg in der von ihm beschriebenen Alexandra-Episode zwar keinen direkten Verweis auf Goethes Werther anbringt, liegt dieser Bezug allein schon deshalb nahe, weil der österreichische Reisende denselben literarischen Begleiter bei sich trägt wie der junge Leidende: »Ich trug den Homer in der Tasche und saß auf den schönsten Punkten lesend und ausruhend. Es ist so, wenn man aus dem Buche heraus- und von der Landschaft wieder in die Werke hineinschaut, als zeichne man selbst diese Gegend.« (Ebd.: 124) Warsberg imitiert hier das literarische Vorbild und er verweist implizit darauf durch die beschriebene Adaption von Werthers Gebrauch des antiken Dichters. So heißt es in Goethes Roman:
Wenn ich des Morgens mit Sonnenaufgange hinausgehe nach meinem Wahlheim, und dort im Wirtsgarten mir meine Zuckererbsen selbst pflücke, mich hinsetze, sie abfände und dazwischen meinen Homer lese […]: da fühle ich so lebhaft, wie die übermütigen Freier der Penelope Ochsen und Schweine schlachten, zerlegen und braten. (Goethe 1998b: 29)
Anders als Goethes Protagonist nutzt Warsberg den Homer allerdings nicht für eine Selbststilisierung, sondern für die Semantisierung der korfiotischen Landschaft im Sinne eines espace dramatisé: Korfu wird von ihm nämlich als Ort (lieu) der Handlung des antiken Epos ausgegeben.
Wesentlich größer als im Fall der Alexandra- und der Homer-Episode ist die poetische Wirkkraft einer anderen Goethe-Reminiszenz, die Warsberg für die idyllische Darstellung eines Fischers an der Ostküste Korfus nutzt: Den Anblick jener »abgetrennt[en] Welt« (W: 192) der Meeresküste, den Warsberg von den Klippen »mit dem Glase hinab sehend« (ebd.: 195) genießt, beschreibt er mittels einer lyrischen Passage, die durch Einrückung und Versgliederung im Druckbild des Reiseberichts auch optisch abgesetzt erscheint: »Wie am Vorgebirge mit langer Ruthe ein Fischer / Lauernd den kleinen Fischen die ködertragende Angel / An dem Horne des Stiers hinab in die Fluthen des Meeres / Warf, und die zappelnde Beute geschwind an’s Ufer hinaufschenkt.« (Ebd.) Im unmittelbaren Anschluss folgt die ›normalsprachliche‹ Beschreibung der lyrischen Passage. Diese literarische Übersetzung erweist sich insofern als Transposition, als darunter im Bereich der Musik das Übertragen »ein[es] Tonstück[s] in eine andere Tonart« (Duden 2019: 1808) verstanden wird. Entsprechend transponiert Warsberg hier die literarische Tonart, indem er von der Poesie zur Prosa wechselt:
Der kahnlose Sänger [der Fischer; N.J.] saß auf einer beschatteten Klippe. Die Beine hatte er im Wasser hängen. Auf dem Kopfe trug er die phrygische Mütze, auf den Schultern den langwolligen Lodenrock, welcher pelzähnlich und für alle Seeleute hier üblich ist. In den ernsten Augenblicken seines Geschäfts ruhte sein Gesang, darum hatte ich ihn lange nicht bemerkt. Dann wieder löste er sich mit einer Panpfeife ab, welche schrille Töne, aber doch Melodie gab. (W: 195)
Die »lyrische Einleitung dieser Fischer-Szene« dient der Erzeugung einer »vergegenwärtigend[en] Unmittelbarkeit« des so Beschriebenen und die Prosaübersetzung »lässt das Vorangehende wie ›alla prima‹-Poesie wirken« (Jablonski 2019: 157). Warsbergs literarische Transposition durch den Übergang von Poesie zu Prosa rechtfertigt er nachfolgend in einer Reflexion über die Idyllik der sich ihm darbietenden Szenerie:
Es war das Instrument und der Sänger, vielleicht auch die Musikweise einer antiken Idylle, und wie die Mittagsglut mir beim Aufsteigen nach dem Kloster immer heißer wurde, stellte sich mir dieser stille, felsige Golf, dieser Fischer und die lichte Sonne, die leise zitternde Luft und das silberblaue Meer immer mehr zu einer Illustration des Goetheschen Fischers zusammen […]. (W: 195)
Wiederum eingerückt und in Versform folgt bei Warsberg ein Zitat aus Goethes Ballade »Der Fischer« (1779): »Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll, / Ein Fischer saß daran, / Sah nach dem Angel ruhevoll, / Kühl bis an’s Herz hinan. / Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll, / Netzt ihm den nackten Fuß, / Sein Herz wuchs ihm sehnsuchtvoll, / Wie bei der Liebsten Gruß.« (Ebd.: 195f.) Das Anbringen dieses Zitats erweist sich letztlich als Umkehrung jenes poetischen Vorhabens, das Warsberg in Bezug auf den Homer mit seinem Reisebericht umsetzen will: Hier wird nämlich nicht einem Gedicht der landschaftliche Hintergrund gegeben, sondern einer Landschaft ihre lyrische Kulisse.
Auch wenn Warsberg zum Abschluss seiner Fischer-Episode direkt aus Goethes Gedicht zitiert, erweist sich die Erwähnung des »Goetheschen Fischers« (ebd.: 195) jedoch als Reminiszenz: In Warsbergs Darstellung im Reisebericht geht die Erinnerung nämlich dem Zitat voraus. Interessanterweise erscheint dieses als verkürzte Kompilation der Ballade, weil Warsberg lediglich den ersten Teil der ersten und den der letzten Strophe zitiert (vgl. Goethe 1998a: 153f.). Man könnte Warsberg also unterstellen, seine Erinnerung an das Gedicht sei nicht vollständig. Die verkürzte Wiedergabe scheint allerdings durchaus intendiert und sie erweist sich als bewusste Inszenierung seiner Erinnerung an das Goethe-Gedicht: Die Auslassungen bewirken ihrerseits nämlich einen transponierenden Gattungswechsel und das Gedicht erscheint nicht länger als – wie im Untertitel bei Goethe angegeben – Ballade, sondern nun eher dem Bereich der Liebeslyrik zugehörig.
Das ist insofern eine Verfälschung des Gegenstands von Goethes Text, als in der Ballade die unheilvolle Begegnung eines Fischers mit einer Nixe beschrieben wird. Indem Warsberg sowohl das Auftreten des »feucht[en] Weib[s]« (ebd.: V. 8), deren Ansprache an den Fischer (vgl. ebd.: V. 9-24) sowie dessen Untergang in den rauschenden Fluten (vgl. ebd.: V. 29-32) in seiner Wiedergabe tilgt, verändert er jedoch nicht bloß den Inhalt des Gedichts, sondern auch dessen poetische Form. Der Ballade werden nämlich zwei ihrer konstitutiven Momente genommen: die Handlung (als epischer Anteil der Ballade) und die direkte Rede (als dramatischer Anteil). Darüber hinaus ändert Warsberg mit seiner Transposition die Bedeutung, die bei Goethe dem Wasser zukommt. Dieses erscheint in der Ballade ganz im Sinne antiker Vorstellungen als Ort des Unbekannten wie Dämonischen und es ist – gemäß der tradierten Symbolik des Wassers (vgl. Becker 2006: 323) – zudem der Sitz des Weiblichen. Von dieser gleichsam doppelt negativen Konnotation ›bereinigt‹ Warsberg Goethes Gedicht.
Die transponierenden Manipulationen an der Ballade sind von weitreichender literarischer Konsequenz: Sie markieren letztlich einen buchstäblichen Raumgewinn für die literarische Gattung der Idylle. An sie erinnert Warsberg die Szenerie an der korfiotischen Küste und durch ihre in den Reisebericht integrierte lyrische Darstellung wird das Meer als Ort für die »idyllische poiesis« (Jablonski 2019: 73) produktiv gemacht: Mit seiner Transposition des Goethe-Gedichts, in dem das Wasser metonymisch für das Meer steht, gelingt Warsberg nämlich eine Verräumlichung, weil er das Meer neu semantisiert und als Ort der Erinnerung präsentiert. Durch die literarische Bearbeitung der Goethe-Reminiszenz konvergieren hier also die beiden Ortskonzepte Urbains und Noras, denn das Meer erscheint bei Warsberg als lieu im Sinne eines lieu de mémoire. Die mit der Transposition bewirkte Verräumlichung korrespondiert mit dem Eindruck, den Warsberg auf Korfu von »diesem atlasweichen Meere« erhält, das ihm als konsequent idyllisch konnotierter Ort »der Wohllust« (W: 176) erscheint.5 Eine derartig poetische Verräumlichung des Meeres mag paradox anmuten, denn die Idylle kennt das Meer genauso wenig als Schauplatz wie dessen Ufer – lediglich in Form von Bächen und kleinen Teichen ist das Element Wasser ein Bestandteil des materialen Topos.
Als Fläche von undefinierbarer Größe muss das Meer – genauso wie etwa das Gebirge oder die Wüste – in der ästhetischen Tradition dem Bereich des Erhabenen zugeschlagen werden. Dieses steht aufgrund seiner die menschlichen Dimensionen überschreitenden Ausmaße für die »Schrecken« und »(Ehr)furcht« (Berressem 2004: 152) hervorrufende Seite der Natur. Laut Helmut J. Schneider gestaltet die Idylle jedoch stets eine »heile Welt im Kleinen« (Schneider 1988: 8); in dieser – mit Michail Bachtin gesprochen – »Mikrowelt« (Bachtin 2014: 160), wo Harmonie und Frieden herrschen, hat das Erhabene keinen Platz. Diesen reklamiert nun aber Warsberg für das Meer, das er in und mit seiner idyllischen Darstellung der Fischer-Szene im Reisebericht einer literarischen Verräumlichung unterzieht. Dabei fungiert die Goethe-Reminiszenz als jenes supplément narratif, das eine conversion en espace des Meeres bewirkt. Auf dem (Um-)Weg der Transposition wird das Meer an der korfiotischen Küste bei Warsberg somit zu einem idyllischen Ort der Erinnerung.
1 | ›Sofern es sich bei der Fläche um eine ursprüngliche Leere handelt und beim Raum um einen Zwischenzustand der Strukturierung dieser Leere, erscheint der Ort folglich, sobald sich ein Imaginäres dieser Struktur bemächtigt und sich dort in Szene setzt […].‹ (Übers. N.J.)
2 | Hierbei handelt es sich um den ersten der drei Bände von Warsbergs Odysseeischen Landschaften, der 1878 unter dem Titel Das Reich des Alkinoos bei Carl Gerold’s Sohn in Wien veröffentlicht wurde. Zitate daraus werden im Folgenden mit der Sigle ›W‹ gekennzeichnet und direkt im Text belegt. Dabei werden die sprachlichen Eigenheiten der zitierten Stellen beibehalten und Abweichungen von der heute üblichen Rechtschreibung und Grammatik nicht markiert.
3 | Der ›poetische Murray‹ ist eine Metonymie, weil Warsberg hiermit die seit 1836 erscheinenden Red Books des englischen Reiseführerverlegers John Murray meint. Sie bilden das Paradigma für alle späteren Reiseführer, so auch diejenigen des deutschen Verlegers Karl Baedeker (vgl. Jablonski 2017a: 113).
4 | Ein besonders anschauliches Zeugnis davon, wie derartige graphische Reproduktionen solche Gemälde zum Teil eines kollektiven Gedächtnisses gemacht haben, liefert Johann Wolfgang Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften (1809) mit der ausführlichen Darstellung des im 18. und 19. Jahrhundert gerade in gebildeten adeligen wie bürgerlichen Kreisen beliebten Gesellschaftsspiels der sog. ›tableaux vivants‹ (vgl. Naumann 2015).
5 | Zur Wollust des idyllischen Ortes vgl. Jablonski 2019: 90-107.
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