Working with Borders
Keywords:border experience; literature of liminality; transgressive moves; verbal and existential thresholds
Wer hätte noch vor Monaten geahnt, dass das Thema ›Grenzen‹ solchermaßen in den Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit rücken würde, wie dies durch die Flüchtlingskrise geschehen ist. Schon steht das zu den großen Errungenschaften der Europäischen Union gehörende ›Prinzip Schengen‹ zur Disposition, das die Grenzkontrollen entsorgte – man glaubte: ein für allemal, wobei dieses Prinzip nur das einholte, was vor dem Ersten Weltkrieg gang und gäbe war –, passlose Freizügigkeit, von Stefan Zweig in Die Welt von Gestern so eindrücklich beschrieben. Die Fernsehunterhaltungsvariante und Frühform der transnationalen Spaßgesellschaft firmierte unter dem Namen: Spiel ohne Grenzen, ein länderübergreifender spielerischer Wettbewerb zwischen Städten, andernorts Jeux Sans Frontières, Games without frontiers, Giochi senza frontier oder Spel zonder grenzen genannt. Spielerisch erinnerte man sich daran, dass Städte (oder im griechischen Sinne die poleis) und nicht Staaten Sinnkerne und -träger des europäischen Bewusstseins gewesen sind.
Und jetzt? Es scheint, als seien wir durch die syrische Flüchtlingskrise an die Grenzen der Grenzenlosigkeit gestoßen. Anders gesagt: Kehren die Schlagbäume von einst wieder in Form von gesamtgesellschaftlichen Belastungsgrenzen, jene der Integrierbarkeit, Grenzen der Aufnahmekapazitäten der sozialen Systeme der ›Gastländer‹? Dabei kommt wiederum der Erweiterung und Relativierung auch dieser Grenzen, gerade jener der allseitigen Lernfähigkeit im Sinne einer polyethnischen Kultur wechselseitigen Verstehens, besondere Bedeutung zu.
Keine Frage stellt sich somit akuter als jene nach dem Beitrag interkultureller Wissenschaften zur Notwendigkeit von Integration und in diesem Fall gerade einer sich interkulturell verstehenden Germanistik – nun freilich nicht als stiefmütterlich behandelte ›Auslandsgermanistik‹ (vgl. Heimböckel 2015), sondern als inländische Kulturwissenschaft verstanden. Konkret gesprochen kann dies nur eine fundamentale Aufwertung der Fachrichtung Deutsch als Fremdsprache bedeuten.
Zugegeben, der Weg ist lang von der Lebenswirklichkeit in Flüchtlingsunterkünften zu ersten Ansätzen kultureller Hybridisierung. Aber Anfänge werden gemacht, so komplex die kulturellen Differenzen, psychologischen Voraussetzungen und die jeweilige Bewusstseinslage der Betroffenen auch sind. Lange genug haben wir theoretische Modelle zur Frage einer Existenz in der »neuen Unübersichtlichkeit« erörtert (vgl. Habermas 1985). Über das nötige Rüstzeug sollten wir mithin verfügen, um mit dieser realen Unübersichtlichkeit der interkulturellen Verhältnisse konstruktiv umgehen zu können. Brisant ist dabei die Erfahrung mit (Hemm-)Schwellen, was eine intensivierte Form von »Schwellenkunde« (Heimböckel 2015) zwingend erforderlich macht (vgl. Görner 2001).
Seine Lebenserinnerungen hatte Ralf Dahrendorf mehrdeutig Über Grenzen genannt. Die darin ausgesprochene Einsicht über Grenzen ist in jeder Hinsicht von überpersönlicher Bedeutung: »Grenzen schaffen ein willkommenes Element von Struktur und Bestimmtheit. Es kommt darauf an, sie durchlässig zu machen, offen für alle, die sie überqueren wollen, um die andere Seite zu sehen.« Und er ergänzt, das liberale Verhältnis zur Idee und Realität von Grenze klärend: »Eine Welt ohne Grenzen ist eine Wüste; eine Welt mit geschlossenen Grenzen ist ein Gefängnis; die Freiheit gedeiht in einer Welt offener Grenzen.« (Dahrendorf 2003: 15)
Wie mit Grenzen umgehen? Psychologisch, ludistisch, existentiell, staatsrechtlich? Bedeutet »Arbeit an oder mit Grenzen« immer auch Formen des Übergangs zu schaffen oder sich auf ein Interagieren mit Grenzen (wieder) einzustellen? Noch immer lassen sich die probatesten Paradigmen für den Umgang mit Grenzen in ästhetisch konditionierten Kontexten finden, denn die Künste verdanken sich nun einmal besonderen Sensorien, geschärftem Materialbewusstsein und der Fähigkeit des Menschen zur schöpferischen Transformation oder Eigensetzung, die sich wiederum eines (inter-)kulturspezifischen Repertoires bedient – je nach Veranlagung und geistiger Disposition der Kunstschaffenden.
Kunst schafft Räume und damit vermittels Gestaltung auch Grenzen. Worte grenzen ebenso aneinander wie Flächen, Perspektiven oder Takte, wobei die musikalische Komposition das partielle Aufheben der Taktgrenzen durch übergreifende Phrasierungen mit in ihre Struktur aufnimmt. »Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich’s grenzen / Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder«, lesen wir bei Ingeborg Bachmann (Bachmann 1998: 117). In diesen poetischen Verhältnissen gewährt das Aneinandergrenzen von Verschiedenheiten ihnen Möglichkeiten zu einer neuen Selbstbestimmung.
Grenz-Räume sind seit homerischen Zeiten in der Kunst erdacht und entworfen worden. Die Virtualität der nichtdigitalen Art gilt somit als primäres Ergebnis und Medium der Kunst. Im digitalen Zeitalter mit ihrer scheinbar zügellosen Herrschaft der Algorithmik oder des siliziumgestützten Dauerhochrechnens hat sich die Technik der Künste bemächtigt, am sinnfälligsten in der technomusikalischen Avantgarde sowie der Imagologie des Rechners nebst entsprechenden Installationen in der darstellenden Kunst. Gestalten scheint eine Frage des Programmierens geworden zu sein. Der avancierte homo faber nennt sich digitaler Konstrukteur oder Netzwerker. Das virtuelle Netzwerk unserer Tage erweist sich dabei im Wesentlichen als eine digitale Realisierung frühromantischer Verknüpfungstheorien, die ihrerseits das Umwandeln von begrifflich-disziplinären Grenzen zum Inhalt hatten.
Ohnehin ist der Eindruck entstanden, als bestünden Grenzen in der virtuellen Ästhetik allenfalls noch als Spielformen. Das virtuell Scheinbare erweist sich zunehmend als Ort eines dauernden Transitoriums, in dem sich unaufhörliche Verwandlungsprozesse abspielen (vgl. Baumgartner 2008; Weigand 2008). Daneben verblasst der Sinn für die existentielle Bedeutung der Grenze und ihrer Aufhebung. Hinzu tritt die Bejahung der »Auflösung der Form« durch die digitale Prozessualität, wobei dieser eher traditionelle Begriff der Ästhetik, der zumeist als Kritik an der Moderne eingesetzt worden ist, eine neue Bedeutung entfaltet, nämlich das Auflösen als produktives Öffnen von überkommenen Denk- oder Gestaltungsmustern und Strukturen (vgl. Heuberger 2008; Kahler 1971).1
Im literarischen Arbeiten dagegen überwiegt die Digitalisierung einstweilen nur bedingt – trotz des zunehmenden Schreibens im Netz, das sich gerade durch Grenzenlosigkeit definiert. Das Feld des Literarischen behauptet weiter den poetischen Raum als ein sprachlich bestimmtes, paradox gesagt: begrenztes Deutungskontinuum. Die Formel des Gurnemanz in Richard Wagners Parsifal bleibt hierbei elementar: »Zum Raum wird hier die Zeit«. Als pionierhafter Theoretiker dieses Zusammenhangs darf dabei weiterhin Gaston Bachelard angesehen werden, der mit seiner Poètique de l’éspace (1957) (vgl. Bachelard 2014) einem ganzen Forschungszweig vorgearbeitet hat (vgl. Günzel 2013; Schroer 2006). Für ihn war die Raumerfahrung im Alltag Voraussetzung für eine psychologisch ausgerichtete Phänomenologie, die von den »Intimitätswerten des inneren Raumes« ausgeht (Bachelard 2014: 30).
Doch hat sich inzwischen unser Wahrnehmungsverhalten gerade in Bezug auf Räume und Grenzen grundlegend geändert: Vollzogen hat sich womöglich die Rache des Programmierers am Träumer, der Maschine am Gebilde, der digitalen techné am ästhetischen Entwurf. Ausgerufen ist seit der Idee des Gesamtkunstwerks das Spiel mit den Grenzen. Bereits Lessings Laokoon fiel auf durch die nicht aufgehobene Spannung in seiner grundlegenden kunsttheoretischen Schrift zwischen der Bejahung des »freien Spiels der Einbildungskraft« und dem Aufzeigen von geschmacksbildenden Grenzen in den Künsten (Lessing 1974: 25).
Auch die technisch avancierte Abbildung von Wirklichkeit spürte, noch bevor sie Kunst wurde, Räume der besonderen Art auf, deren Grenzen sie buchstäblich mit ins Bild rückte: Gemeint ist die Frühphase der Photographie und zahlreiche Aufnahmen von David Octavius Hill (vgl. Schwarz 1931). Walter Benjamin hat darauf hingewiesen, dass viele »Bildnisse Hills auf dem Edinburgher Friedhof von Greyfriars entstanden« sind, den der Photograph wie ein »Interieur« behandelt habe, als einen »abgeschiedene[n], eingehegte[n] Raum, wo, an Brandmauern gelehnt, aus dem Grasboden Grabmäler aufsteigen, die, ausgehöhlt wie Kamine, in ihrem Innern Schriftzüge statt der Flammenzungen zeigen.« (Benjamin 1991: 373) Das Auge des Photographen Hill scheint sich, so legt Benjamin nahe, einen Rahmen gesucht zu haben, in den es sein Bild – ein offenkundiges Vergänglichkeitsmotiv – stellen konnte, wobei dieser Rahmen als Bildgrenze selbst Motiv des Aufgenommenen wurde.
Dagegen unterläuft im Schreiben über Grenzen als einem Raumphänomen die poetische Arbeit die traditionelle Zuweisung des Raumes an die bildende Kunst. Gleiches gilt für das kompositorische Herstellen von Klangräumen. Lessing hatte die Dichtung als Zeitkunst verstanden, da sie Abfolgen behandle; damit hob er wiederum die Grenze zwischen Dichtung und Musik als der Zeitkunst per se auf. Noch in Kompositionen der heutigen Avantgarde spielt diese Konstellation sogar eine motivische Rolle, wenn man etwa an Helmut Lachenmanns Consolation I denkt, eine Komposition, die mit Ernst Tollers Versen aus Masse Mensch arbeitet: »Gestern standst Du / An der Mauer. / Jetzt stehst Du / Wieder an der Mauer. / Das bist Du / Der heute / An der Mauer steht. / Mensch, das bist Du / Erkenn Dich doch / Das bist Du.« (Lachenmann 1996: 376)2 Es ist das poetische Beispiel einer Grenzerfahrung, die zur Selbsterkenntnis aufruft. Kompositorisch gesehen erweist sich diese »Mauer« jedoch auch als ein Anlass zur Grenzüberschreitung der zwölf Stimmen und vier Schlagzeuger«; der Trost liegt demnach in der klanglichen Aufhebung der Grenze. Das musikalische Material thematisiert die Mauer als Grenzerfahrung, aber transzendiert sie dabei.
Wer nach Grenzen fragt, versucht auch Übergänge auszuloten (vgl. Görner / Kirkbright 1999; Lamping 2001; Liessmann 2012). Denn im Transitorischen erweist sich der Grad der Durchlässigkeit oder Überwindbarkeit von Grenzen, wobei zu berücksichtigen ist, dass Grenzen verschwinden, aber auch wieder auftauchen können, insbesondere als mentale Grenzen; daher rührt die Rede von der ›Grenze im Kopf‹.
Vom schwellenhaften Verorten solcher Übergänge zehrt namentlich die sogenannte Migrationsliteratur, die inzwischen jedoch eher zu einem Gattungsklischee geworden ist. Denn Grenzen und Übergänge sind seit Ovid Themen des Schreibens über Exil, das uns zu Bewusstsein bringt, wie eng Schreiben und Migrieren seit je zusammenhängen. Im Erfahren von Grenzen und Ermitteln von Übergängen vollziehen sich Transformationen von Denkmustern oder -figuren, die gerade in kulturellen oder politischen Übergangsphasen verstärkte Aufmerksamkeit beanspruchen. »Erst wenn sich ein Übergang abzeichnet […], war es, im nachhinein, eine Verwandlung«, notierte Peter Handke in seinen Phantasien der Wiederholung (Handke 1996: 76).
Nicht alle Grenzen sind Grenzen im eigentlichen Sinne; mitunter markieren sie auch einen vorübergehenden Zustand, können ins Fließen geraten und so die Bildung von Übergängen erleichtern. Diese erkenntnistheoretische Einsicht lässt sich bis zu Leibniz’ Monadologie zurückführen, die zwischen unbewussten »Perzeptionen« und bewussten »Apperzeptionen« unterscheidet, Grenzverläufen also im Bereich der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit (Leibniz 1998: 16f.).3
Erzählte Wahrnehmungen von Grenzen haben den Vorteil der Anschaulichkeit. Als besonders ergiebig erweisen sich dabei drei markante Texte, die Joseph Roth zwischen 1919 und 1927 hierzu verfasst hat, wobei er durch den Akt des berichtenden Erzählens über Grenzen das Bizarre ihrer in diesem Falle unmittelbar nach 1918 plötzlichen Existenz überwinden zu helfen versuchte. Dabei erweist sich, dass das von Roth beschriebene Wechselverhältnis von Demarkation und Transzendierung in einem Sinnbild sprechenden Ausdruck findet. In der Episode »Blick nach Metz« aus dem Feuilleton »Wenn es an der Grenze gewesen wäre« steht nicht, wie zu erwarten, die deutsch-französische Grenze in Rede, sondern eine symbolische Binnengrenze anderer Art: Schaufenster in der Metropole Lothringens:
In diese Schaufenster legt man keine Ware, man »dekoriert« sie. Ein Apfel hinter ihrem Glas ist etwas anderes als ein Apfel in der Hand. Zwischen dem Gegenstand und meinem Aug’ steht das Fenster, eine kalte, durchsichtige Mauer. Sie ist aus Eis, nicht aus Glas. Die Schilder sind eine Art schwarzer Spiegel, die man in der Unterwelt gebrauchen kann. Ihren Buchstaben glaube ich das Gold nicht. Die Häuser haben nicht Fassaden, sondern Etiketten, keine Wände, sondern prima Verpackung (Roth 1989-1991: 774).
›Grenze‹ erweist sich hier als wahrnehmungspsychologischer Gegenstand, als Mauer aus Eis, freilich »durchsichtig«, potentiell aufhebbar, wobei die Betonung auf dem graduellen Unterschied im Materiellen liegt: Das Objekt hinter dieser durchsichtigen Wand veränderte seine Qualität, wenn es haptisch verfügbar wäre. Die Szene beschreibt eine Grenze innerhalb einer Grenzregion, aber in inhaltlichen Zusammenhängen, die man nicht in erster Linie mit diesem Ort (Metz) in Verbindung bringen würde. Daher auch die im Irrealis gehaltene Überschrift des Feuilletons.
Auffallend an dieser Beschreibung ist jedoch auch der Verweis auf die »Unterwelt« als einer existentiellen Grenzregion, wobei diese Stelle impliziert, dass jede Art Grenze eine existentielle Bedeutung haben kann. Was hier nicht näher ausgeführt werden soll, wäre als ›Hadesfiktion‹ zu bezeichnen, ein literarisches Motiv, das die Grenze zwischen Leben und Tod durchlässig erscheinen lässt und damit die Umkehrbarkeit des Unumkehrbaren ästhetisch hypostasiert (vgl. Görner 2014).
Im Kontext von Arbeiten, die Grenze als semantischen, ideologischen oder ästhetischen Gegenstand bestimmen (vgl. Görner / Kirkbright 1999), hat sie sich mehr und mehr als eine poetologische Figur erwiesen. Der Figurativität der Grenze entspricht ihre Personifikation in der Gestalt des Grenzgängers (vgl. Görner 1996). Sie ist von ihrer Entstehung her zwischen den sogenannten Epochen angesiedelt; ihr Betätigungsfeld ist das Dazwischen – auch im räumlichen Sinne. Dem Grenzraum gewann Uwe Kolbe noch 1986 eine ganze Gedichtfolge ab, Bornholm II, mit explizitem Bezug auf die Kleingartenanlage »Bornholm« am Grenzübergang Bornholmer Straße nach Berlin (West). Die Pointe der Sammlung ist, dass sie nur mittelbar Grenzen thematisiert, sofern man Gedichte nicht ihrerseits als sprachliche Grenzräume versteht. In einem Gedicht (Dröhnende Länder) schaukelt das poetische Ich in Zügen »von Rand zu Rand«, wobei es sich durch den bloßen Namen des für dieses Ich unpassierbaren Grenzübergangs seine Entgrenzung imaginiert: »Wir schweifen aus / in Mohn, in Korn, in Rausch. / Ich flieg einen nördlichen Sonnenbogen: / Kopenhagen, Århus, Bornholm. Aber bald.« (Kolbe 1987: 43)
Im Grenzübergang gewinnt das Transitorische einen konkreten Topos. Aus der Sicht des poetischen Ichs in Bornholm II blieb dieses Transitorium im Jahre 1986 jedoch noch auf unabsehbare Zeit Fiktion. Drei Jahre später und Grenze sowie Grenzübergang gingen bereits in das Stadium ihrer Musealisierung über. grenzmuseum 1.1 nennt Thomas Kling ein Gedicht, in dem die Exponate des Museums bereits zu zerfallen beginnen (»streusand entfällt diesen gesichtern«, Kling 1996: 33).
Dem Begriff des Transitorischen wohnt das Phänomen der (Ver-)Wandlung inne. Fragt man nach einer Rhetorik oder techné des Übergangs im literarischen Sinne (vgl. Görner 2001: 121-132), dann verbirgt sich in dieser Frage auch das Problem, was sich in diesem Übergehen wie verändert. Was nimmt man vom Diesseits ins Jenseits der Grenze mit und was geschieht damit im Transitorium? In Grenzerzählungen kann dies zu einem Tempuswechsel in der erzählten Zeit führen; Begriffe können ihre Bedeutung modifizieren, wenn nicht ganz in ihrem Gebrauch ändern; und (manche) Charaktermerkmale oder psychische Dispositionen des Protagonisten können sich verändern.
Ein Weiteres kann geschehen: Die Grenzen werden verinnerlicht; ein Übergang wird nur zum Schein vollzogen. Hierfür gibt es gerade in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zahlreiche Beispiele. Ich erwähne hier nur dasjenige Exempel von Marica Bodrozic. Sie selbst scheint in ihrem Schreiben die multiplen Grenzen des Balkan internalisiert zu haben, eine Erfahrung, die sie mit manchen ihrer Protagonisten teilt, wobei sich die konkrete Topographie dieser Grenzen auflöst und diese Grenzen eine andere Wertigkeit gewinnen, die deutlicher den Persönlichkeitscharakter prägen. In ihrem Roman Das Gedächtnis der Libellen zum Beispiel erweist sich Ilja, der chamäleonhafte, irrlichternde Geliebte der Ich-Erzählerin Nadeshda, als ein von inneren Grenzen bestimmter Charakter: »Ilja hat die Grenzen immer bei sich gehabt, er hat sie in seinem Wesen mitgebracht. Er selbst war die Grenze« (Bodrozic 2010: 73). In der Liebe zu Ilja, die zunächst grenzenlos scheint, erfährt Nadeshda ihrerseits Grenzen und etwas über ein Dazwischen, in dem es nie wirklich zu einer transitio kommt. Die Protagonistin zieht aus ihren Erfahrungen den folgenden Schluss: »[L]ernen sollst du etwas über die Grenzen dazwischen, über die Menschen und ihre Hände, über die Fingerkuppen, die dich berühren, und darüber, welche Macht sie über dich haben, diese Fingerkuppen mit ihren Archiven aus Kindheiten, Wolken, Mutterküssen und Strandausflügen.« (Ebd.: 74) Für sie, Nadeshda, kommt es immer mehr darauf an, die Grenze des Spiels zu kennen, des zwischenmenschlichen und der Kommunikation, also des stets riskanten Spiels mit Worten.
Bodrozics Erzählerin hat Grenzen internalisiert. Dazu gehört auch die (Selbst-)Begrenzung ihrer Vorstellungskraft, die wiederum zu deren Intensivierung führt (vgl. ebd.: 118f.). Doch auch das Umgekehrte gilt für sie: »Meine Imagination hat mir präzisere Grenzen gesteckt« (ebd.: 195). Auch wenn sie ihre »utopische Stadt« imaginiert (etwa Sarajevo, Chicago, Paris und Berlin), dann gehören zu dieser Vorstellung wie selbstverständlich »Grenzposten«, die immer auf der richtigen Seite zu stehen scheinen (ebd.: 202f.).
Ob Marica Bodrozic, Ilja Trojanow oder Herta Müller – Autoren aus dem Südosten Europas, dem Banat oder Balkan, sie arbeiten geradezu unwillkürlich mit dem Motiv der Grenze, ihrem Verschwinden und Wiederauftauchen. Es gilt für sie, zumindest bedingt, was Elias Canetti an Robert Musil festgestellt hat: Er habe »zwischen allen Dingen Grenzen« gezogen (Canetti 1988: 157)4 – sichtbare und unsichtbare. Es handelt sich dabei um Zeichen der Abgrenzung und Demarkationslinien eines Raumes der Intensitäten, sei es der Wahrnehmung oder Beschreibung von Gefühlen oder Objekten, Landschaften oder Erinnerungen.
Grenze und Übergang sind einander ein ›Vorwurf‹; wechselseitig bedingen sie einander, denn ein Übergang kann immer wieder zu einer neuen Grenze führen oder durch externe Einflüsse selbst zu einer solchen werden. Mit der Grenze verhält es sich entsprechend. Der ästhetische Ort zwischen Räumen aber ist die Schwelle, wo selbst die Zeit zum Stehen kommt, wie in der Erzählung Der Mann auf der Schwelle von Jorge Luis Borges (vgl. Borges 1981: 117-124). »Uralt« ist dieser Mann und mit jenen Figuren verwandt, die Kafka vor Türen und Toren zu postieren pflegte. Es sind Grenzgestalten, für die das Wort »Gegenwart« nur noch »ein unbestimmtes Geräusch« (Borges 1981: 119) ist, also seinerseits ein Dazwischen – nämlich zwischen Klang und Stille. Deswegen kann der Ich-Erzähler von dieser Schwelle aus auch einen Blinden erkennen, der »mit einer Laute aus rötlichem Holz« in einen Hof tritt, Musik verheißend, aber für die Dauer der Geschichte stumm bleibend (ebd.: 120). An der Schwelle gehen die sinnlichen Wahrnehmungen ineinander über, und es bedarf eines erfahrenen Blickes für Grenzen, um diese Übergänge überhaupt noch als solche zu erfassen. Doch eine solche Art des Wahrnehmens darf inzwischen wohl als die eigentlich ästhetische Grenzerfahrung gelten.
1 | Den Begriff prägte ursprünglich Erich von Kahler in seinen Princeton-Vorlesungen von 1967, ein Jahr später unter dem Titel The Disintegration of Form in the Arts veröffentlicht.
2 | Lachenmann hat sich in verschiedenen Kontexten wiederholt auf diese poetische Sequenz bezogen.
3 | Darauf aufbauend hat Erich Kleinschmidt den wortfiguralen Ansatz einer »Aufmerksamkeit der Begriffe« entwickelt, der den Intensitätscharakter von semantischen Grenzerfahrungen thematisiert. Vgl. Kleinschmidt 2011.
4 | Canetti behauptete, dass Musil solche ›Grenzen‹ auch um sich selbst gezogen habe, eine These, die man freilich nicht auf die im Text genannten Autoren übertragen möchte.
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