Konstanz: Konstanz University Press 2015 – ISBN 978-3862530748 – 39,90 €
Der Band Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma ist Resultat eines langjährigen Austausches zwischen Wissenschaftlern aus Indien (insb. der Jawaharlal Nehru Universität Neu Delhi), dem Exzellenzcluster »Kulturelle Grundlagen von Integration« an der Universität Konstanz und dem Deutschen Seminar der Universität Tübingen. Ihm ging 2011 ein stark beachteter Pilotaufsatz voraus (vgl. Bhatti /Kimmich / Koschorke 2011). Der Band vereint nun Theoriebausteine und Fallstudien aus Literatur- und Kulturwissenschaft, Philosophie, Politikwissenschaft, Soziologie, Ethnologie und Geschichtswissenschaft.
Die auf Ähnlichkeit bezogenen Erkenntnisinteressen lassen sich auf unterschiedlichen Ebenen differenzieren: Ist Ähnlichkeit ein jeglichem Denken und Fühlen, also dem Umgang mit Zeichen inhärentes Relationieren? Lässt Ähnlichkeit sich womöglich gar nicht als solche ansprechen, weil sie als elementare kognitionsbegleitende und -bedingende Arbeit des Selbst nicht an sich isoliert und reflektiert werden kann? Handelt es sich dabei, wie die Psychoanalyse bis heute annimmt, um eine überwiegend im Unbewussten stattfindende Arbeit eines jeden Einzelnen oder um eine Grundoperation im Medium Sinn, die durchaus eine zeichenhafte und damit ansprechbare Seite hat? Oder gehört Ähnlichkeit eher in die Domäne der Kunst, die experimentierend nach Korrespondenzen zwischen Entitäten sucht, die in der jeweils geltenden Wissensordnung kategorial geschieden erscheinen? Und schließlich: Ist Ähnlichkeit, wie es die obigen Fragen nahelegen, ein ergiebiger Untersuchungsgegenstand oder eine Analysekategorie? – Einige Fragen bleiben zwar offen, das Paradigma besitzt aber erhebliches Potential für Wissens- und Theoriegeschichte, Literatur-, Kunst-, Medien- und Sozialwissenschaften. Wenngleich Ähnlichkeit wissentlich ein gewisses Maß an Unschärfe zulässt, so lässt sich im Umkehrschluss sagen, dass Verweigerung der Zuerkennung von Ähnlichkeit einer Grenzziehung nahe kommt; so werden Kollektive (›Gruppen‹) als solche erst hergestellt, indem Nichtmitglieder als ›unähnlich‹ definiert werden. Kolonisierende Nationen neigen dazu, die Kolonisierten als ›unähnlich‹ zu betrachten und erhebliche Wissensmaschinerien in Gang zu setzen, die kollektivierte Differenz evident erscheinen lassen und die Unähnlichkeit der Anderen beweisen sollen. Unterschwellig macht sich die kolonisierende Seite aber gerade den Kolonisierten ähnlich, indem sie ständig auf ihre Sprache, ihre Überlieferungen, Religionen, kulturellen Artefakte etc. rekurriert, um sich selbst vor deren Hintergrund zu distinguieren: Man transferiert in verdeckter Weise Komplexität aus anderen Kulturräumen in den eigenen und macht sich gerade ähnlich, indem man kontinuierlich über lange Zeiträume vermeintlich radikale Differenzen beschreibt. Auf das verleugnete Sich-ähnlich-Machen durch die Behauptung des Unähnlichseins zielt Homi Bhabhas Begriff der ›Hybridität‹, der den enormen (aber komplett ausgeblendeten) Anteil solcher ›entanglements‹ an kolonisierenden oder auch hegemonialen Kulturen bezeichnet. Demgegenüber ist ›Ähnlichkeit‹ sicher ein weitaus flexiblerer, differenzierungsfähigerer Begriff, der auf kulturelle Mikrotransfers, Handlungsoptionen und Repräsentationen aller Art analytisch bezogen werden kann und deshalb erhebliches Potential für die Postkolonialen Studien und die historische und gegenwartsbezogene Interkulturalitätsforschung besitzt. Ähnlichkeit, wie sie vor allem Anil Bhatti vor dem Hintergrund der künstlich dramatisierten religiösen Differenzen in Indien versteht, kommt einer Anleitung zu konfliktarmem Miteinander in der globalen Gesellschaft nah, denn wer sich (anders als Samuel Huntington) für »Indifferenz gegenüber Differenz« (16) entscheidet und stattdessen nach Ähnlichkeiten sucht, wirkt Hierarchien und der »kolonialistischen Ideologie der Einmaligkeit Europas oder des Westens« (23) entgegen und entwickelt einen schärferen Blick für die »weltweite Pluralität von ›renaissances‹« (24) und für die weltweite (unverknüpfte) vielfache Neuerfindung von Aufklärung (so Bhatti im Anschluss an den Historiker Sebastian Conrad), die erst langsam und durch neuere Ansätze wie der ›histoire croisée‹ in den Blick der Geschichtswissenschaft rückt. Nicht nur das kulturtheoretische, auch das kultur- und wissensgeschichtliche Potential einer Heuristik, die sich auf den Pfad der Ähnlichkeitssuche einlässt, statt die Grenzziehung zu priorisieren, wird hier erkennbar. Es geht dabei nicht darum, auf Grenzziehungen zu verzichten (dies würde die Möglichkeit der Unterscheidung und Beobachtung aushebeln), sondern darum, wie im Voronoi-Diagramm auf dem Einband des Buchs, zuerst nach Ähnlichkeiten zu fragen und im zweiten Schritt davon abhängig Grenzziehungen vorzunehmen; dieses Diagramm besteht aus lauter ›Grenzen der Ähnlichkeit‹, weil Letztere Flächen umschließen, deren Punkte einander darin ähneln, dass sie einem der vorab nach Zufallsprinzip eingezeichneten Zentren am nächsten stehen. Im Versuch, sich darauf einzulassen, kommen Zweifel an Reichweite und Geltungsansprüchen von Ähnlichkeit auf. Prominent ist die Kritik von Nelson Goodman, die die Herausgeber aufgreifen: »Circumstances alter similarities« (11). Damit sind Triangulierungen gemeint, die nötig sind, damit Ähnlichkeit überhaupt gedacht werden kann. Goodman hat damit sicher Recht. Auch wenn es um die Identifizierung von Ähnlichkeit in der phänomenologisch aufgefassten ›Welt‹ oder Sozietät geht, spielt nicht Quantifizierbares, außerhalb der ansprechbaren Zeichen Liegendes mit hinein. Dies ist jedoch nicht allein den Herausgebern, sondern auch den Beiträgern durchaus bewusst und sie gehen in unterschiedlicher (teilweise auch disziplinenspezifischer) Weise mit diesem Problem um.
Dass das Verhältnis zwischen logischem und mimetischem ähnlichkeitsorientierten Denken nicht als einfacher Gegensatz gefasst werden kann und das Eine das Andere nicht ausschließt, ist nicht neu, es beschäftigte vielmehr bereits im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert Philosophen, Sprachtheoretiker und Mathematiker. Ludwig Wittgenstein plädiert in § 67 seiner Philosophischen Untersuchungen, ausgehend von dem berühmten Beispiel der Textilfasern, die ineinander verwoben zum Faden werden, dafür, auch die algebraischen Zahlen in ihrer sprachlichen Verfasstheit als Teile einer Begriffskette zu sehen, die bloß unter Gesichtspunkten der Familienähnlichkeit als sinnhaft wahrgenommen werden. Walter Benjamin geht in Lehre vom Ähnlichen und in Über das mimetische Vermögen davon aus, dass im grammatikalischen Wortgefüge blitzartig eine Ähnlichkeit mit schon Bekanntem in Erscheinung trete. Sigmund Freud betont in Das Unbewusste und Die Traumdeutung die auf Ähnlichkeit beruhende Wechselbeziehung zwischen unbewussten Sachvorstellungen und Wörtern. Charles Sanders Peirce unterscheidet das ›Simile‹ als eine Dimension des Zeichens, die überwiegend auf Ähnlichkeit beruht, von der (Kausalität implizierenden) indexikalischen und der symbolischen Dimension und eröffnet im diagrammatischen Denken die Möglichkeit, alle drei zu verbinden. Gegenpositionen, die nicht von einer grundsätzlichen Zusammengehörigkeit von magisch-mimetischem und logischem Denken ausgehen, finden sich in der Ethnographie und Ethnologie, wo, prominent bei James G. Frazer in The Golden Bough, die ›law of similarity‹ den so genannten Primitiven zugeschrieben wird, die Ähnlichkeit und Kausalität grundsätzlich nicht unterscheiden könnten – eine aus heutiger Sicht kolonialistische Argumentation.
Schon angesichts dieser wenigen Beispiele fragt man sich, wieso das Spannungsverhältnis zwischen kausalitäts- und ähnlichkeitsorientierten Erleben, Handeln und Zeichen nicht schon früher als kulturwissenschaftliches Paradigma systematisiert und disziplinenspezifisch ausbuchstabiert wurde. Dies verwundert im Nachhinein insofern umso mehr, als bereits auf den ersten Blick deutlich wird, dass die vom Gros der Theoriedebatten vernachlässigte ›Ähnlichkeit‹ es zumindest verdient, darauf hin überprüft zu werden, ob sie Alternativen in eingefrorene Diskussionen einbringen kann, seien es erkenntnistheoretische Debatten um die Auflösung der ›Zwei Kulturen‹, zeichentheoretische und kulturanthropologische Fragen oder Probleme der Interkulturalitätsforschung und der Postkolonialen Studien mit Differenz- und Humanismustheorien. Es mangelt zwar nicht an avancierten Einzeluntersuchungen und Sammelbänden in der Linguistik, der analytischen Philosophie und auf dem Gebiet der Ästhetik (z.B. Funk / Mattenklott / Plauen 2001). Ein großer Gesamtentwurf, der die Fäden des Ähnlichkeitsdenkens zusammenführt, um sie dann disziplinensensibel vor einem gemeinsamen kulturtheoretischen Hintergrund zu spezifizieren, lag bislang jedoch nicht vor.
Der Band Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma tritt nun mit diesem Anspruch an. Den theoretischen Teil, der hier nicht in Gänze resümiert werden kann, eröffnet ein Beitrag von Albrecht Koschorke, der sich mit den Herausgebern Bhatti und Kimmich für eine Transposition des Begriffs aus der ›asymmetrischen Moderne-Erzählung‹ eines Frazer oder Levy-Bruhl in die ›symmetrische Anthropologie‹ im Sinne Bruno Latours ausspricht; lediglich in Kunst und Kunsttheorie sei darüber hinaus dem partizipatorisch gedachten Ähnlichkeitssinn »eine Art Reservat« (39) geboten worden. Koschorke hebt (allerdings, indem er veraltete Konzepte von Interkulturalität und Postkolonialismus als Gegenfolie verwendet) einerseits das Potential von Ähnlichkeit als Beschreibungskategorie der globalen Weltgesellschaft hervor, andererseits warnt er zu Recht vor einem Sich-Ähnlich-Machen als Konfliktstrategie. Jan Assmann spricht sich unter Bezugnahme auf Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn und Johann Gottfried Herder für eine Neuakzentuierung des Humanismusbegriffs unter Gesichtspunkten der Familienähnlichkeit im Sinne Wittgensteins aus. Dies gilt insb. vor dem Hintergrund der gemeinsamen Entwicklung der Menschheit während der Achsenzeit (Karl Jaspers) zwischen 800 und 200 v.Chr. Assmann schlägt die Begriffe »dialogisches Erinnern« und »dialogische Einigung« (57) für die weitere kulturtheoretische Arbeit an und mit Ähnlichkeit vor. Ulrike Kistner plädiert aus philosophischer Perspektive für eine Neubewertung des Stellenwerts von Ähnlichkeit ausgehend von Walter Benjamin und Sigmund Freud, die »fast zur gleichen Zeit ein diagrammatisches Bild der doppelt konflikthaften Beziehung zwischen dem Ausgesprochenen und dem Aussprechlichen und dem Unausgesprochenen und dem Unaussprechlichen« (70) gezeichnet hätten. Jürgen Osterhammel schätzt das Potential von Ähnlichkeit, zu einem Paradigmenwechsel angesichts der Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft beizutragen, insgesamt recht positiv ein, gerade wenn es darum geht, graduelle Wandel zu identifizieren oder den Stellenwert der Veränderung von Ähnlichkeits- und Fremdheitszuschreibungen in historischen Kontexten von »Koexistenz, Assimilation, Antisemitismus und Völkermord« (84) zu erfassen. Auch sei das Paradigma gut in Einklang zu bringen mit Konzepten der ›histoire croisée‹, ›entagled history‹ und Konvergenz / Divergenz. Aus medienwissenschaftlicher Sicht unterscheidet Klaus Sachs-Hombach darstellungstheoretische, ontologische und klassifikatorische Ähnlichkeit, wobei die beiden Letztgenannten dem darstellungstheoretischen Ähnlichkeitsbegriff inhärent seien. Während ontologische Ähnlichkeit sich auf Relationen zwischen physischen oder abstrakten Gegenständen bezieht und klassifikatorische Ähnlichkeit das Verhältnis zwischen ›type‹ und ›token‹ meint, ist die darstellungstheoretisch gefasste Ähnlichkeit auf ein beobachtendes, wahrnehmendes Subjekt angewiesen, das beispielsweise im Zuge der Bildbetrachtung Ähnlichkeiten identifiziert. Andreas Langenohl legt als Soziologe eine innovative, radikal differenztheoretische Wendung des Ähnlichkeitskonzeptes vor, unter der eigentlich naheliegenden Maßgabe, dass Ähnlichkeit eben doch etwas ganz anderes ist als Identität – nämlich die einzig vertretbare Form von Differenzdenken, will man sich nicht einen universalistischen Beobachterstandpunkt anmaßen. Dabei geht es Langenohl um eine neue Modernisierungstheorie, die kultur-, gesellschafts- und zeitlichkeitstheoretische »Similarisierung und Dissimilarisierung als Abarbeitung an modernen Totalisierungstendenzen« (120) auffasst. Naoki Sakai plädiert für vergleichende Geisteswissenschaften, wobei sie sich vom ähnlichkeitstheoretisch angereicherten Vergleichen eine Dislozierung des Westens und eine Infragestellung typisierenden Denkens (Art, Gattung, Ethnie, Nation, Kultur etc.) verspricht und den tendenziell deterritorialisierenden Begriff der Übersetzung gegenüber dem tendenziell reterritorialisierenden der Transnationalität vorzieht. Gurpreet Mahajan beschließt den Theorieteil mit einer sozialwissenschaftlichen Perspektivierung und sieht Ähnlichkeit als »einzig tragfähige Basis für den Erhalt einer interkulturellen Gesprächskultur« (153). Die Grundlage gesellschaftlicher Kommunikation bildet dabei eine Hermeneutik des »ähnlich-aber-doch-anders« (163), die Differenzen anerkennt, ohne sie zu priorisieren.
Zu den Fallbeispielen, die hier nicht alle resümiert werden können, zählen eine Studie Aleida Assmans zur Empathie und Identitätskonstruktion, ein sehr aufschlussreicher Beitrag der Herausgeberin Dorothee Kimmich zur Reflexion auf Ähnlichkeit, die – nicht allein bei Warburg, Simmel und Freud, sondern auch bereits in der Literatur des Realismus, beispielsweise in Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe oder in Stifters Texten über ›braune Mädchen‹ – in den Diskurs der Moderne eingeschrieben sei. Rüdiger Görner lenkt den Blick auf die Sensibilität für feine Differenzen im Ähnlichen bei Hofmannsthal, Trakl, Novalis und Thomas Mann, während sich Johannes Feichtinger Ähnlichkeit als analytische Kategorie auf die (auf Differenz setzende) Kulturpolitik der K.-u.-k.-Monarchie im 19. Jahrhundert bezieht und der ähnlichkeitsaffinen Alltagspraxis entgegenstellt. Auf diese literatur- und kulturwissenschaftlichen Perspektiven folgt ein Beitrag von Rudolf Schlögl, der Konzepte und Debatten über Ähnlichkeit und Differenz der Religion(-en) 1750-1850 untersucht und davor warnt, die Schutzfunktion von (möglicherweise auch strategischem) Ähnlichkeitsdenken gegenüber aufflammenden Differenzdiskursen zu überschätzen. Johan Strijdom untersucht klassifikatorische und vergleichende religionswissenschaftliche Vorgehensweisen und Thomas G. Kirsch Ähnlichkeitskonzepte in der Ethnologie. Den Band beschließt Levent Tezcan mit einem Beitrag zu den Potentialen von ›Ähnlichkeit‹ für die Dekonstruktion von Kollektiven und Reflexion von Modernisierungsdiskursen in der Türkei des 20. Jahrhunderts.
Der Band wird den Erwartungen an eine kulturtheoretisch avancierte Profilierung von Ähnlichkeit als interdisziplinär produktivem Konzept durchaus gerecht. Das Paradigma Ähnlichkeit hat zum einen Antworten auf die eingangs angeführten Fragen zu bieten, zum anderen besitzt es das Potential, lange arretierte Theoriedilemmata zu dynamisieren und die Suche nach Auswegen aus nomenklaturalen Konflikten anzustoßen.
Bhatti, Anil / Kimmich, Dorothee / Koschorke, Albrecht (2011): Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36, H. 1, S. 261-275.
Funk, Gerald / Mattenklott, Gerd / Plauen, Michael (2001): Ästhetik des Ähnlichen. Zur Poetik und Kunstphilosophie der Moderne. Frankfurt am Main.