In Judith Schalansky’s novel Blau steht dir nicht. Matrosenroman (2011) the sea has a central poetological function. Focussing on the liminal space of the sea and on nautical imagery, the novel’s narrative and poetological programme are characterised by an approach which involves childhood and collective cultural memories as well as literary memory. Developing a form of ›nautical narration‹ the text explores concepts of memory, identity and writing. Applying the concept of ›travelling memory‹ this article analyses how the novel’s narrative strategies are used not only to question the stability and certainty of memory, but also to reflect on transcultural movements and representations of memory.
Title:Nautical Narration and Nautical Memory in Judith Schalansky’s Blau steht dir nicht
Keywords:travelling memory; transcultural memory; nautical literature; intertextuality; island
Erinnerungen halten nicht still – diese Beobachtung begründet Astrid Erlls Begriff des »travelling memory«:1 »I claim that all cultural memory must ›travel‹, be kept in motion, in order to ›stay alive‹, to have an impact both on individual minds and social formations.« (Erll 2011b: 12; Hervorh. i.O.). In Judith Schalanskys2 Roman Blau steht dir nicht stehen solche Reise- und Migrationsbewegungen von kollektiven Erinnerungen im Mittelpunkt. Dabei verbinden der liminale Raum des Meeres und die nautische Metaphorik die beiden Ebenen des Narrativs: die (auto-)biographische Erinnerung des Mädchens Jenny an ihre Kindheit in der DDR und besonders die Besuche bei den Großeltern auf Usedom sowie die Reisebewegung der Ich-Erzählerin in der Gegenwart nach Riga, New York und Greifswald. Dabei werden verschiedene Erinnerungsdiskurse von individuellen (Kindheits-)Erinnerungen über Ereignisse der europäischen Geschichte bis zu intertextuellen Referenzen aufgerufen.
Dieser Beitrag geht von der Beobachtung aus, dass der Text höchst selbstreflexiv ist und ein poetologisches Programm formuliert, das Schreibweisen und Erinnerungsweisen und den Raum des Meeres – also Erfindung, Erinnerung, Raum3 – zusammenführt unter einem Prinzip, das hier als ›nautisches Erzählen‹ bezeichnet werden soll. ›Nautisch‹ ist nicht deshalb gewählt, weil das Meer Schauplatz oder die Seefahrt zentrales Thema ist (denn das ist in diesem Roman nur sehr bedingt der Fall), sondern vor allem weil das Meer in Schalanskys Roman eine zentrale poetologische und erinnerungspoetische Funktion übernimmt. Diese Funktion lässt sich mit dem Begriff der transkulturellen Erinnerung verbinden. Während der Begriff des lieu de mémoire, den Pierre Nora geprägt hat, sich auf Orte bzw. Räumlichkeiten bezieht, die im kollektiven, nationalen Gedächtnis eine zentrale Rolle spielen und denen eine besondere Bedeutung gerade in Bezug auf nationale Identitätskonstruktionen zugewiesen wird, wendet sich das Konzept der transkulturellen Erinnerung, das seit einigen Jahren in den kulturwissenschaftlichen Gedächtnisstudien / memory studies verwendet wird, hingegen von dieser an nationale Grenzen gebundenen Vorstellung von Erinnerung ab und betont stattdessen die Beweglichkeit und Fluidität von Erinnerung und kulturellem Gedächtnis:
As a theory and methodology, transcultural memory means a change in the focus attention: from stable and allegedly ›pure‹ national-cultural memory towards the movements, connections, and mixing of memories […] Memory is fundamentally transcultural. No version of the past and no product in the archive will ever belong to just one community or place, but usually has its own history of ›travel and translation‹. (Erll 2014; Hervorh. i.O.)
In diesem Kontext und aus diesen Überlegungen heraus soll die Lektüre des Romans von Schalansky angesiedelt werden. Dabei soll Blau steht dir nicht auf Schreibweisen, auf ›nautisches Erzählen‹, hin untersucht und in ihrer Funktion als Inszenierung von Erinnerungsmodellen beschrieben werden.
Die Metapher vom Schiff der Dichtung ist alt und auch das Meer als Motiv hat in der Literatur eine lange Tradition, es liegen daher auch eine Reihe von motivgeschichtlichen Untersuchungen zum Meer und verwandten maritimen Motiven wie Insel, Schiff und Schiffbruch sowie zu Figuren wie dem Kapitän oder auch mythischen oder sagenhafte Figuren wie Meerjungfrauen oder aber dem Fliegenden Holländer vor.
Neueren Datums sind Untersuchungen, die auf den Zusammenhang zwischen Seefahrt und Erzählen abzielen, wie z.B. Margaret Cohens Arbeiten zum Chronotopos des Meeres und dem Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Gattung Roman und Seefahrt (vgl. Cohen 2006; 2010). Dabei liegen einige Studien insbesondere zur englischsprachigen und französischen Literatur vor; für die deutschsprachige Literatur ist dies noch weniger untersucht worden (Ausnahmen sind Buch 2014 und vor allem Wolf 2013). Das überrascht zunächst sicher nicht, gilt doch das »Literarische Seestüc[k]«, wie es Peter Krahé (1992) in Anlehnung an den Begriff der Bildenden Kunst nennt, als Domäne der Seefahrervölker. Inzwischen gibt es auch ein narratologisches Interesse am Meer und an Arbeiten, die eine Poetologie des Meeres formulieren.
Was also macht nautisches Erzählen und Erinnern aus? Nautische Literatur ist immer auch Reiseliteratur, für sie gilt daher auch, was für Reisetexte gilt: Sie ist »in besonderer Weise an der Konstitution mentaler Landkarten beteiligt, einer ›imaginativen Geographie‹, wie Said dies nennt, […] [und setzt] einen zwischen fiktionalem und faktualem Bezugshorizont oszillierenden Leseprozess in Gang.« (Sicks 2009: 346) An dieser Spannung zwischen ›Wirklichem‹ und ›Nichtwirklichem‹, realen und imaginären Räumen, wie sie Reiseromane und -erzählungen charakterisiert, lassen sich »fundamentale Eigenschaften und Strukturen des Literarischen aufzeigen« (Schmitz-Emans 1995: 189). »Die Reise ist […] Metapher des Weges und menschlicher Erfahrung. Für die Schiffsreise gilt dies sogar insbesondere« (ebd.: 203), stellt Monika Schmitz-Emans im Zusammenhang mit der literaturtheoretischen Bedeutung des Reise- und Inselmotivs fest. Das ›Seemannsgarn‹ ist daher geeignet als Modell literarischen Erzählens überhaupt.
Die »Wahlverwandschaft zwischen Erzählen und Seefahrt« (Klotz 2006: 121) gilt nicht nur für das Sujet der wagemutigen Seefahrt, sondern »im Hergang, in der Tätigkeit des Erzählens selbst. Bildlich gesprochen, verfährt der Erzähler eines großen epischen Werks ähnlich wie der Navigator eines jener frühen Segel- und Ruderschiffe, die den Unwägbarkeiten von Wind und Meeresströmen ausgesetzt waren« (ebd.).
Darin, so Klotz, gleiche die Odyssee dem Erzählen in Moby Dick: »In beiden Fällen waltet jemand, der beim Navigieren so auch beim Erzählen etwas riskiert. Genauer, der sich willkürlich einlässt aufs Abenteuer einer unsicheren Tätigkeit.« (Ebd.) Klotz nennt als Analogien von Erzählen und Schifffahrt u.a. den maßlosen Raum des Erzählens, das Steuern wie auch Abschweifen oder das Sich-treiben-Lassen des Erzählers, das Abreißen und Wiederaufnehmen von Fäden, den Weg ins Ungewisse (vgl. ebd.: 121f.).
Die Verwandtschaft zwischen Erzählen und Schifffahrt, zwischen Narration und Navigation ist jedoch nicht nur strukturell, sondern berührt das Wesen des Literarischen: Michel Foucault hat in seinem Aufsatz Andere Räume bekanntlich das Schiff als »die Heterotopie schlechthin« (Foucault 1992: 46) bezeichnet: »In den Zivilisationen ohne Schiff versiegen die Träume, die Spionage ersetzt das Abenteuer und die Polizei die Freibeuter.« (Ebd.) Das Schiff, dieses »schaukelnd[e] Stück Raum […], ein Ort ohne Ort, der aus sich selber lebt, der in sich geschlossen ist, und gleichzeitig dem Unendlichen des Meeres ausgeliefert ist« (ebd.), erfüllt für Foucault somit paradigmatisch die Anforderung an seinen Heterotopiebegriff, »als Gegenplatzierungen oder Widerlager«, als »ganz andere« Orte (ebd.: 39; Hervorh. i.O.). Mit dieser Bestimmung als anderem Ort eignet sich das Schiff (und verwandte maritime Räume) ganz besonders für das Literarische, nimmt sich doch »die Literatur vorzugsweise des ›Anderen‹, des Unvertrauten in seinen vielfältigen Spielarten an, um es in seiner ganzen Ambivalenz aufscheinen zu lassen« (Schmitz-Emans 1995: 202).
Das Schiff bietet für Foucault »das größte Imaginationsarsenal« (Foucault 1992: 39). Und hier setzt die grundlegende Verbindung, die ›Wahlverwandtschaft‹ von Schifffahrt und Erzählen an. Die Metapher vom Schiff der Dichtung deutet Burkhardt Wolf entsprechend so: »Im Schreiben wie im Navigieren geht es darum, einen heterotopen Raum zu besetzen, der eine spezifisch ortlose Weise des Sprechens, Schreibens und Existierens ermöglicht.« (Wolf 2013: 451) Zu dieser Ortlosigkeit gehört auch die allem Literarischen eingeschriebene Spannung zwischen Fakt und Fiktion, Authentizität oder Lüge, die in den nautischen Texten nicht nur besonders prominent ist, sondern auch ausdrücklich reflektiert wird.
Beispiele für erzählerische Unsicherheit, in der Wirkliches und Imaginiertes verschwimmen, finden sich zahlreich in nautischer Literatur: Liegen nicht zuletzt die Ursprünge literarischen Erzählens im Seemannsgarn begründet? Man denke da an die Odyssee als Ursprungstext: Odysseus ist nicht nur der paradigmatische Seefahrer, sondern auch der listenreiche und möglicherweise lügende Erzähler seiner Irrfahrt. Auf ihn beziehen sich viele, wenn nicht alle literarischen Seefahrer, von Melvilles Ismael, der sich zwar ausdrücklich nicht Niemand nennt (sondern uns auffordert, ihn Ismael zu nennen), dessen Identität aber schwankend bleibt (und nur eine Stimme in einem mehrstimmigen Text ist), über Jules Vernes Kapitän Nemo oder B. Travens Seemann, der ohne Papiere staatenlos und damit als »ein Niemand« (Traven 2012: 17) und somit Nachfahre des Odysseus auf dem Totenschiff (1926) anheuert, bis zu Yann Martels Held Pi in Life of Pi (dt. Schiffbruch mit Tiger, 2001), der nach einem französischen Schwimmbad (also eigentlich Piscine) benannt ist, aber sich auch nach der Kreiszahl Pi nennt und als literarischer Nachfahre von E.A. Poes Arthur Gordon Pym einer der unzuverlässigsten Erzähler überhaupt ist.4 Diese knappe Übersicht macht auch deutlich, dass Intertextualität und herausgestellte intertextuelle Verfahren ebenfalls zu den Merkmalen nautischer Literatur gehören (natürlich der Literatur überhaupt, nautische Texte scheinen dies aber in besonderer Weise herauszustellen – die Reise ins und auf dem Meer ist, und das ist Teil des selbstreflexiven Charakters dieser Texte, eben auch eine Reise ins Meer der Literatur).
Wie ist dies nun mit Erinnerung zu verknüpfen? Dabei ist zunächst der Begriff der Intertextualität zentral. Während die Begriffe Fiktionalität und Narration vor allem auf die Schreibweisen bzw. ästhetischen Verfahren abzielen, kann über den Begriff der Intertextualität außerdem nach dem ›Wissen der Literatur‹ um und über sich selbst gefragt werden. Eine solche Fragestellung schließt an gedächtnistheoretische Ansätze an, nach denen Intertextualität als literarische Erinnerungspraktik und als ›Gedächtnis der Literatur‹ verstanden wird. Darüber hinaus kann nautische Literatur als ästhetisches und narratives Verfahren beschrieben werden, mit dem Gedächtnis inszeniert und gestaltet wird. Im ›nautischen Erzählen‹ trifft also die Frage nach dem Verhältnis zwischen Literatur und Gedächtnis in zweifacher Weise zu: in Bezug auf das Gedächtnis in der Literatur und in Bezug auf das Gedächtnis der Literatur. Aus diesen Überlegungen ergeben sich folgende Fragen an den Text: Wie gestaltet der Text Schalanskys nautisches Erzählen? Welche Funktion übernimmt nautisches Erzählen im Zusammenhang mit (transkulturellen) Erinnerungsdiskursen? Welche Möglichkeit bietet ein wie oben beschriebenes nautisches Erzählen, bietet Seemannsgarn die Möglichkeit, Erinnerungsprozesse zu inszenieren und in ihrer Dynamik Bewegtheit zu gestalten und in ihrer augenscheinlich identitätsstiftenden Funktion zu hinterfragen?
Die ersten zwei Kapitel des Romans entstanden 2007 im Rahmen von Schalanskys Diplomarbeitsprojekt mit dem Titel Die Auswanderung der Seepferdchen.5 Dort heißt es zur Struktur und Erzählweise in den Kommentierungen Schalanskys:
Selbstermahnungen: (7 Kapitel // 4 personaler Erzähler: Präteritum // 3 Ich-Erzähler: Präsens ¶ 1. Ebene: Sprache der ersten Ebene: klar, kurz, knapp, einfach, nicht zu gelehrig, nicht altklug, authentisch muss es sein. ¶ 2. Ebene: A) Lektüren-Forscher-Ich (W.G. Sebald) B) Sprachgewaltig, verrätselt (Felicitas Hoppe) C) Altklug, journalistisch (Reinhard Kaiser) (Schalansky 2007: 6).
Schalansky ruft hier mit der Nennung der drei Namen Sebald, Hoppe und Kaiser deutlich drei intertextuelle Referenzen auf, die für die thematische Gestaltung, vor allem für das poetologische Programm des Textes, von großer Bedeutung sind. Der Einfluss Sebalds ist dabei überaus deutlich: Schalansky stellt ihrem Roman nicht nur ein Zitat aus Sebalds Schwindel. Gefühle (1990) voran, sondern ihre Erzählweise erinnert auch an diejenige Sebalds, den mäandernden Erinnerungsdiskurs z.B. in den Ringen des Saturn (1995), bei der das auf der (Fuß-)Reise Gesehene Anlass für Reflexionen über eine Geschichte des Verfalls wird, wie es in dem vorliegenden Themenheft auch Dorit Müller ausgearbeitet hat. Vor allem aber greift Schalansky Sebalds Montagetechnik und die Kombination von Text und Bild (z.B. Schwarz-Weiß-Fotografien)6 auf, die in Blau steht dir nicht eine zentrale Rolle spielen. Schalansky selbst hat den Einfluss Sebalds auf ihr Schreiben in den Kommentierungen folgendermaßen erläutert:
Die Prosa W.G. Sebalds hat mich inspiriert, die allesamt von einem einsam umherirrenden Melancholiker handelt, der in fremden Orten weniger als in fremden Zeiten zu Hause ist, dem jeder Häusereingang von vergangenen Schlachten und jedes verstaubte Museumsexponat von verstorbenen Exzentrikern erzählt. Diese Vergangenheits- und Geschichtsbesessenheit kann man ihm durchaus vorwerfen, weil er darin einen zutiefst romantischen und zudem sehr männlichen Topos vom gelehrten, unbehausten Außenseiter fortschreibt, in einer altertümlichen, bisweilen hochgeschraubten Sprache von Dingen erzählt, die ihn an etwas erinnern und ihn beunruhigen oder erstaunen. (Schalansky 2007: 32)
Das Sebald-Motto ist nur einer von vielen expliziten intertextuellen Verweisen im Roman. Und damit ist von Beginn an klar, dass Blau steht dir nicht nicht nur eine Reise in literarischen Spuren ist, sondern auch eine Reflexion über literarische Erinnerungspraktiken und eine Reise in das ›Gedächtnis der Literatur‹.
Wie oben erwähnt, erschließt sich der nautische Charakter des Textes erst auf den zweiten Blick, spielt doch Seefahrt im eigentlichen Sinne keine große Rolle. Jedoch ist das Meer stets präsent in Blau steht dir nicht: Zahlreiche maritime und nautische Motive durchziehen den Text, z.B. die Beschreibung eines Walskeletts im Meeresmuseum in Stralsund,7 es werden Meerjungfrauen erwähnt, und maritime Räume wie Inseln, Küsten und Strände sind zentrale Schauplätze. Auf inhaltlicher wie auch auf erzählerischer Ebene reiht sich Schalanskys »Matrosenroman« in die Tradition einer nautischen, maritimen Literatur ein.
Dies geschieht zunächst paratextuell durch die Genrebezeichnung im Untertitel und durch das Sebald-Zitat-Motto des Romans: »Auf der Schiffsbrücke stand mit gespreizten Beinen und wehenden Mützenbändern ein Matrose und machte mit zwei bunten Flaggen komplizierte semaphorische Zeichen in die Luft.« (Schalansky 2011: o.S.) Mit diesem Bild des Matrosen und seiner Zeichensprache ist auch bereits das zentrale Motiv des Romans angesprochen, das die beiden Ebenen – Kindheitserinnerungen und kollektive Erinnerungen, kulturelles Gedächtnis – miteinander verbindet: der Matrose oder genauer der Matrosenanzug (und so erklärt sich auch der Untertitel Matrosenroman). Der Matrosenanzug als zentrales Motiv steht dabei für die Sehnsucht nach Grenzüberschreitungen und Erkundungen des ›Anderen‹ – eine Sehnsucht, die für die Autorin autobiographisch durch die Kindheit innerhalb der Grenzen der DDR begründet wird.
Dazu heißt es in den Kommentierungen zu der Auswanderung der Seepferdchen: »Es bewegte sich einfach nichts. Das Motiv der Unbeweglichkeit zieht sich durch das gesamte erste Kapitel. Das Kind stößt immer wieder an Grenzen. Es sind sowohl die Grenzen der eigenen Vorstellung als auch politische Grenzen.« (Schalansky 2007: 9) Man könnte ergänzen: Der Kontrast ›Unbeweglichkeit-Mobilität‹ bestimmt den ganzen Roman. So heißt es dort von Jennys Eltern, die auf dem Festland wohnen: »Ihre Familie war unbeweglich. Ihr Vater fuhr keinen Mähdrescher bei der LPG. Ihre Mutter lenkte keinen Kran oder Trecker. Die Eltern Jennys, beide Lehrer in Greifswald, besaßen kein Auto.« (Schalansky 2011: 17) Im Gegensatz dazu bieten die Besuche bei den Großeltern auf Usedom zumindest den Ausblick in die Ferne und eine – wenn auch begrenzte – Mobilität. »Ihre Großeltern wohnten am Meer. Sie wurden nie müde, zu betonen, dass sie dort wohnten, wo andere Urlaub machten« (ebd.: 7), heißt es zu Beginn des Romans. Das Meer wird für Jenny zur »Projektionsfläche« (Kosta 2012: 247) für ihre Sehnsüchte; die Farbe Blau bezeichnet, wie Barbara Kosta feststellt, einen »symbolischen Raum« (ebd.: 253) der Grenzüberschreitungen. Die Ostsee, auf die Jenny schaut, wird für das Mädchen zum Tor in die Welt: »Die See aber war nur das offene Meer, wo der Horizont bis an den Himmel reichte. Die Einzahl die See ließ keine Zweifel, dass sie einzig war, und Jenny sah dieses eine Weltmeer die Küsten aller Inseln und Länder verbinden.« (Schalansky 2011: 11; Hervorh. i.O.) Jenny weiß aber auch: »Wer aufs Meer hinausschwamm, […] begab sich in Lebensgefahr« (ebd.: 23). Zur Sehnsuchtsfigur werden daher für sie die Matrosen, die sie beobachtet. Schalansky hat in ihrer Diplomarbeit von ihrer Faszination gesprochen, die für sie vom Wort Matrose ausgeht: Matrosen seien vergleichbar mit »Engel[n], Angehörige[n] einer anderen Welt, einer Gegenwelt, einer Heterotopie, von der Foucault [1976] in Anderen Räumen schreibt. Was passiert, wenn die anderen Räume zu Besuch sind, auf Besuch, wie man noch viel treffender sagt? […] Sie locken und verwirren.« (Schalansky, zit. n. Kosta 2012: 248) Für Jenny jedoch ist diese Heterotopie auch eine »Sphäre des Unerlaubten« (ebd.). So stellt die Großmutter fest: »Blau steht dir nicht« (Schalansky 2011: 60), und auf Jennys Wunsch: »Wenn ich groß bin, werde ich Matrösin«, korrigiert sie der Großvater: »Das heißt Matrose. Und außerdem werden Mädchen keine Matrosen. Frauen auf dem Schiff bringen Unglück.« (Ebd.: 68f.; Hervorh. i.O.) Der Zugang zu den anderen Räumen geschieht also vor allem in der Imagination des Mädchens. Auslöser sind dabei z.B. die Sammlung der Großmutter, ihre »Schätze« auf der Fensterbank: »eine Holzpuppe aus Ungarn, eine Vase mit blauäugigen Pfauenfedern, eine flammenfarbene Korallenkette […], ein Seeigel« (ebd.: 7), Fernsehdokumentationen über Tierforscher auf den Galapagosinseln oder aber auch das Lesen (bzw. das Betrachten) des Atlas. »Da will ich hin« (ebd.: 115), entscheidet Jenny, als sie die Galapagosinseln auf der Karte findet. Ihre Heimat, die DDR, »Unserland«, erscheint ihr dagegen so klein, winzig, »rosa wie die Baltische Plattmuschel. […] Neben dem kleinen rosafarbenen Land befand sich ein etwas größeres Graues. ›Das ist Drüben‹, sagte der Großvater […]. Es war ihr ein Rätsel, warum Drüben grau war.« (Ebd.: 115f.)
Im Vorwort ihres Atlas der abgelegenen Inseln8 berichtet Schalansky von der Bedeutung der Kartenlektüre für sie als Kind: »Ich bin mit dem Atlas groß geworden. Und als Atlas-Kind war ich natürlich nie im Ausland. […] Wahrscheinlich liebte ich Atlanten deshalb so sehr, weil mir ihre Linien, Farben und Namen, die wirklichen Orte ersetzten, die ich ohnehin nicht aufsuchen konnte.« (Schalansky 2009: 7) In ihrem Atlas porträtiert Schalansky in der Tradition des isolario auf jeweils einer Doppelseite Inseln mit einer Karte, einigen Daten und einem kurzen Text. Jedoch macht bereits der Untertitel Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde deutlich, dass es Schalansky nicht darum geht, ein Reisehandbuch zusammenzustellen, sondern vielmehr darum, das poetische, literarische Potenzial von Inseln auszuloten. Schalanskys Überlegungen zur Kartographie, die sie eben nicht als Abbild der Wirklichkeit, sondern als Erzählung und »kühne Interpretation« (ebd.: 9) sieht, bestätigen dies: »Die Kartografie sollte endlich zu den poetischen Gattungen und der Atlas selbst zur schönen Literatur gezählt werden.« (Ebd.: 23) Atlanten sind für Schalansky Einladungen zu imaginären Reisen, die Fingerreise im Atlas ist mehr als ein ästhetischer Ersatz für reale Reisen, sondern geradezu Voraussetzung für die poetische Imagination. Dem »Atlas-Kind« Schalansky erscheinen nämlich reale Orte wie Helsinki, Nairobi und Los Angeles ebenso imaginär wie Atlantis, Thule oder El Dorado: »[D]ass man dort tatsächlich gewesen […] sein kann, bleibt mir nach wie vor unbegreiflich« (ebd.: 7; Hervorh. i.O.). Die Atlas-Lektüre lehrt: »[D]as Imaginäre [ist] an das sogenannte Faktische gebunden; faktisch Erfahrenes verwandelt sich zudem schnell in Vergangenes« (Schmitz-Emans 2017: 208). Man könnte fortfahren: also in Erinnerung und damit in Narrative, die sich zwischen Fakt und Fiktion bewegen. Und diesen Prozess verfolgt auch der Roman Blau steht dir nicht, wenn der Text verschiedene Erinnerungsdiskurse in den Blick nimmt.
Es ist daher bedeutsam, dass mit Usedom der Schauplatz der Kindheitserinnerung eine Insel ist. Blau steht dir nicht ruft damit eine ganze Reihe von Projektionen auf, für die sich die Denkfigur der Insel grundsätzlich eignet: Sehnsuchts- und Herrschaftsraum, als Versuchsraum für wissenschaftliche und gesellschaftliche Experimente, als Kolonie, als lieblicher oder schrecklicher Ort, als Paradies und Hölle und somit zur Platzierung der unterschiedlichsten Erzählungen (vgl. Billig 2010: 11f.). Aus dieser Vielfältigkeit der möglichen Raumprojektionen speisen sich die zahlreichen literarischen Inselphantasien, von Morus’ Utopia (1516) und Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719), die jeweils beide eigene Inselgenres hervorgebracht haben, über Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg (1731-43), den Schatz- und Abenteurinseln z.B. bei Robert Louis Stevensons Treasure Island (1883) oder in der Kinder- und Jugendliteratur (man denke bspw. an Scott O’Dells Insel der blauen Delphine [1960] oder Astrid Lindgrens Ferien auf Saltkrokan [1973]) bis zu neueren Inselromanen wie Umberto Ecos L’isola del giorno prima (1994), Raoul Schrotts Tristan da Cunha (2003) oder Annette Pehnts Insel 34 (2003).
Ottmar Ette beschreibt die Insel bzw. das Insulare als
von einer materiellen und infrastrukturellen Diskontinuität geprägt […], die ihre Besucher zwingt, das Transportmittel zu wechseln. Verlandet eine Insel, oder versinkt sie in den Fluten, […] so hört sie ebenso auf, eine Insel im eigentlichen Sinne zu sein, wie wenn sie über eine Brücke mit dem Festland verbunden wird. (Ette 2011: 25)
Diese »Diskontinuität« der Insel wird auch in Blau steht dir nicht thematisiert, wenn der Großvater Jenny darauf hinweist, dass »[h]ier Wasser und Land miteinander [kämpfen]. […] Wenn das Meer gewinnt, dann wird die Insel kleiner.« (Schalansky 2011: 70)
Mit der Ansiedelung des Erinnerungsdiskurses auf der Insel Usedom, diesem ambivalenten, diskontinuierlichen, kleiner werdenden Inselraum, unternimmt der Roman auch eine Dezentrierung der Erinnerungskultur der DDR. Diese vom Rande her etablierte Erinnerung deutet Karlsson Hammarfelt im Rückgriff auf Ettes Konzept der Insel als semantischer Kippfigur zwischen Insel-Welt und Inselwelt9 als »Territorialisierung, Deterritorialisierung und Reterritorialisierung im Dienst einer Reflexion über Geschichte und Geschichtsschreibung.« (Karlsson Hammarfelt 2016: 82)
Gleichzeitig ist die Insel in Schalanskys Roman auch ein Kindheitsraum, der nicht nur die Eigenschaften aller Inseln teilt, wie sie Volkmar Billig definiert, nämlich »Nähe zum Wasser« und ein »von der Außenwelt weitgehend abgekoppelte[r] Raum« (Billig 2010: 19), sondern diese in der Perspektive des Kindes noch steigert. Distanz und Abgeschlossenheit sind auch Eigenschaften, die das Mädchen Jenny Usedom zuordnet. Hinzu kommt, dass Usedom als Insel nicht nur per se der ›andere Raum‹, sondern auch die »andere Insel« neben Rügen ist: »Rügen war doppelt so groß. Rügen kannte jeder. Gegen Rügen war nicht anzukommen.« (Schalansky 2011: 19) Für Usedom gilt also die »prinzipielle Zweifelhaftigkeit der Inseln« (Billig 2010: 22) besonders. Diese erklärt Billig so: Inseln sind »nah und fern, im Wortsinn ›erfahrbar‹ und dennoch niemals restlos und endgültig zu ›entdecken‹ – ein seltsames Objekt im Zwischenraum von empirischem Befund und Vermutung« (ebd.: 21). Die »Verunsicherung ihrer Wirklichkeit« (ebd.: 20) ist in der Verbindung der Insel zum Element Wasser begründet, woraus erstens Distanz und Abgeschlossenheit (Isolation) und zweitens ein »Mangel an Landschaft« resultieren, wobei Letzterer »durch einen imaginären Überschuss kompensiert wird« (ebd.: 22; Hervorh. i.O.). Als Folge erscheinen »Inseln und Inselfantasie […] als Zwittergestalt, deren reale und imaginäre Aspekte sich gegenseitig versichern« (ebd.: 23). Ist es da verwunderlich, dass Jennys Großvater vor allem »das Schätzen, das Tippen, das Vermuten« (Schalansky 2011: 12) liebt?
Das Motiv des Doppelcharakters oder der Ambivalenz der Insel, der Insel als Zwittergestalt zwischen Fakt und Fiktion, wird auch ausdrücklich auf der zweiten Erzählebene aufgenommen.10 Dort begibt sich die Ich-Erzählerin bei ihrem New-York-Besuch auch nach Coney Island, der Halbinsel an der Spitze Brooklyns, die vor allem für die großen Vergnügungsparks und Siedlungen von russischen Einwanderern bekannt ist. Die Eindrücke der Gegenwart mit der Erinnerung an die Vergangenheit der »umzäunten Paradiese« vermischen sich in der Wahrnehmung der Reisenden: »Vor hundert Jahren fing hier die Zukunft an« (Schalansky 2011: 86). Die Reisende beschäftigt auf ihrem Spaziergang dort vor allem die Erinnerung an den großen Brand, der 1911 den damals größten Vergnügungspark völlig zerstörte: »Dreamland ist vernichtet« (ebd.: 94). Geblieben sind von dem »Traumland« nur noch »rauchende Pfosten« (ebd.), die Vergnügungsinsel Coney Island im Erleben der Reisenden ist ein Ort der Melancholie.11
Im Vorwort zum Atlas der abgelegenen Inseln formuliert Schalansky ihr Verständnis des Inselhaften so:
Die Insel ist ein theatraler Raum: Alles, was hier geschieht, verdichtet sich beinah zwangsläufig zu Geschichten, zu Kammerspielen im Nirgendwo, zum literarischen Stoff. Diesen Erzählungen ist eigen, dass Wahrheit und Fiktion nicht mehr auseinanderzuhalten sind, Realität fiktionalisiert und Fiktion realisiert wird. (Schalansky 2009: 19)
Das scheint im Roman auf, wenn es für Jenny nicht eindeutig zu entscheiden ist, ob es die Oie,12 eine kleine vorgelagerte Insel, »wirklich gab« oder sie nur »ein Zeichen für die Schiffe« ist, und in den Erzählungen von Jennys Großvater »von Fata Morganas […], Inseln, Oasen, die im Hitzeflirren auftauchten und sich beim Näherkommen auflösten« (Schalansky 2011: 16), oder von der untergegangenen Insel Vineta, von der Großvater meint: »Es ist eine Legende. Das ist eine Mischung aus Wahrheit und Märchen. Ein bisschen was muss dran sein.« (Ebd.: 75)
Diese Unsicherheit, die für das Literarische grundsätzlich gelten kann, gilt im Roman aber eben auch für den Status der Erinnerung, wie er in den drei in der Gegenwart angesiedelten Kapiteln erscheint. Auch hier geht das erzählende Ich Erinnerungsspuren nach, reist also ›in Spuren‹ nach Riga, New York und Greifswald – diese Spuren haben aber etwas von den Fata Morganas, die sich im Näherkommen auflösen. Hier sind es allerdings weniger private Erinnerungen, sondern Spuren im kollektiven, im kulturellen Gedächtnis, denen die reisende Erzählerin nachgeht. Montané Forasté merkt an, dass es sich bei diesen Reisen vor allem um »Reisen durch Dokumente: Bücher, Bilder, Filme« (Montané Forasté 2018: 160) handele. Dem Medium Fotografie komme dabei auch eine besondere Funktion zu: So spiele »Schalanskys Roman auf die mediale Konstruktion unseres Selbstverständnisses an, die im Zuge der Popularisierung der Fotografie zunehmend durch die Vermittlung von Bildern erfolgt ist.« (Ebd.: 160)
Hier, wie in den Kindheitskapiteln, ist das Maritime die zentrale Metapher für die Inszenierung von Sehnsüchten und Überschreitungen. Die Ich-Erzählerin erscheint dabei als dem Meer verbunden und von der Sehnsucht nach dem Meer geprägt, heißt ihre Mutter doch »Undine. Ihr Name sendet Signale wie der Leuchtturm der Oie. Sie ist dort aufgewachsen, wo das Meer See heißt.« (Schalansky 2011: 51; Hervorh. i.O.) Das Meerjungfrauenmotiv erscheint auch an anderer Stelle. In Riga sieht die Ich-Erzählerin an den Fassaden der Jugendstilhäuser »steinerne Frauenleiber«, die sich »aus geschwungenen Säulen räkeln wie Meerjungfrauen aus ihrem geschuppten Fischschwanz.« (Ebd.: 34) Das Meerjungfrauenmotiv erhält hier neben seiner spätestens seit der Romantik eingeschriebenen Bedeutung als Chiffre für das ›Andere‹ oder für die Sehnsucht nach dem ›Anderen‹ einen weiteren Aspekt, der auf die zentralen Themen der Erinnerungskapitel zielt. Schalansky kommentiert in ihrer Diplomarbeit die Meerjungfrauen in Riga mit einer Deutung des Jugendstils von Susan Sontag als den »Camp-Stil schlechthin. Ihn kennzeichnet die Lust an der Ambivalenz und der Verwandlung.« (Schalansky 2007: 33) Das Ambivalente, das die Jugendstil-Meerjungfrauen an den Häuserfassaden in Riga ausmacht, diese Nähe zum Camp als Infragestellung von (geschlechtlicher) Eindeutigkeit, das »[U]nsichere, [V]age« (ebd.) bestimmen auch den Umgang mit den Erinnerungsnarrativen, die die zweite Erzählebene des Romans thematisiert. Auch diese werden wie »die Ereignisse um 1989 / 90 im Zeichen einer ›Deterritorialisierung‹ gedeutet, geprägt von multiplen Transgressionen«, womit »nicht nur das Eindringen des ›Anderen‹ in die eigene Lebenswelt […], sondern auch die Möglichkeit der grenzüberschreitenden Bewegung nach ›Außen‹, in dieses ›Andere‹« (Karlsson Hammarfelt 2016: 83) gemeint ist.
Mit dem Namen Undine und dem Meerjungfrauenmotiv wird im Roman nicht nur explizit ein weiterer literarischer Vorläufertext (Friedrich de la Motte Fouqués gleichnamige Märchennovelle) aufgerufen, sondern eben auch der Ursprungstext nautischen Erzählens, die Odyssee, in der die Sirenen des antiken Mythos als Ahnfrauen der späteren Wasser- und Meerjungfrauen der europäischen Literatur literarische Gestalt annehmen. Bei Homer stehen Erinnern und Vergessen ausdrücklich im Zentrum der Sirenenepisode, denn wie die Zauberin Kirke Odysseus warnt, liegt die Gefahr und Verführung des Sirenengesangs gerade darin, dass er die Männer, die diesen Gesang hören, alles vergessen mache, so dass sie nicht mehr in die Heimat zurückkehren wollten.13 Vergessen und Erinnern, Grenzüberschreitung, Migration und Heimat sind dann auch die zentralen Themen der Erinnerungskapitel der zweiten Erzählebene.
»Ich schreibe erst mal ein Buch […]. Über Matrosen und ihre Uniform« (Schalansky 2011: 117), so beschreibt die Ich-Erzählerin ihren Großeltern gegenüber ihr Projekt. Ist der Matrose in den Usedom-Kindheitskapiteln vor allem Sehnsuchtsfigur, die »mit Jugend, Mobilität und Androgynität konnotiert« ist und »als Existenzform im Dazwischen« (Karlsson Hammarfelt 2016: 79) erscheint, fungiert das Motiv des Matrosen in den Erinnerungskapiteln der zweiten Erzählebene insbesondere über das Bild des Matrosenanzugs als Bildtopos, über den Erinnerung kritisch hinterfragt wird. In diesen Kapiteln bestimmt der Matrosenanzug als Motiv sowohl den Text als auch die Fotografien und wird zum einen als wahrhaft transkulturelles Phänomen deutlich, denn die Mode »hält sich nicht an Staatsgrenzen und Küstenlinien […]. Alle tragen den Anzug der Matrosen, Lübecker Bürgersöhne und lettische Bauernmädchen, Kinder des englischen Königs, des deutschen Kaisers, des russischen Zaren« (Schalansky 2011: 41). Zum anderen führt der Roman an diesem Motiv vor, wie sehr Erinnerung auf Bilder und Visualisierung angewiesen ist.
Das erste dieser eingeschobenen Kapitel ist dabei Sergei Eisenstein gewidmet, dem Regisseur des Films Panzerkreuzer Potemkin (UdSSR 1925). In Riga, Eisensteins Geburtsstadt, sucht die Ich-Erzählerin eigentlich eine Hausfassade, doch ihr Forschungsobjekt ist »aus Versehen« abgerissen worden: »[E]s ist einfach nicht mehr da« (ebd.: 34). Wie die deutschen Touristen, die auf der Suche sind nach dem »unwiederbringlichen Kinderlan[d]« (ebd.: 32f.), wie die »alten Heimaturlauber« (ebd.: 33) unternimmt die Reisende eine »Reis[e] in die Vergangenheit« (ebd.: 32), und dabei stellt aber gerade das, was nicht (mehr) da ist, was ausgelöscht ist, die Frage nach dem Status von Gedächtnis. Das verschwundene Elternhaus Eisensteins wird zum Anlass weniger einer Rekonstruktion von Erinnerung als vielmehr eines Versuchs der Annäherung an Erinnerung. Dies geschieht auch über die historischen Fotografien, die den Text begleiten (oder die der Text begleitet). Diese zeigen Eisenstein als Kind im Matrosenanzug, aber auch den Zarewitsch, dieser natürlich auch im Matrosenanzug, umgeben von Matrosen, vor allem mit seinem Leibwächter, dem »Matrose[n] Derewenko« (ebd.: 44), der den Zarensohn später verlassen wird, »weil ein Matrose nicht treu sein kann und ein Matrosenschwur auf dem Festland nichts gilt« (ebd.: 47). In Eisensteins Film Panzerkreuzer Potemkin wird der Aufstand der Besatzung der Potemkin von 1905 zur »Metonymie für eine Revolte gegen die Monarchie zu Beginn der russischen Revolution 1919« (Kosta 2012: 252). Bei der Premiere, so erzählt die Reisende im Roman, haben Eisenstein und »[d]ie Darsteller, das Aufnahmeteam, das gesamte Kinoorchester und die Platzanweiser […] die Uniform der Schwarzmeerflotte getragen« (Schalansky 2011: 49). In Eisensteins Film sind die Matrosenanzüge in die Revolution »hinein choreographiert«, wodurch der »performativ[e] Aspekt« (Kosta 2012: 252) dieses Kleidungsstücks betont wird. Der Matrosenanzug wird so zum Bild einer Erinnerungskultur, die sich Bilder schafft, Teil einer »medialen Inszenierung« (Breuer 2012: 183) von Geschichte. Schalansky schließt mit dem Bildtopos Matrosenanzug an zahlreiche Erinnerungsdiskurse an: mit dem Zarensohn an die gegenwärtige russische Erinnerungskultur, mit Eisenstein an den internationalen Autorenfilm, an das kollektive Gedächtnis Europas. Doch sind diese Erinnerungsbilder nicht auch wie Jennys Fata Morganas, die sich beim Näherkommen auflösen? Die berühmte Filmszene, in der ein Kinderwagen im Kugelhagel die Treppe zum Hafen herunterrollt, ist »[e]ine revolutionäre Episode nur, ein blutiger Treppenwitz der Geschichte, […] eine bösartige Legende – gern erzählt, denn manche Knoten halten länger, als die Schiffe im Hafen liegen.« (Schalansky 2011: 49) So halten einige Knoten im Netz der Erinnerung – andere werden gelöst.14 Aufgelöst wird auch die Erinnerung an den anderen Jungen im Matrosenanzug, den Zarewitsch und die Zarenfamilie: »Die verschwunden Leichen der Romanows, aufgelöst in der sibirischen Erde. Damantio memoriae, kein Andenken bewahren« (Schalansky 2011: 54).15 Den »Nachfahren der Romanows« (ebd.: 95) begegnet die Reisende dann aber später doch noch, und zwar in den USA, auf Coney Island, wo russische Einwanderer »Little Odessa« geschaffen haben und Pralinen naschen »mit dem Bildnis des letzten Zarewitschs« (ebd.). So ist das Bild des Zarewitschs (vielleicht mit Matrosenanzug?) gewandert, migriert, vom nationalen Narrativ der Revolution in die Pralinenschachteln der Ausgewanderten in Amerika.
Der Matrosenanzug bleibt auch Thema des zweiten Erinnerungskapitels. Wieder geht es um Bilder, allerdings liegt der Schwerpunkt nun mit der französischen Fotografin und Surrealistin Claude Cahun auf Geschlecht oder vielmehr der Aufführung von Geschlecht. Cahun, die in ihren Selbstporträts die Grenzen zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit durchkreuzt und binäre Geschlechtlichkeit in Frage stellt, wird zunächst im Matrosenanzug gezeigt. Cahuns Pose – »[d]ie Beine gespreizt, […] [d]ie Füße nach außen gedreht, die Hände in den Taschen, […]. Die weiße Jacke hoch geschlossen, […]. Das weiße Schiffchen sitzt fest auf den abstehenden Ohren« (Schalansky 2011: 79) – wird im Roman als bewusste Grenzüberschreitung gedeutet. Denn wir sehen auch ein Bild von Cahun als Mädchen (mit Matrosenkragen!) unter ihrem Geburtsnamen Lucy Schwob mit einem Buch mit dem Titel L’image de la femme.
Ein Buch für den kennerhaften Herrenblick: Die Bronzebüste Sapphos mit griechischer Nase und schmalem Band im strengen Haar, der zurückgelehnte Kopf Lady Hamiltons, Mona Lisa, die Infantin, la Pompadour, das Schokoladenmädchen. Lauter Frauen ohne Namen, mit Katze, am Spinett oder an der Laute, die umrankte Flora, nackte Venus, tanzende Salome, den blutigen Lockenkopf servierend, oder als Sphinx, die ihren Fächer hochhält. (Ebd.: 80f.)
Von diesen Frauenbildern verabschiedet sich Lucy, sie behält nur den Matrosenkragen und ihre Kamera: »Mit ihr verlässt sie das Frauenzimmer, vergisst ihr Geschlecht, gibt sich einen neuen Namen, der nichts verrät« (ebd.: 82), und bringt in ihren Fotografien nun Geschlecht oder vielmehr die Auflösung von Genderidentität zur Aufführung. Der Matrosenanzug, die »Hosenrolle« (ebd.: 85), im 19. Jahrhundert eigentlich für Jungen entwickelt und dann aber auch Bestandteil weiblicher Mode als eine Art des cross dressing, stellt Konzepte von ›Echtheit‹ in Frage. Claude Cahun im Matrosenanzug ist ein Alter Ego der Ich-Erzählerin (oder ihrer Sehnsüchte): »Claude feiert ein neues Leben, ein anderes Ufer, ein drittes Geschlecht, krönt sich zum König, wählt sich zum Volk, erlässt Gesetze und redet von sich selbst in der dritten Person.« (Ebd.) Was Cahun in der Kunst gelingt, daran scheitert noch die Erzählerin: »Sorry, no girls« (ebd.; Hervorh. i.O.), heißt es für sie.
Thema des letzten Kapitels sind wiederum Spuren, Vorbilder – diesmal literarischer Art. Gegenstand ist hier der Schriftsteller Wolfgang Koeppen (der aber auch schon vorher als Zitat auftaucht), dem die Ich-Erzählerin in Greifswald (dem Geburtsort Schalanskys und Koeppens) nachgeht. Mit der Schifffahrt wird Koeppen durch seinen Vater in Verbindung gesetzt, der allerdings von der Fliegerei träumt. Im Kaiserreich soll das neue Luftschiff, der Zeppelin, zusammen mit der Flotte »eine Zukunft auf dem Wasser und einen Platz an der Sonne, das Erbe der alten Hanse versprechen« (ebd.: 124). Der Matrosenanzug wird so auch als Symbol für die kolonialen Ansprüche des Kaiserreichs gedeutet: »Unsere Marine in der Ferne, Grüße aus den Kolonien, aus Deutsch-Samoa und dem Kaiser-Wilhelm-Land.« (Ebd.) Wie der Zeppelin stürzt auch Koeppens Vater ab. Wolfgang, der »die Luftschifferei des Vaters« (ebd.: 126) verleugnet, reist stattdessen wie das Mädchen Jenny, und wie auch Schalansky in ihrem Atlas-Vorwort, mit dem Finger auf Karten:
Seine Hand streichelt den italienischen Stiefel und die Küsten Samoas, und sein Finger folgt dem Passatwind und den Meeresströmungen durch das schwarze, das rote, das gelbe Meer. Er sieht sich auf Masten klettern, bunte Flaggen setzen, sich den Schweiß mit dem Handrücken abwischen, Zigaretten mit tiefen Zügen rauchen und nach fernen Landzungen Ausschau halten. Er ruft: Sesam öffne dich!, wünscht sich schlaue Tiere zum Freund, träumt vom Schiffbruch auf offener See. (Ebd.: 127)
Passend zu diesem Bild vom Matrosen als Schatzsucher und Abenteurer, als märchenhaftem Held, gibt es auch ein Bild von Koeppen im Matrosenanzug: Als Junge, »das Kinderhemd […] zu klein« (ebd.), posiert er neben seiner Mutter Marie, die ihrem Sohn die »Märchen der Grimms, die Abenteuer Sindbads« (ebd.: 118) vorgelesen hat und so – das legt der Roman nahe – die Sehnsucht nach der Literatur und dem Meer, dem nautischen Erzählen geweckt habe. Koeppen wird schließlich tatsächlich Reisender, er heuert an, fährt als Koch zur See – »[e]inen Schiffbruch erleidet er nicht« (ebd.: 128) dabei, sondern er erfindet sich neu: Er sagt sich von der Heimat los, ändert seinen Namen. Als Autor »wohnt [er] in den weitverzweigten Geschichten. Die ziellosen Stränge wachsen an unerwarteten Stellen zusammen oder fallen als abgestorbene Fragmente auf den Meeresboden. Berichte, Skizzen und Anfänge von Romanen. Alles ist möglich.« (Ebd.: 130) Koeppens Schreib- und Erzählverfahren – hier auch deutlich als nautisches Erzählen gekennzeichnet – lassen sich unschwer als Vorlage für Schalanskys eigenes Programm erkennen. So ist auch eine Notiz von Koeppen, die am Ende des Romans die Frage nach der Echtheit von Erinnerungsfiguren stellt: »Wolfgang schreibt in sein Notizbuch: Ihre Marineanzüge sind so marineblau und ihre Haut ist so wetterbraun, dass sie unmöglich Matrosen sein können.« (Ebd.: 138) Und die Ich-Erzählerin stellt am Ort der Kindheit fest: »Die einzigen echten Matrosen, die es hier jemals gab, waren die Grenzbeschützer.« (Ebd.: 139) Die Sehnsucht der Kindheit wird als nostalgische Täuschung entlarvt, von der sich die Erzählerin verabschiedet: »Ich gehe an Land.« (Ebd.)
Blau steht dir nicht führt so die vielfältigen und sich im Laufe der Zeit verändernden Bedeutungszuweisungen am Bildtopos Matrosenanzug vor: Dabei erscheint der Matrose als Abenteurer und Schatzsucher, als männliche Domäne, aber auch als Form der Geschlechtermaske und des Geschlechterwechsels, als Erinnerung an gewaltsam untergegangene Epochen, an Kolonialismus, und als Symbol der Revolution und der neuen Ordnung wie auch einer neuen Ästhetik (Eisenstein) und eines literarischen Verfahrens (Koeppen). Damit steht im Roman der Matrosenanzug, wie auch die Insel, als Zeichen für den ambivalenten Status von Erinnerung.
Welche Funktion übernehmen dieses erzählerische Verfahren und Programm, die Schalansky in ihrem Matrosenroman entwickelt im Zusammenhang mit (transkulturellen) Erinnerungsdiskursen? Eine (mögliche) Antwort auf diese Frage könnte über einen Umweg zu finden sein – und zwar über Felicitas Hoppe, die ja von Schalansky in ihren Kommentierungen als eines der Vorbilder für die Erzählstimme in Blau steht dir nicht erwähnt wird: »Sprachgewaltig, verrätselt« (Schalansky 2007: 6) – so charakterisiert Schalansky Hoppes Erzählweise. Und es ist das ›Verrätselte‹ der Hoppe’schen Schreibweise, das hier besonders interessiert und in dem, wie ich meine, eine Entsprechung im nautischen Erzählen liegt.
In der Forschung wird Hoppe vor allem auch als Reiseschriftstellerin wahrgenommen: Hoppes Texte wie z.B. Pigafetta (1999), Paradiese. Übersee (2003) oder Verbrecher und Versager (2004) sind Reisetexte und sie sind auch Schiffsreisetexte. Hoppes Romane sind im hohen Maße selbstreflexiv, sie stellen ihr Erzählverfahren aus, ein Verfahren, das man als ›Poetologie der ehrlichen Erfindung‹ bezeichnen kann. Dieses poetologische Programm formuliert Hoppe in ihren Augsburger Vorlesungen, die unter dem Titel Sieben Schätze (2009) erschienen sind. Zur Kritik, in ihrem Roman Pigafetta habe sie »die Dichtung an die Wirklichkeit und die Wirklichkeit an die Dichtung veruntreut«, heißt es dort: »Aber es ist nichts erlogen, ich habe alles ehrlich erfunden.« (Hoppe 2009: 84f.) Dieses hier für Pigafetta beschriebene Prinzip gilt z.B. auch für Hoppes Verfahren in Verbrecher und Versager,16 in dem Porträts von vier historischen und einer fiktionalen Figur, »Männer vom Barock bis ins koloniale Zeitalter, die sich auf Reisen in ferne Länder begeben haben« (Güsken 2012: 7), versammelt sind.17 Auch dort ist von »Reiseschriftsteller[n][,] Spezialisten der wahren Erfindung« (Hoppe 2012: 124f.), die Rede. Es geht also in Hoppes Erinnerungsporträts nicht um eine historisch getreue Rekonstruktion der Biographien. Für die Verfahrensweise des Porträtierens in Verbrecher und Versager gilt stattdessen grundsätzlich das Prinzip: »Den Rest reime ich mir selbst zusammen.« (Ebd.: 80)
Felicitas Hoppe erläutert ihre ›Poetologie der wahren Erfindung‹18 in den Poetikvorlesungen, die sich an dieser Stelle wie ein Kommentar zum nautischen Erzählen nicht nur bei Hoppe, sondern auch bei Schalansky lesen lassen. Dort, im Kapitel »Zwerge mit großen Ohren« – dieser Titel dieser Vorlesung legt eine intertextuelle Spur, die von Hoppes Roman Pigafetta über Knut Hamsun bis zu Pippi Langstrumpf, Astrid »Lindgrens impertinenteste Erfinderin« (Hoppe 2009: 92), reicht –, stellt Hoppe angesichts des historischen Reiseberichts Pigafettas aus dem 16. Jahrhundert über »Zwerge mit großen Ohren« fest: »ein klassische[r] Fall von Seemannsgarn« (ebd.: 90). Seemannsgarn wird also bei Hoppe zum Ausdruck des Literarischen, eben weil es nicht »Produkt der Seefahrer, sondern »eine Projektion derer ist, die über die Seefahrt schreiben oder lediglich von ihr träumen« (ebd: 91). Das Seemannsgarn erscheint bei Hoppe als Produkt der Daheimgebliebenen (»Sitzen die wahren Erfinder des Seemannsgarns also im Warmen und auf dem Trockenen?«, ebd.). Und dies erinnert sehr deutlich an Schalanskys Atlasreisen: »Wer einen Atlas aufschlägt, weiß, dass er zu Hause bleibt«, wie Schalansky in einem Interview sagte (Kahlefendt 2010).
Die Gegenstände der Erinnerung bei Hoppe und Schalansky sind verschieden: Schalanskys Themen sind, neben der Kindheit, die DDR, nationale und europäische Geschichte in ihren Verknüpfungen, Geschlechterdiskurse und nicht zuletzt Literatur. Hoppe erzählt von historischen Entdeckungs-, Forschungs- und Eroberungsreisen und von Kolonialismus: Sie arbeitet an dem, was im kollektiven weißen Gedächtnis nicht beachtet wurde. Schalansky hingegen entwirft eine alternative Erinnerung, indem sie die Erinnerungsprozesse hinterfragt und durch intertextuelle und intermediale Verfahren an verschiedenen Kulturen bindet. Dabei sind aber bei beiden die Fragen nach dem, wie erinnert wird, und nach den Formen der Repräsentation von Erinnerung mindestens ebenso wichtig wie die Frage nach dem Gegenstand der Erinnerung. Es gibt also auch starke Parallelen: Beide bestimmen das Meer und die Schifffahrt als Imaginationsraum, den sie als Erinnerungsraum konstruieren: Wenn der Reisebericht, wie Ottmar Ette sagt, »ein inszeniertes Erfahrungsmodell« (Ette 2001: 25) ist, dann inszenieren Hoppe und Schalansky mit ihren Texten Erinnerungsmodelle. Dabei ist es ein nautisches Erzählen, das der Auseinandersetzung mit Traditionen und Modellen der Darstellung und der Inszenierung von Gedächtnis und deren Reflexion dient. Schalansky hat ihre – durch Hoppe inspirierte – Vorgehensweise in den Kommentierungen der Diplomarbeit erläutert:
Es ist ein Netz, das ich knüpfe. Die Stricke sind die Erinnerungen, schemenhafte Gesterngespenster, sie zwirbeln sich zum gedrehten Seil – immer mehr um die eigene Achse. Ich schreibe um etwas herum, kreise es ein, prüfe, ob es für einen kurzen Auftritt taugt, für eine Szene gar, ob dafür nicht ein Vorhang aufgezogen werden soll, es einen Absatz lang behandelt wird. (Schalansky 2007: 33)
Das Bild, das Schalansky hier vom Knüpfen entwickelt, kommt nicht von ungefähr: Ihr »Netz der Erinnerungen« erinnert deutlich an das Spinnen von Seemannsgarn.
Blau steht dir nicht erzähle vom »Verschwinden der Geschichte und der zerbrochenen Matrosenutopie«, meint Ingo Breuer (2012: 184). Dies wäre zu ergänzen, denn es geht vor allem auch um die Frage nach Schreib- und Darstellungsweisen von Vergangenheit und um Formen der Literarisierung, über die Erinnerung konstruiert wird. Dabei erscheinen Meer und maritime Räume wie Insel und Küste als Aushandlungsraum von Erinnerungsdiskursen, die als reisende, transkulturelle Diskurse sichtbar werden und die nationale, kulturelle und Geschlechtergrenzen überschreiten. Damit unterzieht der Roman das nationale kulturelle Gedächtnis einer Revision und widersetzt sich einem nostalgischen Erinnerungsdiskurs – das Modell hierfür liefert das nautische Erzählen oder das Seemannsgarn, das sich stets in der Spannung von Wahrheit und Imagination bewegt.
»Ein bisschen was muss dran sein«– wenn man diese Aussage des Großvaters in Schalanskys Roman lesen möchte als ein Modell von einer immer nur als Annäherung möglichen Erinnerung, von kulturellen Gedächtnisbildern als Fata Morganas, vor allem aber als eine Erinnerung, die unterwegs ist, dann lassen sich hier Parallelen herstellen zum travelling memory, wonach sich »Gedächtnis zu allererst durch die Bewegung von Menschen und Medien […] konstituier[t]« und es nicht um einen lieu de mémoire geht, sondern mehr um »die ›Reisen‹ oder die Bewegungen der Erinnerung« (Erll 2011a: 63; Hervorh. i.O.). Im nautischen Erzählen erweist sich das kulturelle Gedächtnis als Ergebnis transnationaler Bewegungen, als dynamisch und palimpsestartig und das Meer als transkultureller Erinnerungsraum.
1 | »To describe such processes I draw on James Clifford’s metaphor of ›travelling culture‹. The anthropologist famously said that ›cultures do not hold still for their portraits‹. The same is true for memory: Memories do not hold still – on the contrary, they seem to be constituted first of all through movement. What we are dealing with, therefore, is not so much (and perhaps not even metaphorically) ›sites‹ of memory, lieux de mémoire, but rather the ›travels‹ of memory, les voyages or les mouvements de mémoire. Possible contexts of such movement range from everyday interaction among different social groups to transnational media reception and from trade, migration and diaspora to war and colonialism. In fact, the very fundaments of what we assume to be Western cultural memory are the product of transcultural movements.« (Erll 2011b: 11)
2 | Judith Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, wurde einem größerem Publikum bekannt durch ihren Roman Der Hals der Giraffe, der 2011 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand. Ein Merkmal von Schalanskys Texten ist die enge Verbindung von Grafik, Buchgestaltung und literarischem Text. Ihre erste Veröffentlichung war auch der Schriftart Fraktur gewidmet (Fraktur mon amour), ganz offensichtlich ist dies aber in ihrem international erfolgreichen Atlas der abgelegenen Inseln. 50 Inseln, auf denen ich nie war und nie sein werde. Blau steht dir nicht ist Schalanskys erster Roman, der von der Forschung relativ wenig (Ausnahmen sind Kosta 2012; Karlsson Hammarfelt 2016; Montané Forasté 2018) beachtet und vor allem im Zusammenhang mit dem Atlas gelesen wurde.
3 | Diese Trias von invention, memory, place beschreibt bei Edward Said das Konzept der imaginative geography. Der Begriff der Erfindung oder Konstruktion ist, wie Jan Rupp feststellt, bei Said das verbindende Element zwischen Raum und Gedächtnis. Das Konzept der imaginative geography argumentierte für ein Denaturalisieren des Raums, in der die Vorstellung eines Raums eben nicht an dessen materielle Gegebenheiten gebunden ist. Für kulturelle Erinnerungsräume gelte bei Said, so Rupp, das »Primat solcher ›Erfindung‹ gegenüber der tatsächlichen Geschichtsträchtigkeit von Orten und ihrer durch physische Materialität verbürgten Gedächtnisrelevanz. […] [E]rst die Produktion ›ideellen‹ Raumes ermöglicht ihren Status als lieux de mémoire und stellt ihn sicher.« (Rupp 2009: 187)
4 | Dies sind nur einige wenige Beispiele nautischen Erzählens, die Reihe ließe sich natürlich weiter fortsetzen.
5 | Schalanskys Diplomarbeit kann somit als Vorstufe des Romans gesehen werden, sie bietet außerdem in ihren Kommentierungen Einblicke in Schalanskys Arbeitsweise und ihr Konzept für den späteren Roman, in den diese Kommentierungen allerdings nicht aufgenommen wurden.
6 | Vgl. zu Sebald und zur Rolle der Küste als Erinnerungsraum in den Ringen des Saturn sowie zur Funktion der Fotografie im Roman ebenfalls den Beitrag von Dorit Müller in diesem Heft. Auf die »intermediale[n] Sebald-Zitate« in Blau steht dir nicht in Bezug auf die Fotografien, deren Motiven Sebald folgt, hat Montané Forasté (vgl. 2018: 163) hingewiesen.
7 | Karlsson Hammarfelt deutet das Walskelett als Referenz an Melvilles Moby Dick und als »›Gerippe‹ für Gedanken und Phantasien […], das erst durch die Imaginationskraft der Protagonistin ›Fleisch‹ und Leben bekommt.« (Karlsson Hammarfelt 2016: 76)
8 | Zum Atlas der abgelegenen Inseln vgl. z.B. Breuer 2012; Regler 2012; Schmitz-Emans 2017.
9 | »Die semantisch wie eine Kippfigur funktionierende Geschichte der Insel umfasst in ihrer abendländischen Tradition folglich zum einen die Insel als Insel-Welt, in der sich eine Totalität in ihrer Abgeschlossenheit verräumlicht, um sich sogleich innerhalb ihres Binnenraumes in verschiedene landschaftliche, klimatische oder kulturelle Teilräume auszudifferenzieren. Zum anderen zeigt sich die Insel aber auch als Teil einer Inselwelt, die das Fragmentarische, Zersplitterte, Mosaikhafte repräsentiert, das durch vielfältige innere Verbindungen und Konstellationen gekennzeichnet ist. Dabei ist offensichtlich, dass sich eine derartige Inselwelt selbst wieder in eine in sich abgeschlossene Welt von Inseln und damit in eine Insel-Welt verwandeln oder sich als ein Archipel begreifen kann, das mit anderen Räumen kommuniziert. Beide Deutungsmuster können sich folglich auch wechselseitig überlagern und somit die Bedingungen für ein semantisches Oszillieren schaffen, dessen sich jegliche Beschäftigung mit Inseln bewusst sein sollte.« (Ette 2005: 137)
10 | Das Prinzip der Ambivalenz von Fakt und Fiktion bestimmt auch Schalanskys Verfahren, Bild und Text zu kombinieren, wie Montané Forasté feststellt: Die Reflexion über das Medium Fotografie thematisiere nicht nur die Bedeutung der Perspektive, die »immer den Blick des Fotografen« (Montané Forasté 2018: 159) enthalte, sondern auch Grundsätzlicheres: »Schalanskys écriture […] bezieht ihre Kraft besonders aus der Tatsache, dass sich die Welt nur durch Repräsentationen vermittelt; so wandert die Autorin ganz frei von Geschichte zu Geschichte, Fiktionen und Fakten verbindend.« (Ebd.: 163)
11 | Montané Forasté deutet die Coney-Island-Episode als Parallele zum Ende der DDR und zur »ungezügelten Einführung des Kapitalismus« (Montané Forasté 2018: 162).
12 | Die kleine Leuchtturminsel, die nur bei gutem Wetter zu sehen ist, dient, so Karlsson Hammarfelt, »der jungen Protagonistin als Sehnsuchtsort […]. Die Oie erscheint als eine Phantasien über fremde Welten triggernde Grenze.« (Karlsson Hammarfelt 2016: 75)
13 | Auf die zentrale Rolle der Erinnerung im Reisenarrativ der Odyssee hat z.B. Christian Moser hingewiesen: »Indem Odysseus sich erinnert und die Geschichte seiner Irrfahrt erzählt, sammelt er sich aus der Verirrung, restituiert er sein von der Auflösung bedrohtes Selbst. Nachträglich verwandelt er die gestaltlosen Nicht-Orte in klar definierte Gedächtnis-topoi und prägt ihnen die Zeichen (typoi) seiner Überlegenheit auf.« (Moser 2005: 418; Hervorh. i.O.)
14 | Die Wirkmächtigkeit von Eisensteins Film wird mit der gleichen Metapher beschrieben: »Sergejs Knoten hält« (Schalansky 2011: 49). Auch Karlsson Hammarfelt bezeichnet die Figur des Knotens als »Leitmotiv des Romans«, das auf das poetologische Programm des Romans deute und der »linearen Konzeptualisierung von Geschichte gegenübergestellt wird« (Karlsson Hammarfelt 2016: 84).
15 | Schalanskys Roman präsentiere, so Breuer, »ein Verschwinden der Geschichte« (Breuer 2012: 183), und dieses Prinzip des Verschwindens gelte auch für das Ende der DDR. Ähnlich urteilt Montané Forasté: »Schalanskys Roman […] erzählt vom Ende einer Epoche, von der Annahme – auch auf der zeitgeschichtlichen Ebene – einer neuen historisch-politischen Identität.« (Montané Forasté 2018: 156)
16 | Wie Schalanskys Blau steht dir nicht ist auch Hoppes Verbrecher und Versager zuerst im mare-Verlag erschienen, der sich laut Verlagsporträt »Geschichten, die das Meer erzählt« (https://www.mare.de/verlag/uber-uns), widmet. Auch die Taschenbuchausgabe des Fischer-Verlags betont durch ihre Titelgestaltung das Nautische dieser Texte: Ein großer Oktopus streckt seine Arme über den Titel, in einem hält er einen Menschen mit Koffer, einen Reisenden, gefangen.
17 | Diese Fünf Porträts, so lautet der Untertitel von Verbrecher und Versager, sind allerdings nicht unbedingt biographische Porträts in der Form, die man vielleicht erwartet. Sie sind vielmehr, wie Hamann feststellt, »Texte über das Verfassen von Porträts, oder noch allgemeiner formuliert: poetologische Texte, die die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit reflektieren, sich historische Personen resp. Stoffe schreibend ›einzuverleiben‹.« (Hamann 2008: 109) Anstelle des ›Was‹ des historischen Sujets steht also auch hier das ›Wie‹, die Frage nach dem Umgang mit Erinnerung, im Vordergrund.
18 | Hoppes Formulierung der »ehrlichen Erfindung« wird auch als Begriff in der Forschung häufig verwendet, um Hoppes Erzählverfahren zu charakterisieren (vgl. Frank / Ilgner 2016).
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Schmitz-Emans, Monika (1995): Die Suche nach einer möglichen Welt: Zur literaturtheoretischen Bedeutung der Utopie, des Insel- und des Reisemotivs. In: Neohelicon: Acta Comparationis Litterarum Universarum 22, H. 1, S. 189-215.
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Sicks, Kai Marcel (2009): Gattungstheorie nach dem spatial turn: Überlegungen am Fall des Reiseromans. In: Wolfgang Hallet / Birgit Neumann (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld, S. 336-355.
Traven, B. (2013): Das Totenschiff. Die Geschichte eines amerikanischen Seemanns [1954]. Hamburg.
Wolf, Burkhardt (2013): Fortuna di mare. Literatur und Seefahrt. Zürich / Berlin.