In 2005, the philosopher Byung-Chul Han first employed the term »hyperculturality« to describe a development in today’s society characterized, in his view, by a radical dissolution of the basic orienting categories of space, time, and identity. Against the backdrop of the observation that texts featuring hypercultural tendencies in Han’s sense may be found in contemporary German poetry, this article brings the concept »hyperculturality« to bear on literary theory. In a sample analysis, it studies Daniel Falb’s poem »sieh diesen handlungsfamilien...«, from 2009, in which hypercultural characteristics can be detected, by means of the aforementioned categories – space, time, and identity. In order to highlight the particularities of the ›hypercultural‹ poem, the analysis is preceded by the short interpretations of two other poems, that may be termed intercultural (José F. A. Oliver: Stühle, 1987) and transcultural (Yoko Tawada: Ein Gast, 1990), respectively. To this end, said concepts shall not be understood as genre titles, but rather as heuristic terms.
Title:Hypercultural Poetry? Observations on Contemporary German Poetry
Keywords:intercultural; transcultural; hypercultural; contemporary poetry; Falb, Daniel (geb. 1977)
Seit einigen Jahren werden in den Kultur- und Literaturwissenschaften die Begriffe »Interkulturalität« und »Transkulturalität« intensiv diskutiert. Dabei wurde den narrativen Gattungen bisher mehr Aufmerksamkeit gewidmet als der Lyrik, obwohl sich auch hier vielfältige inter- und transkulturelle Schreibweisen nachweisen lassen. Gerade in der Lyrik der Gegenwart gibt es zahlreiche Texte, die man als inter- oder transkulturell bezeichnen kann.
Im Jahr 2005 brachte der Philosoph Byung-Chul Han in kritischer Auseinandersetzung mit den Konzepten der Inter- und Transkulturalität einen neuen kulturtheoretischen Begriff in die Diskussion, nämlich den der »Hyperkulturalität« (Han 2005). Das Konzept dient Han dazu, eine globalisierte, weltweit vernetzte und vom Internet geprägte Gesellschaft zu beschreiben, die keine Grenzen mehr zwischen dem Eigenen und dem Fremden kennt und somit auch weder kulturelle Dichotomien noch ›dritte Räume‹ oder Transferprozesse zulässt. Da Han sich explizit auf die Konzepte Inter- und Transkulturalität bezieht, die sowohl als Beschreibungskategorien für gesellschaftliche Entwicklungen als auch als theoretische Begrifflichkeiten für die Analyse und Interpretation literarischer Texte dienen, liegt es nahe, auch das Konzept der Hyperkulturalität in die Literaturwissenschaft zu übertragen und zu versuchen, es für die Interpretation literarischer Texte fruchtbar zu machen.1
Tatsächlich lassen sich in der deutschsprachigen Lyrik der Gegenwart Texte finden, für die der Terminus der Hyperkulturalität als Beschreibungskategorie als sehr treffend erscheint. Es bleibt abzuwarten, ob diese Texte den Anfang einer neuen literarischen Entwicklung bilden oder ob es sich hierbei nur um punktuelle Erscheinungen handelt.2 Als Phänomen der Gegenwart ist die Existenz dieser Gedichte jedoch höchst signifikant, weshalb es sich lohnt, sie genauer zu untersuchen und zu klären, worin der Unterschied zu inter- und transkulturellen Schreibweisen besteht.
Im vorliegenden Beitrag wird zunächst der Versuch unternommen, die Begriffe Inter-, Trans- und Hyperkulturalität theoretisch abzustecken. Um dann das Spezifische der ›hyperkulturellen Gedichte‹ verdeutlichen zu können, werden drei Gedichtanalysen vorgenommen: Zwei kürzere Analysen widmen sich jeweils einem inter- und transkulturellen Gedicht, eine ausführlichere Untersuchung stellt exemplarisch ein hyperkulturelles Gedicht vor.
Die Interkulturalitätsforschung entstand im deutschsprachigen Raum Mitte der 1980er Jahre im Kontext des Faches Deutsch als Fremdsprache und implizierte daher ein praktisches und didaktisches Anliegen, das auf interkulturelle Kommunikation abzielte, während man die seit den 1990er Jahren diskutierte Transkulturalitätsforschung3 demgegenüber als rein theoretische Disziplin bezeichnen könnte. Die Abgrenzung zwischen beiden Begriffen ist nicht strikt vorzunehmen, wie auch manche gegenseitige Vorwürfe eher auf Unkenntnis oder Ablehnung beruhen, als dass sie in der Sache begründet wären (vgl. Heimböckel / Weinberg 2014). Da nun aber beide Begriffe existieren und gebraucht werden, soll hier versucht werden, diese Tatsache für die Analyse von Texten fruchtbar zu machen. Zwar handelt es sich nur um geringfügige Unterschiede, und inter- und transkulturelle Gedichte sind keineswegs als zwei verschiedene Gattungen zu denken, dennoch soll versucht werden, die Termini so zu definieren, dass sie als heuristische Begriffe für die Textanalyse anwendbar werden.
Die interkulturelle Literaturwissenschaft hat sich zum Ziel gesetzt, das »interkulturelle Potenzial von Literatur« (Leskovec 2011: 13) zu untersuchen. Damit können thematische und formale Aspekte des Textes in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, der spezifische kulturelle Kontext sowie die kulturell jeweils unterschiedliche Rezeption eines Werkes, aber auch solche Aspekte eines Werkes, »über deren Bewusstmachung eine Ausbildung interkultureller Kompetenzen erfolgen kann« (ebd.). Für die meisten Vertreter interkultureller Literaturwissenschaft ist der zuerst genannte Untersuchungsgegenstand der wichtigste, also die Untersuchung spezifischer, als interkulturell zu bezeichnender Themen und Formen, die allerdings mit den anderen interkulturellen Aspekten Hand in Hand gehen können. Dabei kommt Fremdheit als zentrale Kategorie der Interkulturalität ins Spiel (vgl. Gutjahr 2002; Hofmann 2006), d.h., es wird in Bezug auf Inhalt und Form danach gefragt, wie ein Text – ganz allgemein formuliert – Fremdheitserfahrungen gestaltet und in welchem Bezug diese zur Definition des Eigenen stehen.4 Zwischen dem Fremden und dem Eigenen wird also eine Differenz angenommen, die als eine konstruierte begriffen wird, als Ergebnis der interkulturellen Begegnung.5 Die Subjekte einer realen Kontaktsituation können sich ebenso wie die Leser eines Textes oder die fiktiven Gestalten eines Textes dieser Konstruiertheit bewusst werden. Sowohl in der realen Begegnung von Subjekten als auch für die Literatur gilt: Der Bereich des ›Inter‹ ist als Zwischenraum gedacht, »in dem vermeintlich feste Grenzen verschwinden und in einem Prozess des ›Verhandelns‹ neue Grenzen gezogen werden können« (Hofmann 2006: 12). Ortrud Gutjahr fasst dies folgendermaßen zusammen:
So wird mit dem Begriff Interkulturalität eine Grenzüberschreitung in den Blick genommen, bei der weder ein wie auch immer gefasstes Innerhalb oder Außerhalb der Grenze noch die Grenze zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand wird, sondern vielmehr das Inter selbst. Mithin geht es also um die Untersuchung der Funktionsweise von Differenzbestimmungen, die Kulturationsprozesse abstützen, verändern oder neu in Gang setzen. (Gutjahr 2002: 352, Hervorh. im Original.)
Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg differenzieren diese Definition in einer neueren Publikation dahingehend, dass das ›Inter‹ »nicht die Zwischenstellung der Grenze selbst meinen kann, andererseits aber auch nicht unabhängig von der Grenze / von Grenzen zu denken ist« (Heimböckel / Weinberg 2014: 130). In jedem Fall macht der literarische Text also immer auch den Konstruktcharakter des Eigenen und des Fremden sowie die Relativität der eigenen Position bewusst und fördert somit das Verständnis des Anderen, ohne dabei die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden gänzlich zu negieren.
Die Vertreter der Transkulturalität bezeichnen Interkulturalität als überholte Theorie, der sie vor allem vorwerfen, von einem statischen Kulturmodell auszugehen (vgl. Welsch 2012: 32; Kimmich / Schahadat 2012: 8). Zentral für das Konzept der Transkulturalität sei die Überwindung dieses statischen Modells und der damit verbundenen Grenzen, was mit Vorstellungen von Offenheit, Durchlässigkeit und gegenseitiger Durchdringung der Kulturen einhergeht. Wolfgang Welsch betont, dass Kulturen immer schon von Transkulturalität geprägt gewesen seien, beobachtet aber, dass die Entwicklungen der letzten Jahre das Ausmaß der »kulturellen Durchdringungen« (Welsch 1992: 35) stark hätten ansteigen lassen. Nicht nur die Kulturen, sondern ebenso die Individuen seien heute durch transkulturelle Mischungen gekennzeichnet. Die Entwicklungen der Globalisierung hätten die Kulturen so radikal verändert, dass sie nicht mehr territorial verortet und an homogene Gemeinschaften gebunden werden könnten (vgl. Kimmich / Schahadat 2012: 8). Literarische Texte sollen auf diese Prozesse der Kulturdurchmischung hin befragt werden; nicht nur Texte der Gegenwart, sondern auch die Literaturgeschichte soll unter diesem Blickwinkel neu betrachtet und durchdacht werden (vgl. Werberger 2012).
Hierzu muss allerdings angemerkt werden, dass die Vertreter der Interkulturalität – wie aus den Ausführungen deutlich wurde – ebenfalls dezidiert von einem dynamischen Kulturkonzept ausgehen, das Prozesshaftigkeit und Dialog betont (vgl. Gutjahr 2002: 352-254; Heimböckel / Weinberg 2014: 130) und »auf Homogenisierungen und Fixierungen verzichtet« (Hofmann 2006: 9). Außerdem ist festzustellen, dass auch die Transkulturalitätsforscher nicht dem begrifflichen Problem entgehen, das zwangsläufig entsteht, wenn man sich mit Kulturkontakten beschäftigt. Denn wenn wir von Kontakten oder Durchmischungen von Kulturen sprechen, erweckt dies sehr leicht den Anschein, wir gingen von kulturellen Entitäten aus; und zwar unabhängig davon, ob wir mit den Begriffen des ›Inter‹, der Grenze, des Fremden und der Differenz arbeiten (Interkulturalität), mit solchen wie Öffnung / Offenheit, Fluidität, Durchlässigkeit, gegenseitige Durchdringung (Transkulturalität6), Kulturtransfer und Kulturkontakt (Kulturtransferforschung) oder Kulturvergleich (Komparatistik). All diese Begriffe implizieren zunächst einmal die Existenz von geschlossenen Einheiten. Obwohl heutzutage sicherlich kein Wissenschaftler mehr ernsthaft von der Vorstellung statischer Kulturen ausgeht, lässt sich in der Beschreibung von Kulturtransferprozessen den genannten begrifflichen Problemen nicht entgehen.
Der Unterschied zwischen Interkulturalität und Transkulturalität scheint also mehr in der Radikalität zu liegen, mit der die Auflösung von kulturellen Grenzen und die Durchmischung der Kulturen gesehen wird. Transkulturalität sollte also nicht als Überwindung und Weiterentwicklung einer als überflüssig betrachteten Interkulturalität verstanden werden. In Bezug auf literarische Texte haben vielmehr beide Begriffe ihre Berechtigung, da mit ihnen unterschiedliche Aspekte bezeichnet werden können, die in Texten zu finden sind. Obwohl die Unterscheidung zwischen inter- und transkulturell für die Erfassung von Texten hilfreich sein kann, werden die hier vorgenommenen Gedichtanalysen auch zeigen, dass es sich dabei lediglich um Nuancen handelt, deren Hervorhebung erkenntnisfördernd sein kann, aber nicht grundsätzlich sein muss. In jedem Fall sollten wir in der Literaturwissenschaft bei der Bezeichnung und Kategorisierung immer vom einzelnen Text ausgehen. Es können in unterschiedlichen historischen und gesellschaftlichen Entwicklungszuständen Texte mit inter- sowie mit transkulturellem Potenzial entstehen, ja, ein und derselbe Autor kann beiderlei Arten von Texten produzieren.
Unsere gegenwärtige Gesellschaft bezeichnet Byung-Chul Han als eine Hyperrealität.7 Die Globalisierung mit ihren weltweiten Netzwerken und die digitale Vernetzung durch das Internet haben, Han zufolge, einen Prozess in Gang gebracht, der den Begriff der Kultur mit all seinen für uns grundlegenden Koordinaten – Raum, Zeit, Identität und Gedächtnis – mehr oder weniger abschafft. Stattdessen sei ein Nebeneinander von kulturellen Ausdrucksformen und -praktiken entstanden, in dem es keine Grenzen und somit auch keine Grenzüberschreitungen – also auch kein ›Inter‹ oder ›Trans‹ – mehr gebe. Das hyperkulturelle Nebeneinander der globalen Kultur sei nicht hierarchisch organisiert, sondern wie ein Rhizom, ein Wurzelgeflecht, das vielfache Verstrebungen und Verbindungen aufweist, die keiner hierarchischen Ordnung folgen. Damit ähnele unsere heutige Kultur der Struktur des World Wide Web, in dem wir uns ebenfalls assoziativ und gewissermaßen unstrukturiert bewegen können und das in ständiger Veränderung begriffen ist. So, wie diese Situation neue Wahrnehmungs- und Denkweisen gleichermaßen verlange wie produziere, hätten diese Entwicklungen in letzter Konsequenz auch Auswirkungen auf unsere Identität. Die wichtigsten Koordinaten des Konzepts – Raum, Zeit und Identität – sollen im Folgenden näher erläutert werden.
Zentral für die Kategorie des Raumes ist die Ent-ortung. D.h., alles befindet sich hierarchielos nebeneinander, es gibt kein Hier und Dort mehr, sondern nur noch ein Hier. Es geht nicht darum, dass ein Ort durch andere Orte beeinflusst würde, dass es eine Öffnung oder einen Transfer gäbe, sondern der Ort als solcher hat sich durch die globale Reproduzierbarkeit der Kultur dahingehend verändert, dass Grenzen nicht mehr existieren und das Hier und Jetzt des Einmaligen und Besonderen entfällt. Die Hyperrealität ist ein Überallsein. Die Menschen der ent-orteten Kultur befinden sich also per se alle in demselben Raum, womit die in der interkulturellen Literaturwissenschaft fokussierte Figur des Wanderers zwischen den Welten oder des Fremden innerhalb eines Kulturraumes obsolet wird.
Ähnlich verhält es sich mit der Zeit: In dem gleichzeitigen Nebeneinander der Hyperrealität sind einzelne kulturelle Phänomene losgelöst von Geschichte und Erinnerung, so dass die zeitlichen Dimensionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft an Bedeutung verlieren. So gibt es nur noch das Hier und Jetzt, während die sinnstiftende Chronologie zerfällt.
Die Auflösung dieser so grundlegenden kulturellen Dimensionen und Ordnungsraster hat natürlich auch Auswirkungen auf die menschliche Identität. Analog zu den Theorien führender Sozialpsychologen sowie auch der meisten Inter- und Transkulturalitätsforscher negiert Han für sein Konzept der Hyperrealität die Existenz von festen, in sich geschlossenen Identitäten und konstatiert stattdessen ein hybrides Patchwork von Identitäten. Han geht aber über die bisherigen Vorstellungen noch hinaus. Bei ihm geht es nicht nur darum, dass Individuen prozesshafte, hybride Identitäten konstruieren, sondern er sieht in der Hyperkultur erstmalig die echte Chance auf individuell ausgehandelte Identitätsentwürfe, weil die Dimensionen von Innerlichkeit und Herkunft entfallen. Da der Mensch Bewohner eines hyperkulturellen Raumes ist, der keine binären Oppositionen mehr aufweist, sieht Han im hyperkulturellen Touristen das paradigmatische Bild des modernen Menschen. Dieser ist nicht mehr auf der Suche nach einer Gegenwelt, nach einem Sehnsuchtsraum, da es so etwas in der Hyperrealität nicht mehr gibt. Und nicht zufällig ist der Tourist auch einer, der in dem Raum, in dem er sich befindet, nicht zu Hause ist, sondern nur zu Gast. Han bewertet diese Entwicklungen sehr positiv; er sieht in ihnen die Chance auf individuelle Entfaltung, mehr Freiheit, wahre Vielfalt und letztendlich Frieden.8
Das hier in knappen Worten zusammengefasste Konzept Byung-Chul Hans ist an vielen Stellen angreifbar – zumal Han wenig konkret wird –, und es ist sicherlich auch keine vollständige Beschreibung unserer gegenwärtigen Welt in ihrer Komplexität. Doch scheinen die Grundgedanken in durchaus überzeugender Weise manche Veränderungen unserer gegenwärtigen Gesellschaft und unserer Wahrnehmungsweisen zu erfassen, zumindest für diejenigen Subjekte, die am Internet partizipieren. Auffällig ist, dass, wie eingangs gesagt, in der Gegenwartsliteratur vereinzelt Gedichte jüngerer Autorinnen und Autoren anzutreffen sind, in denen sich dieses Denken wiederfindet – nämlich die radikale Auflösung von Raum, Zeit und Identität, die hypertextartige Vernetzung der Elemente der Welt sowie die Absenz jeglicher, auch sprachlicher, Dichotomien. Besonders interessant erscheint dabei die Beobachtung, dass diese poetischen Texte nicht nur oder nicht vor allem von Autorinnen und Autoren produziert werden, die selber aus zwei verschiedenen Kulturen stammen, sondern ebenso von solchen, die keine eigenen Migrationserfahrungen gemacht haben. Damit zeigt sich einmal mehr, wie wichtig es ist, vom Text und nicht vom Textproduzenten auszugehen. Außerdem ist es ein Indiz dafür, dass die Hyperrealität eine Erscheinung ist, die alle Menschen unserer globalisierten Welt gleichermaßen betreffen kann. Um das Spezifische eines hyperkulturellen Gedichts verdeutlichen zu können, sollen nun zunächst zwei knappe Gedichtinterpretationen vorgenommen werden, in denen inter- bzw. transkulturelle Schreibweisen sichtbar werden.
Ausgehend von der oben eingeführten Definition der Interkulturalität bezeichne ich solche Gedichte als interkulturell, die von zwei unterschiedlichen kulturellen Räumen ausgehen und die Differenzen und die Verbindungen zwischen diesen Räumen sowie die Frage nach dem Standort und der Zugehörigkeit von Individuen bezüglich dieser kulturellen Räume reflektieren. Vor allem in den seit den späten 1980er Jahren im deutschsprachigen Raum entstandenen Gedichten wird Fremdheit häufig positiv bewertet. Sie wird produktiv umgesetzt, indem mit ihrer Hilfe der Blick auf die Welt und die Sprache geschärft wird und im Bereich des ›Inter‹ ein kultureller Mehrwert entsteht.9
Als exemplarisch für interkulturelle Gedichte soll José F. A. Olivers Stühle vorgestellt werden. Dieser Text entstammt dem Band Auf-Bruch von 1987,10 dem ersten Gedichtband dieses Autors. Die darin enthaltenen Texte thematisieren in anklagender und appellierender Art und Weise die Identität zwischen oder mit verschiedenen Kulturen. Mit Stühle greift Oliver eine in den 1980er Jahren in medialen Äußerungen häufig verwendete Metapher auf, derzufolge Kinder von Migranten »zwischen den Stühlen sitzen«, womit gemeint ist, dass sie sich in einem Zwiespalt zwischen Herkunfts- und Lebenskultur befinden und damit gewissermaßen heimat- und identitätslos sind. Doch wie bereits der Titel des Gedichtbandes Auf-Bruch zwar die negative Assoziation des Bruchs zulässt, impliziert er ebenso die positive Assoziation des Aufbrechens im Sinne von Starten und Kämpfen, im Gegensatz zu Jammern oder Zerbrechen. So ist auch das hier fokussierte Gedicht kämpferisch, ohne die existierende interkulturelle Problematik zu verschweigen:
Stühle | |
I | Stühle bauen |
Stühle besetzen | |
Stühle bekämpfen | |
Stühle umwerfen | |
II | zwischen den Stühlen |
Land erobern | |
stuhllos leben | |
III | zwischen den Stühlen |
lebt die Möglichkeit | |
IV | in Bewegung |
zu bleiben11 |
Die erste der vier Strophen des Gedichts besteht aus vier identisch konstruierten Versen, die in Form von Infinitiven die Kulturen – ausgedrückt durch die Metapher der Stühle – als Konstrukte entlarven: Stühle werden »gebaut«. Sie sind außerdem Aushandlungs- bzw. Kampfplatz für die kulturellen Akteure, was gleich drei Verben aus dem Bereich des Kampfes – »besetzen«, »bekämpfen«, »umwerfen« – nahelegen. Aufgrund der Infinitivformen ist nicht markiert, wer hier handelt, was bedeuten könnte, dass das Gesagte für alle in einer Kultur Lebenden Gültigkeit besitzt. Die vier Verse steigern sich in ihrer Aussage, unterstrichen durch die Verwendung von drei alliterierenden Verben – »bauen«, »besetzen«, »bekämpfen« –, während der letzte Vers der Strophe mit einem anders anlautenden Verb – »umwerfen« – endet, was der durch dieses Verb ausgedrückten Tätigkeit ein besonderes Gewicht verleiht. Das umkämpfte Konstrukt Kultur wird hier also als statisches Gebilde verworfen. Dies leitet zur zweiten Strophe über, in der der Bereich zwischen den Kulturen – das ›Inter‹ – zur »Eroberung« angeboten wird. Dem steht als weitere Möglichkeit der völlige Verzicht auf kulturelle Konstrukte – »stuhllos leben« – zur Seite. Das ›Inter‹ wird dann vor allem in der dritten Strophe – »zwischen den Stühlen / lebt die Möglichkeit« – als etwas Erstrebenswertes bewertet, indem das positiv konnotierte Verb »lebt« besonders hervorgehoben wird, da es das einzige flektierte Verb des Gedichts ist und als erstes Wort des zweiten Verses dieser Strophe durch das Enjambement betont wird. Auch die letzte Strophe, welche mit der dritten Strophe als ein Satz gelesen werden kann, unterstreicht nochmals die positive Auffassung des ›Inter‹: Nur im Zwischenraum zwischen den Kulturen, welche durch die Metapher als statisch aufgefasste markiert sind, nur im Raum der Begegnung und Verbindung also, gibt es Bewegung, was positiv als Beweglichkeit und Lebendigkeit verstanden werden muss. Leben und Lebendigkeit also befinden sich im Bereich des ›Inter‹, in der Verwerfung von statischen Kulturkonzepten, die den Menschen zwingen, sich für eine von zwei Kulturen zu entscheiden. Indem das Gedicht kulturelle Differenzen in ihrer Konstruiertheit sowie die Aushandlungsprozesse zwischen den Kulturen thematisiert, setzt es sich deutlich mit Konzepten der Interkulturalität auseinander.
Als transkulturell sind poetische Texte dann einzuordnen, wenn sie die Durchlässigkeit zwischen den kulturellen Sphären betonen, indem sie etwa die Dichotomie zweier Räume mittels eines Sprach- und Gedankenraums transzendieren oder durch intertextuelle, polyglotte oder andere Elemente die Fluidität der Kulturen hervorheben.
Die aus Japan stammende Autorin Yoko Tawada schreibt auf Deutsch und auf Japanisch und setzt sich in vielen ihrer Texte mit Fragen nationaler und sprachlicher Grenzüberschreitungen auseinander. Ihr Gedicht Ein Gast, das in dem frühen, 1991 publizierten Band Wo Europa anfängt erschienen ist, kann man als transkulturellen Text bezeichnen:12
Ein Gast
1 Von jenseits des Urals her
2 grüßt es in der Sprache des Wassers
3 Du drehst am Hahn
4 und es rinnt jetzt in deine Hand
5 das Wasser eines fremden Landes
6 Mein in Marco Polo eintätowiertes Auge
7 kann Europa nicht sehen
8 In deiner Hand
9 wird meine Gedichtsammlung eine Speisekarte
10 Roher Fisch und Rinderzunge
11 führen ein Telefongespräch
12 Zünde ich die magere Kerze an
13 sticht eine leuchtende Gabel in die Lettern
14 Blutverschmiert
15 und ohne Wunde
16 krümmen sich die Lettern vor Lachen
17 und buchstabieren auf der Tischdecke
18 ein neues Liebesszenario
19 Die Klingel ruft Der Vorhang öffnet sich
20 Auf der Bühne aus einem Sarkophag
21 der ganz meiner Gebärmutter gleicht
22 wirst du geboren
Der Ich-Sprecher des Textes ist eine Dichterin (vgl. V. 9: »meine Gedichtsammlung«; V. 21: »mein[e] Gebärmutter«), die sich in einem zunächst deutlich durch eine Opposition zwischen Asien und Europa markierten Raum befindet, was aus Formulierungen wie »jenseits des Urals« (V. 1), »fremde[s] Lan[d]« (V. 5), die Erwähnung des Asienreisenden Marco Polo (V. 6) und »Europa« (V. 7) sowie der Gegenüberstellung von »[r]ohe[m] Fisch« und »Rinderzunge« (V. 10) als Metonymien für Asien und Europa hervorgeht. Obwohl es also auf den ersten Blick so scheint, als existierte eine räumliche Trennung, springt doch ebenso gleich ins Auge, dass diese beiden Räume nicht als ›eigen und fremd‹ oder ›Heimat und Fremde‹ semantisiert werden. Stattdessen wird von Anfang an ihre Durchlässigkeit und ihre Vermischung betont, etwa durch das Bild des Wassers (V. 5) oder durch die telefonische Kommunikation zwischen rohem Fisch und Rinderzunge (V. 10-11), also zwischen Asien und Europa, die durch die Alliteration »r« besonders verbunden werden.
Vor allem aber gilt für das Dichter-Ich selbst, dass es zu beiden Welten gehört – oder auch zu keinem der beiden Räume – und sich daher in einem transgeographischen Raum befindet, nämlich im Bereich der Sprache und Literatur. Somit mag sich der Titel Ein Gast auf die Dichter-Sprecherin selbst beziehen. Wenn es in der letzten Strophe heißt: »Auf der Bühne aus einem Sarkophag / der ganz meiner Gebärmutter gleicht / wirst du geboren«, so wird klar, dass der im Gedicht mit »du« angesprochene Adressat das Alter Ego der Ich-Sprecherin ist. Bei dem Gedicht handelt es sich also um die Selbstansprache einer Dichterin, die sich in einem öffentlichen Akt (»Der Vorhang öffnet sich«, V. 19) selbst gebiert. Das Besondere dieser dichterischen Selbsterschaffung liegt nun darin, dass Ich und Du / Alter Ego zwar vordergründig zwei Räumen zugeordnet werden – das »Ich« befindet sich in Asien, das Alter Ego in Europa (vgl. Strophe 1) –, jedoch untrennbar zusammengehören. Sie verbinden sich also nicht nur im transnationalen Raum von Sprache und Literatur, sondern die Voraussetzung für die Entstehung der vorliegenden Literatur beruht genuin auf der kulturellen und geographischen Durchmischung. Die »Lettern«, wie es in der vierten Strophe (V. 16) heißt, »buchstabieren« »ein neues Liebesszenario« (V. 17-18), vereinigen sich also im Liebesakt und gebären (»Blutverschmiert / und ohne Wunde«, V. 14-15) die Literatur. Es wird in Tawadas Gedicht also nicht die Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden betont und ein Raum des ›Dazwischen‹ geschaffen, sondern die beiden Räume bilden eine identitäre Einheit des Dichterischen, die von der Vermischung unterschiedlicher Anteile lebt. »In deiner Hand / wird meine Gedichtsammlung eine Speisekarte / Roher Fisch und Rinderzunge / führen ein Telefongespräch« (Strophe 3): Wie beim Kochen die einzelnen Zutaten vermischt werden, so mischen sich auch die asiatischen und europäischen Anteile in der Literatur (die übrigens auch im Wort »Rinderzunge« angedeutet wird, da Zunge in vielen Sprachen das Wort für Sprache ist) und werden in der Literatur transzendiert.
Daniel Falb hat neben vereinzelten Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien bisher vier Gedichtbände vorgelegt. Der für die Untersuchung ausgewählte Text ist das vierte Gedicht des Zyklus New Zork in dem Band BANCOR aus dem Jahr 200913:
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1 sieh diesen handlungsfamilien beim wohnen zu. heute ist der tag der sechs milliarden.
2 historische schlachten stellen uns nach und wir sie.
3 von histaminen überwältigt kommen somit viele natürlich zur welt.... ein über jahre
4 geprobter, über jahre nicht aufgeführter festumzug.
5 ...............überlegene formen des schämens, der sterilisation, wenn du ein kitten bist.
6 die hervorbringung des gesichtes als enthaarung und weltausstellung.
7 crystal palace zeigt das feuer selbst der nationen wie der gebürtlichkeit........... das ist
8 die adresse eines strauches, eines blättchens, eines zellhaufens.
9 ich betrat den länderpavillon und kam als großfamilie wieder heraus. ich verpflanzte
10 1967 das erste menschliche herz, in zwillinge.
11 bequeme laufwege verlinken die sande, bequeme laufzeiten erleuchten sie flammend,
12 die biennale. einfarbig ausgemalte makrophagen.
13 ...............welche werkphase ist das und was davon bleibt. die abstoßung der organe.
14 die abstoßung, der hand, der künstlerin.
Der Sprecher des Gedichts gibt sich in der fünften der insgesamt sieben Strophen zwei Mal direkt durch das Personalpronomen »ich« zu erkennen, seine Identität wird dabei jedoch nicht klar: Er beginnt als Individuum, als Ich, eine Handlung (»ich betrat den länderpavillon«, V. 9), die mit einer Vervielfältigung und Diffusion seiner Identität endet (»und kam als großfamilie wieder heraus«, V. 9). Des Weiteren wird konkret auf den Chirurgen Christiaan Barnard angespielt, der 1967 das erste menschliche Herz transplantierte (»ich verpflanzte / 1967 das erste menschliche herz, in zwillinge«, V. 9-10), jedoch wird dieser historisch korrekte Bezug durch eine falsche Information verfremdet, denn Barnard nahm keine Operation an Zwillingen vor, außerdem ist die Transplantation eines Herzens in zwei Personen per se widersinnig.
Das unklare Sprecher-Ich erscheint noch an weiteren Stellen in indirekter Form: So gibt sich der Sprecher im ersten Vers als Teil der Menschheit zu erkennen, wenn er konstatiert: »historische schlachten stellen uns nach und wir sie« (V. 2). Hier, wie auch im 13. Vers, ist implizit auch ein Adressat mit angesprochen, der in Vers 5 direkt mit »du« angeredet wird. Doch obwohl der Sprecher somit ein Gegenüber hat, wird seine Identität, die bekanntlich normalerweise auf der Gegenüberstellung des Selbst mit einem Anderen beruht, nicht klarer, sondern durchläuft weitere Metamorphosen: So beginnt das Gedicht mit einer Aufforderung des Sprechers an seinen Adressaten; in der letzten Strophe wird dann aus demjenigen, der auffordert, jemand, der fragt (»welche werkphase ist das und was davon bleibt«, V. 13); und obwohl das »du« auch indirekt Teil des Menschheitskollektivs »wir« ist, wird es im fünften Vers als ein »kitten«, also ein Tierjunges, bezeichnet, was zudem durch die Verwendung des englischen Wortes verfremdet wird (»wenn du ein kitten bist«, V. 5). Zwar könnte man die Identität des Sprecher-Ichs durchaus als ein Patchwork bezeichnen, doch signifikanter ist, dass der Sprecher nicht zwischen sich und anderen, zwischen dem Eigenen und dem Fremden, unterscheidet, sondern Identität und Alterität miteinander verschmolzen sind.
Dem entspricht auch die Darstellung des Subjekts überhaupt: Neben zahlreichen anderen Isotopien lässt sich in diesem Gedicht eine deutliche Isotopie des Menschen erkennen. Der Mensch wird dabei einerseits als Kollektiv präsentiert (»handlungsfamilien«, »nationen«, »großfamilie«, »zwillinge«), andererseits in Einzelteile zerlegt (»histamine«14, »gesicht«, »enthaarung«, »zellhaufen«, »herz«, »makrophagen«, »organe«, »hand«). Es kann weiter beobachtet werden, dass in beiden Darstellungen des Menschen – also sowohl in Bezug auf den Status als Individuum unter anderen Menschen als auch in Bezug auf den Körper mit seinen einzelnen Teilen – Abhängigkeit und Vernetzung der Einzelteile die hervorstechenden Merkmale sind. Das Individuum gibt es hier nur als Teil eines Ganzen, bei dem alle Teile voneinander abhängen – es gibt nicht einen Zwilling ohne den anderen, keine Kinder ohne Eltern usw. In Bezug auf die Zerlegung des Körpers in seine Einzelteile ist vor allem die häufige Nennung von inneren, unsichtbaren Elementen des menschlichen Systems bezeichnend – Histamine, Makrophagen und Zellen –, denn für diese Elemente gilt in besonderem Maße, dass sie in einem Zusammenhang stehen, sich beständig teilen, neu zusammenfügen und verändern – so wie auch die rhizomartige Struktur der Hyperkultur insgesamt. Das Subjekt ist also – wie die anderen Teile der Hyperkultur auch – einerseits strukturell eingebunden in einen Gesamtzusammenhang, andererseits diffus und zersplittert und einem permanenten Wandel unterworfen. Mit der Nennung des Herzens wird kein emotionales Zentrum des Menschen imaginiert – es unterliegt gewissermaßen selbst der Teilung, da es in Zwillinge verpflanzt wird –, und überhaupt gibt es hier nicht die kulturell tradierten Dimensionen Herz, Geist oder Seele; der Mensch wird vielmehr in Form einzelner, teilweise kleinster und voneinander abhängiger Einheiten präsentiert.
Die Sprechhaltung des Ich-Sprechers ist kühl und distanziert, was vor allem durch die Wortwahl hervorgerufen wird: Es dominieren Substantive, während Adjektive, welche ja den Dingen erst ihre individuelle Form geben, kaum vorkommen. Es handelt sich beim Sprecher-Ich um einen Beobachter, der verschiedene, heterogene Dinge der Welt benennt, während er Sinneswahrnehmungen und Emotionen fast gänzlich außer Acht lässt. Die einzige im Gedicht genannte Sinneswahrnehmung ist die Dimension des Sehens, nämlich in der Aufforderung des Sprechers im ersten Vers: »sieh diesen handlungsfamilien beim wohnen zu«. Damit ist bezeichnenderweise der nach Han wichtigste Sinn des hyperkulturellen Menschen benannt, denn der sich in der Hyperrealität bewegende Tourist ist ähnlich dem Netzsurfer ein Beobachter, der nicht in die Tiefe eindringt, da es eine solche hier nicht mehr gibt. So mutet es nicht überraschend an, dass Falb an einer Stelle den aus dem Internetbereich stammenden Begriff »verlinken« (V. 11) verwendet. Nur ein Mal wird ein Verb aus dem Gefühlsbereich gebraucht: »überlegene formen des schämens, der sterilisation, wenn du ein kitten bist« (V. 5). Bezeichnenderweise wird hier mit dem Gefühl der Scham keine der angeborenen Grundemotionen genannt – wie Freude, Trauer und Wut –, sondern ein Gefühl, das dem kulturellen Lernprozess unterliegt und die Existenz eines Über-Ichs voraussetzt (vgl. Damásio 1994; 2000). Außerdem fällt das Wort »schämen« im Gedicht aus dem Rahmen, da es keiner der ansonsten klar zu erkennenden Isotopien des Gedichts – die gleich noch weiter ausgeführt werden – zuzuordnen ist; es kommt in einem sehr hermetischen Satz vor, und dieser beschreibt zudem keinen Ist-Zustand (»wenn du ein kitten bist«). Grundlegende Gefühle werden in dem Gedicht also so gut wie gar nicht thematisiert; die einzige genannte Emotion ist in keinen sinnvollen emotional-kognitiven Zusammenhang eingebunden und sie ist nicht im Individuum – dem Sprecher oder dem Adressaten – verankert. Dies entspricht der These Byung-Chul Hans, dass dem hyperkulturellen Subjekt sowie der Hyperkultur überhaupt die Innerlichkeit fehle. Doch anders als in Byung-Chul Hans Essay wird dies im vorliegenden Gedicht nicht positiv bewertet. Die Identität, der Konturiertheit, Alterität, Innerlichkeit, Emotionalität und Sinnlichkeit fehlen, erscheint in keiner Weise als positiver individueller Entwurf eines wahrhaft freien Subjekts. Wenn man bedenkt, dass Han diese Einschätzung inzwischen selber aufgegeben hat, erscheint hier der Dichter – so wie es schon Freud sah – als ein Seismograph, der menschliche Zustände und kulturelle Entwicklungen häufig früher und genauer beschreiben kann, als dies die Wissenschaft vermag.
Es bleibt nun noch nach der raum-zeitlichen Situierung des Sprechers zu fragen. Zeit spielt insgesamt eine recht große Rolle in dem Gedicht, man kann eine Isotopie der Zeit erkennen mit den Elementen: »heute«, »historisch«, »über jahre« (zwei Mal), »1967«, »laufzeiten«. Es handelt sich hier um unterschiedliche Zeitformen, nämlich einerseits um Angaben zu zeitlicher Dauer sowie andererseits um konkrete Zeitpunkte. Versucht man, die Zeitpunkte, auch mit Hilfe der anderen Angaben und Anspielungen im Text, zu konkretisieren, so ergibt sich ein heterogenes Bild: »historische schlachten« bezieht sich auf Kriegsereignisse, die (zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Gedichts) mindestens 64 Jahre zurückliegen, sie wirken aber bis in die Gegenwart hinein, wie es heißt (»historische schlachten stellen uns nach«, V. 2); der »crystal palace« mag auf die erste Weltausstellung von 1851 verweisen, also auf eine Zeit, die historisch noch weiter zurückliegt; außerdem wird das Jahr der ersten Herztransplantation 1967 genannt. In den Anmerkungen zum Gedicht am Ende des Bandes ist der Hinweis zu finden, dass es sich beim »tag der sechs milliarden«, der als »heute« bezeichnet wird (»heute ist der tag der sechs milliarden«, V. 1), um den 12.11.1999 handele, ein Datum, das 10 Jahre vor dem des Erscheinens des Gedichtbandes liegt. Das »heute«, welches das Gedicht zu Beginn zeitlich konkret zu situieren scheint, verbindet sich also tatsächlich mit unterschiedlichen Zeiten. Verschiedene Zeitpunkte und historische Daten sowie unterschiedliche Zeitformen stehen unverknüpft nebeneinander, und es wird keine Hierarchie zwischen den Zeitstufen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft deutlich. Dieses Bild entspricht der Beschreibung der Hyperkultur durch Han, der, wie eingangs dargestellt, von einer Aufhebung der zeitlichen Abfolgen und der zeitlichen Dimensionen in einer allumfassenden Gegenwart spricht.
Analoges findet sich auf der Ebene des Raumes: Der Sprecher kann nicht lokalisiert werden, er benennt vielmehr einzelne Elemente und Fragmente der Welt15, die sich an den verschiedensten Orten befinden (z.B. England und Südafrika) oder auch gar keinem Ort zugehören. Der »crystal palace« (V. 7) ist der einzige konkrete und begrenzte Raum des Textes. Doch auch dieser entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als ein Nichtort, denn der historische Kristallpalast der Weltausstellung – zumal nie als dauerhafter Aufenthaltsort für Menschen konzipiert – wurde nach der Ausstellung in England an einen anderen Ort verlegt und ist schließlich gänzlich verbrannt. Alle anderen Orte – »welt«, »festumzug«, »weltausstellung«, »länderpavillon«, »laufwege«, »biennale« – sind unkonkret, flüchtig, nur temporär existent.16 Die »adresse« (V. 8) wird mit der Formulierung »die adresse eines strauches, eines blättchens, eines zellhaufens« (V. 8) dekonstruiert. Als einziger dauerhafter Ort könnte gewissermaßen die Welt selbst bezeichnet werden als ein großes Hier und Jetzt, als Sammelbecken für alle möglichen Dinge, die netzartig miteinander verwoben sind. Denn die verschiedenen Isotopien des Textes – es wurden bereits Isotopien des Menschen, der Zeit und des Raumes genannt – sind einerseits miteinander verbunden, andererseits lösen sie sich auch gegenseitig auf. Sei es, wie bereits gezeigt, die gegenseitige Nivellierung von Individuum und Kollektiv (Isotopie des Menschen), von definiertem und undefiniertem Raum (Isotopie des Raumes), oder aber und vor allem die Aufhebung der Isotopie des Lebensbeginns (mit den Elementen: »zur welt kommen«, »kitten«, »hervorbringung«, »gebürtlichkeit«, »zellhaufen«) sowie der Bekämpfung von Leben (mit den Elementen: »schlachten«, »sterilisation«, »abstoßung der organe«). Es gibt weder einen klaren inhaltlichen noch einen räumlichen oder zeitlichen Zusammenhang zwischen den Dingen, es werden kleine und große, abstrakte und konkrete Dinge gleichermaßen spotartig genannt und durch die Form der Punktreihen in manchen Versen miteinander verbunden, aber auch voneinander getrennt. Es existieren weder räumliche Grenzen, dritte Räume oder ein ›Inter‹, noch existiert ein kultureller Transfer zwischen geöffneten, dynamischen Kulturen. So wie von Han theoretisch beschrieben, befinden sich alle diese heterogenen Phänomene auf einer Ebene und sind nicht hierarchisch geordnet, was formal in der durchgängigen Kleinschreibung, die auf der Ebene der Orthographie die Hierarchisierung abschafft, und der Gleichartigkeit und Spannungslosigkeit, welche alle Dinge sprachlich auf eine Ebene stellt, eine Entsprechung findet.17
Viele Elemente des Gedichts – wie der Kontrast zwischen der diffusen Identität einerseits und der sehr konkreten Nennung von Dingen und Ereignissen andererseits bzw. generell die Zusammenfügung von Konkretem und Abstraktem, die intertextuellen Bezüge18, die Verflechtung der Isotopien und vieles mehr – spiegeln die Struktur des Internets wider. Die netzartigen Strukturen weisen auch über den Text hinaus, indem auf reale historische Ereignisse verwiesen wird und intertextuelle Bezüge hergestellt werden, womit das Gedicht auch als Fenster in eine Welt fungiert, in der es keine Grenzen gibt.19 Denn der Netzbesucher sieht und beobachtet einzelne konkrete Dinge, die unhierarchisch miteinander verbunden sind, und er wandert von einem Element zum nächsten. Bezeichnenderweise ist der hyperkulturelle Tourist eben auch kein Bewohner der Welt oder einer Heimat oder eines Zuhauses, sondern nur ein Besucher von temporären Veranstaltungen wie Festumzug, Weltausstellung, Länderpavillon und Biennale. Das Wohnen dagegen wird gleich dreifach ins Irreale verlegt: Der Adressat (in den evtl. auch der Leser mit eingeschlossen ist) soll dem Wohnen lediglich zusehen, dieser Akt des Zusehens steht indes in einer Aufforderung, wird also noch nicht vollzogen, und die Wohnenden sind außerdem nur Handlungsfamilien, womit gar nicht Menschen bezeichnet sind, sondern Klassen von verwandten Handlungstypen in Wörterbüchern (vgl. Wiegand 1998: 276).
Von den genannten Verflechtungen ist auch die Kunst selbst nicht ausgenommen. Neben den Isotopien Zeit, Raum und Mensch mit ihren jeweiligen Doppelungen sowie der Isotopie Lebensbeginn / Lebensbekämpfung existiert außerdem noch eine Isotopie Kunst (mit den Elementen: »weltausstellung«, »biennale«, »werkphase«, »künstlerin« und Verben aus dem Bereich des Kunstschaffens: »proben«, »aufführen«, »ausmalen«). Zu fragen ist nun, ob die Kunst gegenüber der restlichen Welt eine Sonderrolle einnimmt und – wie etwa im Gedicht Tawadas – eine verbindende Kraft besitzt. Doch Falb selbst bezeichnet Gedichte als »Ort[e] reiner Möglichkeit« in der »Struktur von Hyperlinks« (Falb 2009b: 81), womit ein Hinweis darauf gegeben ist, dass auch die Kunst Teil dieser netzartigen Hyperrealität ist und so funktioniert wie diese. Wenn am Schluss von der »abstoßung der organe« (V. 13) in einem Atemzug mit der »abstoßung, der hand, der künstlerin« (V. 14) die Rede ist und man dabei die Kommata als rhythmische und nicht als syntaktische Gliederungssignale versteht, so scheint die Kunst der modernen Technik, um die sich hier, wie gezeigt, vieles dreht, jedenfalls nicht als sich widersetzende Kraft entgegenzustehen. Es scheint vielmehr so zu sein, dass der moderne Mensch einer Art großem Weltschauspiel zusieht, das sich aus vielen einzelnen Bereichen zusammensetzt. Weder dem Menschen noch der Kunst fügt sich die Welt sinnhaft zusammen. Auch die Kunst vermag nur Einzelteile additiv nebeneinander zu setzen und auszustellen, fungiert aber nicht als positiver Gegenentwurf. Dadurch wird der Kunst innerhalb des Hyperkulturellen eine gänzlich andere Position zugewiesen als im inter- und transkulturellen Gedicht. Bei Tawada wurde die Durchmischung der Kulturen ja gerade als Voraussetzung für die Entstehung von Kunst bezeichnet.
Hyperkulturelle Gedichte, so kann man zusammenfassen, zeichnen sich durch eine radikale Aufhebung von Raum, Zeit und Identität aus, die eine Entsprechung auf der Ebene der Form findet und weiterhin durch netzartige Strukturen, Intertextualität, Vokabeln aus dem Bereich des Internets sowie Polyglossie (die im hier vorgestellten Gedicht allerdings nur schwach ausgeprägt ist) gekennzeichnet ist. Der Sprecher des hyperkulturellen Gedichts ist ein ›hyperkultureller Tourist‹ im Sinne Byung-Chul Hans, dem die Dimensionen Körperlichkeit, Sinnlichkeit, Emotionalität und Innerlichkeit fehlen und der sich beobachtend und mäandernd in einer netzartig verknüpften Hyperrealität bewegt, in der die zeitlichen und räumlichen Hierarchien aufgelöst sind. Dem stehen interkulturelle Gedichte gegenüber, in denen Fremdheitserfahrungen und kulturelle Differenzen in ihrer Konstruiertheit thematisiert werden, sowie transkulturelle Gedichte, die die Offenheit kultureller Grenzen betonen und Räume jenseits kultureller Zuschreibungen eröffnen.
Nun kann einschränkend angemerkt werden, dass es sicherlich kein Zufall ist, wenn sich gerade in poetischen Texten die genannten hyperkulturellen Merkmale finden lassen, da viele davon nicht untypisch für poetische Texte sind, wie etwa das Fehlen von Linearität, die Aufhebung zeitlicher Dimensionen, intertextuelle Bezüge usw.20 Das Spezifische des hyperkulturellen Gedichts sehe ich in zwei Aspekten: Entscheidend ist zum einen die Häufung all dieser Elemente in einem Text. Zum anderen ist zu beachten, dass es hier nicht lediglich um eine allgemeine Aufhebung räumlicher und zeitlicher Koordinaten und individueller Identität geht – eine solche Aufhebung lässt sich in vielen anderen poetischen Texten in noch radikalerer Weise beobachten.21 Diese Aufhebung geschieht, wie gezeigt wurde, auf eine spezifische Art und Weise und ihr Resultat ist eine neue Wirklichkeitsstruktur, die über die von Inter- und Transkulturalitätskonzepten beschriebene Öffnung und Dynamik der Kultur weit hinausgeht: An die Stelle einer räumlich und zeitlich – zumeist binär und ternär hierarchisch – strukturierten Welt tritt im hyperkulturellen Gedicht ein Netz verschiedener Mosaikteile, welche in einem Hier und Jetzt nebeneinander stehen. Sie sind nicht miteinander verwoben, sondern miteinander ›verlinkt‹, und diese netzartige Struktur weist weit über den Text hinaus. Das Subjekt als emotionsloser Beobachter ›klickt sich‹ durch diese Wirklichkeit ›durch‹. Der poetische Sprecher ist ein hyperkultureller Tourist, der sich durch eine hybride Identität auszeichnet, für die Körperlichkeit, Sinnlichkeit und Emotionalität keine Rolle spielen. Im Raum des Visuellen muss sich das Subjekt auch nicht individuell, kulturell oder national verorten, da die Kategorien des Eigenen und des Fremden in der Hyperkulturalität aufgehoben sind. Das Subjekt steht somit nicht zwischen zwei Kulturen oder zwischen Heimat und Fremde, es muss keinen Bereich des ›Inter‹ kreieren, und es kann auch nicht von einer Kultur in eine andere migrieren, weil es diese Dimensionen in diesem Konzept nicht mehr gibt.
So wie Hans Beschreibung der Welt sicherlich eher eine Zukunftsvision oder gar eine Dystopie ist, kann von hyperkultureller Lyrik nicht als einem Massenphänomen gesprochen werden. Doch die Existenz einer Reihe von Texten22 mit den hier bezeichneten Merkmalen scheint darauf hinzuweisen, dass einige jüngere Autorinnen und Autoren die existierenden hyperkulturellen Tendenzen der Gegenwart poetisch erspüren und reflektieren und dabei durchaus neue poetische Themen und Strukturen entstehen.
1 | Han betont, dass Hyperkulturalität ein kulturtheoretischer und -philosophischer Begriff ist und nicht mit dem literaturtheoretischen Terminus »Hypertext« gleichzusetzen ist (vgl. Han 2005: 17).
2 | Das Gleiche gilt auch für die Frage, ob die als hyperkulturell zu bezeichnenden gesellschaftlichen Entwicklungen wirklich, wie Han behauptet, der Beginn einer völlig neuen Gesellschaftsform sind oder ob sie Tendenzen neben anderen bleiben werden.
3 | Der Begriff Transkulturalität wurde erstmals 1992 von dem Philosophen Wolfgang Welsch in seinem Aufsatz »Transkulturalität – Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen« (vgl. Welsch 1992) verwendet; in der Literaturwissenschaft wurde dieser Begriff vor allem seit den 2000er Jahren aufgegriffen (vgl. bes. Blumentrath u.a. 2007; Kimmich / Schahadat 2012).
4 | Da solche Fremdheitserfahrungen sehr häufig in Texten der Reise-, Exil- oder Migrationsliteratur zum Ausdruck kommen, stellen diese Textarten das bevorzugte Objekt der interkulturellen Literaturwissenschaft dar (vgl. z.B. Leskovec 2011: 13). Wenn hier der Begriff Migrationsliteratur genannt wird, muss auf ein weiteres Problem aus dem Umfeld interkultureller Literaturwissenschaft eingegangen werden: Der Pionier interkultureller Literaturwissenschaft, Carmine Chiellino, setzt nämlich interkulturelle Literatur gewissermaßen mit Migrationsliteratur gleich, wenn er die interkulturelle Literatur als »deutschsprachige Literatur von Autor / innen nichtdeutscher Herkunft« bezeichnet (Chiellino 2007: 387). Chiellino geht es vor allem darum, den Autorinnen und Autoren der 1960er und 70er Jahre eine Stimme zu verleihen und sie vor Bezeichnungen und Kategorisierungen zu schützen, die ihnen eine abwertende und separierende Stellung im Literaturbetrieb zuwiesen. Dadurch ist allerdings das Problem entstanden, dass man häufig interkulturelle Literatur über den Autor, die Autorin definiert, was gleich eine ganze Reihe von Problemen nach sich zieht. Deshalb sollte zukünftig diese Gleichsetzung vermieden und – wie Leskovec es vorschlägt – nach dem interkulturellen (und analog dazu nach dem transkulturellen) Potenzial von Literatur gefragt werden.
5 | Vgl. Hofmann (2006: 12): »›Interkulturalität‹ bezieht sich demnach auf die Konstellation der Begegnung zweier (oder mehrerer) Subjekte, die im Austausch die Differenz konstituieren, die in der gegebenen Konstellation als relevant erfahren wird.«
6 | Kimmich / Schahadat (2012: 14) räumen kritisch ein, dass die Theorien der Transkulturalität die Grenze als »wichtige Station« ausblendeten: »Dennoch bilden die Grenze, die Grenzmarkierung und damit auch die Grenzüberschreitung die Folie für einen utopischen Entwurf eines grenzenlosen, transkulturellen Raums.«
7 | Die Darstellungen dieses Kapitels folgen Han 2005.
8 | Diese Aussagen stehen allerdings in einem Widerspruch zu anderen Arbeiten Byung-Chul Hans. Immer wieder äußert Han scharfe Kritik gegenüber der heutigen Gesellschaft, welche die Individuen in einen Zustand der Unfreiheit und der permanenten Selbstausbeutung versetze, so etwa in seinem Essay Müdigkeitsgesellschaft (Han 2010) oder in dem Interview »Tut mir leid, aber das sind Tatsachen« (Han 2014).
9 | In vielen Texten, die in den 1960er und 70er Jahren entstanden sind (z.B. von Adel Karasholi und Aras Ören), wird dagegen die Fremde als etwas Negatives dargestellt, der die mit lauter positiven Begriffen beschriebene und schmerzlich vermisste Heimat in einer deutlichen Opposition gegenübergestellt wird. Die Fremde bedeutet hier gegenüber der Heimat eine Reduktion von Lebensqualität und Identität, ein verbindender Raum dazwischen oder ein drittes Neues existiert dagegen nicht. Man könnte also seit den späten 1980er und 90er Jahren vorsichtig von einer veränderten Sichtweise auf interkulturelle Situationen innerhalb der poetischen Produktion sprechen.
10 | Olivers Stühle ist zwar schon fast drei Jahrzehnte alt, doch ist es gewissermaßen das paradigmatische interkulturelle Gedicht, weshalb es für die vorliegende Untersuchung gewählt wurde. Ein eher zeitbezogenes Beispiel für ein interkulturelles Gedicht wäre Uljana Wolfs kochanie, ich habe brot gekauft (Wolf 2005: 48). Dieser Text beschreibt ein Nachdenken über sich selbst und den eigenen Platz in der Welt, ein positives Zusammenfügen von zwei Hälften und das allmähliche Vertrautwerden des Fremden / der Fremde. Weitere aktuelle interkulturelle Gedichte finden sich in Marica Bodrožić’ Gedichtband Quittenstunden (Bodrožić 2011), in dem Fremdheit als Voraussetzung für das Entstehen des dichterischen Ichs und die dichterische Sprache gewertet wird. Gedichte mit vorwiegend interkulturellem Potenzial wurden des Weiteren von Gülbahar Kültür (Kültür 1994) und Zehra Çırak (Çırak 1991; 1994) verfasst.
11 | Oliver 1987: 52. Die römischen Ziffern I bis IV stammen von W.W. und bezeichnen die Strophen des Gedichts, auf die in der Interpretation verwiesen wird.
12 | In: Tawada 2006: 37. Die vorangestellten Ziffern zur Nummerierung der Verse stammen von W.W. Viele Gedichte mit transkulturellen Merkmalen finden sich auch in Ann Cotten: Florida-Räume (2010). Mittels ausgeprägter Mehrsprachigkeit und intertextueller Bezüge werden hier deutlich die Kultur- und Nationengrenzen transferiert.
13 | Falb 2009a: 12. Die vorangestellten Ziffern zur Nummerierung der Verse stammen von W.W.
14 | Histamine sind Neurotransmitter, die für das Immunsystem eine wichtige Rolle spielen; Makrophagen sind Zellen des Immunsystems.
15 | Ähnliche Beobachtungen macht auch Jankowski (2010).
16 | In dem Jahr des Erscheinens von BANCOR ist sieh diesen handlungsfamilien… zusätzlich noch in einer Anthologie publiziert worden. Diesem Abdruck des Gedichts ist ein Kommentar des Autors angefügt, in dem er selbst Orte wie die Weltausstellung und die Biennale als »Nicht-Or[t]« bezeichnet (Falb 2009b: 82).
17 | Auch Dorothea Kallfass kommt in ihrem Porträt Daniel Falbs zu dem Schluss, dass es sich bei seiner Lyrik um ein netzartiges Gewebe handelt, und verwendet hierfür sogar den von Han gebrauchten Terminus des Rhizoms: »Die Gedichte von Daniel Falb […] haben ihre ganz eigene Kompositionsstruktur, die vielleicht am ehesten rhizomorph zu nennen ist – also vielfach verflochtenen Strukturen vergleichbar, die sich nicht auf hierarchische Ordnungsprinzipien gründen, sondern ein Nebeneinander bilden, das sich in Form von Gleichzeitigkeit auch in Falbs Poetik wiederfindet.« (Kallfass 2007)
18 | In den Anmerkungen zum Gedicht im Band BANCOR wird auf Emily Dickinsons »I dwell in Possibility« als einen intertextuellen Bezug verwiesen (vgl. Falb 2009a: 56). Die in der Anthologie Laute Verse publizierte Fassung des Gedichts weist eine etwas veränderte Form auf und trägt den Verweis auf Dickinson als Motto (vgl. Falb 2009b: 80). Diesen Hinweis verdanke ich meiner ehemaligen Studentin Mariella Leist, die sich im Rahmen meines Seminars »Interkulturelle Lyrik« im Sommersemester 2011 intensiv mit dem Gedicht von Falb beschäftigt hat.
19 | In Falbs Kommentar zu seinem Gedicht (vgl. ebd.: 81f.) bringt er Dickinsons Gedicht mit der Philosophie von Leibniz und Hannah Arendt in Verbindung, wodurch der intertextuelle Bezug wiederum netzartig immer weitergesponnen wird. Interessanterweise beschreibt Falb Dickinsons in ihrem Gedicht zum Ausdruck kommende Poetologie dabei mit Begriffen aus dem Internet: »Das Gedicht sei als Ort reiner Möglichkeit zu begreifen, als Struktur von Hyperlinks (windows, doors) gegen die Linearität des Erzählens.« (Ebd.: 81, Hervorh. im Original) Nach Han ist die Hyperrealität nicht mehr durch die Metapher der zwei getrennte Orte verbindenden Brücke zu erfassen, sondern durch die Metapher des Fensters: Windowing bedeutet, dass alles in allem repräsentiert ist und somit jedes Element mit einem anderen verbunden ist.
20 | Auch in Bezug auf das interkulturelle Potenzial von Literatur wird bisweilen der Vorwurf erhoben, dass hier Dinge beschrieben werden, die die Literatur per se ausmachen (vgl. Dörr 2010: 85). Hofmann argumentiert etwas anders, wenn er die »poetische Alterität« hervorhebt, aber in dieser gerade die besondere Bedeutung von Literatur »für das Verständnis von kultureller Differenz und interkulturellen Konstellationen« sieht (Hofmann 2006: 54).
21 | Man denke z.B. an poetische Texte der historischen Avantgarden, wie etwa an die Auflösung der sinnhaften Sprache in den Zaum-Gedichten Velimir Chlebnikovs.
22 | Als weitere Gedichte mit hyperkulturellen Merkmalen wären zu nennen: Weitere Gedichte Falbs in BANCOR (vgl. Falb 2009a); Uljana Wolfs Zyklus falsche freunde (vgl. Wolf 2009; hier werden bereits in den Gedichttiteln rhizomartige Strukturen nachgebildet); Uljana Wolf: mappa (Wolf 2011); Ann Cotten: Sehnsucht, Webcam und andere Gedichte aus dem Band Fremdwörterbuchsonette (vgl. Cotten 2007); einige Texte von Yoko Tawada; Armin Steigenberger: wir schimmern an den rändern (Steigenberger 2014); verschiedene Gedichte von Simone Kornappel wie z.B. »zwitschermaschine« (Kornappel 2011). Den Hinweis auf Wolfs Gedicht »mappa« und Steigenbergers Gedicht »wir schimmern an den rändern« verdanke ich meiner ehemaligen Studentin Mariella Leist, die sich im Rahmen des Seminars »Interkulturelle Lyrik« auf die Suche nach weiteren hyperkulturellen Gedichten gemacht hat.
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