In accordance with its origins, the novella is an expression of nonconformity and a type of text which has been typically formed, established, and further developed in times of social crisis and overarching transformation processes. Thereby this prose genre – being faithful to its Italian name that claims it to be a novelty both in form and content – elevates deviance and otherness to a program, so to speak, and thus documents its proximity to topics from an intercultural frame of reference. So far, however, there is no scientific proof of this assumption. Therefore, in light of the history of the novella, the question to be discussed is: to what extent does the novella have a special affinity to certain intercultural themes and aesthetics and in what way are these implemented within the genre? With Boccaccioʼs Decameron as the starting point, Goetheʼs Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten and Kleistʼs Erzählungen for German-language literature around 1800, and Thomas Mannʼs Der Tod in Venedig for literature around 1900, the focus will be deliberately placed, with varying emphases, on authors and texts that occupy a canonical position in the genre tradition and to which representative significance can therefore be attributed for the topic of ›interculturality and the novella‹.
TitleUnprecedently Different or »if Only the Spirit Is New«. Interculturality and the Novella
KeywordsGiovanni Boccaccio (1313-1375); Johann Wolfgang Goethe (1749-1832); Heinrich von Kleist (1777-1811); Thomas Mann (1875-1955); novella
Ihrer Entstehung nach ist die Novelle Ausdruck der Nonkonformität und eine Textart zudem, die sich im deutsch- und nichtdeutschsprachigen Raum in Zeiten gesellschaftlicher Krisen- und übergreifender Transformationsprozesse ausgebildet, etabliert und weiterentwickelt hat: bei Giovanni Boccaccio an der Schwelle zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit, bei Miguel de Cervantes am Ausgang der Renaissance und in Deutschland in der Sattelzeit zwischen 1750 und 1850. Dabei erhebt diese Prosagattung, insofern sie nominell sagt, wofür sie einsteht – nämlich gemäß ihrer Wortherkunft (it. novella) eine Neuigkeit zu sein und sie durch Gehalt und Gestalt einzulösen –, Devianz und Andersheit gewissermaßen zum Programm. Das erklärt womöglich, warum die Novelle eine ausgesprochen produktive Beziehung zu Themen und Motiven aufzuweisen scheint, die in einem interkulturellen Bezugsrahmen stehen. Einen wissenschaftlich geführten Nachweis zu dieser Vermutung gibt es bislang freilich nicht. Darum soll ihr im Folgenden nachgegangen und im Lichte der Novellengeschichte die Frage erörtert werden, inwiefern der Novelle eine besondere Affinität zu bestimmten interkulturellen Themen und Ästhetiken innewohnt und auf welche Weise sie gattungsbezogen umgesetzt werden. Mit Boccaccios Decameron als Ausgangspunkt, Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten und Kleists Erzählungen für die deutschsprachige Literatur um 1800 sowie Thomas Manns Der Tod in Venedig für die Literatur um 1900 wird dabei in unterschiedlicher Schwerpunktsetzung der Fokus bewusst auf Autoren und Texte gelegt, die in der Gattungstradition einen kanonischen Stellenwert einnehmen und denen daher für das Thema ›Interkulturalität und Novelle‹ eine repräsentative Bedeutung beigemessen werden kann.
Geplant war die Erstellung meines Beitrags eigentlich im Anschluss an den XIV. Kongress der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG) in Palermo 2020 und die dort vorgesehene Sektion Interkulturalität und Gattung. Re-Visionen einer vernachlässigten Beziehung. Ich hatte mir für meine Ausführungen einige Anregungen versprochen, Weiterführungen auch für meine Überlegungen in einem durch den Titel abgesteckten Feld, das – meiner bescheidenen und daher vielleicht zu Unrecht mich überraschenden Übersicht nach – bislang kaum bzw. nicht einmal in Ansätzen vermessen wurde. In Abwandlung eines bekannten Wortes aus dem Fußball hat die Corona-Pandemie mich allerdings in eine Situation versetzt, aus der nun nach der Tagung vor der Tagung geworden ist, und ich nicht mehr als rückverweisender Profiteur, sondern allenfalls noch (wenn überhaupt) als vorausweisender Impulsgeber agieren kann. Der Text wird meiner Vermutung nach anders ausfallen, als er ausgefallen wäre, hätte ich ihn aus einem übergeordneten Diskurs heraus entfalten können. Darin zeigt sich nicht nur eine gewisse Anfälligkeit von Erscheinungen, die außerhalb der wissenschaftlichen Planbarkeit stehen; das Resultat erweist sich am Ende auch als vergleichsweise kontingent, in seinem Zustandekommen jedenfalls als unberechenbarer, als es der Eigen-Mächtigkeit unseres wissenschaftlichen Handelns lieb sein dürfte. Denn obwohl jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler schon einmal mit der Erfahrung konfrontiert worden sein dürfte, nicht Herr oder Frau in seinem bzw. ihrem wissenschaftlichen Haus sein zu können, lässt sie sich als Prämisse unseres Handelns mit dem rationalen Begründungszusammenhang, in dem Wissenschaft und Forschung gemeinhin stehen, nur schwerlich in Einklang bringen. Das ändert sich womöglich unter dem Eindruck der zurückliegenden Ereignisse und der für viele Beobachter überraschenden Überbietungspraxis der einschlägigen Akteurinnen und Akteure, sich und der Welt eingestehen zu müssen, dass pandemisches bzw. virologisches Wissen einer bemerkenswerten Halbwertzeit unterliegt. Das dadurch ausgelöste Ausmaß der Irritation bezeugt auf der anderen Seite jedoch den Vertrauensvorschuss, den man in der Gegenwart geneigt ist, gerade den Naturwissenschaften zuzubilligen, und das Ausmaß der Krise, in die besonders in Zeiten von Epidemien das kulturelle Sicherheitsversprechen gerät (vgl. Briese 2013: 290).
Wenn der Einstieg zu meinen nachfolgenden Ausführungen mehr oder weniger dem Zufall zu gehorchen scheint, so wäre die aus ihm ableitbare Frage, was Epidemie, Krise und Irritation überhaupt mit der Interkulturalität der Novelle zu tun hätten, eher schon wieder ein den Zufall kaschierender rhetorischer Kniff, der Zwangsläufigkeit in der Argumentation suggeriert, wo das Verfahren doch eigentlich (und kleistisch gesprochen) aus einem »in der Not hingesetzten Anfang« hervorgeht.1 Aber auch die Vorstellung von »Not« wäre bereits für meine Belange hilfreich, von der Not als Motivation, um einen Erzähl- oder Redefluss in Gang zu setzen, der von ihren Unbilden abzulenken hilft, gerade so, wie es von Giovanni Boccaccio in der Vorrede zu seiner Novellensammlung Decameron intendiert ist, indem er seine Novellen als »nuovi ragionamenti«, also als neue Gedanken und Erzählungen, einführt (Boccaccio 1974: I, 3), die in der Lage seien, die Schwermut und düsteren Gedanken seiner vorzugsweise weiblichen Leserschaft angesichts der seinerzeit grassierenden Pest, wenn auch nur für eine überschaubare Zeit, aus ihren Köpfen und Herzen zu verscheuchen. Und da nun einmal, novellistisch, alle Wege nach Florenz führen, wäre ich an den Punkt gelangt, auf den genetisch ohnehin mein Interesse ausgerichtet war, an den Ursprung der Gattungsgeschichte nämlich, wenn ich sie einmal auf Boccaccio zurückführen darf, ohne seine Novellen nun als Urform deklarieren zu wollen, sondern vielleicht als Archetypus (vgl. Kiefer 2010: 26), zumindest als einen Wegbereiter für eine europäische Gattungstradition, deren Erfolgsweg ohne sein Decameron schlichtweg nicht zu denken ist. Darin jedenfalls ist man sich in einem ansonsten zur Disparatheit neigenden Theoriefeld weitgehend einig.
Von Florenz aus sieht man den Zusammenhang vermutlich klarer, in welchem Epidemie, Krise und Irritation einerseits sowie Interkulturalität und Novelle andererseits stehen. Eine sich aus sieben Frauen und drei jungen Männern zusammensetzende Gesellschaft flieht bekanntermaßen vor der in der toskanischen Metropole wütenden Pest ins Umland und erzählt sich, unter der Regentschaft wechselnder Königinnen und Könige, an zehn Tagen zehn Geschichten, um danach wieder in die Stadt ihrer Herkunft zurückzukehren. Dem ›Schwarzen Tod‹, wie man die in Europa zwischen 1347 und 1353 um sich greifende Pandemie im Nachhinein bezeichnete, hatte man sich dadurch nicht entziehen können, sie trieb in jenen Tagen, Wochen und Monaten (Zeit der Handlung ist das Jahr 1348) ungebremst ihr verheerendes Unwesen, aber die Gesellschaft nahm sich gleichsam eine epidemische Auszeit, wohlwissend, dass die Pest ungeachtet der Bukolik ihres narrativen Stelldicheins durch die Novellen nicht nur nicht gebannt werden konnte, sondern in ihnen abwesend allgegenwärtig blieb. So gilt der Anlass für diesen Erzählmarathon, die sich in der Epidemie zuspitzende Krisensituation, bis heute als eines der zentralen Konstitutionsmerkmale der Novelle und als Garant einer beachtlichen, mehrhundertjährigen Gattungsgeschichte, deren Ende nach Lage der Dinge und mancher Unkenrufe zum Trotz nicht in Sicht sein dürfte. »Für die Wiederkehr dieses Genres«, so Thomas Steinfeld Ende der 1990er Jahre, noch ehe sich die Fama von der Renaissance der Novelle auch in der Forschung verbreitete (vgl. Waldow 2011), »muß es einen Grund geben. Man ist geneigt, der Allgegenwart des Katastrophischen einen Anteil daran zuzusprechen. Die Pest hat viele moderne Erben.« (Steinfeld 1996: 27)
Insofern dem heutigen Zustand der Welt erzählerisch nur noch mit den Mitteln der Novelle beizukommen ist, wie es in Abwandlung eines geflügelten Komödien-Wortes von Friedrich Dürrenmatt lautet (vgl. Freund 1998: 61), verwundert es nicht sonderlich, dass man schon bei ihrer Begründung mit Irritation auf sie reagierte. Mutmaßlich handelt es sich bei dieser Irritation um die rezeptive Kehrseite dessen, was in einer langen, von Boccaccio bis Cervantes prominent nachweisbaren Reihe von Äußerungen zur Novitas-Qualität der Erzählform (vgl. Kiefer 2010: 28) bei Goethe in dem wirkungsmächtigen Diktum von der Novelle als einer »sich ereignete[n], unerhörte[n] Begebenheit« kulminiert (Eckermann 1994: 234). Wenn im Decameron von den »nuovi ragionamenti« der Novellen die Rede ist, so bezieht sich diese Zuschreibung sowohl auf ihre Form als auch auf ihren Inhalt: auf die Form, indem sie, im Idiom des florentinischen Dialekts verfasst, nach Dante und zeitgleich mit Petrarca sich anschicken, der Volkssprache, nunmehr im Feld der Prosa, ästhetische Dignität zu verleihen; und auf den Inhalt, indem Boccaccio seinem Zyklus nicht nur einen gleichermaßen belangvollen wie erotisch stimulierenden Anstrich verleiht (vgl. Meier 2014: 24), sondern dies auch noch vor dem Hintergrund einer Erzählsituation inszeniert, deren Wirrnisse im denkbar stärksten Kontrast zu der Leichtigkeit der in den Novellen größtenteils aufgerufenen Liebesthematik steht. So war, dem im 19. Jahrhundert wirkenden und renommierten Literaturkritiker Francesco de Sanctis (vgl. 1974: 44) zufolge, das Unerhörte, der laute Lärm, mit dem Boccaccio den Tempel der Kunst betreten habe, nicht zu überhören und rief, wenig überraschend, postwendend und bereits während des Erscheinens der Cento novelle die Kritik auf den Plan. Folgt man der Rechtfertigung zu Beginn des vierten Tages, stieß sie sich an dem Stil und den inhaltlichen Eigenheiten ebenso wie an der Darbietung der Novellen. Den Vorwurf, seine Geschichten hätten sich anders zugetragen, als er sie erzählt habe, konterte Boccaccio aus gutem Grund mit dem Hinweis auf die Unmöglichkeit, für die meisten seiner Bearbeitungen die Prätexte bzw. »originali« (Boccaccio 1974: I, 340) ausmachen zu können. Denn bereits für die hauptsächlich dem europäischen Erzählfundus entnommenen Novellen des Decameron gilt, was Friedrich Schlegel ganz allgemein als konstitutiv für die Gattung beschrieben hat: »Novellen dürfen im Buchstaben alt sein, wenn nur der Geist neu ist.« (Schlegel, zit. n. Polheim 1970: 3)
Die unter anderem aus der Beschäftigung mit Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten gewonnene Novellen-Bestimmung Schlegels hat in der Novellen-Forschung der Gegenwart eine charakteristische Modifikation erfahren, indem in Anknüpfung an die Wortbedeutung von Novelle die Wandlungsfähigkeit und Vielfalt der Novellengattung an das Beharren auf Neuheit zurückgebunden worden ist. Die Novelle »wäre damit schon per definitionem immer zugleich Fortsetzung einer historischen Tradition und ›neuartiger‹ Sonderfall.« (Kiefer 2010: 29; Hervorh. i.O.)2 In Bezug auf die Frage nach der Interkulturalität der Novelle ergibt sich dadurch die Möglichkeit, Gattungstradition und Gattungspoetik für ihre Beantwortung sinnvoll aufeinander zu beziehen, wenn man sie mit Manfred Schmeling als die zwei Seiten begreift, mit denen sich die Transkulturalität bzw. Interkulturalität von Gattungen prinzipiell bestimmen lässt:
Sie kann sich erstens innerhalb eines Werkes manifestieren und zweitens auf der Ebene der Vermittlung, des materiellen Transfers zwischen unterschiedlichen Kulturen. Im ersten Fall kommt es zu textinternen transkulturellen Prozessen, sei es durch Thematisierungsprozesse, z.B. durch Fremdheitswahrnehmungen des Protagonisten im Reiseroman (imagologische Perspektive), sei es durch ästhetische Mittel, etwa durch den Einsatz von Mehrsprachigkeit innerhalb eines literarischen Textes. Im zweiten Fall handelt es sich um externe Reaktionen (Übersetzung, Bearbeitung, auch intermedial, kommentierende Paratexte, institutionelle Vermittlung etc.). Formen der produktiven Rezeption und der transkulturellen Intertextualität sind daher prädestinierte Gegenstände komparatistischer bzw. interkultureller Literaturwissenschaft. (Schmeling 2013: 124; Hervorh. i.O.)
Der zweite Fall ist klarer, als es die Rede über die deutsche Novelle von Stifter bis Streeruwitz vermuten lässt. Er ist sogar so eindeutig, dass angesichts der internationalen Verbreitung und des mit ihr einhergehenden Kulturtransfers solcher korpusstarken Gattungen wie Tragödie, Komödie, Ode, Sonett, Epos und Roman daraus für die Novelle kein Alleinstellungsmerkmal abgeleitet werden kann. Vom Decameron aus betrachtet haben wir es allerdings mit einer diachron ausgesprochen produktiven Form des Kulturtransfers zu tun, weil dieser zum einen retrograd in Boccaccios Rezeption antiker und mittelalterlicher, zumal französischer, Quellen und zum anderen in seiner ebenso breiten wie weit bis in die Gegenwart reichenden Wirkungsgeschichte nachweisbar ist. Nicht zu Unrecht gilt das Drama als interkulturelle Gattung par excellence (vgl. Bloch/Heimböckel 2019: 372); die Novelle aber scheint dem großen Geschwisterkind auch in dieser Hinsicht nur wenig nachstehen zu müssen.
Dieser Eindruck verstärkt sich zusätzlich, wenn man den ersten Fall, die formal-inhaltliche Seite der Interkulturalität, ins Visier nimmt, wobei sie von der Rezeptionsebene, zumindest in Bezug auf den Herkunftsraum der Novelle, so ohne Weiteres nicht zu trennen ist. Die Zahl der Texte, in der Italien den Ort der Handlung oder die Italianität eine Folie der Auseinandersetzung bildet, ist beachtlich und dürfte bei aller nachfolgend noch einmal aufzugreifenden prinzipiellen Neigung der Gattung, sich jenseits des deutschsprachigen Raumes zu situieren, auch mit Blick auf ihre Kanonizität konkurrenzlos sein.3 Darin mag sich zum Teil die vielbeschworene Faszination der Deutschen für den Sehnsuchtsraum Italien widerspiegeln; damit aber wird nicht zuletzt, häufig beglaubigt durch eine direkte Anspielung oder eine formale Reminiszenz, dem Ursprung der Novelle und ihrer Tradition Tribut gezollt, sodass wir es mit einem Aneignungs- und Transferprozess zu tun haben, der im gattungsgeschichtlichen Zitat interkulturell seine Fest- und Fortschreibung erfährt. Darüber hinaus kommt es mit dem Ausgriff auf den nicht-deutschsprachigen Raum (was als grundlegend für das Verhältnis von Interkulturalität und Novelle gesehen werden kann) zu einem signifikanten Akt der Verschränkung zwischen Erzähl-Topographie und narrativer Poetik, durch den sich, im Anschluss an Norbert Mecklenburg (vgl. 1987) und Herbert Uerlings (vgl. 1997: 8), kulturelle und poetische Alterität aufeinander beziehen bzw. in eine Relation wechselseitiger Semantisierung bringen lassen. Dabei verfügt die Novelle, wie bereits angedeutet, über das gattungsspezifische Potential intrinsischer Alterität: Insofern sie nämlich nominell sagt, wofür sie einsteht – eine Neuigkeit zu sein und sie durch Gehalt und Gestalt einzulösen –, erhebt sie Devianz sozusagen zum Programm. Oder anders formuliert: Mit der Novelle begegnet uns der gattungstypologische Sonderfall und das Paradox einer regulativen Idee, die sich, indem sie sich gleichsam performativ außer Kraft setzt, immer wieder – und aufs Neue – bestätigt. Prinzipiell wird damit die auch jüngst wieder aufgeworfene Frage ins Spiel gebracht, ob man die Novelle so ohne Weiteres einer konservativen bzw. »nicht- oder gegen-avantgardistischen Form« (Aust 2006: 203; vgl. auch Rath 2008: 27) zuschlagen kann oder ob nicht vielmehr Zuweisungen dieser Art prinzipiell ihre beschriebene Eigenart verfehlen. Denn nach Maßgabe ihrer Prägung durch Boccaccio drückt sich in ihr eine gattungsgeschichtlich und besonders in ihrer deutschsprachigen Variante im Zuge ihrer Ausbildung um 1800 zu beobachtende Nonkonformität aus, mit dem »im Gebiet des Erzählens gerade die Freiheiten eines anderen Erzählens – im Sinne eines alternativen Erzählens und zugleich eines Erzählens über das Andere – erprobt« wird, wie es eingangs der Dissertation Das andere Erzählen. Zur Poetik der Novelle 1800/1900 von Florentine Biere (2012: 9) heißt. Biere macht dann auch, obwohl in ihrer Arbeit interkulturelle Erwägungen eher keine Rolle spielen, eine Position stark, die für das Verhältnis von Interkulturalität und Novelle in unterschiedlicher Hinsicht anschlussfähig ist, indem sie nicht nur, wie vor ihr bereits Richard Thieberger (vgl. 1968: 91), Alterität und Unerhörtheit als Komplementärphänomene reflektiert, sondern sie ansatzweise auch kulturanthropologisch und narratologisch zusammendenkt.
In einer Poetik der Novelle, wie sie die untersuchten Texte entwickeln, kommt das Erzählen nicht als beruhigende, gleichsam psychohygienisch funktionale Synthese heterogener menschlicher Erfahrungen zum Tragen, sondern entpuppt sich als beunruhigende Inszenierung des Anderen, das an die Grenzen kultureller Ordnungspraktiken erinnert. (Biere 2012: 15f.)
Um beunruhigende Inszenierungen des Anderen muss es in Novellen nicht zwangsläufig gehen – Biere entscheidet sich exemplarisch für Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, Kleists Das Bettelweib von Locarno, Der Findling und Die Verlobung in St. Domingo, Kellers Sinngedicht, Hofmannsthals frühe Novellen und Musils Vereinigungen –, und von einer interkulturellen Ausrichtung in formaler und thematischer Hinsicht kann selbstverständlich auch nicht in jedem Fall die Rede sein. Gerade im Realismus, als Konsequenz einer zunehmenden nationalen Ausdifferenzierung der europäischen Literaturen, erfährt die Novelle in symptomatischer Weise eine kulturtopographische Verengung ins Nationale. Lokalkolorit ist erwünscht und nicht solche Geschichten, »die unsere Einbildungskraft immer in fremde Länder nötigen«, wie Luise sich gegenüber dem Geistlichen in den Unterhaltungen beschwert und stattdessen von ihm Erzählungen über Einheimisches erbittet: »Sind denn Neapel, Palermo und Smyrna die einzigen Orte, wo etwas Interessantes vorgehen kann?« (Goethe 1989: 187) Darauf antwortet der Geistliche zwar mit einem Beispiel, das Luises räumlichen Vorlieben entgegenkommt; ein Freund der von ihr erbetenen Familiengemälde ist er jedoch nicht. Sie sähen »einander alle so gleich«, und man hätte »fast alle Verhältnisse derselben schon gut bearbeitet« (ebd.) auf den einheimischen Theatern gesehen. Es gehört einerseits zur Diskursfreudigkeit der Unterhaltungen, dass sie im Konzert der Stimmen, die sich mit Ausprägung und Beschaffenheit des Neuen auseinandersetzen, Tendenzen zu Wort kommen lassen, an denen beispielsweise Adam Müller in der mit Kleist zusammen herausgegebenen Kunstzeitschrift Phöbus nachmalig kein gutes Haar lassen wird.4 Andererseits ist Luises Plädoyer für die Heimholung der Gattung, wie die wirkungsmächtige Regionalisierung der Novelle im Realismus dokumentiert, folgenlos eben auch nicht geblieben. Immerhin lässt sich daraus ex negativo eine gattungsspezifische Interkulturalität ableiten, an die um und nach 1900 sukzessive angeknüpft wird, indem sich die Novelle wieder vermehrt für internationale Handlungsräume und kulturell alteritäre Konstellationen öffnet. Ob dies vergleichsweise bruchlos geschieht und wie sich das andere Erzählen und das Erzählen über Anderes novellistisch und interkulturell zueinander verhalten, wird nachfolgend im Fokus meines Interesses stehen.
Für das bislang Gesagte soll mit einer einschlägigen Einschätzung aus der 1968 vorgelegten Dissertation Le genre de la nouvelle dans la littérature allemande von Richard Thieberger eine Überleitung auf das Kommende gestiftet werden. Dort ist in dem mit Le climat italien betitelten Unterkapitel unter anderem zu lesen:
En souvenir de Boccace et de Cervantès, Goethe et Kleist ont accrédité les pays romans, les régions méridionales en général, comme la véritable patrie de la nouvelle. Ce nʼest pas seulement un fait de filiation, ni une simple fidélité aux modèles. Les nouvellistes, à la recherche de lʼinouï, de lʼétrange, de lʼinhabituel, le trouve plus facilement ailleurs que dans son propre pays. Ce qui me paraîtrait parfaitement invraisemblable chez moi peut devenir acceptable à mes yeux, à condition de sʼinscrire dans un contexte quelque peu exotique. Ignorant les conditions de vie et les conventions sociales du pays où lʼévénement est censé sʼêtre déroulé, je mʼen accommode bien plus rapidement, car ma résistance à croire lʼincroyable est bien moindre dès que le texte mʼéloigne de mon milieu conventionnel. LʼItalie, suivie de près de lʼEspagne, est ainsi le premier pays ›exotique‹ pour la nouvelle allemande en mal dʼexil. Son rapatriement massif sera effectué par les réalistes. (Thieberger 1968: 91)5
Es geschah und geschieht bis heute so häufig nicht, dass Goethe und Kleist – zur Beglaubigung einer literarischen Gemeinsamkeit – in einem Atemzug genannt werden. Dass beide sich dies mutmaßlich verboten hätten, dürfte aufgrund ihrer Äußerungen über den jeweils anderen eher unstrittig sein und hat auch in der Literaturgeschichte entsprechende, in der Zuschreibung von Klassizität und Außenseiterschaft sich epochengeschichtlich zuspitzende Effekte erzielt. Was die Novelle betrifft, so bleibt allerdings kaum eine andere Möglichkeit, als auf die gemeinsamen romanischen Ursprünge zu verweisen und Gegensätze allenfalls über ihre eventuell davon abweichenden Fortschreibungen zu gewinnen. Das führte, wie im Falle Thiebergers, dazu, dass Goethe der Linie Boccaccios und Kleist derjenigen Cervantesʼ zugeschlagen wurde. Während die Unterhaltungen Goethes angesichts ihrer Anlage, Struktur und Erzähltopographie überhaupt keinen Hehl aus ihrer Boccaccio-Adaption machen, hat man bei Kleist in dem ursprünglich erwogenen Titel der Buch-Veröffentlichung seiner Novellen ein Indiz für die Nähe zu den Novelas ejemplares von Cervantes erblicken wollen.6 Inzwischen neigt man jedoch eher dazu, in seinem erzählerischen Œuvre das Boccaccio-Modell am Werk zu sehen, u.z. sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der narrativen Ebene, insofern er wie Goethe, nur noch potenziert, das Muster eines seriellen Erzählens aufgegriffen habe, bei dem die einzelnen Novellen motivisch miteinander verkoppelt und sie daher auch »ohne Rahmen als Einheit erkennbar seien«.7 Dazu kommt Kleists auffällige erzählerische Vorliebe für italienische und europaferne Handlungsräume. Mag es sich bei seinem Italien auch um ein »rein literarisches, weniger imaginäres als angedeutetes Gebilde« (Chilese 2010: 78) handeln, so bezeugt sich doch darin die zusätzliche Wirkmächtigkeit des Decameron, zumal für seine Dramen eine vergleichbare topographische Dominanz nicht auszumachen ist.
Es gibt also bereits rezeptionsgeschichtlich kaum eine Veranlassung dazu, Goethe und Kleist auch auf dem Gebiet der Novelle als unvereinbare Größen zu verrechnen. Wenn man darüber hinaus Goethes Unterhaltungen und Kleists Erzählungen als novellistische Erzählexperimente liest, »die Krisenmomente nicht zu kompensieren suchen, sondern ausstellen und mit erzählerischen Mitteln perpetuieren« (Biere 2012: 16), kann – bei aller Unterschiedlichkeit im Detail – von einer unüberbrückbaren Distanz zwischen ihnen kaum noch gesprochen werden. Der eine greift mit den französischen Revolutionskriegen einen durch sie erzeugten Zustand »allgemeine[r] Zerrüttung« (Goethe 1989: 126) auf, der analog zur Pest im Decameron den Rahmen für das aus der Not entstandene Bedürfnis nach erzählerischer Geselligkeit bildet; der andere überführt die nicht zuletzt infolge der französischen Revolution und ihrer Auswirkungen als destabilisiert empfundene »Ordnung der Dinge« (Kleist 1999: 361) in Szenarien, bei denen die Pest (wie im Findling) und andere Katastrophen ihr, die Betroffenen regelmäßig überforderndes, Unwesen treiben. So beginnt mit Goethe und Kleist wie bei Boccaccio nicht nur ein anderes, dabei das Muster selbst überbietendes und fallweise auch destruierendes Erzählen (auf das im vorliegenden Zusammenhang leider nur noch sporadisch und nicht mehr in der notwendigen Ausführlichkeit eingegangen werden kann; vgl. hierzu allgemein Breuer 2009 sowie Biere 2012); an diesem für die deutschsprachige Literatur gattungsgeschichtlichen Markstein weisen das Unerhörte und das jeweilige Erzählen über Anderes bei beiden auch eine augenfällige Affinität zu kulturell kodierten Formen der Alterität auf. In den Worten Thiebergers (1968: 91): »Les nouvellistes, à la recherche de lʼinouï, de lʼétrange, de lʼinhabituel, le trouve plus facilement ailleurs que dans son propre pays.«
Wenn nunmehr Thomas Mann und seine Novelle Der Tod in Venedig in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, so geschieht dies unter anderem zur Beglaubigung des von Thieberger angedeuteten und hier in Rede stehenden Zusammenhangs zwischen Novelle und Interkulturalität am Beispiel eines weiteren Autors und Textes unzweifelhaft kanonischen Rangs. Darüber hinaus wird sich zeigen, was eine interkulturell geleitete Analyse eventuell zur Erweiterung und womöglichen Revision eines etablierten Deutungsspektrums zu leisten imstande ist. Zudem liegen unterschiedliche Anschlüsse auf der Hand: zu der eingangs gestellten Frage nach der Beziehung zwischen Epidemie, Krise und Irritation und ihrer Relevanz für das Verhältnis von Interkulturalität und Novelle, zur Wechselseitigkeit von poetischer und interkultureller Alterität oder zur Fortwirkung der romanischen und deutschsprachigen Novellentradition in dem Werk Thomas Manns. Ist es etwa interkulturell von Belang, dass wir bei Goethe und Kleist von »Novellen-›Klassiker[n]‹ ohne Novellenbegriff« (Aust 2006: 70) ausgehen müssen, während Thomas Mann nicht nur einen ausgesprochen klaren Begriff von den Gattungsmerkmalen der Novelle hat (vgl. High 2005: 98), sondern in seiner Novellen-Praxis geradezu eine »Übererfüllung des gediegenen Standards« (Meier 2014: 156) pflegt? Und wenn weitgehend Konsens darüber besteht, dass wir es beim Tod in Venedig mit einer mustergültigen, klassischen (vgl. Blödorn 2012: 22), ja mit einer »Meisternovelle« (High 2005: 105) zu tun haben, wie verhält sich dazu die Einschätzung, es handle sich bei ihr um eine »für die Zeit radikale« (Baron/Sautermeister 2003: V) und werkpolitisch förmlich revolutionäre Erzählung (vgl. Ansel/Friedrich/Lauer 2009: 9)?
Man könnte aus der Not dieses vermeintlichen Widerspruchs eine Tugend machen, Thomas Mann in den Zeugenstand rufen und ihn seinen ursprünglichen Plan mitteilen lassen, über »Goethe’s letzte Liebe zu erzählen«, über seine Liebe zu einem »kleinen Mädchen in Marienbad«, diese, wie Thomas Mann befand, »schauerliche, groteske, erschütternde Geschichte«.8 Dass dieses Projekt nicht zustande kam, hat womöglich damit zu tun, dass mit der Venedig-Novelle nichts Geringeres als die Vollzugsmeldung seiner neuklassischen Wende im Zeichen von »Meistertum, Gesundheit und Klassizität« (Reed 2004: 365) erfolgen sollte und der sich darin äußernde Anspruch der Goethe-Nachfolge schlechterdings auf dem Rücken des »poeta divus« (Matt 1978: 91) ausgetragen werden konnte. Von einer radikalen Novelle zu sprechen, wäre daher unpassend und ungoethisch allemal gewesen. Thomas Mann selbst begnügte sich damit, ihren Inhalt als sonderbar zu qualifizieren, er beschäftige sich mit einer »recht sonderbare[n] Sache«, ließ er Philipp Witkop am 11. August 1911 wissen, »einen Fall von Knabenliebe bei einem alternden Künstler behandelnd« (Mann 2002: 477), womit das für die damalige Zeit Ungeheuerliche einer solchen Darstellung freilich eher kleingeredet als beim Namen genannt wurde. Gleichwohl ist mit ›sonderbar‹ gerade im Horizont des seinerzeitigen Gattungsdiskurses vermittelt, was Goethe novellistisch unter der Unerhörtheit einer Begebenheit unter anderem verstanden haben mochte (vgl. Wich 2004: 354). Entsprechend beschleicht Gustav von Aschenbach in dem Moment, in dem er sich auf sein Venedig-Abenteuer einlässt, das Gefühl, »als beginne eine träumerische Entfremdung, eine Entstellung der Welt ins Sonderbare um sich zu greifen«,9 wobei die »Entstellung der Welt ins Sonderbare« sich gleichsam als Chiffre für die Novelle insgesamt fassen lässt: für die Orientalisierung der Serenissima, für den »Ausnahmezustand, in welchen der umgehende Tod die Stadt versetzte« (TV: 580), und schließlich für den existentiellen Schiffbruch des Protagonisten und seine »kraftlos[e]« Verfallenheit an den »Dämon« (TV: 584) selbst. Angesichts dieser Geballtheit des Sonderbaren ist es jedoch allenfalls noch potenziert zu denken, es hat in seinem Zusammenspiel von Katastrophe, Tod und Untergang geradezu das Format einer »gebrechlichen Einrichtung der Welt«, wie man ihr bei Kleist, hier allerdings als fortlaufendes Motiv seiner Erzählungen, begegnet.10 Goethe nachfolgen zu wollen und Kleist nachzueifern, musste also auch für Thomas Mann keinen Gegensatz bilden, auch wenn er später eindeutig Partei ergriff, indem er Goethes Antipathie gegen Kleist und dessen »Hingabe an seine exzentrischen Stoffe bis zur Tollheit, bis zur Hysterie« ausdrücklich teilte.11 Im Vorfeld seiner Beschäftigung mit dem Tod in Venedig, als er sich anschickte, den Krull-Stoff novellistisch einzukleiden, hörte sich das freilich noch ganz anders an:
Ich kann wieder mal nicht anfangen und finde hundert Ausflüchte. Was da ist, ist das psychologische Material, aber es hapert mit der Fabel, dem Hergang. Auch muß ich aufpassen, daß der Kuchen nicht wieder so auseinander geht und daß nicht wieder aus einem Novellenstoff ein Roman wird. Ich lese Kleists Prosa, um mich so recht in die Hand zu bekommen, und war nach dem Kohlhaas wütend auf Goethe, der ihn wegen seiner »Hypochondrie« und seines »Widerspruchsgeistes« abgelehnt hat. Die »Verlobung in St. Domingo«, ein Prachtstück von Erzählungskunst, schwieg er tot.12
Die Verlobung in St. Domingo, Das Erdbeben in Chili und Der Tod in Venedig – die Ähnlichkeit der Titel-Konstruktion spricht für sich und hat schon andernorts dazu Anlass gegeben, der Nähe von Thomas Manns Italien-Erzählung zur Novellistik Kleists im Einzelnen nachzugehen (vgl. Maughan/High 2013). Für den Status der Interkulturalität und der Wechselbeziehung, in dem diese zur Novelle steht, ist jedoch weniger die Nähe als vielmehr dasjenige, was den Tod in Venedig von den Erzählungen Kleists unterscheidet, von Interesse. Denn über das Leitmotiv der »gebrechlichen Einrichtung der Welt« manifestiert sich durchweg eine aus den Fugen geratene Ordnung, deren Restituierung nicht absehbar ist. In einem solchen Übergangs- und Krisenzustand sind die Mittel der Darstellung nicht mehr gesichert; mehr noch: Sie selbst werden zum Signum der gestörten Ordnung. Dazu kommt es aber nicht allein, weil Kleist die Repräsentationsfunktion der Sprache prinzipiell in Frage stellt; er destruiert auch das in Aufklärung und Klassik noch vorherrschende Vertrauen in ihre mediale Integrität und konstruiert stattdessen ästhetische Gebilde, die, wie in Michael Kohlhaas, durch ihre »ungeheur[e] Unordnung« (Kleist 1990: 47) geprägt sind.
Eine solche Unordnung lässt sich ungeachtet des Sonderbaren, das sich in der Novelle ereignet, für den Tod in Venedig zumindest formal-ästhetisch nicht ausmachen. Das wäre sicherlich auch nicht im Sinne Thomas Manns gewesen. Worauf es ihm vielmehr angekommen sein dürfte, ist einem von ihm im Nachhinein häufig bemühten Vergleich zu entnehmen: insofern nämlich mit der Erzählung »einmal etwas vollkommen geglückt« sei. »Es stimmt einmal Alles«, teilte er Philipp Witkop ein Jahr nach Veröffentlichung der Novelle beglückt mit, »es schießt zusammen, und der Kristall ist rein.« (Mann 2002: 513) Von der Kristallmetapher wird Thomas Mann in unterschiedlichen Zusammenhängen ein Leben lang Gebrauch machen, wenn es um die Charakterisierung der Novelle geht. Mit diesem Bild bezeugt er die Stimmigkeit und Kohärenz seiner Erzählung und die Bedeutung, die er den zu ihrer Herstellung notwendigen gestalterischen Mitteln beimaß: allen voran den im Dienst der Leitmotivtechnik stehenden syntaktisch-semantischen Verknüpfungsstrategien einerseits und den durch die Novellentheorie in Romantik und Realismus fundierten Gattungsspezifika wie unerhörte Begebenheit, Dingsymbol, Wendepunkt und dem der Tragödie verpflichteten Strukturmuster andererseits. Besonders die dem klassischen Drama folgende Einteilung in fünf Kapiteln betont schon äußerlich den auf Geschlossenheit ausgerichteten Gestaltungswillen, der für die Novelle insgesamt konstitutiv ist. Schoss hier, »im eigentlich kristallinischen Sinn des Wortes«, nach der in seinem Lebensabriss noch einmal wiederholten Überzeugung Thomas Manns (1990: XI, 123) vieles zu einem beziehungsreichen Gebilde zusammen, so ist damit die Novelle letztendlich als ein »geschlossenes, alle Textelemente funktionalisierendes System interner Bezüge« bezeichnet (Martínez 1996: 152).
Ein Text, der so geschlossen organisiert ist, steht (unweigerlich nicht, aber in der Regel) im Zeichen der Ordnung. Thomas Manns stimmige Novelle bildet hierin keine Ausnahme. Anders als in der Erzählwelt Kleists mit ihrer Neigung, formal und inhaltlich aus den Fugen zu geraten, gehört Unordnung jedenfalls nicht zu den Gestaltungsprinzipien, denen sich die Venedig-Novelle verpflichtet weiß. Mag sie mit der Knabenliebe auch eine Saite anschlagen, die sie aus zeitgenössischer Sicht von unzähligen anderen Erzählungen unterscheidet, so handelt es sich beim Tod in Venedig nichtsdestoweniger um einen durch und durch ordentlichen Text. Denn nicht einmal beim ›Sonderbaren‹ der Homoerotik fällt er aus der Reihe (oder Rolle); auch hier hat es in der Tat den Anschein, als würde »einmal Alles« stimmen, indem sie mit einer geradezu erstaunlichen Konsequenz als fremd und ebenso konsequent im Kontext kultureller Fremdheit inszeniert wird. In Abwandlung eines Wortes aus dem Erdbeben in Chili könnte man mit Thomas Mann als Leser beinahe gerührt sein, wenn man bedenkt, wie viel Fremdheit über die erzählte Welt kommen musste, damit (s)eine Novelle in den Stand gesetzt wurde zu glücken.13 Ob darin das Geheimnis ihres Erfolges liegt? Es wäre ihr fast nicht zu wünschen, führt man sich, was im Grunde bereits ad nauseam, aber mehrheitlich unter dem Vorzeichen der Affirmation geschehen ist, noch einmal summarisch vor Augen, mit welcher Art der kulturellen Fremdheit und welcher Weise ihrer Darstellung man es in dem Text zu tun hat. Ich konzentriere mich dabei mit der Figuren-, Raum- und Geschehensebene auf drei Bereiche, die aufeinander bezogen und mit denen die Homoerotik Aschenbachs und dessen tödlich endende Zerrüttung unmittelbar verwoben sind.
Da wären zunächst die als Todesboten angelegten Nebenfiguren zu nennen, die Aschenbachs Reise in den Abgrund begleiten. Sie sind fremdartig nicht nur, sondern weisen auch durchgängig Züge des »Fremdländischen«, mitunter sogar des »Weitherkommenden« auf, wie dies bei dem »kriegerisch« (TV: 503) auftretenden Wanderer der Fall ist, der eingangs der Erzählung bei Aschenbach die anfallsartige Reiselust auslöst. Ist dieser Fremde mit einer physiognomischen, eher an ein Tier als an einen Menschen erinnernden »Entstellung« (TV: 503) gezeichnet, so geht bei Aschenbachs nachfolgenden Begleitern die Einschätzung ihres landesunüblichen Verhaltens (vgl. TV: 525) mit Charakterisierungen einher, die ihrem Vorgänger in nichts nachstehen, ihm sogar zu entsprechen scheinen. Während es sich bei dem Gondoliere um einen »Mann von ungefälliger, ja brutaler Physiognomie« (TV: 524) mit einem »sonderbar unbotmäßigen, unheimlich entschlossenen« (TV: 525) Verhalten handelt, benimmt sich am Ende der Sänger und Gitarrist ebenso »frech« wie »demütig«, wobei sein fremdartiges Äußeres, seine »starken Zähne« und die zwischen seinen »roten Brauen« drohend stehenden »Furchen« (TV: 574) ihn wie ein Doppelgänger des Fremden an der Münchener Friedhofshalle erscheinen lassen.14 Dass der Wanderer neben der Grimasse »eines interkulturell eindeutigen Totenkopfes« dabei Züge aufweist, »die verschiedene mythische Figuren durchblicken lassen« (Reed 2004: 398), gehört allerdings zum Assoziationshorizont einer imaginären Geographie, die ebenso eindeutig orientalistisch kodiert ist. Denn als ein partiell dem dionysischen Sagenkreis nachempfundener und subtextlich verbürgter »Fremder, von draußen gewaltsam Eindringender«15 löst er in Aschenbach nicht nur eine Landschaftsvision aus, die ihn zu seiner Reise stimuliert und zu deren »Urweltwildnis aus Insel, Morästen und Schlamm führenden Wasserarmen« (TV: 504) seine preußische Herkunftsgeschichte den denkbar stärksten Kontrast zu bilden scheint; er nimmt auch die »aus den warmen Morästen des Ganges-Deltas« erzeugte Seuche mit ihrer »verstärkte[n] Neigung zur Ausbreitung und Wanderung« (TV: 578) gleichsam figurativ vorweg.
Für die aus Indien eingewanderte Krankheit ist Venedig wiederum das Einfallstor und zugleich wie geschaffen dafür, ihre pandemische Ausbreitung, ja sogar »eine Neubelebung ihrer Kräfte« (TV: 579) zu begünstigen. Selbst dem Meer und den Sümpfen abgerungen, ist die »unwahrscheinlichste der Städte« (TV: 522) dabei eine komplementär zu den Todesboten angelegte Akteurin, die jedoch ungeachtet ihrer ausladenden, zwischen »Märchen« und »Fremdenfalle« (TV: 567) situierten Semantik wie diese einen deutlich vernehmbaren Einschlag ins Pejorative aufweist. Als Porta orientis (vgl. Elsaghe 2000: 42) wird Venedig mit allen bekannten Requisiten aus dem Fundus des Orientalismus ausstaffiert, mit Schmutz und Verschlagenheit, Schwüle und Unterwürfigkeit, so recht ein Ort, in dem sich Lust und Pest ungehemmt entfalten und ausbreiten können. Solche images sind nicht das Vehikel eines Fremdartigen oder »unheimlichen Fremdwerdens« (Blödorn 2012: 22), sondern sie stellen es im Vertrauen darauf, dass es sich eindeutig identifizieren lässt, unmissverständlich aus. Das Fremde ist längst bekannt, die »Cholera asiatica« (Mann 2004c: 486; Hervorh. i.O.) birgt, was ihre Herkunft, Folgen und Wege der Ausbreitung betrifft, auch kein Geheimnis mehr; wenn sie aber »eine gewisse Entsittlichung der unteren Schichten« hervorbringt, »eine Ermutigung lichtscheuer und antisozialer Triebe, die sich in Unmäßigkeit, Schamlosigkeit und wachsender Kriminalität« bekundet (TV: 580), dann ist mit ihr eine Gefahr bezeichnet, die seinerzeit die Aus- und Abgrenzungsphantasien gegenüber einer aus Asien kommenden Barbarei beflügelte (vgl. Darmaun 2003: 112). Nicht von ungefähr scheint im Tod in Venedig die Infizierung mit dem Virus der Cholera und der (gleichgeschlechtlichen) Liebe außerhalb des Deutschen Reiches erfolgt zu sein. Warum musste Aschenbach sich auch gehen, warum konnte er es zu keinem Ausgleich mit dem – für einen Künstler notwendigen Schuss – »Zigeunertum« (TV: 514 u. 588) kommen lassen? Oder wird mit der ›Zigeuner‹-Metapher, in womöglich bewusster Anspielung auf die indische Abstammung der Romvölker, am Ende das Asien-Klischee gar dementiert, wie man im Anschluss an eine dekonstruktivistische Lesart der Novelle mutmaßen könnte (vgl. Schmitt 2006)? Immerhin »ist und bleibt« der Künstler, nach der Überzeugung Thomas Manns, »Zigeuner, gesetzt auch, es handelte sich um einen deutschen Künstler von bürgerlicher Kultur.« (Mann 2009: 438) Aber vermutlich hieße es, die in der Novelle vorgeführte Ambiguität auf die Spitze getrieben zu sehen, wollte man in dem auch andernorts geäußerten Bekenntnis zum »Zigeunertum« (ebd.: 150) neben dem sich darin artikulierenden antibürgerlichen Autonomiebegehren in Sachen Ästhetik mehr als nur eine im Feld der Kunst vertraute Form der »positiven Stigmatisierung« (Uerlings 2007: 114) herauszulesen sich bemühen.16 Solange dies nicht geschieht, erweckt der Text einstweilen den Eindruck, als wenn mit dem Tod Aschenbachs nicht nur ein sich auf sexuelle Abwege begebender Schriftsteller und ein sich selbst verlierendes Künstlertum zu Grabe getragen, sondern damit zugleich auch eine Grenzlinie zur Stabilisierung einer Schutzzone eingezogen würde, zu deren ideologischer Aufrüstung Thomas Mann selbst ab August 1914 sich anschickte, eine Art »Gedankendienst mit der Waffe« (Mann 2009: 11) auszuüben. Oder anders bzw. zusammengefasst formuliert: Vielleicht wird bloß »vom Dionysischen« erzählt, um dem Apollinischen umso mehr »zu huldigen« (Meier 2014: 158).
Der Tod in Venedig ist, wie gesagt, ein ordentlicher Text. Am Ende siegt die Unordnung nur, damit die Ordnung umso grandioser triumphiere. Und sie triumphiert in der kristallinen Form der Novelle. Ihr trotzt der Text das formal Letztmögliche ab. ›Übererfüllung des Standards‹ kann man das nennen, danach käme es womöglich, bei ihrer weiteren Forcierung, zum Tod der Novelle selbst. Damit aber wäre die Rechnung ohne das Erneuerungspotential der Gattung gemacht. Es hat zwar ein wenig gedauert, sie hat sich aber aus dem ihr angelegten Korsett der formalen Anpassung wieder befreien können. Dem in Thomas Manns Werk grassierenden Orientalismus war dagegen eine vergleichbare Entwicklung der Selbstüberschreitung nicht beschieden. Die Märchenstadt verbreitet, so schön sie auch sein mag, ihre unangenehmen Ausdünstungen immer noch (was fast jeder verständige Venedig-Tourist unumwunden zugeben dürfte), und dem Osten wird als Ausgeburt des Bösen und Brutstätte von Ansteckung, Tod und »Liederlichkeit« (TV: 580) in der öffentlichen Meinung vermutlich mehr denn je der Prozess gemacht. Zu dieser Einstellungsgeschichte habe der Tod in Venedig, nach vorherrschender Meinung, jedoch keinen substantiellen Beitrag geleistet. Ganz im Gegenteil. Man konzediert zwar, dass die »Verbindung von homoerotischer Verfallenheit mit der Gefahr der Infektion durch Cholera« einen Bestandteil des »kolonialistischen Diskurses der Novelle« bildet (Bahr 2003: 6), meint aber darin nicht nur einen Willen zur Entlarvung dieses Diskurses ausmachen, sondern auch einen Beleg dafür sehen zu können, dass es sich beim Tod in Venedig um eine »höchst moralische Erzählung« (ebd.: 12) handeln würde. Wie aber konnte, nachdem Aschenbachs militärische Haltung und Würde zusammenbricht –»auch er war Soldat und Kriegsmann gewesen […], denn die Kunst war ein Krieg, ein aufreibender Kampf« (TV: 568) –, sein soldatischer Geist »1914« wieder »auferstehen«, fragt Hermann Kurzke (2009: 11), der ansonsten nicht in dem Verdacht steht, zu den literaturwissenschaftlichen Gegenspielern Thomas Manns zu zählen?
Es wäre ein lohnenswertes Unterfangen, den Spuren des Tod in Venedig in den Betrachtungen eines Unpolitischen im Einzelnen nachzugehen. Es muss für die hier zur Diskussion stehenden Belange als Hinweis genügen, dass das auf Aschenbach projizierte und in dem politischen Großessay propagierte »Ethos des ›Durchhaltens‹« (Mann 2009: 162) nicht einfach mit jenem parodistischen Sinn verrechnet werden kann, der Thomas Mann zufolge für den »Meisterstil« (ebd.: 99) seiner Novelle kennzeichnend ist. Wer durchhält, darf sich vielmehr Hoffnung darauf machen, sich gegen die Verführungskünste des Dionysischen und seine Degenerationserscheinungen zu immunisieren und solchermaßen mit »dem moralischen Wieder-fest-werden« (ebd.: 562) belohnt zu werden. Diesem »moralischen Wieder-fest-werden« entspricht ästhetisch »das ganz schon Form Gewordene« der Novelle,17 das sich in ihrer prägnanten, alle Details funktional aufeinander abgestimmten Geschlossenheit erfüllt. Nur vordergründig erscheint es daher als ein Paradox, dass »gerade die Sphäre des Chaos, der Auflösung und des Rausches durch eine höchst kontrollierte Erzähltechnik« (Martínez 1996: 166) hergestellt wird. Denn diese ist das formale Mittel ihrer Meisterschaft und Klassizität anstrebenden und nach dem Prinzip von Ein- und Ausschluss funktionierenden Zähmung. In der mit der Novelle verheißenen »Aussicht auf Bestand«18 manifestiert sich die Meisterschaft durch die absolute Beherrschung ihrer Gattungskonvention wie auch im Anschluss an die durch Boccaccio begründete Gattungstradition, indem sie das Motiv der Epidemie wieder aufgreift und zugleich die Geschichte ihrer Westwanderung fortschreibt (vgl. Boccaccio 1974: I, 10). Wenn jedoch anders als bei Boccaccio in der »sachlichen Beschreibung der Epidemie, durch die darin hypostasierte ›Neigung‹ der ›Seuche‹ zur ›Wanderung‹ und durch die ausschließliche Fixierung ihrer außereuropäischen ›Heimat‹ […] ein zuerst und zuletzt soziales Problem« tendenziell zu einem »interkulturellen Konflikt umfunktioniert« wird (Elsaghe 2000: 47), so liegt das weniger an dem zauberischen Erfindungsreichtum Thomas Manns, als vielmehr an dem entsprechenden Konfliktpotential, das mit und über Epidemien prinzipiell abgerufen werden kann. Anschauungsunterricht dafür bieten die aktuelle Corona-Krise und ihre ausufernden Herkunfts-, Grenz- und Konkurrenznarrative. Umgekehrt liefern, wenn politisch, sozial und mental Gefahr in Verzug ist oder zu sein scheint, Semantiken der Ansteckung das diskursiv geläufige Rüstzeug, um sich gegen drohende oder als bedrohlich empfundene Vorgänge und Ereignisse sprachlich zu wappnen. Es ist sicherlich mehr als nur eine zufällige Koinzidenz, dass Goethe auf »das große Unheil unwürdiger Staatsumwälzung« (Goethe 1904: 111) mit den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten auch deswegen reagierte, weil »dergleichen Influenzen« auf dem Wege waren, »sich nach Deutschland [zu] erstrecken« (Goethe 1982: 439). Seine epidemische Umwertung der französischen Revolution unterliegt dabei einer gewissen novellistischen Folgerichtigkeit, indem in seinem »kleine[n] Decameron« (Träger 1990: 145) und der darin erfolgten Verzahnung von kulturellem Transfer, Flucht und dargestelltem wie auch erzählerisch inszeniertem Grenzverkehr einerseits der Anschluss an die historische Tradition erfolgt, andererseits der neuartige Sonderfall mit den Mitteln eines ebenso neuartigen, in »Opposition zu den normierten Erzählformen« (Biere 2012: 67f.) stehenden narrativen Verfahrens vorgeführt wird. Bei Thomas Mann geht es dagegen nicht mehr um die Überschreitung, sondern um die Erfüllung der unterdessen etablierten Norm, wobei die genrespezifische Interkulturalität der Novelle (Flucht, Epidemie, Transitorik) gleichsam als Erfüllungsgehilfin fungiert: indem sie Bedingung des Sonderbaren und zugleich sein Katalysator ist. Die unter ihrem Vorzeichen stehende und dabei bedrohlich arrangierte Fremdwelt plausibilisiert den Untergang des Protagonisten dadurch, dass er sich auf diese Welt in ihrer ganzen chaotisch-unheilvollen Entgrenzung bis zur Selbstaufgabe einlässt. Wie ein Fels in der Brandung nimmt sich demgegenüber die (durch die deutsche Gattungstheorie des 19. Jahrhunderts gesättigte) Form der Novelle aus. War sie noch bei Goethe und erst recht bei Kleist, formal wie auch inhaltlich, primär auf Überbietung ausgerichtet, so strebt sie bei Thomas Mann nach Vollendung. Im Tod in Venedig stimmt einfach alles – auch interkulturell. Und das ist das Problem!
1 Kleist 1990: 537f. (Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden).
2 Vgl. hierzu auch Stephanie Waldow (2011: 77), die sich wie Kiefer auf Heimböckel (vgl. 2008) bezieht.
3 Neben den in dem vorliegenden Beitrag behandelten Novellen vgl. unter anderem: E.T.A. Hoffmann: Doge und Dogaresse (1819) / Joseph von Eichendorff: Das Marmorbild (1819), Aus dem Lebens eines Taugenichts (1829) / Franz von Gaudy: Venezianische Novellen (1838) / Paul Heyse: L’Arrabiata (1855), Andrea Delfin (1862) / Conrad Ferdinand Meyer: Plautus im Nonnenkloster (1882), Angela Borgia (1891) / Isolde Kurz: Florentiner Novellen (1890) / Hugo von Hofmannsthal: Reitergeschichte (1899) / Arthur Schnitzler: Der blinde Geronimo und sein Bruder (1900), Casanovas Heimkehr (1918) / Heinrich Mann: Pippo Spanno (1904), Die Ehrgeizige (1920) / Georg Heym: Die Novella der Liebe (ents. 1907) / Paul Ernst: Der Tod des Cosimo (1912), Der Karneol (1920) / Gerhart Hauptmann: Der Ketzer von Soana (1918), Mignon (1947) / Arnold Zweig: Der Spiegel des großen Kaisers (1926) / Thomas Mann: Mario und der Zauberer (1930) / Werner Bergengruen: Der tolle Mönch (1930), Die drei Falken (1937) / Franz Werfel: Das Geheimnis des Saverio (1932) / Stefan Andres: Das goldene Gitter (1943) / Gert Hofmann: Casanova und die Figurantin (1981) / Hartmut Lange: Italienische Novellen (1998) / Josef Winkler: Natura morta (2001) / Robert Gernhardt: Pennellino (2007) / Bodo Kirchoff: Widerfahrnis (2016).
4 Gemeint ist Müllers im 11. und 12. Stück des Phöbus 1808 anonym publizierter Beitrag Über das deutsche Familiengemälde (vgl. Müller 1987).
5 »In Erinnerung an Boccaccio und Cervantes bestätigten Goethe und Kleist die romanischen Länder, die südlichen Regionen im Allgemeinen, als die wahre Heimat der Novelle. Dies ist nicht nur eine Tatsache der Abstammung, noch ist es eine einfache Treue zu den Vorbildern. Novellisten, die auf der Suche nach dem Unerhörten, dem Fremden, dem Ungewöhnlichen sind, finden es anderswo leichter als in ihrem eigenen Land. Was mir zu Hause völlig unwahrscheinlich erscheint, kann für mich annehmbar werden, wenn es einem eher exotischen Kontext eingeschrieben ist. Unter Nichtbeachtung der Lebensbedingungen und sozialen Konventionen des Landes, in dem das Ereignis stattgefunden haben soll, finde ich mich mit ihm viel schneller ab, weil mein Widerstand, das Unglaubliche zu glauben, viel geringer ist, sobald mich der Text aus meinem herkömmlichen Milieu herausführt. Italien, dicht gefolgt von Spanien, ist damit das erste ›exotische‹ Land für die sich nach einem Exil sehnende deutsche Novelle. Ihre mit aller Energie betriebene ›Heimholung‹ wird von den Realisten durchgeführt werden.« (Übers. D.H.)
6 Diese Position wurde und wird bis zuletzt gerade auch im Rahmen einführender Überblicksdarstellungen zur Novelle vertreten (vgl. Freund 1998: 79; Meier 2014: 62-66; dagegen ein wenig abwägender Aust 2006: 81f.) und geht auf eine briefliche Äußerung Kleists zurück, in der er gegenüber dem Verleger Reimer für den ersten Band seiner zweibändigen Ausgabe der Erzählungen (1810/11) den Titel Moralische Erzählungen vorschlägt (vgl. Kleist 1999: 452).
7 So Breuer (2009: 91) unter Bezugnahme auf Schlaffer (vgl. 1993: 41-61); vgl. ferner Liebrand (2000).
8 Brief an Paul Amann vom 10.09.1915 (Mann 2004a: 94).
9 Mann 2004b: 519 (im Folgenden wird nach dieser Ausgabe mit der Sigle TV zitiert).
10 Siehe dazu Michael Kohlhaas und Die Marquise von O.… (Kleist 1990: 27 u. 186).
11 In seinem Vortrag Heinrich von Kleist und seine Erzählungen (Mann 1990: IX, 823).
12 Brief an Heinrich Mann vom 17.02.1910 (Mann 2002: 443).
13 Ich nehme hiermit Bezug auf eine Äußerung, die im Rahmen der Idyllen-Szene des Erdbebens fällt und dort Bestandteil der in der Erzählung ausgetragenen Theodizee-Problematik ist: »Denn Unendliches hatten sie zu schwatzen vom Klostergarten und den Gefängnissen, und was sie um einander gelitten hätten; und waren sehr gerührt, wenn sie dachten, wie viel Elend über die Welt kommen mußte, damit sie glücklich würden!« (Kleist 1990: 201 u. 203)
14 Er blickte, heißt es über den Fremden, bezeichnenderweise unter Betonung des Sonderbaren, »mit farblosen, rotbewimperten Augen, zwischen denen, sonderbar genug zu seiner kurz aufgeworfenen Nase passend, zwei senkrechte, energische Furchen standen, scharf spähend ins Weite.« (TV: 503)
15 Zu dieser Formulierung vgl. die größtenteils auf Jacob Burckhardts Griechische Kulturgeschichte zurückgehende Eintragung über »Dionysos« in den Arbeitsnotizen Thomas Manns zum Tod in Venedig (Mann 2004c: 472; Hervorh. i.O.).
16 Die ›Zigeuner‹-Metapher in der Lesart einer »positiven Stigmatisierung« führt der orientalistischen Tendenz der Novelle Thomas Manns eine weitere Facette hinzu, wenn man sie mit Herbert Uerlings so versteht, dass mit ihr »das Grundprinzip der Stigmatisierung wiederholt und ein prinzipielles ›Anderssein‹ der ›Zigeuner‹ behauptet« wird. »In der Regel bleibt das Entscheidende gleich: Das Bild der ›Zigeuner‹ ist eine Projektion, d.h. Ausdruck eigener Wünsche und Ängste.« (Uerlings 2007: 114)
17 So Thomas Mann in seinem Vortrag On Myself (Mann 1990: XIII, 151).
18 Brief an Bedřich Fučik vom 15.04.1932 (Mann 2011: 622).
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