Wiederabdruck nach: Lisa Fittko: Mein Weg über die Pyrenäen. Erinnerungen 1940 / 41, München / Wien: Carl Hanser Verlag 1985, S. 129-144. © 1985 Carl Hanser Verlag München
Es ist jetzt schon über vierzig Jahre her, aber ich erinnere mich noch genau daran, mit allen Einzelheiten. Oder könnte es sein, daß ich mir das nur einbilde?
Ich weiß, daß es der 25. September 1940 war, in einem engen Dachstübchen in Port-Vendres. Ich hatte mich vor ein paar Stunden schlafen gelegt, als mich ein Klopfen an der Tür weckte. Ich sah das graue Morgenlicht durch das hohe Dachfenster und dachte, das kann doch nur das kleine Mädchen von unten sein. Es klopfte wieder, und ich stand auf und öffnete verschlafen die Tür. Doch es war nicht das Kind. Ich rieb mir die Augen – vor mir stand einer unserer Freunde, Walter Benjamin, der, wie viele andere, nach Marseille geflohen war, als die Deutschen Frankreich überrannten. ›Der alte Benjamin‹, wie er bei mir hieß, ich weiß nicht recht, warum, er war ungefähr achtundvierzig.
»Gnädige Frau«, sagte er, »entschuldigen Sie bitte die Störung, hoffentlich komme ich nicht ungelegen.«
Die Welt gerät aus den Fugen, dachte ich, aber Benjamins Höflichkeit ist unerschütterlich.
»Ihr Herr Gemahl«, fuhr er fort, »hat mir erklärt, wie ich Sie finden kann. Er sagte, Sie würden mich über die Grenze nach Spanien bringen.«
Was hatte er gesagt, mein Herr Gemahl? Es sah ihm ähnlich, er nahm immer einfach an, daß ich schon hinkriegen würde, was es auch sei.
Benjamin stand immer noch im Türrahmen, denn zwischen Bett und Wand war kein Platz für eine zweite Person. Ich sagte ihm, er solle auf mich im Bistro am Marktplatz warten.
Vom Bistro aus machten wir einen Spaziergang, um uns ohne Mithörer unterhalten zu können. Mein Mann könne zwar noch nichts davon wissen, erklärte ich Benjamin, doch seit meiner Ankunft hier vor ein paar Tagen hätte ich tatsächlich einen sicheren Weg über die Grenze erkundet.
Zuerst war ich zum Hafen hinuntergegangen und mit einigen Hafenarbeitern ins Gespräch gekommen. Einer von ihnen führte mich zum Vertrauensmann der Gewerkschaft. Ohne viel Fragen schien er zu verstehen, um was es sich handelte. Er riet mir, Monsieur Azéma in Banyuls-sur-Mer aufzusuchen, den Bürgermeister. Das sei, wie man mir schon in Marseille gesagt hatte, der Mann, der mir helfen würde, für meine Angehörigen und Freunde, die über die Grenze wollten, einen sicheren Weg zu finden.
»Das ist ein großartiger Mensch, dieser Bürgermeister Azéma«, erzählte ich Benjamin weiter. »Stundenlang hat er mit mir jede Einzelheit ausgearbeitet.«
Der Weg an den Friedhofsmauern von Cerbère entlang war jetzt leider zu gefährlich geworden. Es war ein ziemlich einfach zu findender Weg gewesen, und eine Reihe von Flüchtlingen hatte ihn einige Monate benützt, aber jetzt wurde er von den gardes mobiles schwer bewacht, offenbar auf Befehl der deutschen Kundt-Kommission (der Gestapo-Agentur im noch unbesetzten Teil Frankreichs). Der einzige wirklich sichere Weg, der noch blieb, hatte der Bürgermeister erklärt, war la route Lister. Das bedeutete, daß wir die Pyrenäen weiter westlich zu überqueren hatten, wo der Gebirgskamm höher war und demzufolge der Aufstieg anstrengender.
»Das macht nichts«, sagte Benjamin, »solange der Weg sicher ist. Allerdings habe ich Herzbeschwerden und werde langsam gehen müssen. Übrigens wollen noch zwei andere Leute mit mir über die Grenze, die sich mir in Marseille angeschlossen haben, eine Frau Gurland und ihr junger Sohn. Würden Sie die beiden auch mitnehmen?«
»Ja, natürlich. Aber sind Sie sich darüber im klaren, daß ich kein erfahrener Führer in dieser Gegend bin? Ich kenne den Weg eigentlich gar nicht, ich selbst bin noch nie dort oben gewesen. Was ich habe, ist ein Stück Papier mit einer Wegskizze, die der Bürgermeister aus dem Gedächtnis gezeichnet hat. Und dann hat er mir einige Einzelheiten beschrieben, Abzweigungen, die wir nehmen müssen, auch eine Hütte auf der linken Seite. Vor allem ist da eine Hochebene mit sieben Pinien, die wir unbedingt rechts von uns liegenlassen müssen, sonst geraten wir zu weit nach Norden; und dann der Weinberg, der an der richtigen Stelle zum Kamm führt. Wollen Sie sich auf das Risiko einlassen?«
»Ja, sicher«, sagte er, ohne zu zögern. »Nicht zu gehen, das wäre das eigentliche Risiko.«
Ich schaute ihn an und erinnerte mich, daß dies nicht Benjamins erster Versuch war, aus der Falle herauszukommen. Wie konnte man seinen vorherigen Fluchtversuch auch je vergessen?
In der apokalyptischen Stimmung im Marseille des Jahres 1940 gab es Tag für Tag Geschichten von absurden Fluchtversuchen; es gab Pläne mit Phantasiebooten und Fabelkapitänen, Visa für Länder, die auf keiner Karte zu finden waren, und Pässe aus Staaten, die es gar nicht mehr gab. Man war es gewohnt, durch Flüsterpropaganda zu erfahren, welcher todsichere Plan an diesem Tag wieder wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen war.
Trotz allem mußten wir immer wieder über die komischen Seiten solcher Tragödien lachen. Man muß sich vorstellen: Dr. Fritz Fränkel mit seiner zierlichen Gestalt und der grauen Haarmähne und sein etwas schwerfälliger Freund Walter Benjamin mit dem durchgeistigten Gelehrtenkopf und dem forschenden Blick hinter dicken Brillengläsern – dieses Pärchen wird, als französische Matrosen verkleidet, durch Bestechung auf einen Frachter geschmuggelt. Weit sind sie nicht gekommen. Zum Glück gelang es ihnen, in dem allgemeinen Chaos davonzukommen.
Wir beschlossen, Bürgermeister Azéma noch einmal aufzusuchen, diesmal gemeinsam, damit wir uns zu zweit die Einzelheiten einprägen konnten. Ich benachrichtigte Eva, meine Schwägerin, im Nebenhaus (mit ihr und dem Kind wollte ich in der folgenden Woche über die Grenze und nach Portugal gehen) und machte mich mit Benjamin auf den Weg nach Banyuls.
Hier läßt mein Gedächtnis mich im Stich. Wagten wir es, trotz der ständigen Kontrollen im Grenzgebiet, den Zug zu nehmen? Kaum anzunehmen. Sicher sind wir die sechs oder acht Kilometer von Port-Vendres nach Banyuls auf dem steinigen Pfad gegangen, der mir inzwischen vertraut war. Ich weiß noch, wie wir den Bürgermeister in seiner Amtsstube antrafen, wie er die Türe abschloß und dann seine Anweisungen wiederholte und unsere Fragen beantwortete.
Als er zwei Tage zuvor die Wegskizze für mich aufgezeichnet hatte, waren wir beide ans Fenster getreten, und er hatte mir die Richtungen gezeigt: die weit entfernte Ebene mit den sieben Pinien, und irgendwo hoch oben den Gebirgskamm, den wir zu überqueren hatten.
»Auf dem Papier sieht es wie ein leichter Spaziergang aus«, hatte ich zu ihm gesagt, »aber es scheint, daß wir diese hohen Gipfel der Pyrenäen übersteigen müssen –.«
Er hatte gelacht: »Dort liegt Spanien, auf der anderen Seite der Berge.«
Azéma riet uns, am Nachmittag einen Spaziergang zu machen und den ersten Teil der Strecke auszuprobieren, um zu sehen, ob wir den Weg finden würden.
»Gehen Sie bis zu dieser Lichtung hinauf«, sagte er und zeigte auf seine Wegskizze. »Wenn Sie zurückkommen, überprüfen Sie alles noch einmal mit mir. Verbringen Sie die Nacht im Gasthof, und morgen früh, kurz nach vier Uhr, solange es noch dunkel ist und die Bauern auf dem Weg in die Weinberge sind, mischen Sie sich unter die Leute und gehen dann den ganzen Weg zur spanischen Grenze.«
Benjamin fragte, wie weit es bis zu der Lichtung sei.
»Eine knappe Stunde, sicher nicht mehr als zwei Stunden. Ein schöner Spaziergang. « Wir gaben uns die Hand.
»Je vous remercie infiniment, monsieur le maire«, hörte ich Benjamin sagen. Ich habe seine Stimme noch im Ohr.
Im Gasthof trafen wir Benjamins Bekannte, die er dort auf uns hatte warten lassen, und erklärten ihnen unseren Plan. Sie waren gleich einverstanden, und ich dachte: Zum Glück sind das keine Leute, die immer was zu meckern haben – und keine Schwierigen, vor denen ich in solchen heiklen Situationen immer Angst habe.
So wanderten wir zu viert los, langsam, wie Touristen, die die Landschaft genießen. Mir fiel auf, daß Benjamin eine Aktentasche trug, die er sicher geholt hatte, als wir im Gasthof haltgemacht hatten. Sie schien schwer zu sein, und ich fragte, ob ich ihm helfen könne.
»Darin ist mein neues Manuskript«, erklärte er mir.
»Aber warum haben Sie es denn auf diesen Kundschaftsgang mitgenommen?«
»Wissen Sie, diese Aktentasche ist mir das allerwichtigste«, sagte er. »Ich darf sie nicht verlieren. Das Manuskript muß gerettet werden. Es ist wichtiger als meine eigene Person.«
Das wird kein leichter Übergang, dachte ich. Walter Benjamin mit seiner merkwürdigen Art. Es sieht ihm ähnlich. Als er im Hafen von Marseille als Matrose verkleidet durchkommen wollte, hatte er da auch die Aktentasche bei sich? Aber jetzt muß ich wirklich auf den Weg aufpassen, sagte ich mir und versuchte, Azémas Wegzeichnung zu deuten.
Da war der leere Stall, den der Bürgermeister erwähnt hatte; also hatten wir uns nicht verlaufen – bis jetzt. Dann stießen wir auf den Pfad, der leicht nach links abbog. Und dann der riesige Felsblock, den er beschrieben hatte. Eine Lichtung! Wir hatten es geschafft, nach fast drei Stunden.
Das war Azéma zufolge etwa ein Drittel des Weges. Mir ist diese Wanderung nicht als schwierig in Erinnerung. Wir setzten uns und ruhten eine Weile aus. Benjamin streckte sich im Gras aus und schloß die Augen. Ich dachte, der Weg hat ihn wohl erschöpft.
Wir machten uns fertig zum Abstieg, aber er stand nicht auf.
»Sind Sie noch müde?«, fragte ich.
»Mir geht es gut«, antwortete er, »gehen Sie drei nur los.«
»Und Sie?«
»Ich bleibe hier. Ich werde die Nacht hier verbringen, und Sie stoßen morgen früh wieder zu mir.«
Das war noch schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte. Was tun? Ich mußte versuchen, ihn mit vernünftigen Argumenten zu überzeugen. Wir waren in einer wilden Berggegend, vielleicht gab es gefährliche Tiere. Man hatte mich tatsächlich gewarnt, daß es hier wilde Stiere gab. Es war Ende September und Benjamin hatte nichts zum Zudecken. Schmuggler trieben sich hier herum, wer weiß, ob sie ihm nicht etwas antun würden. Und er hatte überhaupt keinen Proviant bei sich. Nein, das war wirklich eine unmögliche Idee.
Er entgegnete mir, sein Entschluß, die Nacht auf der Lichtung zu verbringen, sei unwiderruflich, denn er beruhe auf einer einfachen logischen Überlegung. Sein Ziel sei, die Grenze zu überqueren, damit er und sein Manuskript nicht in die Hände der Gestapo fielen. Ein Drittel dieses Zieles habe er erreicht. Wenn er jetzt ins Dorf zurückkehren und den ganzen Weg am folgenden Tag nochmals gehen müsse, würde sein Herz wahrscheinlich nicht mitmachen. Folglich werde er bleiben.
Ich setzte mich wieder hin und sagte: »Dann bleibe ich auch hier.«
Er lächelte. »Werden Sie mich vor Ihren wilden Stieren schützen, gnädige Frau?«
Es wäre unvernünftig, wenn ich bliebe, erklärte er mir ruhig. Ich müsse zudem mit Azéma noch einmal alles durchgehen. Es sei auch notwendig, daß ich meinen Schlaf bekäme; nur dann sei ich in der Lage, die Gurlands sicher und ohne Verzögerung vor Sonnenaufgang wieder zu diesem Punkt zurückzuführen und zur Grenze weiterzuwandern.
Das war mir natürlich alles klar. Vor allem mußte ich mir ohne Lebensmittelmarken etwas Brot beschaffen, vielleicht auch einige Tomaten oder Ersatzmarmelade auf dem schwarzen Markt, damit wir unterwegs etwas zu essen hatten. Ich glaube, ich hatte nur versucht, ihn zu schockieren, damit er seinen Plan aufgab, aber es hatte natürlich nichts genützt.
Beim Abstieg versuchte ich, mich auf den Weg zu konzentrieren, um ihn am nächsten Morgen in der Dunkelheit wiederzufinden. Doch da war immer wieder der nagende Gedanke: Er hätte nicht allein da oben zurückbleiben sollen, das war ja ganz verrückt. Hatte er es von Anfang an so vorgehabt? Oder hatte ihn der Weg derart erschöpft, daß er erst als er oben war beschloß zu bleiben? Andererseits war da diese schwere Aktentasche, die er mitgenommen hatte – –. Vielleicht funktionierte etwas nicht mit seinem Lebenswillen. In welche Richtung würde ihn seine eigentümliche Denkweise im Augenblick der Gefahr lenken?
Ich erinnere mich jetzt an eine Geschichte, die mein Mann mir erzählt hatte. Im Winter vor der Kapitulation Frankreichs waren Benjamin und er zusammen im Lager Vernuche, in der Nähe von Nevers. Benjamin, ein starker Raucher, eröffnete ihm eines Tages, daß er das Rauchen aufgegeben habe, und er beschrieb die Qualen des Entzugs.
»Falscher Zeitpunkt«, sagte Hans. Ihm war aufgefallen, wie wenig Benjamin in der Lage war, mit den »Widrigkeiten des äußeren Lebens, die manchmal wie Wölfe […] kommen«, fertig zu werden – und in Vernuche war das gesamte Leben eine einzige Widrigkeit. Hans hatte sich daran gewöhnt, ihm zu helfen, sich in praktischen Dingen zurechtzufinden.
Um Krisen zu überstehen und den Verstand nicht zu verlieren, versuchte er Benjamin zu erklären, sei folgende Grundregel wichtig: immer nach Erfreulichem suchen und nicht nach zusätzlichen Härten.
Benjamin entgegnete: »Ich kann die Zustände im Lager nur ertragen, wenn ich gezwungen bin, meine geistigen Kräfte ganz und gar auf eine gewaltige Anstrengung zu konzentrieren. Das Rauchen aufzugeben kostet mich diese Anstrengung, und so wird es mir zur Rettung.«
Am nächsten Morgen schien alles gut zu klappen. Die Gefahr, von der Polizei oder den Grenzbeamten entdeckt zu werden, war am größten beim Verlassen des Ortes und zu Beginn des Aufstiegs. Azéma hatte uns eingeschärft: »Brechen Sie vor Sonnenaufgang auf, mischen Sie sich unter die Weinarbeiter, nehmen Sie nichts mit als eine musette, einen Brotbeutel, und sprechen Sie nicht! Dann können die Wachen Sie im Dunkeln nicht von den Einheimischen unterscheiden.« Frau Gurland und ihr Sohn hielten sich genau an die Regeln, die ich ihnen erklärt hatte, und es war mir jetzt leicht, den Weg zu finden.
Je näher wir zur Lichtung kamen, desto unruhiger wurde ich. War er noch dort? Was war geschehen während der Nacht? Lebte er überhaupt noch? Meine Phantasie begann mit mir durchzugehen.
Endlich die Lichtung! Und der alte Benjamin. Am Leben. Er richtete sich auf und schaute uns freundlich an. Aber – aber was war denn mit ihm geschehen? Diese großen, dunkelroten Flecken um seine Augen – waren das vielleicht Symptome eines Herzanfalls?
Möglicherweise erriet er, warum ich ihn anstarrte. Er nahm die Brille ab und wischte sich mit dem Taschentuch über das Gesicht. »Ach das«, sagte er. »Der Tau, wissen Sie. Die Ränder des Brillengestells, sehen Sie? Sie färben ab, wenn sie feucht werden.«
Das Herz hörte auf, mir im Hals zu schlagen und schlüpfte hinunter auf seinen Platz.
Der Aufstieg wurde nun steiler. Auch waren wir uns nicht sicher über die Richtung, denn wir hatten jetzt nur Hügelabhänge und Felsenwände vor uns. Zu meiner Überraschung fand Benjamin sich recht gut in unserer Wegskizze zurecht und half mir, die Orientierung nicht zu verlieren. Einmal wurde uns nach etwa zwanzig Minuten klar, daß wir eine falsche Abzweigung genommen hatten, denn der Weg ging nun plötzlich nach rechts und abwärts, der Kamm aber lag links und oben. So wanderten wir zurück und fanden die Kreuzung, bei der wir uns geirrt hatten.
Der Begriff ›Weg‹ wurde nun mehr und mehr zur Übertreibung. Dann und wann war ein Pfad zu sehen, häufiger aber war es nur eine kaum erkennbare Spur zwischen den Geröllblöcken. Bis wir zu dem steilen Weinberg kamen, den ich nicht vergessen kann.
Aber zuerst muß ich erklären, warum gerade diese Route so sicher war.
Nach dem Aufstieg durch die grünen Hügel, die sacht ins Meer ausliefen, verlief unser Pfad parallel zur wohlbekannten ›offiziellen‹ Straße, die am Gebirgskamm entlangführte und leicht gangbar war. Unser Weg – la route Lister und ein uralter Schmugglerpfad – lag unterhalb der Straße und war durch den Gebirgsüberhang verdeckt, so daß er von den französischen Grenzwachen, die oben patroullierten, nicht gesehen werden konnte. An einigen Stellen kamen sich die beiden Wege sehr nahe, und dort mußten wir uns still verhalten.
Benjamin wanderte langsam und gleichmäßig. In regelmäßigen Abständen – ich glaube, es waren zehn Minuten – machte er Halt und ruhte sich für etwa eine Minute aus. Dann ging er in demselben gleichmäßigen Schritt weiter. Er hatte sich das, wie er mir erzählte, während der Nacht überlegt und ausgerechnet: »Mit dieser Methode werde ich es bis zum Ende schaffen. Ich mache in regelmäßigen Abständen Halt – die Pause muß ich machen, bevor ich erschöpft bin. Man darf sich nie völlig verausgaben.«
Was für ein merkwürdiger Mensch, dachte ich. Kristallklares Denken, eine unbeugsame innere Kraft, und dabei ein hoffnungsloser Tolpatsch.
Walter Benjamin schrieb einmal (in Agesilaus Santander) über das Wesen seiner Kraft: »… mit nichts ist meine Geduld zu überwinden.« Als ich das Jahre später las, sah ich ihn wieder vor mir, wie er langsam und in gleichmäßigem Schritt den Bergpfad entlangging. Und sein widersprüchliches Wesen erschien mir nun weniger absurd.
Frau Gurlands Sohn José, er war ungefähr sechzehn Jahre alt, und ich trugen abwechselnd die schwarze Ledertasche; mir kam es so vor, als würde sie immer schwerer werden. Doch ich erinnere mich, daß wir alle recht guter Stimmung waren und uns hin und wieder ein wenig unterhielten. Meistens sprachen wir über die Probleme des Augenblicks: die glatten Felswege, die wärmende Sonne, und wie weit es wohl noch bis zur Grenze war.
Heute, wo Benjamin als einer der wichtigen Gelehrten und Kritiker unseres Jahrhunderts gilt, heute werde ich manchmal gefragt: Was hat er über das Manuskript gesagt? Hat er sich über den Inhalt ausgelassen? Hat er darin ein neues philosophisches System entwickelt?
Du lieber Himmel, ich hatte alle Hände voll zu tun, meine kleine Gruppe bergauf zu führen; die Philosophie mußte warten, bis wir über den Berg waren. Es kam darauf an, einige Menschen vor den Nazis zu retten, und da war ich nun mit diesem komischen Kauz, dem alten Benjamin, der sich unter keinen Umständen von seinem Ballast, von dieser schwarzen Ledertasche trennen würde. So mußten wir das Monstrum wohl oder übel über das Gebirge schleppen.
Doch zurück zu dem steilen Weinberg. Einen Pfad gab es da nicht. Wir kletterten zwischen den Rebstöcken hindurch, die voll von beinahe reifen, dunklen, süßen Banyuls-Trauben hingen. Ich meine, daß es ein fast senkrechter Hang war, aber in der Erinnerung verzerrt sich wohl manchmal das Bild. Im Weinberg war das erste und einzige Mal, daß Benjamin schlappmachte. Genauer gesagt, er versuchte die Steigung zu nehmen, schaffte es nicht und erklärte dann in gesetzten Worten, daß dies seine Kräfte übersteige. José und ich nahmen ihn zwischen uns, er legte die Arme um unsere Schultern, und wir schleppten ihn samt der Tasche den Weinberg hinauf. Sein Atem ging schwer, doch er klagte nicht – nicht einmal ein Seufzer –, aber immer wieder schielte er nach der Aktentasche.
Oberhalb des Weinbergs machten wir auf einem schmalen Bergrücken Rast. Die Sonne stand inzwischen hoch und es war uns warm; wir mußten also schon vier bis fünf Stunden unterwegs gewesen sein. Wir knabberten an dem Proviant, den ich in meiner musette mitgebracht hatte, aber viel essen konnte keiner. Unsere Mägen waren in den letzten Monaten geschrumpft – erst die Konzentrationslager, dann der wirre Rückzug, la pagaille, das totale Chaos.
Während wir uns ausruhten, dachte ich, daß dieser Weg über die Berge doch länger und schwieriger war, als wir es nach der Beschreibung des Bürgermeisters hatten annehmen können. Wenn man sich des Weges sicher war, nichts zu tragen hatte und jung und gesund war, konnte man es sicher auch viel schneller schaffen. Zudem waren Monsieur Azémas Angaben über Entfernung und Zeit, wie so oft bei Gebirgsleuten, sehr dehnbar. Wie lang sind »ein paar Stunden«?
Während der folgenden Wintermonate, als wir den Weg über die Grenze manchmal zwei- oder dreimal in einer Woche gingen, dachte ich oft an Benjamins Selbstdisziplin. Sie kam mir in den Sinn, als Frau R. mitten in den Bergen anfing zu jammern: »– haben Sie denn nicht einmal einen Apfel für mich mitgenommen – einen Apfel will ich«; als der Herr Regierungsrat Dr. H. seinen Pelzmantel höher schätzte als seine (und unsere) Sicherheit; und ein Fräulein plötzlich einen Höhenkoller bekam und unbedingt sterben wollte. Aber das sind andere Geschichten.
Jetzt saß ich hoch oben in den Pyrenäen, aß ein Stück Brot, das ich mit gefälschten Marken gekauft hatte, und schob Benjamin die Tomaten zu, als er fragte: »Gnädige Frau, wenn Sie gestatten, darf ich mich bedienen?« Ja, so war er, der alte Benjamin mit seinem spanischen Hofzeremoniell.
Plötzlich fiel mir auf, daß das, worauf ich schläfrig geschaut hatte, ein sonnengebleichtes Skelett war. Vielleicht eine Ziege? Der Schädel sah so aus. Über uns, am südlich-blauen Himmel, kreisten zwei große schwarze Vögel. Es müssen wohl Aasgeier gewesen sein. Was erhoffen sie sich von uns? Dann dachte ich, wie merkwürdig, normalerweise würden mich Skelette und Aasgeier nervös machen.
Wir machten uns wieder auf und zogen weiter. Der Weg stieg jetzt nur noch leicht an, aber seine Beschwerlichkeit macht Benjamin sicher zu schaffen. Schließlich war er seit sieben Uhr auf den Beinen. Er ging jetzt noch etwas langsamer und machte längere Pausen, aber immer nach der Uhr. Er schien ganz davon in Anspruch genommen, den Rhythmus einzuhalten.
Schließlich erreichten wir den Gipfel. Ich war vorausgegangen und machte Halt, um mich umzusehen. Das Bild erschien so unverhofft vor mir, daß ich einen Augenblick an eine Fata Morgana glaubte. Weit unten, von wo wir gekommen waren, sah man wieder das tiefblaue Mittelmeer. Auf der anderen Seite, vor uns, fielen schroffe Klippen ab auf eine Glasplatte aus durchsichtigem Türkis – ein zweites Meer? Ja natürlich, das war die spanische Küste. Hinter uns, im Norden, im Halbkreis, Kataloniens Roussillon mit der Côte Vermeille, der Zinnober-Küste, einer herbstlichen Erde mit unzähligen gelb-roten Tönen. Ich schnappte nach Luft. Solche Schönheit hatte ich noch nie gesehen.
Ich wußte nun, daß wir uns inzwischen in Spanien befanden, und ich wußte auch, daß der Weg von hier aus bis zum Abstieg in den Ort geradeaus weiterführte. Ich mußte nun umkehren. Die anderen hatten die nötigen Papiere und Visa, aber ich durfte nicht riskieren, auf spanischem Boden geschnappt zu werden. Ich blickte auf meine kleine Gruppe und dachte, nein, ich kann sie doch jetzt noch nicht ganz sich selbst überlassen. Noch eine kleine Strecke gehe ich mit –.
Wir kamen an einem Tümpel vorbei. Das Wasser war grünlich, schleimig und stank. Benjamin kniete sich hin, um zu trinken.
»Sie können das nicht trinken«, sagte ich, »das Wasser ist schmutzig und sicher verseucht.«
Die Feldflasche, die ich mitgenommen hatte, war inzwischen leer, doch Benjamin hatte bislang nichts von Durst gesagt.
»Entschuldigen Sie«, sagte er, »aber ich habe keine andere Wahl. Wenn ich hier nicht trinke, kann ich vielleicht nicht bis zum Ende durchhalten.« Er beugte den Kopf zum Tümpel hinunter.
»Hören Sie mir doch zu«, sagte ich, »wollen Sie bitte einen Moment warten und mir zuhören? Wir haben es beinahe geschafft, es ist nur noch ein kurzes Stück und Sie haben es hinter sich. Ich weiß, daß Sie es schaffen werden. Aber von dieser Brühe zu trinken, ist unmöglich. Überlegen Sie doch, seien Sie vernünftig. Sie holen sich Typhus –.«
»Ja, vielleicht. Aber Sie müssen verstehen: Das Schlimmste, was passieren kann, ist, daß ich an Typhus sterbe – nachdem ich die Grenze überschritten habe. Die Gestapo kann mich nicht mehr festnehmen, und das Manuskript wird in Sicherheit sein. Sie müssen schon entschuldigen, gnädige Frau.«
Er trank.
Der Weg ging nun sacht bergab. Es muß ungefähr zwei Uhr nachmittags gewesen sein, als wir an das Ende der Felswand kamen, und im Tal konnte ich, ganz nah, den Ort sehen.
»Das dort unten ist Port-Bou! Der Ort mit der spanischen Grenzstation, wo Sie sich melden. Diese Straße führt direkt hin. Eine richtige Straße!«
Etwa zwei Uhr. Wir waren um vier Uhr früh aufgebrochen, Benjamin um sieben. Insgesamt also fast zehn Stunden.
»Ich muß jetzt umkehren«, fuhr ich fort. »Wir sind in Spanien, schon beinahe seit einer Stunde. Der Abstieg kann nicht allzu lange dauern, man kann ja von hier aus schon die Häuser sehen. Gehen Sie direkt zum Grenzposten und zeigen Sie Ihre Papiere: die Reiseunterlagen, die spanischen und portugiesischen Transitvisa. Sobald Sie Ihren Einreisestempel haben, nehmen Sie den nächsten Zug nach Lissabon. Aber das wissen Sie ja alles. Jetzt muß ich gehen. Auf Wiedersehen.«
Einen Moment noch blickte ich ihnen nach, wie sie die holprige Straße hinunterzogen. Es wird Zeit, daß ich von hier fortkomme, dachte ich und begann den Rückweg. Ich ging weiter und wunderte mich, als ich spürte: Ich bin hier in einer vertrauten Gegend, ich bin keine Fremde mehr, wie ich es heute morgen noch war. Merkwürdig auch, daß ich nicht müde war. Alles war leicht, ich war unbeschwert, und mit mir die übrige Welt. Benjamin und die anderen mußten es inzwischen geschafft haben. Wie schön es hier oben war!
In zwei Stunden war ich wieder unten in Banyuls. Neun Stunden bergauf, zwei Stunden für den Abstieg.
In den folgenden Monaten, als wir den Weg schon im Schlaf fanden, schafften wir es einmal in zwei Stunden bis zur Grenze, und ein paarmal in drei bis vier Stunden. Es war zu machen, wenn unsere ›Ladung‹ jung und kräftig und vor allem diszipliniert war. Ich habe diese Menschen nie wiedergesehen, aber von Zeit zu Zeit taucht wieder ein Name auf und plötzlich macht etwas ›klick‹. Henry Pachter, der Historiker: das ist doch Heinz mit seiner Freundin, Rekordzeit zwei Stunden. Oder Prof. Albert Hirschmann von Princeton – das war damals der junge Hermant: ungefähr drei Stunden.
Aber das alles kam später. Damals, als ich nach dem ersten Gang auf der route Lister wieder in Banyuls war, dachte ich: Der alte Benjamin und sein Manuskript sind jetzt in Sicherheit, auf der anderen Seite der Berge.
Nach ein paar Tagen kam die Nachricht: Walter Benjamin ist tot. Er hatte sich in Port-Bou in der Nacht nach seiner Ankunft das Leben genommen.
Die spanische Grenzstelle hatte der Gruppe mitgeteilt, daß sie zurück nach Frankreich gebracht würde. Eine neue Verfügung war gerade aus Madrid eingetroffen: Ohne ein französisches Ausreisevisum darf niemand nach Spanien einreisen. (Es gibt verschiedene Versionen, warum Spanien diesmal die Grenze schloß: apatrides durften nicht durch Spanien reisen; oder: in Marseille ausgestellte spanische Transitvisen waren ungültig.) Was auch immer die neue Verordnung war, sie wurde, wie die vielen anderen, bald wieder aufgehoben. Wäre die Nachricht von der Schließung der Grenze rechtzeitig zu uns auf die französische Seite gelangt, wäre zunächst niemand illegal über die Grenze gegangen, und man hätte die weitere Entwicklung abgewartet. In diesem ›Zeitalter der neuen Verordnungen‹ schienen die Regierungen aller Länder damit beschäftigt, Befehle und Anweisungen zu geben, zu widerrufen, in Kraft zu setzen und dann wiederaufzuheben. Um durchzukommen, mußte man lernen, durch Löcher zu schlüpfen und sich mit allen Schlichen und Finten aus diesem Labyrinth, das immer neue Formen annahm, herauswinden.
»… faut se débrouiller«: man muß sich zu helfen wissen, sich einen Weg aus dem Zusammenbruch bahnen – so lebte und überlebte man damals in Frankreich. … faut se débrouiller hieß, gefälschte Brotmarken kaufen, Milch für die Kinder beschaffen, oder eine, irgendeine, Erlaubnis erhalten – kurz, etwas zu ergattern, was es offiziell gar nicht gab. Für manche bedeutete es auch, sich solche Dinge durch collaboration zu verschaffen. Für uns, die apatrides, ging es vor allem darum, den Konzentrationslagern aus dem Weg zu gehen und nicht in die Hände der Gestapo zu fallen.
Doch Benjamin war kein debrouillard.
Weltfremd, wie er war, zählte für ihn nur, daß sein Manuskript und er selbst außerhalb des Zugriffs der Gestapo waren. Die Flucht über die Grenze hatte ihn erschöpft, und er glaubte nicht, daß er imstande wäre, sie zu wiederholen, das hatte er bei unserem Aufstieg zu mir gesagt. Auch für diesen Fall hatte er alles im voraus berechnet: Er hatte genügend Morphium bei sich, um sich mit einer tödlichen Dosis das Leben zu nehmen.
Betroffen und erschüttert über seinen Tod ließen die spanischen Behörden die Gurlands weiterreisen.
Vierzig Jahre später unterhielt ich mich einmal mit Professor Abramsky aus London, und wir kamen auf Walter Benjamin und sein Werk zu sprechen. Ich erwähnte seinen letzten Gang und das Manuskript.
Bald darauf rief Prof. Gershom Scholem mich an, Benjamins engster Freund und einer seiner literarischen Nachlaßverwalter. Er hatte durch Abramsky von unserer Unterhaltung gehört und wollte mehr wissen, und ich schilderte ihm die Ereignisse jenes Tages Ende September 1940.
»Wenigstens das Manuskript, an dem ihm so viel lag, wurde gerettet«, sagte ich.
»Das Manuskript existiert nicht«, sagte Scholem. »Bis heute hat nie jemand davon gehört. Sie müssen mir alle Einzelheiten erzählen, es muß danach gesucht werden –.«
Die Stimme spricht weiter, aber ich höre nur: Das Manuskript ist verschwunden. Und all diese Jahre hatte ich einfach angenommen, es sei gerettet worden.
Kein Manuskript. Niemand weiß etwas von der schweren schwarzen Tasche mit dem Werk, das für Benjamin wichtiger war als alles andere.
Hannah Arendt hat über jenes ›Bucklicht Männlein‹ geschrieben, dessen Bedrohung Benjamin sein ganzes Leben lang gespürt haben muß und gegen das er alle Vorsichtsmaßnahmen ergriff. Benjamins »System von Sicherheitsmaßnahmen … ging auf eine merkwürdige und geheimnisvolle Weise an den wirklichen Gefahren immer vorbei«, sagt sie.
Doch es scheint mir jetzt, daß Walter Benjamin in jener Nacht in Port-Bou die »wirkliche Gefahr« nicht außer acht gelassen hat. Nur unterschied sich seine wirkliche Gefahr, seine Realität von der unsrigen. In Port-Bou mußte er wieder einmal dem ›Bucklicht Männlein‹ begegnet sein, seinem eigenen, dem Benjaminschen ›Bucklicht Männlein‹ – und er mußte mit ihm auf seine Art fertig werden.
Das Manuskript konnte nicht gefunden werden, nicht in PortBou, nicht in Figueras und nicht in Barcelona. Nur die schwarze Ledertasche wurde damals im Sterberegister eingetragen mit der Bemerkung: unos papeles mas de contenido desconocido – mit Papieren unbekannten Inhalts.