The following article consists in a comparison of Thomas Hettche’s novel Pfaueninsel (2014) and João Ubaldo Ribeiro’s O feitiço da Ilha do Pavão (1997). Both novels create a utopian atmosphere on an island which alternates between relationality and separation and can be described as Insel-Welt and Inselwelt (both terms by Ottmar Ette). Taking into consideration the descriptions of exotic elements the paper aims at identifying colonial discourses on the backdrop of their cultural and historical implications.
Title:Two Utopian Islands in World Literature – João Ubaldo Ribeiro’s O Feitiço da Ilha do Pavão and Thomas Hettche’s Pfaueninsel in a Transnational Comparison
Keywords:world literature; Hettche,Thomas (geb. 1964); Ubaldo Ribeiro, João (1941-2014); contemporary literature; islands in literature
Die Beschreibung von Inseln spielt in der Literatur über alle nationalen und diachronen Grenzen hinweg eine große Rolle bei der Schilderung utopisch-paradiesischer Szenarien und alternativer Welten, deren Ablauf sich oftmals kontralogisch auf unsere eigene bezieht und ganz anderen Kausalvoraussetzungen folgt.1 Dabei sind einerseits die Abgeschiedenheit vom Festland und der damit einhergehende fluktuierende Charakter des Insularen zentral bei der Inszenierung alternativer Welten, Geschichtsverläufe und logisch anders gestalteter raumzeitlicher Prozesse. Die Insel zeichnet sich andererseits jedoch stets auch durch ihren relationalen Charakter zum Festland aus, zu dem sie meist in irgendeiner Form in Kontakt steht, sich davon abgrenzt oder, im Kleinen als Pars pro Toto fungierend, Teile der Weltgeschichte unter alternativen Bedingungen reinszeniert.
Im Folgenden stehen zwei Romane der gegenwärtigen Literaturproduktion im Fokus, die fiktionale Inseln gestalten, deren Titelgebung mit dem mythologisch aufgeladenen Symbol des Pfaus einhergeht: Thomas Hettches Roman Pfaueninsel (2014), der 2014 für den Deutschen Buchpreis (Shortlist) nominiert war, und der Roman des Brasilianers João Ubaldo Ribeiro O Feitiço da Ilha do Pavão (1997), der von Nicolai von Schweder-Schreiner als Das Wunder der Pfaueninsel (1999) ins Deutsche übertragen wurde. Während als Schauplatz für Hettches insulare Utopie die real existierende Pfaueninsel bei Potsdam in der Havel fungiert, ist Ubaldo Ribeiros Ilha do Pavão kartographisch nicht zu verorten, aufgrund zahlreicher Hinweise im Roman aber als im brasilianischen Bundesstaat Bahia liegende Insel identifizierbar, die einige Ähnlichkeiten mit der Insel Itaparica aufweist,2 die bereits Schauplatz für Ubaldo Ribeiros Erfolgsroman Viva o povo brasileiro (1997) (dt., Brasilien, Brasilien, 1999) war und auch Geburtsstätte des Autors ist.
Die beiden Inseln verbindet neben dem utopisch-paradiesischen Charakter vor allem der koloniale Diskurs, der auf Hettches Pfaueninsel im ausgehenden 18. Jahrhundert primär aus der Konkurrenz zu den europäischen Kolonialmächten England und Frankreich erwächst und sich auf der Insel unter anderem im Import exotischer Tiere in der inseleigenen Menagerie, exotischer Pflanzen im Palmenhaus sowie durch die Zurschaustellung von Sklaven, die dem Bild des ›edlen Wilden‹ entsprechen sollen, als koloniale Allmachtsphantasie realisiert. Ubaldo Ribeiros zu Beginn des 18. Jahrhunderts angesiedelte Inselutopie schildert das Zusammenleben ehemaliger portugiesischer Kolonialherren mit der indigenen Bevölkerung und ehemaligen Sklaven afrikanischer Herkunft, das zunächst harmonisch verläuft, im Laufe des Romans aber zu Konflikten zwischen den drei Bevölkerungsgruppen führt, welche die Kolonialdiskurse zwischen Alter und Neuer Welt abbilden. Im Folgenden werden Schilderung und Darstellung der insularen Utopie, des damit einhergehenden Exotismus sowie dadurch entstehende Gegendiskurse zur historischen Wirklichkeit, mit der beide Schilderungen im Dialog stehen, analysiert, um schließlich beide Inselutopien aus ihrer insularen Abgeschiedenheit zu lösen und sie als Orte des Weltgeschehens zu identifizieren, wodurch beide Romane als wichtige Werke der ›Weltliteratur‹ lesbar werden.
Obgleich sich Hettches Pfaueninsel in vielerlei Hinsicht an die historische Realität hält, historisch verbürgte Persönlichkeiten wie den königlichen Hofgärtner Gustav Fintelmann oder den Gartenkünstler Peter Joseph Lenné auftreten lässt, entwirft der Autor mit der Geschichte um ein historisch kaum belegtes Zwergengeschwisterpaar3 eine Art zeitlose Märchenwelt, die sich deutlich von den ideengeschichtlichen Diskursen der Aufklärer sowie von den technologischen Neuerungen rund um die Industrialisierung absetzt – und das, obwohl die Insel nur etwa hundert Meter vom Berliner Festland entfernt liegt (vgl. Barndt 1976: 18), dem damaligen Zentrum der geistigen und technologischen Neuerungen. Die Konstruktion als »Spielzeugwelt der Pfaueninsel« (Hettche 2014: 15) erlaubt zwar eine Koppelung an diese Diskurse, die durch ständige Austauschbewegungen mit dem Festland (Besuche, Import von Tieren, Pflanzen und Gütern) auch gegeben sind, behält aber stets den Charakter des kategorial Anderen, zeitlich wie räumlich über die Abläufe des Festlands Erhabenen bei. Die Insel wird dabei in ihrer semantischen Doppelfunktion gleichermaßen als Insel-Welt begriffen, die Abgeschlossenheit und Totalität gegenüber dem Festland demonstriert und ihren eigenen Gesetzen folgt, andererseits ebenso als Inselwelt, die den Charakter des Flukturierenden und Fragmentarischen sowie die Relationalität zum Festland bzw. zu anderen Inselgruppen betont (vgl. Ette 2005: 124). Die exotischen Inselbewohner, zu denen neben dem Geschwisterpaar auch noch ein paar Riesen sowie später der Wilde Harry von den Sandwichinseln gehören, erkennen ihre exzeptionelle Position, so wenn die Protaginistin, die Zwergin Marie Strakon, konstatiert: »Die Insel war tatsächlich das Paradies« (Hettche 2014: 187). Der paradiesische Zustand wird den Bewohnern auch vom mit seinen Siebenmeilenstiefeln durch die Welt reisenden Peter Schlemihl bestätigt, einer Romangestalt Adalbert von Chamissos, die für die Romantiker große Bedeutung hatte, der die Pfaueninsel besucht und im Gespräch mit Marie äußert: »Dieses Schloß, der Brunnen, die Pfauen und, verzeihen Sie meine Offenheit, Mademoiselle Strakon, nicht zuletzt auch die Anwesenheit der Zwerge, das alles atmet einen anderen als unseren modernen Geist« (ebd.: 95). Diese Form der insularen Utopie wäre indes nur in einer absoluten Abgeschiedenheit aufrechtzuerhalten. Im ständigen Dialog und Austausch mit dem nahe gelegenen Festland behält die Insel zwar einerseits ihren Charakter als eigenständige Einheit mit eigenen raumzeitlichen und kausalen Gesetzen, andererseits wird gerade diese Eigenständigkeit durch die zunehmende Vereinnahmung durch das Festland allmählich zerstört, so beispielsweise, als die Insel in einem besonders kalten Winter kurzfristig ihren insularen Charakter verliert: Die Havel ist komplett zugefroren, sodass eine direkte Landverbindung zum Festland besteht. So gelangen Füchse vom Berliner Festland auf die Insel, welche die dort ansässigen Pfauen reißen und damit den Anfang vom Ende der glücklichen Utopie markieren (vgl. ebd.: 162). Der anschließende Mord an Maries Bruder Christian sowie ihre unglückliche Liebesbeziehung zu Gustav, der die Ideale einer anderen Welt verkörpert und ihr schließlich gar das gemeinsame Kind entzieht, markieren weiterhin die Unvereinbarkeit beider Bereiche. So wird der Insel schließlich ihre semantische Doppelfunktion zum Verhängnis: »Die Insel, so ließe sich sagen, oszilliert folglich zwischen ihrer Herausgebrochenheit aus einer zusammenhängenden Welt und ihrer immer weiter sich ausdifferenzierenden Ganzheit als eigener Welt« (Ette 2005: 127).
Die duale Struktur als Insel-Welt und Inselwelt liegt auch João Ubaldo Ribeiros Das Wunder der Pfaueninsel zu Grunde, das »die deutsche Sehnsucht nach dem Ursprünglichen wie die sprichwörtliche Fee im Märchen« erfüllt (Grosse 1998). Bereits in der Anfangspassage wird sie als ein mythischer Ort beschrieben, der mit dem Schiff kaum erreichbar ist, über den nicht gesprochen wird und der von den geheimnisvollen Schreien der Pfaue durchzogen ist (vgl. Ubaldo Ribeiro 1997: 9). Trotz der versteckten Lage und der relativen Unerreichbarkeit aufgrund der feindlichen Felsküste sind einige Menschen auf die Insel gelangt:
[N]a estranha ilha da Bahia conhecida como ilha do Pavão, que, de tão inacessível, mal se tinha notícia dos que lá conseguiram chegar, depois de ocupada pela primeira vez pelo almirante Nuno Pires da Beira, seu primeio sesmeiro, que se afogou, sem deixar herdeiros ou pretendentes a seu patrimônio, quando o navio em que voltava à ilha foi arrojado às negras rocas do mar do Pavão, pelo vento funileiro.4 (Ebd.: 146)
Neben militärischen Eroberern befinden sich auf der Insel die Degredada und Hans Flussufer, ein deutscher Exilant aus Schweinfurt, der vor der Inquisition geflohen war. Diese Charaktere bilden durch ihre Bewegung vom Festland auf die Insel bereits eine Brücke zu den Ereignissen im Rest der Welt und durch sie erfahren die Inselbewohner von den Dingen »que aconteciam fora da ilha do Pavão«5 (ebd.: 236). Der paradiesische Urzustand der Insel besteht im Einklang der indigenen Bevölkerung mit der Natur: »Ao terreno pedregoso que franja os penhascos se sucede, maravilhosamente, uma mata cerrada em que somente índios e mateiros podem ter certeza de que não se perderão«6 (ebd.: 13). Die exotischen Tiere und Pflanzen, die es im Gegensatz zu Hettches Insel hier natürlicherweise gibt, bilden indes ein Problem für die neu eintreffenden Kolonialherren, die auf der Insel eine kleine Stadt errichten. Das anfangs harmonische Zusammenleben der drei großen Bevölkerungsgruppen auf der Insel – portugiesische Kolonialherren, indigene Bevölkerung und ehemalige Sklaven afrikanischer Herkunft – gerät bald in ein Ungleichgewicht, als der Präfekt die Indios aus der Stadt vertreiben will,7 die diese nun gleichermaßen als ihre Heimat ansehen. Hinzu kommt eine kriegerische Auseinandersetzung mit den Bewohnern eines Quilombos, einer Ansiedlung entlaufener Sklaven, die von einem ehemaligen kongolesischen Sklavenhändler als selbsternanntem König angeführt wird. Der ursprünglich paradiesische Zustand, der aus der exklusiven Abgeschiedenheit der Insel resultierte und in ein harmonisches Zusammenleben der verschiedenen Gruppen übergeht, wird sodann zu einer spiegelbildlichen Darstellung der brasilianischen Geschichte auf komprimiertem Raum. Die Austauschprozesse zwischen Insel und Festland sind mannigfaltig und werden als stellvertretend für die brasilianische Geschichte verständlich, wenn klare Grenzziehungen aufgehoben werden und sowohl das Fraktale der insularen Struktur als auch dasjenige Brasiliens selbst als diskursiver insularer Raum, der sich durch seine Relationalität auszeichnet (vgl. Muranyi 2013: 7), einbezogen werden. Mit der Eroberung Brasiliens durch europäische Kolonialmächte gehen auch die Diskurse von Alter und Neuer Welt einher, wobei sich eine Utopie von der Neuen Welt selbst als Insel herauskristallisiert: »Sie bilden auch Projektionsflächen eines Hoffens und Glaubens an eine positive Gegenwelt, welche in ihrer insularen Struktur einer kontinentalen Wirklichkeit stets entrückt bleibt« (ebd.: 10). Die Geschehnisse auf der Insel bilden dabei nicht nur eine stellvertretende Auseinandersetzung mit der Geschichte Brasiliens, wenn die Pfaueninsel als Inselwelt relational zu den mit ihr durch verschiedene Formen der Bewegung in Zusammenhang stehenden Orten betrachtet wird, wie es bereits für Ubaldo Ribeiros Erfolgsroman Viva o povo brasileiro in der Schilderung von drei Jahrhunderten brasilianischer Geschichte auf der Insel Itaparica ausschlaggebend war. Wenn Brasilien selbst als insularer Raum begriffen wird (vgl. ebd.), werden zudem die zahlreichen physischen wie ideengeschichtlichen Bewegungen zwischen Kolonialmacht und Kolonie ersichtlich, die Ubaldo Ribeiros Pfaueninsel auch in Relation zu Hettches Insel setzen. Auf beiden Inseln geht die insulare Utopie, die sich nur in einer absoluten Abgeschlossenheit erzielen lässt, aufgrund der Relationalität und der Bewegungsmuster von Insel und Festland einerseits sowie infolge ihres eigenen fraktalen Charakters andererseits langsam zu Grunde und es bleibt der melancholische Wunsch, »de conservar para sempre a ilha do Pavão, como algo à parte do resto do mundo«8 (Ubaldo Ribeiro 1997: 55).
Der Charakter des Exotischen, das als genuine Eigenschaft von Inselschilderungen in der Literatur fungiert, ist auf Hettches Pfaueninsel zunächst durch das dort vertretene Personal verwirklicht: Zwerge, Riesen und die exotischen ehemaligen Sklaven Harry von den Sandwichinseln9 und Maitey bilden ein Inventar von Sonderlingen, denen gleichsam in einer beschleunigten Welt kein angemessener Platz mehr zukommt und die in geradezu voyeuristischer Manier zu freizeitlichen Belustigungsobjekten der adligen Gesellschaft geraten. Die exotischen Charaktere fungieren als Kontrastfolie zum modernen, beschleunigten und zunehmend industrialisierten Berlin zu Beginn des 19. Jahrhunderts und sie geben nicht nur durch ihr differentes Äußeres, sondern auch durch ihr anders gestaltetes Zeitempfinden, das durch die räumliche Dualität sein narratives Äquivalent erfährt, einen anderen Takt an, denn die Zwerge kennen ein »anderes Licht und eine andere Zeit als die Menschen« (Hettche 2014: 30). Diese anfänglich klar separierten Sphären, in denen als exotisch primär das im Sinne Foucaults gesellschaftlich Andere und Ausgegrenzte gilt (vgl. Foucault 1969), erhalten durch die Veränderungen auf und außerhalb der Insel eine Umwertung, die als exotisch fortan das Außereuropäische, mit Machtphantasien und Kolonialisierungsbestrebungen verbundene Unbekannte begreift. Auch Preußen, das zum Ende des 18. Jahrhunderts vermehrt ein nationales Selbstbewusstsein entwickelt und in seinem Hegemonialstreben in Konkurrenz zu solchen Mächten wie Großbritannien oder Frankreich tritt, stellt seinen (kolonialen) Machtanspruch unter anderem durch die Anlage von großen Volksparks und die Zurschaustellung exotischer Tiere und Pflanzen aus. Dem Vorbild des Pariser Jardin des Plantes folgend, werden Ende des 18. Jahrhunderts vermehrt so genannte Menagerien erbaut, die als älteste Form der Wildtierhaltung in Europa gelten (vgl. Brogi 2009: 11) und die im 19. Jahrhundert in die Gestaltung von zoologischen Gärten, beispielsweise demjenigen in Berlin, münden: »Ein weiteres Mittel der Zurschaustellung von Macht im Zoologischen Garten stellen die für die exotischen Tiere geschaffenen Prachtbauten dar, durch welche koloniale Ansprüche sichtbar werden« (ebd.: 22). Auch auf der Pfaueninsel gibt es ab 1821 eine eigene Menagerie – an der Stelle, an der heute die große Vogelvoliere steht –, in der von tibetischen Ziegen über Papageien, Kängurus und Löwen eine Vielzahl exotischer Tiere vorhanden war (vgl. Hettche 2014: 151). Die Tiere, die meist als königliche Geschenke auf die Insel kamen, fristen dort indes ein trauriges Dasein: Viele von ihnen sterben beim Transport, aufgrund der klimatischen Bedingungen (z.B. die Guanakos, die die Kälte des Bodens nicht ertragen; vgl. ebd.: 172), oder führen ein Dasein in Isolation wie der einzige Löwe, zu dem Marie eine besondere Beziehung entwickelt. Während die Besucher der Insel die minutiös gestalteten Käfiganlagen inmitten der genauestens geplanten Parkstruktur bewundern, werden auf der anderen Seite der Insel Tierkadaver verbrannt. Sowohl die exotischen Bewohner der Insel als auch die im Sinne einer kolonialen Exotik importierten Tiere und Pflanzen geraten nach und nach zu Sonderlingen, die in der neuen Zeit, die mit der rasanten Kartographierung und Unterwerfung der Welt einhergeht, keinen Platz mehr haben. Dies vollzieht sich, »indem er [der König, Anm. d. Verf.] Lenné aus dem zwar spielerischen, doch produktiven landwirtschaftlichen Betrieb der Insel einen sterilen Garten machen ließ, der nichts hervorbrachte als eben Schönheit. Und in den er Tiere aus aller Welt setzen würde, die hier so wenig zu Hause waren wie er selbst.« (Ebd.: 125)10
Ihre grundlegende ästhetische Umgestaltung mit einem Exotismus kolonialer Prägung erfuhr die Insel ab 1821 durch den preußischen Generalgartendirektor Peter Joseph Lenné, der unter anderem für die Gestaltung von Rosengarten, Palmenhaus und Meierei verantwortlich zeichnete. Nachdem der preußische König Friedrich Wilhelm III. die berühmte 11.000 Pflanzen zählende Rosensammlung des Dr. Böhm in Berlin gekauft hatte, legte Lenné ab 1824 / 25 den Rosengarten mit modernem Bewässerungssystem, Tieren und Zierbrunnen an (vgl. Seiler 1989: 9) und krönte diese architektonische Leistung mit dem Bau des Palmenhauses 1830, dessen gläserne Architektur primär an der islamisch-indischen Kunst orientiert war (vgl. ebd.). Spätestens seit dieser Zeit folgte die Außendarstellung der Pfaueninsel und ihrer Flora und Fauna einer klaren ästhetischen Idee, die an zeitgenössischen gartenästhetischen Reflexionen orientiert waren, so bei Christan Cay Lorenz Hirschfeld, August Wilhelm Schleger, Ludwig Tieck, Carl von Effner. Dabei ging es primär um die Auseinandersetzung zwischen französischem und englischem Modell, um eine klare Unterwerfung oder um einen gestaltenden Eingriff in die Natur.11
Scheint die Ilha do Pavão bei João Ubaldo Ribeiro zunächst eine gegenteilige Idee hervorzurufen und eine Gartenvorstellung als paradiesartiger locus amoenus zu repräsentieren – Flora und Fauna werden eindrücklich beschrieben und sind keinerlei menschlichen Unterwerfungsbemühungen ausgesetzt, die indigene Bevölkerung trägt keine Kleidung –, werden die für den brasilianischen Leser der Jahrtausendwende ebenso wie für den deutschen Leser exotisch und ursprünglich anmutenden Zustände von den Kolonialherren ebenfalls umgekehrt. Die stellenweise Charakterisierung der indigenen Bevölkerung durch das Stereotyp des ›edlen Wilden‹ weicht dem Bild eines berechnenden, Cachaça trinkenden Schlitzohrs, das lieber in der Stadt bleiben als in den Wald zurückkehren will, und bricht damit mit der Tradition der Darstellung der Indios in der brasilianischen Literatur der Romantik (vgl. Ribeiro 2011: 13).12 Damit wird auch bei Ubaldo Ribeiro ein Diskurs reproduziert, der sich an koloniale Interessen anschließt und das Gegensatzpaar ›Zivilisation-Barbarei‹ als zentral etabliert. Die Darstellung des Exotischen, die in beiden Romanen mehrere Bedeutungsstufen durchläuft und sich in der Zeichnung von Flora und Fauna sowie der Inselbewohner niederschlägt, passt sich damit in einen kolonialen Diskurs ein, der im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts bestimmend war:
Thiere zu Acclimatationszwecken einzufangen oder wenn dies nicht, auch nur zur Befriedigung der Schaubegierde zusammenzutreiben, um sie zu zeigen, konnte nur in Zeiten und bei Völkern von entwickelterer Cultur geschehen. Der Wilde und der Barbar zeigt in diesem Punkte, wenn auch weniger Verstand, doch mehr Herz als der Culturmensch, er läßt den Bestien die ihnen von der Natur geschenkte Freiheit, und kümmert sich um dieselben nur soweit, als es zu seiner eigenen Vertheidigung und Selbsterhaltung nöthig ist. (Béringuier 1877: 6, zit. n. Brogi 1997: 216)
Durch die zunehmende Durchbrechung des insularen Charakters mithilfe verschiedener Bewegungen, die mit einer ansteigenden Form der Relationalitäten von Inselwelten in Zusammenhang stehen, sowie mithilfe der Ästhetisierung des Exotischen verlieren die geschilderten Inseln mehr und mehr ihren Charakter als hortus conclusus und werden zu osmotischen Spiegelorten des Weltgeschehens.
Beide Werke können generisch als historische Romane bestimmt werden und wurden von der Kritik mitunter auch als solche gelesen (vgl. Kilb 2014 und Winkels 2014). Während bei Hettche eine Vielzahl von historischen Bezügen zur Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert sowie zahlreiche historisch verbürgte Charaktere explizit sind, wird Ubaldo Ribeiros insulare Fiktion erst durch eine Transferleistung des Lesers als stellvertretender Ort für die Geschichte Brasiliens lesbar. Trotz dieser realweltlichen Bezüge liegt der literarischen Ausgestaltung die Möglichkeit zur Abänderung und Neukonfiguration historischer Fakten und Zusammenhänge zu Grunde, die insbesondere in der Form einer historiographischen Metafiktion (vgl. Hutcheon 1989 und Nünning 1995) Problemfelder und Herausforderungen der Historiographie thematisieren kann. Zu den Merkmalen historiographischer Metafiktionen gehören zum einen selbstreflexive Kommentare des Erzählers, die die Erzählbarkeit faktualer Ereignisse, ihre narrative Repräsentation oder ihre zeitliche Dimension betreffen, zum anderen Anachronismen und Intertextualität. Die Vermischung von zwei Zeitebenen – derjenigen des Erzählers und der Ebene des Erzählten – ist in Hettches Roman durch den allwissenden heterodiegetischen Erzähler verwirklicht, der das Erzählte immer wieder selbstreflexiv kommentiert und einen zeitlichen Bezug zur Erzählgegenwart herstellt: »Wäre dieser Gedanke in diesem Moment schon in der Welt gewesen« (Hettche 2014: 68); »wir Heutigen« (ebd.: 9). Zudem wird die Schwierigkeit historischen Erzählens durch die zentrale Rolle, die der Zeitbegriff im Roman spielt, sowie durch metafiktionale Kommentare, den zeitlichen Erzählverlauf betreffend, illustriert: »Wie erzählt man, wenn Zeit erzählt werden soll? Was ist wichtig, was vernachlässigbar?« (Ebd.: 273) In einem selbstreflexiven Kommentar zur Entstehung des Romans und der Brüchigkeit des Zeitbegriffs, der beim historischen Erzählen eine besondere Rolle spielt, tangiert der Erzähler auch die zentrale Problematik der modernen Zeitenwende, die mit der Aufklärung einsetzt:
Ach! Mein Roman, der Roman, von dem ich träumte und den ich einst zu schreiben noch immer hoffe, hätte nichts als jenes Spinnweb zum Inhalt, jenes luftdünne Gespinst der Zeit selbst, die so schnell vergeht, daß wir’s kaum zu greifen bekommen in all den dröhnenden Reden von Fortschritt und Aufklärung. (Ebd.: 133)
In dieser Passage wird die Kritik an den seit der Aufklärung bestehenden Modernitätsbestrebungen deutlich, die im Roman insbesondere durch die unterschiedlichen Zeitbegriffe auf Insel und Festland verwirklicht sind. Zudem wird eine zentrale Funktion historischen metaisierenden Erzählens offenbar: Der gemeinhin akzeptierte historische Diskurs wird als nicht letztgültig erkennbar und alternative Diskurse und Geschichtsverläufe erhalten Raum. Nachdem die beiden Welten ›Insel-Festland‹ zunächst strikt getrennt sind und im Verlauf durch verschiedene Bewegungen zur und von der Insel vermischt werden, begegnen sich die beiden Welten im zwölften, mit Feuerland übertitelten Kapitel, in dem Marie die Insel im Jahr 1860 erstmalig verlässt und das für sie als Sehnsuchtsort fungierende Berlin besucht. Die als Feuerland bezeichnete Gegend nordöstlich des Oranienburger Tors galt im 19. Jahrhundert als Zentrum verschiedener Industriezweige und als Arbeiterhochburg. Das magisch-verlockende Feuerland wird für Marie jedoch zur Enttäuschung par excellence: »die unendlich vielen Tode in den übereinander-, nebeneinander-, ineinandergepackten Wohnungen« (ebd.: 288), die rasant wachsende Bevölkerung, die sich »auf weit über vierhunderttausend Einwohner« (ebd.: 289) mehr als verdoppelt hat, sowie das »unablässig[e] Wummern« (ebd.: 292) erschrecken sie zutiefst und lassen sie schließlich resigniert feststellen: »Die Welt war längst eine andere geworden, längst nicht mehr die ihre« (ebd.: 301). Durch die Gegenüberstellung zweier Zeitbegriffe in der Dualität ›Insel-Festland‹ und reflexive Kommentare des Erzählers wird im Roman eine Perspektive etabliert, die die Aufklärung im Sinne von Adornos und Horkheimers Dialektik (vgl. Horkheimer / Adorno 1947) als eine Epoche der Unterwerfung und blinder Fortschrittsgläubigkeit, die keine alternativen Lebensformen gelten lässt, lesbar macht und damit einen Gegendiskurs zur Perspektive des ausgehenden 18. Jahrhunderts etabliert.
Versteht man Ubaldo Ribeiros Wunder der Pfaueninsel als eine spiegelbildliche Repräsentation brasilianischer Geschichte in einem abgeschlossenen Mikrokosmos, so wird bald deutlich, dass der Roman keiner großen Meistererzählung von der Identität des brasilianischen Volks folgt. Vielmehr treten die Probleme des Zusammenlebens der verschiedenen Bevölkerungsschichten zu Tage sowie die Problematik der Unterwerfung unter koloniale Diskurse. Diese Doppelbödigkeit brasilianischer Geschichte und Geschichtsschreibung identifiziert Idilva Germano als zentrales Element der Romane Das Wunder der Pfaueninsel und Brasilien, Brasilien: »Em sentido contrário, os romances também revelam as mentiras e enganos que compõem as narrativas oficiais sobre o país, bem como desmascaram a fabricação ideológica de segmentos privilegiados da sociedade brasileira«13 (Germano 2005: 118). Diese Demaskierung offizieller Diskurse erfolgt im Roman über die Schilderung des anfänglich harmonisch verlaufenden Zusammenlebens der drei Bevölkerungsschichten mithilfe der detaillierten Beschreibung subalterner Charaktere14 sowie über intertextuelle Versatzstücke, die eine réécriture der brasilianischen Geschichte initiieren. Als ein solcher Charakter ist beispielsweise Crescência zu sehen, die neben den offiziellen Diskursen das kulturelle, nicht verschriftlichte kollektive Gedächtnis des Volkes bewahrt (vgl. ebd.: 119) und sich durch das Erlernen von Lesen und Schreiben aus der ihr von den Kolonialherren zugewiesenen nonverbalen Position der naiven Wilden emanzipiert. Auch Hettches Marie, die beginnt, Defoe, Swift und Rousseau (vgl. Hettche 2014: 65 und 166) zu lesen, kann als ein subalterner Charakter gelten, der im Roman Träger eines solchen Gegendiskurses wird.
Auf der einen Seite repräsentiert die Insel im friedlichen Zusammenleben unter Kapitän Cavalo eine Utopie, die im realen Brasilien an kaum einer Stelle verwirklicht war: »Na perspectiva da utopia, a ilha surge como microcosmo nacional que se opõe aos fatos como eles aconteceram ou acontecem no Brasil, propondo o seu avesso: um reino de tolerância, de liberdade e de riqueza para todos«15 (Germano 2005: 122). Auf der anderen Seite werden Gewalt, sexuelle Ausbeutung sowie kriegerische Zustände und Unterdrückung im Quilombo geschildert, die ebenso einen Teil der brasilianischen Geschichte bilden. Im Dialog mit Intertexten wie Gilberto Freyres Casa Grande & Senzala (vgl. ebd.: 120) oder Darcy Ribeiros 1976 erschienenem Essay Gibt es Lateinamerika?, die das Machtgefälle zwischen ehemaligen Kolonialherren und Sklaven sowie die Identität des lateinamerikanischen Kontinents bzw. Brasiliens thematisieren, durch die fokussierte Schilderung subalterner Charaktere sowie alternativer Geschichtsverläufe wird eine differenzierte Auseinandersetzung mit der brasilianischen Geschichte angeregt, in der »as ›versões‹ do Brasil pequeno e dominado – os muitos Brasis esquecidos e vencidos«16 (ebd.: 119) vom Leser dechiffriert werden können.17 Diese verschiedenen Versionen Brasiliens werden narratologisch nach einer zunächst chronologisch verlaufenden Erzählweise mit verschiedenen im Roman präsenten Zeitbegriffen verbunden. Wenn sich in Kapitel 37 endlich das titelgebende Wunder ereignet, wird die Insel erleuchtet, die Zeit auf ihr steht still und der Pfau schlägt sein Rad. Außerhalb der Insel geht die Zeit ihren gewohnten Gang, sodass mit dem Wunder ebenfalls der exzeptionelle Status der Insel erneuert wird. Am Ende des Romans imaginiert Balduíno verschiedene Zukunftsszenarien für die Insel, die alle gleichermaßen wahrscheinlich sind. Durch die Dehnbarmachung des Zeitbegriffs verliert auch die Geschichte der Insel ihre lineare Struktur und wird Dreh- und Angelpunkt eines Zusammentreffens von verschiedenen Vergangenheits- und Zukunftsdiskursen, die auch auf die Geschichte Brasiliens bezogen werden können:
[E]ra apenas uma arma contra um futuro indesejável. Parava-se o tempo, abria-se caminho para um novo futuro que, mesmo que não pudesse ser escolhido por eles, seria diverso do que o precederia. Ou depois, se descobrissem, como achava Hans, que poderiam viajar no tempo, levavam a ilha ao tempo que quisessem, para que de lá prosseguisse, em direção a futuro mais propício.18 (Ubaldo Ribeiro 1997: 302)
Sowohl Hettches als auch Ubaldo Ribeiros Pfaueninsel sind Orte, die einerseits durch die besondere insulare Situation, die Schilderung von subalternen Charakteren, die sich an den offiziellen Diskursen reiben und ein Gedächtnis einer primär oralen, nicht mehr zeitgemäßen, da nicht rationalen Kultur bewahren, und andererseits durch die Vernetzung mit zahlreichen Intertexten eine literarische Gegenbewegung zu den offiziellen Versionen der Geschichtsschreibung etablieren.
Mit der Adaption europäischer Erzähltraditionen, der Integration des Mythos sowie des kollektiven Gedächtnisses (vgl. Borsò 2003: 236f.) erfüllt Ubaldo Ribeiros Roman einige Merkmale eines traditionellen Werks der Weltliteratur, das von einer europäischen Perspektive ausgehend als solches bestimmt wird. Die Verbindung beider Werke zum kolonialen Diskurs scheint ihr Übriges zu dieser Form der Deutung beizutragen. Jedoch liegt gerade in der Fokussierung auf das Lokale die entscheidende Autonomie des Werkes, die es als typisch brasilianischen Roman lesbar macht. Wie in Gabriel García Márquez’ Macondo, in dem sich »die Geschichte Lateinamerikas und der Welt ereignet« (ebd.: 236), wird die Pfaueninsel zu einem stellvertretenden Ort für die Geschichte Brasiliens. Das Zusammenleben der drei großen Bevölkerungsgruppen, das auf der Insel mehrere Szenarien durchläuft, das kollektive nonverbale Gedächtnis der indigenen Bevölkerung, das sich im kulturellen Wissen und der Schilderung subalterner Charaktere niederschlägt, sowie der unablässige intertextuelle Dialog mit der brasilianischen Literatur- und Kulturgeschichte kennzeichnen das Werk als brasilianischen Roman par excellence. Der Roman wird damit zu einem glokal agierenden Text, der globale Themen auf lokaler Ebene verhandelt und diese für einen lokal nicht kundigen Leser beschreibt (vgl. Damrosch 2009: 108-116).19 Obgleich Hettches Pfaueninsel eine ebensolche Abgrenzung zum Festland aufweist, wird dort vom Ende der Leibeigenschaft, der Gründung der Berliner Universität oder von Wilhelm von Humboldt erzählt (vgl. Hettche 2014: 43), es gelangen Abhandlungen über Gartenkunst in den Roman (vgl. ebd.: 157) und die Insel erhält sogar ihre eigene Dampfmaschine zur Versorgung von Pflanzen und Tieren (vgl. ebd.: 157). Unter Friedrich Wilhelm IV. verliert sie schließlich ihren Status als Ausflugsziel und die Tiere werden aus der Menagerie in den Berliner Zoo überführt. Peter Schlemihl bescheinigt der Insel am Ende den Eintritt ins Zeitalter der Moderne:
Die letzten weißen Flecken der Welt werden kartographiert. Der Bürger macht sich jetzt die Welt. Alle Stile, alle Zeiten, alle Kunst der Völker sind ihm zur Hand. Löwen sind keine Allegorien mehr, und aus den Menagerien sind Zoos geworden, in denen die Tiere den Menschen Vergnügen und Bildung bringen. Ihresgleichen lebt heute nicht mehr bei Hofe, sondern wird zusammen mit Negern, Chinesen und Indianern zur Schau gestellt. (Ebd.: 342)
Trotz ihrer insularen Abgeschiedenheit und ihrer zeitlichen Eigendynamik wird die Pfaueninsel zum Auffangbecken wesentlicher Diskurse des 18. und 19. Jahrhunderts: »Die Pfaueninsel ist kein zeitloser Ort, im Gegenteil: Die Veränderungen werden hier, im Mikrokosmos eines Idylls, besonders augenfällig« (Kämmerlings 2014). In der Kontrastierung mit diesem Idyll wird auch die Kritik an der Aufklärung deutlich, die in dieser »exemplarische[n] Darstellung einer Zeitenwende« (Hammelehle 2014) enthalten ist.
Die beiden Werke, die sich aufgrund ihrer ähnlichen Anlage zu einem Vergleich aus literatursoziologischer Perspektive eignen, wurden im Anschluss zu ihrem kulturellen Bezugssystem in Verbindung gesetzt und nach einer vergleichenden Herausarbeitung gemeinsamer Anlagen und Ausgangspunkte in ihrem spezifischen Produktions- und Rezeptionsrahmen verortet (vgl. zu dieser Vorgehensweise auch Damrosch 2009: 62). Beide Romane gehen von der Tradition der insularen Utopie aus, die zwischen Abgeschlossenheit und Relationalität oszilliert und somit stetig zwischen Insel-Welt und Inselwelt changiert. Die paradiesischen Urzustände, die sich ebenso in anderen raumzeitlichen und kausalen Inselgesetzen niederschlagen, werden durch die zunehmende Relationalität zum Festland und anderen Inselräumen sowie durch verschiedene Bewegungen zu und von der Insel allmählich aufgebrochen. Gleiches gilt für die insulare Exotik, die auf Hettches Pfaueninsel zunächst als das gesellschaftlich Andere identifizierbar wird, jedoch schließlich als das Außereuropäische und Unbekannte gilt und mit den Kolonialdiskursen des 18. und 19. Jahrhunderts verbunden werden kann. Durch die zunehmende Ästhetisierung der Insel unter Lenné und die fortschreitende Überlagerung der heimischen Natur mit exotischen Tieren und Pflanzen verliert die Insel ihren anfänglichen Charakter eines hortus conclusus. Das kann auch für Ubaldo Ribeiros Pfaueninsel behauptet werden, die, zu Beginn als locus amoenous fungierend, durch die Kolonialherren in ein Ungleichgewicht gerät. Die kontrastive Darstellung der indigenen Bevölkerung folgt hier nicht den Stereotypen des ›edlen Wilden‹ und der brasilianischen Romantik, sondern stellt Eigenschaften in den Vordergrund, die dieser Bevölkerungsgruppe in der Literatur bislang nicht attribuiert wurden. Durch die Integration solcher subalterner Charaktere, die Interaktion zwischen den drei Bevölkerungsgruppen sowie den intertextuellen Dialog mit der brasilianischen Literatur- und Kulturgeschichte (unter anderem Gilberto Freyre und Darcy Ribeiro), der narratologisch einer Dehnbarmachung des Zeitbegriffs zum Ende des Romans entspricht, kann eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Geschichte Brasiliens erfolgen, die Raum lässt für verschiedene Versionen von Vergangenheit und Gegenwart und für alternative Formen der Geschichtsdeutung. Die Infragestellung gängiger historischer Diskurse gelingt in Hettches Roman durch das Genre des historischen Romans bzw. der historischen Metafiktion. Mithilfe eines Erzählers, der zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit changiert, metareflexiven Kommentaren zum Zeitbegriff und der Zeitenwende zur Aufklärung sowie der Dualität ›Insel-Festland‹, die im Kapitel Feuerland zur direkten Konfrontation führt, wird der Roman als eine Kritik an der Rationalisierung aller Lebensbereiche durch die Aufklärung sowie an kolonialen Allmachtsphantasien lesbar.
Die beiden Romane, die bis auf ihren Titel und das Buchcover, das auf blauem Grund jeweils eine Pfauenfeder (Hettche) bzw. einen Pfau (Ubaldo Ribeiro) zeigt, wohl kaum explizite Gemeinsamkeiten aufweisen und sich ebenso wenig für einen komparatistischen relationalen Vergleich eignen, werden durch die Offenlegung gemeinsamer Strukturelemente und die Rückbindung an ihre jeweiligen Kontexte als zwei Werke der Weltliteratur lesbar, die literarisch eine Epochenschwelle beschreiben und durch spezifische ästhetische und narratologische Elemente eine Reihe von Gegendiskursen beim Leser evozieren, die die jeweilige Geschichte in einem anderen Licht erscheinen lassen.
* | Dieser Text entstand im Rahmen eines DAAD-Rückkehrstipendiums bei Professorin Gesine Müller an der Universität zu Köln und ist Teil des Forschungsprojekts Literaturen der Welt im Dialog – am Beispiel der Wechselwirkungen zwischen brasilianischer und deutscher Gegenwartsliteratur.
1 | Diese Traditionslinie ist mit Thomas Morus’ Utopia (1516) anzusetzen.
2 | Im Roman wird diese Referenz explizit erwähnt (vgl. Ubaldo Ribeiro 1997: 12).
3 | Laut Thomas Hettche weiß man über das kleinwüchsige Schlossfräulein Maria Strakon, die als königlicher Pflegling im Kindesalter auf die Insel gelangte, nur wenig. Lediglich ein Grabstein auf der Insel zeugt von ihrer Existenz sowie der Bericht einer Berliner Künstlergruppe (vgl. Scheck 2014).
4 | »Auf der seltsamen Insel in Bahia […], die als Pfaueninsel bekannt war; sie war so unzugänglich, daß man von denen, die dort angekommen waren, kaum etwas wußte; als erster hatte sie Admiral Nuno Pires da Beira betreten, ihr erster Kolonialherr, der, ohne Erben oder Anwärter auf seinen Besitz zu hinterlassen, ertrank, als das Schiff, mit dem er zum wiederholten Mal zurück zur Insel segelte, vom Trichterwind gegen die schwarzen Felsen des Pfauenmeers geschleudert wurde« (Ubaldo Ribeiro 1999: 139f.).
5 | »Sachen, die außerhalb der Pfaueninsel geschahen« (ebd.: 224).
6 | »Auf das steinige Gelände, das wie ein Kranz die Insel säumt, folgt erstaunlicherweise dichter Wald, zwischen dessen kirchturmhohen Bäumen sich außer Indianern und Waldmenschen jeder verirren würde« (ebd.: 13).
7 | »[C]hegou e disse que Dão tendente fez orde nova, orde essa que diz que índio não pode mais ficar na vila, lugar de índio é o mato. Que as damas se queixa de ver índio nu e as filhas de familha também, que índio bebe cachaça, faz disturbação, não quer trabalhar e, por isso e muito mais, vai ter que voltar pro mato« (Ubaldo Ribeiro 1997: 38). »Er kam an und sagte, der Herr Äfekt hat neue Befehl gemacht, Befehl sagt, daß Indios nicht in der Stadt bleiben dürfen, Platz für Indios ist im Busch. Daß die Damen beschweren sich, Indio nackt zu sehen, und die Familientöchter auch, daß Indio Schnaps trinkt, macht Unordnung, will nicht arbeiten und deswegen, und wegen viele andere Sachen, zurück muß in Busch« (Ubaldo Ribeiro 1999: 36f.).
8 | »[D]ie Pfaueninsel für immer als etwas vom Rest der Welt Unberührtes zu erhalten« (ebd.: 55).
9 | »Harry mag ungefähr 15-18 Jahre alt seyn, die Menschenrasse, von der er stammt, gehört nicht zu den Negern, steht ihnen jedoch durch die schwärzliche Hautfarbe und etwas platte Nase ziemlich nah, unterscheidet sich jedoch durch wohlgebildete Lippen und ein glattes, langwachsendes weiches Haar, sein Teint scheint etwas broulliert, am Arm und im Gesicht ist er tätowiert« (Hettche 2014: 136).
10 | Vgl. hierzu auch: »Es geht um die Erschütterungen des aufkommenden Maschinenzeitalters und die Unterwerfung der Kreatur, deren Wildwuchs und Fremdheit vermessen, beschnitten und in Sichtachsen, Beete und Käfige eingesperrt wird« (Köhler 2014).
11 | Während der französische Stil am absolutistischen Gedanken der hierarchischen Unterwerfung orientiert war und Gärten symmetrisch, nach einem Zentrum ausgerichtet anlegte, zeichnete sich der englische durch die Grundidee aus, die ›natürliche‹ Landschaft im Garten nachzuempfinden (vgl. Brogi 2009: 27). Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kristallisiert sich vermehrt auch ein deutscher Gartenstil heraus (vgl. ebd.: 46-48 und 58-64). Davon zeugen auch die zahlreichen ästhetischen Reflexionen über die Gartenbaukunst im Roman Pfaueninsel.
12 | Die im Roman detailliert beschriebene Figur des Balduíno setzt sich hier aber gleichsam selbst von den anderen ab: »Não sentia nem falta, como antigamente, dos índios de sua aldeia. Pelo contrário, era melhor que ficassem por lá mesmo, ali só iriam atropelhar e querer meter as mãos nas coisas dele, sustentados por ele. Nada de índio, lugar de índio ignorante, descompreendido e selvagem era no mato. Ele não era desses índios« (Ubaldo Ribeiro 1997: 276). »Er hatte nicht einmal, wie früher, Sehnsucht nach den Indios aus seinem Dorf. Im Gegenteil, die sollten besser dort bleiben, hier würden sie nur stören und sich in seine Angelegenheiten einmischen wollen und dabei auf seine Kosten leben. Nichts mit Indios, diese ungebildeten, ignoranten Wilden gehörten in den Busch. Er gehört nicht zu diesen Indios« (Ubaldo Ribeiro 1999: 264).
13 | »Ganz im Gegenteil enthüllen die Romane auch die Lügen und Täuschungen, welche die offiziellen Narrative über das Land kennzeichnen, und demaskieren die ideologische Gesinnung privilegierter Schichten der brasilianischen Gesellschaft« (Übersetzung d. Verf.).
14 | »Neste sentido, particular atenção é dada ao lugar do escravo negro (em especial, à mulher negra ou mestiça) na vida sexual e de família, no Brasil colonial. O lugar do elemento indígena na cultura brasileira também é assinalado, ganhando tratamento, muitas vezes, carnavalizante em personagens subversivas, representantes de uma forma de vida alternativa que ainda resiste à extinção« (Germano 2005: 120). »In diesem Sinne wird die Aufmerksamkeit speziell auf die Rolle der schwarzen Sklaven (insbesondere der schwarzen Sklavin oder Mestizin), das Sexual- und Familienleben im kolonialen Brasilien gerichtet. Darüber hinaus wird das indigene Element in der brasilianischen Kultur aufgenommen, das oftmals in subversiven Charakteren, die Repräsentanten einer alternativen Lebensform sind, die sich noch der Auslöschung entzieht, eine karnevaleske Behandlung erhält« (Übersetzung d. Verf.).
15 | »In der Utopie entsteht die Insel als nationaler Mikrokosmos, der sich den Fakten, wie sie in Brasilien geschahen oder geschehen, entgegenstellt und stattdessen die Kehrseite in den Vordergrund bringt: ein Reich der Toleranz, der Freiheit und des Reichtums für alle« (Übersetzung d. Verf.).
16 | »[D]ie Versionen des kleinen und dominierten Brasiliens – der vielen vergessenen und verfallenen Brasilien« (Übersetzung d. Verf.).
17 | Vgl. zu diesem Gedanken auch Oliveira Ribeiro: »Ele faz da literatura seu testemunho, a sua versão dos fatos, um questionamento ao conhecimento histórico, que cabe ao leitor interpretar os acontecimentos e ponderar se isso lhe adiciona algo relevante no produto final da história.« (Oliveira Ribeiro 2011: 13) »Er [Ubaldo Ribeiro, Anm. d. Verf.] macht aus der Literatur ein Zeugnis von seiner Version der Fakten, eine Infragestellung der historischen Fakten, bei der es beim Leser liegt, die Geschehnisse zu interpretieren und abzuwägen, ob dies etwas Relevantes zum Endprodukt der Geschichte hinzufügen würde.« (Übers. d. Verf.)
18 | »[E]s war nur eine Waffe gegen eine unerwünschte Zukunft. Man hielt die Zeit an und bereitete den Weg für eine neue Zukunft, die, auch wenn sie sich diese nicht aussuchen konnten, anders als die bisherige sein würde. Oder wenn sie entdeckten, woran Hans glaubte, daß sie durch die Zeit reisen konnten, würden sie die Insel in welche Zeit auch immer versetzen, damit sie von dort in eine günstigere Zukunft aufbrechen konnten« (Ubaldo Ribeiro 1999: 288).
19 | Damrosch unterscheidet zwischen einer globalen Strategie (»global strategy«), die sich in der Schilderung globaler Themen ohne spezifisch räumlichen Bezug niederschlägt und für Autoren wie Jorge Luis Borges charakteristisch ist, und einer glokalen Strategie (»glocal strategy«), die das Globale – meist in innovativer Form – auf der lokalen Ebene verhandelt, und nennt als Beispiel hierfür die Romane Orhan Pamuks (vgl. Damrosch 2009: 108-16).
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