Die matrilineare Familienstruktur in Julya Rabinowichs Roman Spaltkopf oder: Wer ist eigentlich Baba Yaga Girl?

Yanetta Rybalskaya

Abstract

The purpose of this paper is to explain what role the female family members have in Julya Rabinowich’s first novel Spaltkopf (2008). The narrator and main character of the book is a girl called Mischka who emigrated with her family from the USSR to Austria when she was seven. During the narration, she highlights the importance of the matrilineal structure in her family and refers to fairy tales from Eastern and Western mythologies. Furthermore, Mischka frequently identifies herself with Baba Yaga, a witch from the Russian folklore, and calls herself, therefore, Baba Yaga Girl. As the most famous witch of Russian fairy tales and ambiguous mother, Baba Yaga emphasizes the aspect of femininity in the novel. This paper will demonstrate that exactly this figure is important for the interpretation of the main character and of the new family structure. I will reveal how Rabinowich uses these intertextual and fairy tale elements to create Mischka’s female identity.

Title:

The Matrilineal Family Structure in Julya Rabinowichs Novel Spaltkopf or Who is Baba Yaga Girl?

Keywords:

matrilineal family structure; transcultural literature; intertextuality; fairy tales; Baba Yaga

In ihrem Erstlingsroman Spaltkopf schildert Julya Rabinowich das Schicksal einer russisch-jüdischen Familie, die in den 1970er Jahren aus der UdSSR nach Österreich emigriert. Im Zentrum des Romans steht ein siebenjähriges Mädchen, das den Namen Mischka trägt. Um diese Figur zu erschaffen, greift die in St. Petersburg geborene Künstlerin zwar auf ihre eigenen Kindheitserlebnisse zurück (vgl. Schwens-Harrant 2014: 67) – im Alter von sieben Jahren wurde die ahnungslose Julya genauso wie ihre Heldin Mischka von den Eltern nach Österreich gebracht –, arbeitet diese jedoch unter einer Reihe von Modifikationen poetisch um.

Die Tatsache, dass Rabinowich in ihrem Roman autobiographisches Material verarbeitet, führt zwangsläufig dazu, dass ihr Werk hauptsächlich vor dem sozial-geschichtlichen Hintergrund untersucht wird (vgl. Willms 2012). Im Bemühen aber, möglichst genaue Parallelen zwischen dem Leben der Protagonistin und dem der Autorin zu ziehen, läuft man Gefahr, das Werk als eine künstlerisch aufgearbeitete Autobiographie bzw. Familiengeschichte der Autorin zu simplifizieren und somit wichtige sozialkritische Aspekte des Romans zu übergehen. Beim genauen Lesen entdeckt man eine tiefgreifende Struktur im Text, die auf den ersten Blick verwirrend wirkt und den Leser sprachlos hinterlässt, sei es durch die drastische Ausdrucksweise, durch die eigenartige Spaltung der Perspektive oder durch die unglaubliche Komplexität der Bildersprache (vgl. Vertlib 2009). Aus der folgenden Selbstaussage Rabinowichs wird ebenfalls deutlich, dass der Roman keinesfalls als bloße Familienchronik angesehen werden darf:

Auf einer Ebene geht es um die Entwurzelung einer jüdischen Familie und deren Umtopfung, Zerfall und Neudefinition. […] Auf der anderen Ebene geht es um den Konflikt mit einer Identität, die man noch nicht kennt, nicht mehr kennen will. Auf einer dritten Ebene geht es um Verdrängung, Verdrängungsmechanismen und Folgen der Verdrängung. Und alle drei Themen sind natürlich miteinander untrennbar verbunden. (Rabinowich 2008)

Bemerkenswert ist hierbei, dass die Suche nach der Identität und die Neudefinition der Familie über die Beziehung zwischen Mutter und Tochter bzw. zwischen Großmutter und Enkelin definiert werden. Im Laufe der Handlung zerfällt die traditionell-patriarchalische Familie zugunsten einer neuen Familienstruktur, die matrilinear geprägt ist: Großmutter – Mutter – Tochter. Beim Prinzip der Matrilinearität werden soziale Stellungen, politische Titel und Privilegien über die mütterliche Linie vererbt. In Bezug auf den Roman Spaltkopf interessiert uns jedoch in erster Linie die genealogische Abfolge in der Familie: Ein Matri-Clan, wie eine matrilinear geprägte Familie von der Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth bezeichnet wird, soll aus mindestens drei Generationen von Frauen bestehen, und zwar der Mutter und ihren Schwestern, deren Töchtern und Enkelinnen und direkt verwandten Männern (vgl. Göttner-Abendroth 2011: 19). Die Funktion des Vaters reduziert sich auf die des Zeugers. Es spielt dabei keine Rolle, wie lange er im Haus der Frau bleibt, da die Kinder immer zum Clan der Mutter gehören (vgl. ebd.). Die Familienkonstellation, die wir bei Rabinowich gegen Ende des Romans entdecken, erinnert sehr an eine als Matri-Clan organisierte Familie: »Wieder ist die Familie, wie es sich gehört: Mutter, Tochter, Enkelin.« (Rabinowich 2011: 177)

Auch für die Entwicklung der Persönlichkeit Mischkas spielt der Aspekt der Matrilinearität eine wichtige Rolle. Gemäß feministischer Theorien der 1980er Jahre entfaltet sich die weibliche Identität und die weibliche Psyche in erster Linie durch die Mutter-Tochter-Beziehung. Die feministischen Forscherinnen gehen davon aus, dass der Prozess der Selbstkonstituierung und der Selbstfindung bei einer Frau komplizierter bzw. ambivalenter als bei einem Mann verläuft, und stellen deshalb die Genealogie sowie die Interdependenz der Frau in der Rolle als Mutter und Tochter ins Zentrum ihrer Forschung (vgl. Cornejo 2006: 8). Dieses Interesse hängt ebenfalls mit einer damals neuen Tendenz in der Literatur zusammen. Während in den meisten klassischen Romanen der Generationenkonflikt überwiegend zwischen Vätern und Söhnen ausgetragen wird, rückt seit der Frauenbewegung die Mutter-Tochter-Beziehung in den Vordergrund des schriftstellerischen Interesses. In einer Reihe von literarischen Texten der 1980er Jahre wird das Thema Mutterschaft bzw. Tochterschaft aus einem neuen Blickwinkel beleuchtet. Der Konflikt entsteht hier daraus, dass sich die Töchter weigern, von ihren Müttern aufgezwungene Frauenrollen in der patriarchalischen Struktur anzunehmen und sich aus allen Kräften bemühen, ihren eigenen Weg zu gehen (vgl. Kraft / Kosta 1993: 216). Die negativ besetzte Figur des realen Vaters tritt hingegen in den Hintergrund, die Mutter und die Sprache werden dabei zu symbolischen Repräsentanten des Vaters bzw. der patriarchalischen Ordnung. Denn die Aufgabe der phallisch besetzten Mutterinstanz ist, die Tochter im Sinne des herrschenden Patriarchats zu sozialisieren (vgl. Cornejo 2006: 140f.). Die Sprache spiegelt ihrerseits die symbolische Ordnung des Vaters wider und macht somit deren Unterdrückungsmechanismen sichtbar (vgl. ebd.: 68).

Bei Rabinowich haben wir allerdings außer der Figur der Mutter und der Tochter noch die der Großmutter im Spiel: Mischkas Identität wird sowohl durch die Großmutter mütterlicherseits, Ada, als auch durch die Großmutter väterlicherseits, Sara, maßgeblich geprägt. Die generationenübergreifende Nähe setzt jedoch einen regelmäßigen bzw. räumlichen Kontakt zwischen Großeltern und Enkelkindern voraus. Unter normalen Umständen ist das Zusammenleben mehrerer Generationen heutzutage nicht mehr üblich und kommt eher in ländlichen Regionen vor. Diese Tradition ist in der westlichen Welt nahezu verschwunden.

Angesichts der sozialpolitischen Veränderungen in den letzten Jahrzehnten scheint aber dieses Motiv in der Gegenwartsliteratur eine wichtige Rolle zu spielen. Einerseits beobachtet man eine Tendenz zur Aufarbeitung der Familiengeheimnisse und andererseits eine Neuinterpretation des literarischen Topos erzählender Großeltern, welche das Erlebte an ihre Enkelkinder weitererzählen (vgl. Millner 2012: 309). Es handelt sich dabei um Familienromane, Migrations- und Generationengeschichten, welche die tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts thematisieren. Die Darstellung der Familienverhältnisse wird dabei auf die Perspektive der Kinder, also auf die der dritten Generation zugespitzt (vgl. ebd.). Neu ist in diesem Fall, dass die Enkelkinder in aktuellen Romanen, wie etwa Mischka bei Rabinowich oder Aleksandar in Saša Stanišić’ Jugoslawienroman Wie der Soldat das Grammofon repariert nicht nur als Zuhörer, sondern auch als Aufschreiber fungieren (vgl. ebd.: 319).

Darüber hinaus weist die Problematisierung der Mutter-Tochter-Enkelin-Beziehung in Spaltkopf auf den hohen Stellenwert der Frau, insbesondere der Großmutter, in der jüdischen und russischen Tradition hin (vgl. Willms 2012: 126). Während die Großmutter im Judentum als Kern der jüdischen Identität auftritt, verfügt die russische Großmutter über eine gewisse Macht innerhalb der Familie. In der Regel sind die Großmütter nicht nur in den Familienalltag integriert, sondern übernehmen auch einen Großteil der Erziehungsaufgaben. Sie sind somit für Sozialisierung und Bildung ihrer Enkelkinder mitverantwortlich (vgl. Millner 2012: 314f.). Die Entwicklung des Kindes wird dementsprechend nicht nur durch die Eltern, sondern auch durch die Großmutter beeinflusst.

Mischkas verzweifelte Identitätssuche

Die eigentliche Handlung im Roman Spaltkopf wird durch die Flucht einer russisch-jüdischen Familie aus der Sowjetunion, in der sie in ewiger Angst vor Geheimpolizei und Freiheitsberaubung leben muss, in den feindlichen Westen initiiert: »Für die Freiheit sei kein Preis zu hoch. Für die Freiheit hätten wir unsere Heimat geopfert und unsere Sprache.« (Rabinowich 2011: 81) – zitiert die Ich-Erzählerin ihren Vater. Heimat und Sprache werden in dieser Aussage in eine Reihe gestellt und sind der hohe Preis, den die Auswanderer für die Meinungsfreiheit zu bezahlen haben. Die Familie der Ich-Erzählerin darf unverhofft in Österreich bleiben, in einem Land, dessen Sprache keiner (ausgenommen die Großmutter Ada) spricht. Es entsteht eine paradoxe Situation: Diejenigen, die auf der Suche nach Freiheit aus der Heimat fliehen, können diese in der Fremde nicht ausleben, da es ihnen an Deutschkenntnissen mangelt.

Bedingt durch dieses biographische Ereignis fühlt sich die Hauptheldin immer wieder in einer Zwischenposition gefangen, was die Entwicklung ihrer Identität ziemlich beeinträchtigt: »Die Kontinentaltafeln, auf denen ich mit je einem Bein stehe, driften auseinander und ich stelle bedauernd fest, keine Meisterin des Spagats zu sein.« (Ebd.: 80) Und in der Tat verläuft Mischkas Entwicklung immer wieder in einem ›Dazwischen‹. Sie wächst zwischen Heimat und Fremde, zwischen Wirklichkeit und Märchenwelt, Kindsein und Erwachsensein auf: »So wie mich zuvor das Heimat- und das Emigrationsland zum Balanceakt zwangen, begehe ich nun eine Gratwanderung zwischen den Welten der Erwachsenen und der Jugend.« (Ebd.: 83) Das Erwachen ihrer Sexualität empfindet die Ich-Erzählerin demzufolge als ihre zweite Migration, der sie sich zu entfliehen bemüht (vgl. Hausbacher 2010: 34). Angesichts dieser Zwischenposition fällt es der Ich-Erzählerin schwer, die neugewonnenen Identitätselemente mit den schon bestehenden zu verbinden und sie in den Gesamtkomplex des Ichs zu integrieren (vgl. Erikson 1966: 143), was zusätzlich in ihrer Erzählweise zum Vorschein kommt. Sie beschreibt ihren Irrweg zwischen Russisch und Deutsch, zwischen Außenwelt und Innenwelt.

Sie schwankt sogar zwischen Mädchensein und Jungesein, da sie ihr Verhaltensmuster den Wünschen ihres Vaters anzupassen sucht: »Meine sprießende Weiblichkeit bringt ihn [den Vater; Y.R.] um seinen ersehnten Nachfolgersohn, der ich mich bis dahin mit Erfolg zu sein bemüht habe.« (Rabinowich 2011: 80) Mischkas Versuche, sich als Junge zu benehmen, scheitern, sobald sie in die Pubertät kommt.

Mit Beginn der Adoleszenz muss sich Mischka mit einer neuen patriarchalischen Ordnung abfinden. Alle Freiheiten, die ihr bisher vergönnt waren, werden abgeschafft. Die Wohnung der Familie wird zum familiären, pseudopositiven Raum der Hochkultur umgedeutet, während Wien mit negativen Eigenschaften besetzt wird. Plötzlich tritt das Haus der Eltern als moralische Instanz auf, gleichzeitig wird die Welt draußen als unmoralisch empfunden. Mit der ersten Periode ändern sich nicht nur Mischkas Körper und Körpergefühl, sondern auch die Ansprüche ihrer Eltern an sie: Sie muss sich ab nun als ein anständiges Mädchen benehmen, was für sie mit beschränkter Freiheit verbunden ist.

Als Kind fällt es Mischka leicht, sich den Konventionen der Eltern zu beugen, als heranwachsendes Mädchen bereitet sie ihrem Vater Sorgen. Die Migration, die von ihm anfangs als Wiedergeburt und Befreiung empfunden wird, wird ab dem Zeitpunkt als Ursache für den Auflösungsprozess der Familie angesehen (vgl. Millner 2012: 312). Die Auswanderung wird bereut: »Ein Fehler sei es gewesen, ein Fehler!« (Rabinowich 2011: 81), beteuert der Vater. Auf tiefgreifende Probleme innerhalb der Familie, die oft zu deren Zerfall führen, verweist auch Weertje Willms in ihren Überlegungen zum Schaffen zweisprachiger Autorinnen: Die Erzählerfiguren, die als Kinder mit ihren Eltern ausgewandert sind, schildern ihr Erwachsenwerden unter ständigen Konflikten mit den Eltern, was sich oft in Rebellion oder Autoaggression der Kinder äußert (vgl. Willms 2012: 129). Das Migrationsland wird von den Eltern für die Entfremdung des Kindes verantwortlich gemacht und dementsprechend negativ besetzt, was den Entfremdungseffekt noch verstärkt (vgl. ebd.: 131). Auch Mischka darf ab jetzt abends nicht mehr ausgehen, damit sie nicht in die Versuchungen des ungezügelten Westens gerät und nicht »mit den Nichtsnutzen um die Häuser« (Rabinowich 2011: 82) zieht. Wie groß ist dann die Enttäuschung des Kindes, dem die Eltern politische Freiheit außerhalb der Heimat versprochen haben und im neuen Land nicht einmal eine persönliche gewähren wollen: »Ich stehe wütend vor dem Spiegel und höre den Schlüssel im Schloss des Kinderzimmers knirschen. Rapunzel hatte es besser als ich. Ich hasse die Haare, die unter meinen Achseln sprießen […]. Ihretwegen werde ich eingemauert.« (Ebd.: 81) Wie aus dem Zitat hervorgeht, wird Mischka eingesperrt, damit sie den Verführungen des lasterhaften Westens nicht verfällt. Signifikant ist hier, dass nicht der Vater, sondern die Mutter den Schlüssel im Schlüsselloch dreht und somit für das Aufrechterhalten der patriarchalischen Ordnung sorgt. Das Kind wird dadurch am Verlassen des Raumes nicht nur durch ein verbales Verbot des Vaters, sondern auch durch eine von der Mutter versperrte Tür gehindert. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit eskaliert somit in einer extremen Raumreduktion. Das Mädchen fühlt sich im Elternhaus »eingemauert« und vergleicht sich deswegen mit der Märchenfigur Rapunzel. Diese ist nur eine der Selbstidentifizierungen der Ich-Erzählerin mit einer von mehreren Märchenfiguren im Roman, welche dazu dienen, unterschiedliche Frauenrollen kritisch zu hinterfragen. Unter solchen Umständen bleibt dem pubertierenden Mädchen nichts anderes übrig, als zu resignieren. So reagiert Mischka auf die patriarchalischen Verbote ihrer Eltern mit Fresssucht und versteckt sich allmählich hinter einer Schutzschicht aus Fett.

Trotz der Resignation setzt die Ich-Erzählerin unbewusst ihre Identitätssuche fort, und zwar durch das Schreiben. Laut der französischen Poststrukturalistin Hélène Cixous, die sich intensiv mit dem weiblichen Schreiben (écriture féminine) beschäftigt, kann die Frau nur durch die eigene Textproduktion zu ihrer weiblichen Identität gelangen. Nach Cixous zeichnet sich das weibliche Schreiben im Gegensatz zum streng geordneten und steif strukturierten männlichen Schreiben durch höhere Sinnlichkeit, offensichtliche Erotik und spielerischen Umgang mit der Sprache aus (vgl. Frei Gerlach 1998: 60). Beim Erwachen ihrer Sexualität vertieft sich Mischka ins euphorische Schreiben: »Meine Klassenkolleginnen gehen schwimmen, ich sitze mit feuchtem Höschen bei Sonnenschein im abgedunkelten Raum und tippe meine Leidenschaft auf endlose Bögen Thermopapier.« (Rabinowich 2011: 83) Darüber hinaus kann Mischkas Bericht über das Schicksal ihrer Familie und über ihre Identitätssuche als ein Musterbeispiel des weiblichen Schreibens angesehen werden.

Erst nach dem Tod des Vaters erobert Mischka ihre Freiheit zurück und begibt sich erneut auf Entdeckungsreise in die neue Welt. Sie genießt alle Angebote des Wiener Nachtlebens: »Eine Kopfhälfte kahlrasiert, die andere gefärbt, Hals, Hände, Gedanken befleckt, streife ich ungestraft durch die Wiener Nacht.« (Ebd.: 140) Mischkas Identitätssuche treibt sie immer wieder zu neuen Heldentaten an: Sie trifft sich wahllos mit Männern, probiert Drogen, betrinkt sich und schläft in U-Bahnen und Diskotheken. Sie experimentiert mit dem Leben in einer Art Kommunalwohnung im Ostteil Berlins, in der sie unter »Proletariat, Studenten, Halbkriminelle[n], Alkoholiker[n]« wohnt und »Gemeinschaftsküche, Groß-WG, besetzte Bäder« (ebd.: 147) genießt. Letztendlich heiratet sie ihren Freund Franz, der Mischka eigentlich eher als Rechtfertigung vor der Welt braucht, um seine Homosexualität zu tarnen. Selbst die Geburt einer Tochter bringt Mischka keine Zufriedenheit: Sie weiß immer noch nicht ihren Platz in der Welt zu finden.

Selbstidentifizierung der Ich-Erzählerin mit mythischen Frauengestalten

Den Weg zu ihrem Selbst beschreibt die Ich-Erzählerin als eine enge Verflechtung von realen Erlebnissen und vielseitigen Anspielungen auf Märchen sowie Werke der Weltliteratur. Diese Elemente stellen allerdings keine bloßen Verweise auf mythologische und literarische Figuren dar, sondern sind wichtige Identitätsbestandteile der Ich-Figur. Interessant ist, wie bereits erwähnt, dass weibliche Gestalten, auf die sich Mischka hin und wieder im Laufe des Romans bezieht, unterschiedliche Verhaltensmuster von Frauen repräsentieren.

Die untrennbare Synthese der Realität und Mythologie wird der Protagonistin noch vor ihrer Geburt vorherbestimmt: »Vor ihr [der schwangeren Mutter der Ich-Erzählerin; Y.R.] lag ein Buch. Ein abgegriffener Stoff, darauf eingestanzt in goldenen Lettern ›Russische Märchen‹. […] [A]lle eröffnet mit feierlich großen Schnörkelbuchstaben. Kyrillisch.« (Ebd.: 15) Die schwangere Frau denkt an ihr ungeborenes Kind und wünscht sich ein Mädchen »mit einer Haut so weiß wie Schnee und einem Mund rot wie Blut.« (Ebd.) Es fällt nicht schwer, aus dieser Beschreibung eine Anspielung auf Schneewittchen herauszulesen. Dies ist die Rolle, welche die Mutter ihrer noch nicht geborenen Tochter unwillkürlich vorschreiben will. Wie sich allerdings im Laufe der Handlung herausstellt, kommt diese Märchenfigur für Mischka als Identifikationsmuster nicht in Frage, denn sie wird nach ihren eigenen Vorstellungen leben.

In der oben vorgestellten Szene ist bemerkenswert, dass das Märchen, das aufgeschlagen vor der Mutter liegt, nicht von Schneewittchen, sondern von der Herrin des Kupferbergs handelt. Es geht um die allegorische Vorstellung der Uralvölker vom weiblichen Geist des Uralgebirges. Die Herrin des Kupferberges hütet Bodenschätze und erscheint vor Menschen in Gestalt einer wunderschönen Frau in malachitgrünen Kleidern, verwandelt sich aber, sobald sie ihr zauberhaftes Reich betritt, in eine grüne Echse. Angesichts der Fähigkeit, sich zwischen der Menschenwelt und dem Naturreich zu bewegen, kann diese Märchenfigur als weibliche Naturkraft in Person betrachtet werden. Dank der Sammlung von Kunstmärchen Malachitschatulle. Märchen aus dem Ural, die vom sowjetischen Schriftsteller Pavel Petrovič Bažov verfasst ist, hat diese Gestalt eine große Popularität im ganzen russischen Sprachraum erlangt (vgl. Balina 2005: 115). Diese Figur trägt außerdem etwas Gewalttätiges in sich, denn wir lesen bei Bažov: »Вот она, значит, какая Медной горы Хозяйка! Худому с ней встретиться – горе, и доброму – радости мало.«1 (Bažov 180: 54) Die Begegnung mit der Herrin des Kupferberges bringt einem schlechten Menschen demzufolge Unglück und bereitet dem guten auch wenig Freude (vgl. Balina 2005: 115). Eine ähnliche Ambivalenz im Verhalten kann man ebenfalls bei Rabinowichs Hauptheldin wiederfinden. In ihren Selbstreflexionen beschreibt sich Mischka als eine zu (Auto-)Aggression neigende Person, wodurch eine Parallele zwischen ihr und der mythischen Hüterin der Uralbodenschätze entsteht. Unter den Familienmitgliedern ist sie außerdem die einzige, die Grenzen überschreitet und sich zwischen der Heimat und dem Zielland frei bewegt (vgl. Schweiger 2012: 168).

Zur mythenorientierten Selbstwahrnehmung Mischkas trägt entscheidend die Tatsache bei, dass sich die Großmutter Ada der mythologischen sowie der klassischen Literatur bedient, um ihre Enkelin spielerisch in die Hochkultur einzuführen: »Wir spielen alles […]: russische Märchen und klassische Literatur, absurd in einander vermengt.« (Rabinowich 2011: 46) Aber auch im Selbstspiel pflegt Mischka sich mit der einen oder der anderen Märchenfigur zu vergleichen, wenn sie ihre Lage abzuschätzen oder das gerade Erlebte zu verarbeiten sucht.

Die Märchenfigur, mit der sich Mischka im Laufe der Handlung nicht nur vergleicht, sondern völlig identifiziert, ist Baba Yaga, eine Hexe aus russischen Märchen. Genauso wie die Herrin des Kupferberges zeichnet sich die Gestalt von Baba Yaga durch eine ambige Natur aus und vereinigt in sich Leben und Tod, Zerstörung und Erneuerung, das Weibliche und das Männliche. Letzteres wird durch den Mörser und Stößel symbolisiert, die Baba Yaga als Transportmittel verwendet (vgl. Goscilo 2005: 13). Ihren Ursprung hat die russische Hexenfigur in der altslawischen Vorstellung von einer dreifachen Göttin bzw. der archaischen Mutter, die als Patronin des weiblichen Geschlechtes gilt. Die Hypostase von Baba Yaga als Urmutter ist indessen mit dem Aufkommen des Patriarchats verloren gegangen, so dass sie dämonisiert und zu einer hässlichen Kindesentführerin degradiert wurde (vgl. Gobrecht 1985: 106f.). Die Bestätigung für die ursprünglich positive Konnotation von Baba Yaga findet man in einigen Märchen: In einzelnen Fällen wird sie mit dem Attribut des Herdfeuers versehen, tritt als Mutter oder Tante, nie aber als Gattin auf (vgl. ebd.).

Durch die Selbstidentifikation mit der russischen Hexe Baba Yaga schreibt sich Mischka in vielerlei Hinsicht die Eigenschaften zu, mit denen diese Märchenfigur ausgestattet ist. Es ist nicht ohne Absicht, dass gerade diese Gestalt als Identifikationsfigur für die Protagonistin ausgewählt wird. Der Figur Baba Yaga fällt eine besondere Rolle in der russischen Mythologie zu: Sie ist die Vermittlerin zwischen der realen und mythischen Welt, bald agiert sie als Helferin, bald als Menschenfresserin (vgl. Johns 2004: 3). Die Ich-Erzählerin weist selbst auf diese widersprüchliche Handlungsweise von Baba Yaga hin: »Mal hilft sie [Baba Yaga; Y.R.] den Menschen, die sie aufsuchen, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt, mal frisst sie sie, je nach Laune, auf«. (Rabinowich 2011: 25)

Bis heute gibt es keine einheitliche Meinung darüber, woher der Name Baba Yaga stammt (vgl. Zipes / Goscilo / Forrester 2013: XXII). Der erste Teil baba ist einerseits die Bezeichnung für eine verheiratete Frau aus dem Volk, andererseits die Kurzform des Wortes babuška, mit welcher russische Kinder ihre Großmütter meist ansprechen (vgl. Šanskij 1965: 3). Gerade dieses Diminutiv wird bei jeder Erwähnung von Mischkas Großmutter väterlicherseits, der Großmutter Sara, verwendet. Wenn man nun die beiden Namen Baba Sara und Baba Yaga nebeneinanderstellt, fällt sofort auf, dass sie zum Verwechseln ähnlich klingen. Die ohnehin mystisch wirkende Großmutter wird dadurch unfreiwillig mit der russischen Hexe assoziiert.

Die Etymologie des zweiten Teils des Namens von Baba Yaga lässt sich nur schwer nachweisen. Dem amerikanischen Forscher Jack Zipes zufolge leitet sich das Wort Yaga vom russischen Verb ehat’, ›fahren‹, oder vom deutschen Substantiv Jäger ab (vgl. Zipes / Goscilo / Forrester 2013: XXIII). Bei Vladimir Dal’ findet man überdies das Verb jagat’, ›schreien, toben, schimpfen‹, was das Wort jaga auch als ›Tobende, Schreiende‹ deuten lässt (vgl. Dal’ 1955: 672).

Im Roman Spaltkopf beobachtet man eine eigenartige literarische Adaption des Namens dieser Märchengestalt. Da die Ich-Erzählerin eine emotionale Nähe zu der Hexenfigur empfindet, modifiziert sie den Namen Baba Yaga durch den Zusatz des englischen Wortes girl und nennt sich dementsprechend Baba Yaga Girl. Wenn sich Mischka mit der russischen Hexe gleichsetzt, heißt es nicht, dass sie sich selbst ausschließlich als gewalttätig, hässlich oder alt inszenieren möchte. Nicht ihre Bösartigkeit, sondern die Ambivalenz ihres Charakters und die Verkörperung der archaischen weiblichen Kraft macht Baba Yaga zu einem Identifikationsvorbild für die Ich-Erzählerin. Sie braucht diese Selbstidentifizierung, um ihre eigene Zwiespältigkeit zu rechtfertigen.

Hinzu kommt noch, dass Baba Yaga in einigen Märchen nur Yaga oder Yagišna genannt wird. Die letztere Bezeichnung ist ein offensichtliches Matronym und suggeriert, dass sie die Tochter einer Yaga ist, die genauso wie sie Yaga heißt (vgl. Zipes / Goscilo / Forrester 2013: XXIII). In den meisten Märchen tritt nur eine Baba Yaga auf, in einigen finden sich zudem drei, welche in der Regel Schwestern oder Cousinen sind (vgl. ebd.: XXXIV). Diese Dreifaltigkeit von Baba Yaga erlaubt uns, wie bereits erwähnt, eine Parallele in Rabinowichs dreiteiliger Struktur des weiblichen Familienkosmos Mutter – Tochter – Enkelin zu erkennen. Die weiblichen Figuren im Roman entfalten ihre Kraft ebenfalls erst in der Mutterrolle und nicht in der als Ehefrau.

In ihrer Selbstinszenierung als Baba Yaga Girl zieht Mischka nicht nur Parallelen zwischen eigenen Handlungsweisen und denen von Baba Yaga, sondern wünscht sich auch deren märchenhafte Behausung: »Ich möchte meine wandelnde Hütte zurück, die auf mein Wort gehorcht! Meine eigenen vier Wände, von einem kleinen, hübschen Zaun aus Menschenknochen umgeben.« (Rabinowich 2011: 177) Diese Beschreibung trifft genau auf die Beschreibung von izbuška na kur’ih nožkah ›Häuschen auf Hühnerbeinchen‹ zu, die man in russischen Volksmärchen vorfindet (vgl. Johns 2004: 140f.). Es handelt sich um eine Holzhütte auf Hühnerbeinchen, die sich auf ein Kommando hin um ihre eigene Achse drehen kann. Das Häuschen von Baba Yaga ist im tiefen Wald gelegen und stellt eine Art Tür zwischen dem Diesseits und Jenseits dar (vgl. Johns 2004: 22). Im Fall von Mischka erfüllt diese Wohnungsart zwei Funktionen. Einerseits wünscht sich die Erzählfigur ein Häuschen auf Hühnerbeinchen, da es ein unabdingbares Requisit von Baba Yaga ist, mit der sie sich immer wieder assoziiert, andererseits versinnbildlicht das instabile Haus ohne Fundament die wackelnde Identität der Ich-Erzählerin.

Auf der Reise nach Russland wird die Heldin ebenso von Baba Yagas Attributen begleitet, die in diesem Fall eher parodistisch markiert sind (Ekelund 2015: 201). Nicht zufällig bekommt Mischka im Flugzeug gerade Hähnchen serviert. Da die Ich-Erzählerin unter Flugangst leidet und dies nicht kontrollieren kann, passiert ihr etwas Blamables: »Das Tablett gerät in Schieflage, entgleitet meinen Händen, das Huhn landet auf meinem Schoß. Bevor ich ohnmächtig werde, suche ich an ihm Halt.« (Rabinowich 2011: 184) In Anbetracht der Eigenschaften des Häuschens auf Hühnerbeinchen kann man festhalten, dass hier ein Paradox vorliegt: Die Ich-Erzählerin sucht Halt an etwas, was bereits als ein Teil der Instabilitätsmetapher eingeführt wurde. Das moderne Baba Yaga Girl kommt in St. Petersburg zwar in einem Flugzeug an, im Gegensatz zu ihrer Identifikationsfigur, die weite Strecken in einem Kessel (zu russisch stupa) überwindet, und betritt nun den russischen Boden mit einem Hühnerbein in der Hand: »Als ich eine Stunde später russischen Boden betrete, fällt mir erst in der Ankunftshalle auf, dass ich das Hühnerbein immer noch in meiner Hand halte.« (Ebd.)

Ein weiteres Requisit von Baba Yaga entdeckt man auf dem Foto in Mischkas Reisepass: »In meinem Pass eine Fotographie aus meiner Punk-Hochblüte: eine silberne Hühnerkralle im Ohr.« (Ebd.: 184) Das Hühnerbein erscheint unter anderem auch auf dem allerwichtigsten Dokument, das die Identität eines Menschen bestätigt. So kommt es zu einer Verschmelzung der realen und imaginären Identität der Ich-Erzählerin.

Neben den genannten indirekten Vergleichen mit Baba Yaga findet man Passagen, in denen sich die Ich-Erzählerin unmittelbar mit dieser Märchenfigur gleichsetzt. Während der Hochzeit ihres Exmannes, zu der Mischka kurz nach der Abtreibung ihres zweiten Kindes erscheint, äußert sie den Wunsch, ihren ehemaligen Mann zu töten: »Ich würde den schönen Franz gerne töten, so wie das Ungeborene vor einer Woche. Eine Baba Yaga darf das. Man kann es sogar von ihr erwarten.« (Ebd.: 181) Die russische Hexe steht demzufolge sinnbildlich für eine willensstarke Frau, die allerdings zu Gewalt fähig ist (vgl. Schwaiger 2013).

Mischka ist mit ihrer Selbstidentifikation als Baba Yaga keineswegs zufrieden, da die grauenvolle Hexe nicht die Figur ist, zu der sie in Wirklichkeit werden wollte: »Ich wollte eine Nixe sein. Mit fließendem Seetanghaar und beredten Augen. Wollte Männer an meine Klippen locken und wäre bereit gewesen, für eine menschliche Seele stumm und mit schmerzenden Füßen zu tanzen. Es ist sich aber nur eine Baba Yaga ausgegangen.« (Rabinowich 2011: 181) Es liegt auf der Hand, dass Rabinowich an dieser Stelle auf Andersens Märchen Die kleine Meerjungfrau Bezug nimmt, in dem sich die Nixe aus Liebe zum Prinzen an die Meereshexe wendet und einen für sie unvorteilhaften Tausch macht: ihre Zunge gegen menschliche Beine. Da die Liebe der Meerjungfrau jedoch unerwidert bleibt, muss sie auf der Hochzeit des Prinzen stumm sowie mit stechenden Schmerzen in den Füßen und im Herzen tanzen (vgl. Kraß 2010: 363). Die Situation, in der sich die Protagonistin während der Hochzeit befindet, erinnert sehr an die Geschichte der Meerjungfrau: Mischka ist wie Andersens Meerjungfrau zu einer Hochzeit eingeladen, auf der die Rolle der Braut einer anderen gehört. Die Nixe hätte eine Chance, durch die Ermordung des Prinzen ihr Leben zurückzugewinnen (vgl. ebd.: 354f.), die ergreift sie aber nicht. Im Gegensatz zu ihr ist Mischka nicht bereit, eine solch passiv-masochistische Rolle zu spielen und erklärt sich selbst zu einer Person, die durchaus in der Lage wäre, den ehemaligen Mann zu töten (Ekelund 2015: 201). Denn sie sei ihrer eigenen Aussage nach grausam genug, ihr ungeborenes Kind abtreiben zu lassen und findet auch eine Rechtfertigung für diese Tat: »Eine Baba Yaga darf das. Man kann es sogar von ihr erwarten.« (Rabinowich 2011: 181) Demzufolge nimmt die Ich-Figur ihre Mordlust und die erlebte Abtreibung als typisches Verhaltensmuster einer grausamen Hexe wahr, die über das Leben und den Tod entscheiden darf. Auch hier entdeckt Mischka eine Eigenschaft in sich, die sie zu einer Baba Yaga macht, denn man kann viele Märchen finden, in denen Baba Yaga über das Leben und den Tod menschlicher Wesen und der Natur waltet (vgl. Johns 2004: 19).

Im Hinblick auf die Selbstinszenierung der Protagonistin als einer Märchenhexe ist es nicht uninteressant, den Namen Mischka genauer zu betrachten. Im Grunde genommen gibt es im Russischen weder Mischka noch Mischa, wie Rabinowichs Heldin in einigen Publikationen genannt wird (vgl. Willms 2012: 128, 132), als weiblichen Vornamen. Das Wort miška bzw. Miška ist einerseits ein Diminutiv vom Wort medved’, ›Bär‹, andererseits die Koseform des männlichen (!) Vornamens Mihail (vgl. Slovar’ ličnyh imen N.A. Petrovskogo). Hinzu kommt noch, dass auch der Bär in der russischen Tradition den Namen Mihail bzw. Mihail Potapyč trägt (vgl. Žuravlev / Šanskij 2007: 120f.). Da es sich bei Mischka im Roman Spaltkopf nicht um eine männliche, sondern eine weibliche Figur handelt, ist für die Deutung ihres Namens vor allem die Etymologie des Wortes medved’ von Interesse. Im russischen Wort medved’ kann man zwei Stämme erkennen: Der erste Teil, -med-, bedeutet Honig und der zweite, -ved-, stammt vom veralteten Verb vedat’, was zu Deutsch so viel wie ›wissen‹ heißt. Medved’ ist dementsprechend derjenige, der sich mit dem Honig auskennt, also von ihm weiß (vgl. Zipes / Goscilo / Forrester 2013: XXIII). Das russische Wort ved’ma, ›Hexe‹, leitet sich ebenfalls vom Verb vedat’ ab (vgl. Vasmer 1986: 285). Diese Tatsache kann die eigenartige Namenswahl für die Ich-Figur erklären. Falls wir annehmen, dass Rabinowich den Namen Mischka vom Wort medved’ ableitet, steht dieser sowohl dem Verb vedat’, ›wissen‹, als auch dem Substantiv ved’ma, ›Hexe‹, semantisch nahe. Somit kann auch der Name der Hauptheldin als eine versteckte Anspielung auf die russische Hexe Baba Yaga gelesen werden.

Im Zusammenhang mit dem Identitätskonflikt der Ich-Erzählerin soll außerdem die Metaphorik der titelgebenden Figur Spaltkopf, die sowohl für die Großmutter als auch für die Enkelin Mischka eine essenzielle Rolle spielt, angesprochen werden (vgl. Hausbacher 2010: 33). Beim Mythologem Spaltkopf handelt es sich um eine geschickte Kreation Julya Rabinowichs: »Auch die Russen sind mir drauf reingefallen, nicht nur die Wiener, nicht nur die Deutschen, nicht nur Engländer oder Italiener, sondern auch Russen, die sagten: Sag, wo hast du das Märchen her, ich hab noch nie etwas vom Spaltkopf gehört.« (Schwens-Harrant 2014: 68)

Die Protagonistin empfindet den Spaltkopf als ein privates Ungeheuer und liefert seine Beschreibung: »Der Spaltkopf, der sich von den Gedanken und Gefühlen anderer ernährt, ein teilnahmsloser Vampir, aufmerksam, unsichtbar, bedrohlich, hat jedoch etwas unangenehm Persönliches, ein privates Ungeheuer, auf meine Familie angesetzt, maßgeschneidert.« (Rabinowich 2011: 25f.) Zum ersten Mal wird der Spaltkopf als eine Schreckensfigur für die Kinder in die Handlung eingeführt (vgl. Schweiger 2012: 164). Mischkas Mutter setzt den Spaltkopf als Drohmittel ein: Die Kinder sollen ins Bett gehen, »[s]onst kommt der Spaltkopf.« (Rabinowich 2011: 21) Dieses unsichtbare und körperlose Wesen wird von ihr in groben Zügen wie folgt beschrieben: »ein großer, schwebender Kopf, der sich über die Menschen stülpt. Und dann […] saugt er sie aus. Wenn sie nicht aufpassen.« (Ebd.: 19) Das einzige Mittel, ihn zu besiegen, wäre, ihn zu Gesicht zu bekommen (vgl. ebd.: 22).

Im Laufe der Handlung stellt sich außerdem heraus, dass der Spaltkopf metaphorisch für abgespaltene und verdrängte Bewusstseinsinhalte von Großmutter Ada steht, er ist eine Metapher des Vergessens und Verdrängens (vgl. Willms 2012: 129). Ada ist seit einem traumatischen Kindheitserlebnis von ihm besessen: »Das ist die Tinte, mit der ich, ihr Chronist, ihr Leben festhalte.« (Rabinowich 2011: 23) Infolge eines Pogroms, den Ada als Kind erlebt, verliert sie ihren Vater. Dieses traumatische Erlebnis löst bei der kleinen Ada eine ablehnende Haltung und Verleugnung der jüdischen Identität aus. Doch gegen Ende ihres Lebens wird sie immer häufiger von den verdrängten Erinnerungen gequält. »Sie kneift die Augen, die sie immer mehr im Stich lassen, zusammen, bis die wabernde rote Fläche hinter ihren Lidern entsteht, in der ich, ihr Spaltkopf, warte.« (Ebd.: 142) Der Spaltkopf saugt ihre Energie aus und wächst. Je größer er wird, desto länger werden die Kursivpassagen, die seine Perspektive auf das Geschehene darstellen und sie graphisch hervorheben. So zieht sich der Prozess der Verdrängung durch die ganze Handlung hindurch und bekommt nicht nur eine eigene Gestalt, sondern noch eine eigene Stimme (vgl. Hausbacher 2010: 36). Die Auseinandersetzung der Großmutterfigur mit ihrem verborgenen Ich wird dadurch versprachlicht. Es ist wichtig anzumerken, dass der Spaltkopf seinen eigenen Blick auf das Geschehene hat, den Blick eines Beobachters. Gerade durch den Spaltkopf wird Adas Geschichte rekonstruiert. Demzufolge lässt sich festhalten, dass der Spaltkopf die zweite Erzählinstanz ist.

»Der weibliche Kosmos«

Im Hinblick auf die Figurenkonstellation ist im Roman Spaltkopf die Dominanz der weiblichen Figuren sehr auffällig. Die Familiengeschichte der Protagonistin wird im Zeichen der Matrilinearität erzählt (vgl. Schweiger 2012: 166). Obwohl die aus der UdSSR stammende Familie traditionellerweise patriarchalisch geprägt ist, tritt der Vater nur nominell als Oberhaupt auf. In der neuen Heimat muss sich die Mutter um das finanzielle Wohl der Familie kümmern, damit sich ihr Mann der Malerei widmen kann. Somit übernimmt sie die Rolle der Hauptversorgerin. Im Mittelpunkt der Familienkonstellation steht allerdings die Großmutter Ada, die das Geheimnis über die jüdische Identität der Familie birgt (vgl. Willms 2012: 126). Der leitmotivische Satz »Die Zahl ist das Wort und das Wort ist das Wissen und das Wissen ist die Macht« (Rabinowich 2011: 41) offenbart ebenfalls, dass gerade die Großmutter Ada die tatsächliche Macht über die Familie hat. Allein sie verfügt über das Wissen, das den übrigen Familienmitgliedern im Laufe beinahe der gesamten Handlung verheimlicht bleibt (vgl. ebd.: 127). In russischen Märchen weiß nur Baba Yaga, wo das allheilende Wasser des Lebens zu finden ist und wie der Held seine Aufgaben zu lösen hat (vgl. Gobrecht 1985: 106). In Spaltkopf übernimmt die Großmutter Ada die Rolle der Allwissenden; somit trägt sie ebenfalls wie andere weibliche Figuren im Roman eine der Eigenschaften von Baba Yaga in sich. Erst kurz vor Adas Tod erfährt die Ich-Erzählerin rein zufällig von der jüdischen Identität ihrer Großmutter (vgl. Schweiger 2012: 170).

Interessant ist, dass die beiden Großmütter Mischkas als willensstarke Persönlichkeiten auftreten, die sich andere Familienmitglieder unterordnen. Die Ich-Erzählerin beschreibt die matrilineare Struktur ihrer Familie sehr treffend: »Der weibliche Kosmos ist mir nicht unbekannt: meine beiden Großmütter bilden zwei Dynastien im Zeichen des Matriarchats.« (Rabinowich 2011: 93) Die Großmutter väterlicherseits, Baba Sara, ist eine Frau vom Lande, die keine großen Ansprüche an Kunst und Literatur stellt. Anders sieht es bei Mischkas Großmutter mütterlicherseits, Ada, aus. Als Tochter eines Konditoreibesitzers hat sie sich zur angesehenen Universitätsprofessorin hocharbeiten können: »Sie hatte die Schule mit Auszeichnung beendet und sofort an der Universität inskribiert.« (Ebd.: 98) Ada spricht von Kindheit an Deutsch und ist »Autorin mehrerer wissenschaftlicher Bücher« (ebd.). Somit repräsentiert die Großmutter mütterlicherseits die rationale Seite des weiblichen Familienkosmos.

Im Gegensatz zu Ada steht Baba Sara in einer engen Verbindung mit dem Volkstümlichen. Die Art und Weise, wie Baba Sara beschrieben wird, rückt diese Frauenfigur an die Grenze des Irrationalen: Sie trägt einen hüftlangen Zopf, pflegt abends Tarotkarten zu legen und trennt sich nie von ihrem Kaftan mit roten Rosen (vgl. ebd.: 95f.). Die Enkelin rühmt ihre Großmutter Sara als eine »machtvolle Alchemistin der Küche« (Ebd.: 93) und weiß, dass diese eine heimliche Kettenraucherin ist. Trotz ihrer Ungebildetheit ist Baba Sara weise. Sie ist die einzige in der Familie, die Jiddisch spricht, »eine Sprache, die kein vernünftiger Mensch, kein Literat je in den Mund nehmen würde.« (Ebd.: 97) All diese Attribute rücken die Großmutterfigur an die Grenze des Mythischen und bestätigen, dass ihre Fähigkeiten weit über das logische Denken und Wissen hinausreichen. Nicht von ungefähr wird darauf hingewiesen, dass die Großmutter Sara ihre Haare offen trägt, wenn sie Tarotkarten legt. In der russischen Tradition wird das Tragen von offenen Haaren bei einer älteren Frau als äußerst unanständig angesehen. Dies ist mit dem slawischen Aberglauben verbunden, dass die Frau über die offenen Haare in Kontakt mit bösen Geistern und dämonischen Kräften treten kann. Deswegen war es unter Frauen üblich, die Zöpfe während der Wahrsagereien zu entflechten (vgl. Andreev 2000: 191). Somit verkörpert die Großmutter Sara die mystische Seite der weiblichen Familienkraft. Jedes Mal, wenn die Ich-Figur von ihr spricht, benutzt sie die russische Anredeform Baba Sara, was, wie bereits erwähnt, dem Klang nach an den Namen der russischen Hexe Baba Yaga erinnert. Hingegen wird die andere Großmutter ausschließlich Großmutter Ada genannt.

Die Ich-Erzählerin Mischka scheint die weibliche Urkraft von beiden Großmüttern geerbt zu haben. Großmutter Sara umhüllt ihre Enkelin mit »weiche[r] Wärme« (Rabinowich 2011: 93) bei der letzten Umarmung der beiden; Großmutter Ada sorgt eifrig für ihre Bildung. Ihrem Äußeren nach ist Mischka fast ein Ebenbild von Baba Sara (vgl. Schweiger 2012: 166). Sie weist selbst auf diese Tatsache hin: »Baba Sara ist mir so ähnlich, dass ich bereits mit sieben Jahren weiß, wie ich mit fünfundsechzig aussehen werde.« (Rabinowich 2011: 24) Die äußerliche Ähnlichkeit zwischen der Großmutter und der Enkelin spiegelt sich später in der Ähnlichkeit zwischen Mischka und ihrer Tochter wider (vgl. Schweiger 2012: 166). Mit der Großmutter Ada weist die Hauptheldin ebenso eine auffällige Gemeinsamkeit im Aussehen auf: »Ich trage den verhassten Pagenkopf, den Fluch der Familie. Meine Großmutter Ada trägt ihn in Hellrot, meine Mutter rabenschwarz.« (Rabinowich 2011: 18) Dabei wird in Mischkas Familie nicht nur der gleiche Haarschnitt getragen, sondern auch eine fast obsessive Gewohnheit, sich ständig im Spiegel anzusehen und sich auffällig zu schminken, von einer weiblichen Generation zu der anderen weitergegeben.

Signifikant ist, dass beide Großväter der Ich-Erzählerin zum Zeitpunkt der Handlung nicht mehr am Leben sind und der Vater Lev nur nominell als Familienoberhaupt gilt. Er ist zwar der älteste Mann in der Großfamilie, der sich mit der Zeit zu einem richtigen Tyrannen entwickelt, hat aber eine viel zu enge Bindung an seine Mutter. Er zerbricht an ihrem Tod und scheitert an der Emigration. Von Heimweh und Trauer geplagt, kehrt Mischkas Vater nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in seine Heimatstadt zurück, wo er bald darauf stirbt (vgl. Willms 2012: 133). So verblasst die Vaterfigur im Schatten der beiden großmütterlichen »Urgewalten« (Rabinowich 2011: 99).

Die Hauptfigur selbst lässt auch keine dominante männliche Figur in ihr eigenes Leben eintreten. Ihren Ehemann Franz braucht sie nur als Rechtfertigung vor sich selbst, da sie sich durch ihn eine endgültige Integration in die österreichische Gesellschaft erhofft. Er braucht sie ebenfalls nur als Rechtfertigung, allerdings vor der Welt, um seine Homosexualität zu tarnen (vgl. ebd.: 157). Obwohl die beiden eine Tochter bekommen, endet diese Ehe mit einer Scheidung. Alle anderen Männer und Liebhaber Mischkas, die ab und zu im Roman erwähnt werden, bleiben gar namenlos. Nachdem Mischkas Versuch scheitert, sich in der Rolle als Ehefrau zu verwirklichen, zieht sie wieder in die Wohnung ihrer Mutter ein. Somit wird der weibliche Kosmos innerhalb der Familie wieder hergestellt: »Wieder ist die Familie, wie es sich gehört: Mutter, Tochter, Enkelin.« (Ebd.: 175) Diese dreifache Ähnlichkeit und die Tatsache, dass die Frauen ihr Leben viel leichter ohne Ehemänner meistern, ruft wiederum die Assoziation vom Mythos der russischen Hexe Baba Yaga als dreifaltiger Gestalt der Urmuttergöttin hervor (vgl. Millner 2012: 316). Im Fall von Mischka scheint die Annahme der feministischen Kulturtheoretikerin Luce Irigaray, der Weg der Frau zu ihrem Selbst führe notwendig über die Mutter, bestätigt zu sein. Denn jede Frau hat eine Mutter, eine Großmutter, eine Urgroßmutter und soll ihre Identität in dieser Genealogie wiederfinden und festigen (vgl. Frei Gerlach 1998: 83). Nach dem Tod der Großmutter Ada restauriert Mischka durch die Geburt ihrer Tochter diese Dreifaltigkeit wieder.

Die Mutter der Ich-Erzählerin, Laura, stellt ein unabdingbares Glied in der weiblichen Generationenkette dar, bleibt aber, solange ihr Mann am Leben ist, einigermaßen im Hintergrund. In ihrer Tochter sieht sie eine heranwachsende Rivalin. Sie gibt ihre Beschäftigung mit der Malerei auf und bringt ein zweites Kind zur Welt im Glauben, dadurch den Status als Familie aufrechterhalten zu können. Sie zieht sich im neuen Land zurück, ohne jedoch ihren Ehemann in seinem Konservatismus zu unterstützen (vgl. Willms 2012: 133f.). Auch im Verhältnis zu ihrer Mutter zeigt sich Laura kaum als eine starke Persönlichkeit. Sie versucht ihr Leben lang, deren Erwartungen gerecht zu werden, doch nach dem Tod ihrer Mutter muss sie verbittert feststellen: »Aber alles war ihres [der Großmutter Ada; Y.R.], alles, alles. Das erste Kind, das zweite Kind. Sogar der Schwiegersohn. Die ganze Familie.« (Rabinowich 2011: 175) Das Bestreben von Laura, eine gute Tochter zu sein, führt dazu, dass sie die bestimmende Position der Großmutter Ada innerhalb der Familie bedingungslos akzeptiert. Erst nachdem ihr Mann sowie ihre Mutter gestorben sind, kann sie sich von ihrer Erstarrung befreien und als eine unabhängige Frau entfalten. Bemerkenswert ist an dieser Stelle der Rollentausch zwischen Mutter und Tochter. Während sich die Erzählfigur in den familiären Raum zurückzieht, entdeckt ihre Mutter eine »neue, selbstbewusstere Dame« in sich und fängt an, die Außenwelt zu erkunden: »Sie [die Mutter; Y.R.] scheint die Nacht zu entdecken. […] Bald ist sie öfters unterwegs als ich«. (Ebd.: 176) Mischka bleibt hingegen öfter zu Hause und kümmert sich um ihre Tochter und ihre jüngere Schwester.

Die Protagonistin nimmt mit der Geburt ihrer Tochter ihre Stelle als Mutter im »weibliche[n] Kosmos« der Familie ein. Schwangerschaft und Mutterschaft verhelfen der Heldin dazu, ihre innere Gespaltenheit zum Teil zu überwinden und ihren Platz in der Welt zu finden. Jetzt muss sie die Verantwortung für eine andere Person übernehmen: Nicht sie, sondern ihr Kind steht nun im Mittelpunkt. Mischka nimmt ihre Rolle als Mutter an und sorgt dafür, dass sich ihre Tochter in Wien im Gegensatz zu ihr daheim fühlt (vgl. Willms 2012: 136): »Ihr Schritt [der Tochter Mischkas; Y.R.] ist sicher. Das ist mein Verdienst, auf den ich stolz bin. Ich habe ihr den Boden unter den Füßen geschenkt. Die Wurzeln, die mir nicht sprießen wollen.« (Rabinowich 2011: 180) Obwohl Mischka es trotz aller Bemühungen nicht schafft, sich in Österreich komplett zu integrieren, ist sie stolz darauf, ihrer Tochter das Gefühl des Verwurzeltseins gegeben zu haben (vgl. Hausbacher 2010: 33). Auf diese Weise wird im Roman die tragende matrilineare Beziehung, die Mutter-Tochter-Beziehung mit ihrem praktischen, sozialen und mythischen Umfeld sichtbar (vgl. Göttner-Abendroth 2011: 185).

Besondere Beachtung verdient die Auflösung des Romans. Vor den Augen der Erzählfigur, die sich in der dunklen Wohnung ihrer Tante befindet, erscheint das Gesicht ihrer Tochter. Die Tatsache, dass Mischka sich während ihrer Reise nach Russland immer wieder an ihre Tochter erinnert, und die Anmerkung, dass Letztere auf sie wartet, sprechen für die positiven Ergebnisse der Selbstsuche. Sie hat sich als Mutter gefunden, jetzt muss sie sich um ihr Kind kümmern. Die Semiotikerin und Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva legt großen Wert auf die Mutterschaft an sich, durch welche die Frau zu ihrer Weiblichkeit und somit zu ihrer Identität gelange. Ihrer Ansicht nach wird die Frau erst durch die Schwangerschaft und Geburt eines Kindes zur Grenzgängerin zwischen Kultur und Natur (vgl. Cornejo 2006: 24).

Hinzu kommt noch, dass sich die Ich-Erzählerin am Ende vom Spaltkopf befreit. Sie sieht ihn in der spiegelnden Fensterscheibe, und das heißt, er hat keine Macht mehr über sie. Beim genauen Hinschauen löst er sich in den Petersburger Hinterhöfen auf. Obwohl es nicht explizit erwähnt wird, wird die Ich-Erzählerin die Grenze noch einmal überschreiten und nach Wien zurückkehren. Diese Annahme wird durch die Schlussszene in der Lektion vier des ersten Teiles bestätigt. Die Ich-Erzählerin steht auf einem Bergvorsprung, blickt in die Tiefe auf die Rhône und zieht die Schlussfolgerung: »Ich bin nicht daheim. Ich bin angekommen.« (Rabinowich 2011: 12) Abschließend kann man sagen, dass die Reise der Protagonistin nach St. Petersburg den Zerfall ihrer alten Wertvorstellungen und die Etablierung neuer Werte zur Folge hat. Dies geschieht, weil die Heldin ihre Nichtzugehörigkeit zur alten Heimat erkennt und sich auf ihre Rolle als Mutter zurückbesinnt.

Schlussbemerkungen

Die Autorin Julya Rabinowich schreibt die Geschichte einer russisch-jüdischen Familie während ihrer Emigration aus der UdSSR nach Österreich. Im Zentrum der Handlung steht die Ich-Erzählerin Mischka, die rückblickend über ihren Weg von der sowjetischen Kindheit bis zu ihrem Muttersein in Österreich berichtet. Interessanterweise wird die Familiengeschichte im Zeichen der Matrilinearität erzählt.

Die Dominanz der weiblichen Familienmitglieder bezeichnet die Protagonistin als einen »weiblichen Kosmos« (Ebd.: 181). Damit weist sie auf die generationsübergreifende Struktur Mutter – Tochter – Enkelin hin, die im Laufe des Romans konstant bleiben muss. Aus diesem Grund bilden die beiden Großmütter den eigentlichen Kern der Familie: Die Großmutter väterlicherseits, Baba Sara, verkörpert durch ihr volkstümliches, beinahe mystisches Auftreten den irrationalen Ursprung der weiblichen Kraft, während die Großmutter mütterlicherseits, Ada, als hochgebildete, anspruchsvolle Frau durch die Dominanz des Verstandes determiniert ist. Insofern werden beide Großmütter von Mischka als weibliche Urgewalten empfunden, die andere Familienangehörige zu manipulieren wissen.

Die Heldin scheint die weibliche Urkraft von beiden Großmüttern übernommen zu haben. Bestätigt wird das nicht nur durch ihre äußere Ähnlichkeit mit Baba Sara und Großmutter Ada, sondern auch dadurch, dass Mischka in ihrem Leben ohne eine dominante Ehemannfigur auskommt. Mit der Geburt ihrer Tochter nimmt sie nun ihren verdienten Platz innerhalb des weiblichen Familienkosmos ein.

Ein weiterer Aspekt, der zum Verstärken der weiblichen Dominanz im Roman beiträgt, ist die Fülle an intertextuellen Bezügen auf russische sowie westeuropäische Märchen. Im Verlauf der Handlung pflegt Mischka sich immer wieder mit der einen oder anderen Märchenfigur zu vergleichen bzw. zu identifizieren. Durch die Selbstidentifikation mit unterschiedlichen weiblichen Märchengestalten versucht die Heldin, ihre eigene Rolle als Frau kritisch zu betrachten.

Die weibliche Märchengestalt, welche die Identität der Ich-Erzählerin am meisten prägt, ist die Hexe aus der russischen Mythologie, Baba Yaga. Die Tatsache, dass sie in der altslawischen Tradition als dreifaltige Göttin auftritt, spielt überdies eine ausschlaggebende Rolle bei der Neudefinition der Familie. Die Dreifaltigkeit von Baba Yaga, deren drei Hypostasen junge Frau, Mutter und Greisin sind, spiegelt sich in der matrilinearen Struktur der Familie Mischkas wider. Nachdem die patriarchalische Familie infolge der Emigration zerfällt, bildet sich eine neue heraus, die aus Mutter, Tochter und Enkeltochter besteht.

Die Ich-Figur setzt sich kontinuierlich mit dieser mythischen Gestalt gleich. Dabei wandelt die Heldin, indem sie sich als Baba Yaga Girl bezeichnet, nicht nur den Namen der Hexe um, sondern eignet sich eine Reihe ihrer Eigenschaften an. Die Ich-Erzählerin empfindet sich als eine ambivalente Person, die zwischen zwei Welten pendelt, wodurch sie sich selbst an Baba Yaga erinnert. In ihrer Vorstellung über ihr eigenes Zuhause greift Mischka ebenfalls auf die traditionelle Beschreibung des Hexenhauses zurück: Häuschen auf Hühnerbeinchen. Auch in einigen anderen Lebenssituationen wird die Ich-Erzählerin vom Hühnerbein als Attribut von Baba Yaga begleitet. Dank der Selbstidentifizierung mit der Hexenfigur bestätigt Mischka zusätzlich ihre Position im weiblichen Kosmos der Familie.

Anmerkungen

1 | »Ach, so ist sie, die Herrin des Kupferberges! Falls der schlechte Mensch ihr begegnet, erwartet ihn Unheil, falls der Gute – auch wenig Freude.« (Übers. Y.R.)

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