The conscious choice of marginal characters like prostitutes, pimps and other »lumpen figures« as literary protagonists is an intercultural thread that links an iconic French author from the 19th century, Charles Baudelaire, and an influential Indo-Pakistani author from the 20th century, Sa’adat Hasan Manto. This essay tries to locate the portrayal of these figures from the red light milieu as an expression of the socio-cultural, political and historical subversion of the patriarchal society. For Manto as well as Baudelaire, they turn into a site of struggle of the subaltern voices in the society at large, of processes of modernization, of the protest against suppression and marginalization.
TitleDark Shadows Under Red Light: Inter-Cultural Contexts of Sa’adat Hasan Manto and Charles Baudelaire
KeywordsCharles Baudelaire (1821-1867); lumpen elements; Sa’adat Hasan Manto (1912-1955); prostitution in literature; site of subaltern struggle
Sa’adat Hasan Manto bleibt auch 73 Jahre nach der Unabhängigkeit Indiens vom britischen Kolonialjoch ein Chronist der indisch-pakistanischen Partition. Seine Schilderungen des ›blinden Wahns‹ (vgl. Manto 1997) in den religiös angetriebenen Massakern der Hindus, Muslime und Sikhs sind unvergängliche Spuren der gewalttätigen Geschichte. Aber Manto schrieb auch über eine andere ›Partition‹, eine andere Teilung der Gesellschaft, nämlich die, welche die bürgerliche Gesellschaft von der Welt des Rotlichtmilieus trennt. Seine Erzählungen über die Prostituierten und andere Figuren in ihrem Umfeld sind vergleichbar mit europäischen Werken von Autoren wie Guy de Maupassant, Victor Hugo, Honoré de Balzac, Charles Baudelaire, Frank Wedekind und Arthur Schnitzler, um nur einige zu nennen. Die Figur der Prostituierten eröffnet bei ihm einen kulturellen Verhandlungsraum, in dem am Beispiel ihrer ›Öffentlichkeit‹ und ihrer spezifischen Körperlichkeit über weibliche Identität(en) gestritten wird. Seine literarischen Bilder der Prostituierten spiegeln durch ihre soziale, kulturelle und historische Verortung oft die Geltungsansprüche der patriarchalischen Gesellschaft, speziell der einflussreichen Mittel- und Oberschicht. Aber sie sind auch Kampfplatz des Subalternen, der Modernisierung, des Widerstandes gegen Unterdrückung und Marginalisierung.
Manto wählte fast ausschließlich urbane Schauplätze als Kulissen für seine Geschichte. Deshalb wohnt der Großstadtgeist seinen Erzählungen inne. Speziell im Zusammenhang mit dem Großstadtdiskurs räumt seine Erzählperspektive der Figur der Prostituierten einen eigenständigen Platz ein. Die beiden Instanzen, die Stadt und die Figur der Prostituierten, werden zu Chiffren, die künstlerisch für zentrale Aspekte der gesellschaftlichen Veränderung eingesetzt werden. Zudem scheinen die Chiffren der Stadt und der Prostituierten bei Manto als gegenseitig ersetzbar. Er hat in seinen Texten mehrfach das Leben der Prostituierten, der Zuhälter und vieler anderer Figuren aus dem Rotlichtmilieu geschildert: z.B. der Teejungen, die den Prostituierten und deren Kunden Tee bringen, der Zeitungsjungen und Besitzer der kleinen Imbissbuden, der Ganoven usw. Seine Darstellungen der von der Gesellschaft als ›dreckige Abwasserkanäle‹ bezeichneten und verachteten Huren sind besonders kunstvolle Prostituiertenbilder. Seine Rotlichtfrauen gewähren Einblick in eine nuancierte Welt der Gefühle, in der der Erzähler die schmalen Gassen in Spiegelkabinette des Menschlich-Unmenschlichen verwandelt, um die Leser*innen schließlich durch die zerstobenen Spiegelungen zu blenden.
Industrialisierung und Urbanisierung sind Bausteine, die seinen Figuren, besonders den Zuhältern, eine marktwirtschaftliche Funktion verleihen. Den theoretischen Ausgangspunkt für eine solche Lektüre bilden dazu u.a. Walter Benjamins Schriften über die Verbindung zwischen Prostitution und Großstadt. Rolf Tiedemann, der Herausgeber von Walter Benjamins Passagen-Werk, formuliert die Verbindung so: »[D]ie Rede ist von Straßen und Warenhäusern, von Panoramen, Weltausstellungen und Beleuchtungsarten, von Mode, Reklame und Prostitution, vom Sammler, vom Flaneur und vom Spieler, von der Langeweile.« (Tiedemann 1996: 14f.)
Benjamin räumte in diesem monumentalen Werk der Großstadtkritik der Figur einer Prostituierten einen Platz unter den ›städtebaulichen Erscheinungen‹ ein. Sie wurde zu einem unverzichtbaren Bestandteil jeder Diskussion zum Thema der großstädtischen Wirklichkeit nicht nur des 19. Jahrhunderts, sondern behielt ihre Bedeutung über die einschränkenden Faktoren wie Zeit und Raum hinaus bis in die Gegenwart. In seinem Aufsatz über Baudelaire oder die Straßen von Paris und seinen Notizen zum Baudelaire-Essay schreibt Benjamin ausführlich zum Thema Prostitution, verortet sie als Arbeit und macht deren Bezüge zum Kapitalismus und die daraus entstehende Verdinglichung des weiblichen Körpers sichtbar. Der Warencharakter der Kulturgüter erwies sich für Benjamin im 19. Jahrhundert als Phantasmagorie, bei der die Kultur »die Ware selbst [wurde], in der der Tauschwert oder die Wertform den Gebrauchswert verdeckt.« (Ebd.: 26)
Interpretiert man Mantos Bordellerzählungen im Lichte der Phantasmagorietheorie Benjamins, dann wird besonders deutlich, was sonst vielleicht wegen ihrer spezifisch indo-pakistanischen Kulisse verlorenginge: nämlich dass sie durch ihre Situierung in einer kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Welt einerseits die Prostitution im Sinne einer Chiffre der Großstadtexistenz im Allgemeinen und andererseits die Zuhälter, die Chiffonniers der Großstadt, im Besonderen sich als Bewohner und Besitzer einer Mülldeponie etablieren. Die Chiffoniers verwerten den Müll und verdienen sogar daran.
Dabei geht es mir speziell um die Herausarbeitung der Figur des Chiffonniers, wie Baudelaire ihn verstand. Der Begriff hat bei Baudelaire primär eine die Klassenunterschiede in den kapitalistischen Gesellschaften unterstreichende Funktion. Ein Chiffonnier ist im wörtlichen Sinne ein Lumpensammler; dann, im übertragenen Sinne, ein Proletarier, der aus Unwertem, von der Bourgeoisie Weggeworfenem (›Auswurf‹), ›Wert‹, in der Regel Geld, macht. Wenn man die Prostituierten als die von der Gesellschaft ›weggeworfenen‹, ausgestoßenen, wertlosen Gestalten betrachtet, die der Zuhälter ›sammelt‹, um sie mit Hilfe von Vertretern derselben Bourgeoisie zu ›verwerten‹, dann kann man die Zuhälterfiguren als Chiffonniers betrachten. Baudelaire beschreibt seinen Chiffonnier so:
Voici un homme chargé de ramasser les debris d’une journée de la capitale. Tout ce que la grande cité a rejeté, tout ce qu’elle a perdu, tout ce qu’elle a dédaigné, toutce qu’elle a brisé, il le catalogue, il le collectionne. Il compulse les archives de la débauche, le capharnaüm des rebuts. Il fait un triage, un choix intelligent; il ramasse, comme un avare un trésor, les ordures qui, remâchées par la divinité de l’Industrie, deviendront des objects d’utilité ou de jouissance.1
Baudelaire lenkt damit die Aufmerksamkeit auf einen Menschen, dem ›aufgetragen‹ ist, den Tagesmüll der Hauptstadt aufzulesen. Alles, was die Großstadt wegwirft, alles, was sie verachtet, wird von ihm gesammelt und ›katalogisiert‹. Er füllt die Archive mit den Überresten des ausschweifenden Lebens der Schlemmer und Prasser, das Kapharnaum des Auswurfs.2 Dabei sortiert er die Abfälle nach einem intelligenten Auswahlprinzip, er hortet sie, wie ein Geizhals einen Geld- oder Goldschatz hortet. Die ›Auswürfe‹, die von der Gottheit ›Industrie‹ zerstampft werden, werden für ihn Objekte der Nützlichkeit, ja des befriedigenden Genusses. Diese Figur des Chiffonniers lässt sich auf die Figur des Zuhälters nahtlos übertragen. Er weiß genau, was von der Großstadt als ›Abfall‹, als ›Müll‹ weggeworfen wird und wie man auf intelligente Weise den Sammlerblick schärfen kann, um denselben ›Müll‹ wieder zu verwerten und käuflich erwerben zu lassen. Der Zuhälter erlebt (oder erleidet) an sich selbst die Dialektik des Ausgeworfenseins, woraus sich die zwanghafte Kompensation ergibt, wiederum die Schwächeren ›auszuwerfen‹. Es ist eine individualisierte Verlängerung der Ungleichheit, Diskriminierung und Ausbeutung der marginalisierten Teile jeder Gesellschaft, die der kapitalistische Staat mit sich bringt und duldet. Der Zuhälter wird in dem Moment zu einem Mikrovertreter der riesigen Staatsmaschinerie, in dem er Provisionen vom Arbeitserlös der Prostituierten kassiert und dennoch ihnen ein Gefühl vermittelt, sie kämen ohne ihn nicht aus. Seine Arbeitsweise spiegelt den staatlichen Umgang mit den Randgruppen der Gesellschaft, besonders mit der am stärksten marginalisierten weiblichen Bevölkerung. Die Zuhälterrolle erhält trotzdem eine Gültigkeit, denn sie bestätigt die Machtverhältnisse der herrschenden Klasse auf Kosten der unterdrückbaren Randgruppen. Karl Kraus betrachtet die Doppelfunktion des Zuhälterberufs kritisch:
Die Rechtsstellung des Zuhälters in der bürgerlichen Gesellschaft ist noch nicht geklärt. Er ist ihr Auswurf. Denn er achtet, wo geächtet wird; er beschützt, wo verfolgt wird. Er kann für seine Überzeugung auch Opfer bringen. Wenn er jedoch für seine Überzeugung Opfer verlangt, fügt er sich in den Rahmen einer Gesellschaftsordnung, die zwar dem Weib die Prostitution nicht verzeiht, aber die Korruption dem Manne. (Kraus 1986: 46)
In der globalisierten Welt geht der Zuhälter sogar noch einen Schritt weiter und wird zu einer Art Unternehmer, einer ›Ich-AG‹.3 Die Begriffsbezeichnung des Chiffonniers passt auf die Zuhälterfiguren bei Manto auf doppelte Weise, erstens, wie von Charles Baudelaire beschrieben, und zweitens, wie Walter Benjamin in seinen Bemerkungen zu Baudelaire im Passagen-Werk erläutert. In Baudelaires Les Fleurs du Mal (Die Blumen des Bösen) wird er auch mit dem Künstler assoziiert (»Sieht man einen Lumpensammler, der daherkommt, kopfschüttelnd, stolpernd und an die Mauern stoßend wie ein Dichter«)4, der immer auch am Rande des gesellschaftlichen Abgrunds taumelt, zumindest in dessen Varianten als Scharlatan und Gaukler. Die Zuhälter werden zu symptomatischen Begegnungsgestalten der Großstadt und umfassen in einem abstrakten Sinne die Lebensauffassung und -aufgabe eines Dichters. Das Symptomatische schließt die Gesamtheit der großstädtischen Lebenserfahrungen ein, die ihren Bogen über Merkmale wie Gleichgültigkeit, Erpressung, Ausbeutung oder Unterdrückung spannen, aber auch die Verwertung der von der Gesellschaft als Abfall verachteten Elemente zu etwas (Ver-)Brauchbarem, ›Wertvollem‹ hervorhebt. Baudelaires Bezeichnung des Chiffonniers hat somit im Rahmen dieses Beitrags eine doppelte Anwendungsmöglichkeit. Erstens werden die Zuhälterfiguren zu Chiffonniers, und zweitens wird der Autor selbst zum Chiffonnier, der die ›Abfälle der Geschichte‹ durchwatet.
Das Auffällige bei Sa’adat Hasan Mantos Erzählungen aus dem Rotlichtmilieu sind die nuancierte Darstellungsweise, in der er seine Figuren schildert, und die Autonomie, die er ihnen dabei verleiht. Die Analogisierung von Frau und Stadt, die bei Benjamin und Baudelaire zentrale Züge des Stadtdiskurses gewinnt, wird bei Manto zu einer Analogisierung von Prostitution und Stadt. Die Prostituierten werden bei ihm die paradigmatische Achse der Ausbeutung der Marginalisierten und vertreten die Subalternen. Das Außergewöhnliche dabei ist, dass Manto sie nicht immer zum prädestinierten Opferschicksal verdammt, sondern sie mit subversiven Waffen ausstattet, um die Doppelmoral, besonders die Sexualmoral, der Bourgeoisie bloßzulegen.
Ich möchte auf sechs Erzählungen Mantos aus den Jahren 1930 bis 1948 näher eingehen. Die Erzählungen Hatak, auf Englisch Insult, auf Deutsch Beleidigung, und The Black Shalwar (Die schwarze Hose) sind wirkungsstarke Narrative, die gewisse Ähnlichkeiten mit der Kurzgeschichte Boule de Suif von Guy de Maupassant haben. Beide Erzählungen Mantos spielen in Großstädten, Hatak in Bombay5 und The Black Shalwar in Delhi. Das großstädtische Milieu macht die permanente Kulisse in den meisten Erzählungen Mantos aus, wobei die Protagonisten aus kleineren Städten in die Großstadt umgezogen sind. Besonders sind seine Bombay-Stories,6 die in Bombay spielenden Kurzgeschichten und Erzählungen, so etwas wie das Archiv der Sozialgeschichte der Megacity. Die Erzählungen Siraj, Saha’e und Khushiya sind Beispiele für unkonventionelle Darstellungen von Zuhälterfiguren. Die Erzählung Sau Kendil Power ka Bulb (Eine 100-kW-Glühbirne) schildert jedoch ein eher realistisches, gängig glaubhaftes Bild eines skrupellos ausbeuterischen Zuhälters. Der Zuhälter in dieser Erzählung bleibt anonym, alle anderen oben erwähnten Narrative haben konkrete Namen für ihre Chiffonniers: Ramlal in Hatak, Khuda Baksh in Kali Shalwar, Dhundhu in Siraj und schließlich Saha’e und Khushiya in den eponymen Erzählungen.
Die Zuhälter gehen von der Annahme aus, dass sie die Käuflichkeit bzw. die Reizwirkung ihrer Frauen hervorheben müssen, um die Großstadtkunden anzulocken. Deshalb ermuntern sie die Prostituierten, sich zu schminken und ihre besten Kleider anzuziehen. Jedem neuen Kunden stellen sie die Frau als ›Neuling‹ vor, um damit den Eindruck zu erwecken, dass die Frau relativ wenig ›verbraucht‹ worden sei. Außer dem Zuhälter in der Erzählung Sau Kendil Power ka Bulb sind alle Zuhälter sympathisch, obwohl sie als Erstes auf ihre Provision pro Kunde achten. Da die Hure das Kapital für das Gewerbe des Zuhälters bildet, ist es in seinem Interesse, dass er sich um sie kümmert und für sie sorgt. Mantos Zuhälterfiguren sind gleichzeitig Träger eines Patriarchats, in dem die Zuhälter zugleich die Frauen verkaufen und schützen wollen. Die Figuren Ramlal und Saha’e werden fast zu Vaterfiguren, die die Prostituierten unter ihre Fittiche nehmen, auch wenn ihr Hauptinteresse an den Frauen durch das Wirtschaftliche gekennzeichnet wird.
Saugandhi, die Protagonistin der Geschichte Hatak, ist eine in einem Bordell in Bombay arbeitende Prostituierte. Sie ist eine herzensgute Frau, die als gutmütig und großzügig in ihrem Umgang mit den Mitmenschen, sogar mit ihren Kunden, dargestellt wird. Einmal gibt sie einem Freier sogar ihren Hurenlohn zurück, weil er sonst kein Geld mehr hätte. Sie ist eines Nachts um zwei Uhr bereit, sich für einen Kunden zurechtzumachen, obwohl sie Kopfschmerzen hat, nur um das Geld des Kunden einer anderen Prostituierten zu geben, damit diese zur Beerdigung ihres Ehemanns nach Hause fahren kann. Der Polizist Madho ist ihr Kunde, der sie ausbeutet, indem er mit ihr schläft, ohne sie dafür zu bezahlen. Er leiht sich im Gegenteil mit der Ausrede Geld von ihr, dass er sie bald mit nach Poona nimmt, wo er arbeitet. Er spielt mit ihren Gefühlen und lässt sie von einem bürgerlichen Leben als Ehefrau an seiner Seite träumen. An dieser Stelle schüttelt der Zuhälter Ramlal Saugandhi mit väterlicher Fürsorge wach, warnt sie vor der betrügerischen Gier Madhos und erteilt ihr den kostbaren Rat, sie solle ihr Geld in einem Loch unter einem der vier Bettbeine verstecken. Ramlal ist ein erfahrener Zuhälter, der ›Girls‹ von zehn bis hundert Rupien vermittelt und ihre Psyche nachvollziehen kann, besonders welche Schwächen diese haben könnten. Er geht mit seiner Provision korrekt um und betrügt seine Frauen niemals ums Geld. Er hält sich dafür verantwortlich, dass Saugandhi von keinen falschen Kunden ausgebeutet wird. Er kommt vielleicht Baudelaires Chiffonnier am nächsten in seiner Schwäche für Alkohol. Wenn er keinen Alkohol kaufen kann, fragt er Saugandhi, ob sie zufällig etwas vom vorigen Kundenbesuch übrig hat. Er beneidet sie sogar um ihren Beruf, bei dem der Alkoholkonsum ein selbstverständlicher Teil ist.
Die andere Geschichte, The Black Shalwar, spielt in Delhi und lenkt die Aufmerksamkeit der Leser*innen schon im ersten Satz auf die Kolonialzeit. »Before coming to Delhi she had lived in Ambala Cantonment, where several white clients visited her.« (Manto 2001b: 57) Sultana, die Protagonistin, ist eine Prostituierte, die mit ihrem Zuhälter Khuda Baksh zusammenlebt. Er ist ein aufstrebender Photograph und lebt ohne eine Spur von schlechtem Gewissen von Sultanas Geld. Er bringt sie von Ambala, einer Stadt im Punjab, nach Delhi, weil er von größeren wirtschaftlichen Chancen in der Hauptstadt ausgeht. Leider müssen die beiden enttäuscht feststellen, dass Sultana in Ambala eine gut besuchte Prostituierte war und ein wohlhabendes Leben führen konnte. Sie konnte sich mit ihrem eigenen Geld Schmuck, Kleidung und Möbel kaufen. In Delhi findet sie kaum Kunden und verdient so gut wie gar nichts. Sie muss ihren Schmuck sogar verkaufen, nur um etwas zum Essen kaufen zu können. Khuda Baksh rennt irgendwelchen spirituellen Wahrsagern, den sog. Fakirs, nach und vernachlässigt Sultana vollkommen. In dieser Erzählung überlappen sich die Rollen des Zuhälters und des Ehemanns. Khuda Baksh ist ein schwerfälliger Mann und hat im Gegensatz zu Ramlal kein patriarchalisches Interesse, Sultana unter seiner Kontrolle zu halten. Es verletzt seinen männlichen Stolz nicht, immer wieder ihren Schmuck zu verkaufen, um das Existenzminimum zu organisieren. Manto gelingt es, viele Zuhälter nuanciert zu skizzieren, die alle ihre individuellen ›Verwertungsstrategien‹ demonstrieren. Bei Ramlal und Khuda Baksh fällt ein fehlendes erotisches Interesse auf: Sie pflegen eine streng professionelle Beziehung zu ihren Frauen.
Anders ist es in den Erzählungen Siraj und Khushiya. Siraj ist eine junge Prostituierte, um die der Zuhälter Dhundhu wirbt. Er arbeitete in den engen Gassen des Stadtteils Nagpada in Bombay seit zehn Jahren und hat um tausende Mädchen jeder Religion, Rasse und Temperamentveranlagung geworben. Er kennt die unterschiedlichen Vorlieben seiner Kunden gut und kann immer entsprechende Mädchen bzw. Frauen finden. Siraj war eine unberechenbare junge Hure. Jede ihrer Begegnungen mit einem Freier endete mit einem Krach, denn sie ließ sie nicht an sich heran. Siraj hatte als Prostituierte zwar ein armseliges Leben, aber sie benutzte ihre Wutanfälle zum Schutz ihres Stolzes. Sie hatte sich bislang oft mit Bordelldamen gestritten. Dhundhu stand immer an einem Laternenmast, an dem das Telephone Department (Telephonabteilung) einen Kasten für die vielen Kabel gehängt hatte. Manto vergleicht Dhundhus berufliche Tätigkeit mit diesem Kasten.
Dhundhu was also a type of a box, one there to collect information about men’s sexual desires. He knew all the rich men, both those in the surrounding neighborhoods and in the far-flung ones, men who from time to time (or always) wanted to have sex, either to check if their plumbing still worked or to relieve stress. (Manto 2012c: 195)
Dhundhu findet Siraj sehr rätselhaft und schwört auf ihre Jungfräulichkeit. Er hat sehr zarte Gefühle für sie und geht daher ziemlich sanft mit ihr um. Eines Tages verschwinden die beiden für einige Tage, und als sie wieder nach Bombay kommen, erzählt Dhundhu dem Ich-Erzähler, dass er mit Siraj nach Lahore gefahren sei. Dort habe sie einen bestimmten Mann gesucht, in den sie sich, obwohl er sie betrog und in Bombay verkaufte, verliebt hatte. Sie habe ihn immer noch geliebt und wollte ihre Jungfräulichkeit nur an ihn verlieren. Sie verlässt ihn nach dem Liebesakt, kommt mit Dhundhu zurück nach Nagpada und ›arbeitet‹ wie gezähmt.
Khushiya ist auch eine Erzählung mit einer erotischen Verstrickung zwischen dem Zuhälter Khushiya und der Prostituierten Kanta. Er geht eines Tages zu ihr, weil er ihr beim Umzug helfen möchte. Als er an ihre Tür klopft, fragt sie, wer da sei. Nachdem Khushiya seinen Namen gesagt hat, macht sie auf, obwohl sie nackt ist und duschen gehen wollte. Khushiya verschlägt es die Sprache, weil er noch nie so unvorbereitet eine splitternackte Frau gesehen hatte. Er sagt Kanta, dass sie nicht unbedingt hätte aufmachen müssen, er wäre wiedergekommen. Kanta antwortet darauf auf eine Weise, die Khushiya wie ein Schlag trifft. Sie sagt, sie brauchte sich vor ihm gar nicht zu schämen, er sei ja schließlich ›bloß‹ ihr Khushiya. »When you said it was you, I thought, what’s the big deal? It’s only my Khushiya, I’ll let him in...« (Manto 2012b: 2; Hervorh. i.O.). An dieser Stelle ist der männliche Stolz des Zuhälters so verletzt, dass die Hure ihn nicht wie einen Mann, sondern wie »eine dösende Katze auf ihrem Bett« (ebd.: 4) behandelt. Er erwartet von ihr, dass sie sich schämt, errötet und sich seiner Begierde hingibt. Er kann den Gedanken nicht ertragen, dass sein Zuhälterdasein seine erotische Ausstrahlung konterkariert. Der beleidigte Khushiya kauft neue Kleider, kämmt sich die Haare, bestellt ein Taxi und kommt zu Kanta, um sie abzuholen, als wäre er selbst ein Freier. In dieser Erzählung überlappen sich die persönlichen und beruflichen Interessen des Zuhälters, und Manto meistert die Kunst der Darstellung in Graustufen, wo sonst eine vermeintliche Ambivalenz zwischen Gut und Böse herrscht. Khushiya bleibt Mantos subtilste psychologische Studie eines Menschen, der einen von der bürgerlichen Gesellschaft verabscheuten Beruf ausübt, sich jedoch den gesellschaftlichen Normen der Männlichkeit und des Chauvinismus anpasst.
Saha’e ist eine der bekanntesten Erzählungen Mantos, die vor dem Hintergrund des religiös gesteuerten Blutbades zwischen Hindus und Muslimen sofort nach der Teilung Indiens spielt. Diese Erzählung ist der Prototyp einer Novelle mit einer klaren Trennung zwischen einer Rahmenerzählung und einer Binnenerzählung. Den Rahmen bildet die Geschichte dreier Freunde, zweier Hindus und eines Muslims. Der muslimische Freund Mumtaz hat die Entscheidung getroffen, nach der Teilung nach Pakistan überzusiedeln. Einige Literaturwissenschaftler*innen sehen darin Anspielungen auf die Biographie Mantos. Die Binnenerzählung handelt von der außergewöhnlichen Offenbarung der Menschlichkeit in der dunkelsten Stunde der Gewalt. Das ist die Geschichte von Saha’e, einem Zuhälter, »a staunch Hindu, who worked the most abominable profession, and yet his soul – it couldn´t have been more luminous.« (Manto 2001a: 172; Hervorh. i.O.)
Saha’e wird von Anfang an als ein Mann mit einem klaren und reinen Bewusstsein dargestellt, obwohl er seit Jahren um Prostituierte wirbt. Er besitzt eine kleine Wohnung, die er an Kunden vermietet. Er legt großen Wert auf Sauberkeit und sorgt dafür, dass die Kunden ungestört bedient werden. Er betrügt die Kunden nicht und unterbindet den Kontakt, wenn er einen Verdacht gegen eines der Mädchen hegt. Er will insgesamt nur 30.000 Rupien verdienen und dann endgültig nach Benares, seiner Heimatstadt, ziehen und dort Stoffe verkaufen. Er hat schon 20.000 Rupien beiseitegelegt und wartet nun auf die restlichen 10.000. Mit diesem der Notwendigkeit geschuldeten und nicht durch Gier motivierten Anspruch fällt Saha’e schon als ungewöhnlich auf. Er scheint allen Prostituierten, die für ihn arbeiten, eine vollkommene Vaterfigur. Er kümmert sich um sie wie um seine Töchter. Diejenigen, die gern Fleisch essen und es nicht oft essen können, weil die anderen vegetarisch sind, lässt Saha’e an einem Wochenende in die Stadt gehen, um ihre Fleischsucht zu stillen. Alles, was im Namen der Gutmütigkeit, Menschlichkeit, Zugehörigkeit beschrieben wird, sind Tugenden, die man im bürgerlichen Kontext meistens bei der Beschreibung der Institution Familie findet. Saha’e schafft trotz der wirtschaftlichen Notwendigkeiten ›familiäre‹ Räume und pflegt väterliche Beziehungen zu seinen Ersatztöchtern. Er ist wie der intelligente Chiffonnier Baudelaires, der seinen Goldschatz hortet. Wenn er sowieso dabei ist, die ›Abfälle‹ der Gesellschaft zu verwerten, dann macht er daraus das Beste für sich selbst, aber nicht im wirtschaftlichen Sinne. Als die religiös gesteuerten Krawalle ausbrechen, sieht Mumtaz, der bald nach Pakistan übersiedeln möchte, Saha’e tödlich verwundet auf der Straße liegen. Er hält es für gefährlich, ihm zu helfen, weil er als Muslim fürchtet, für den Mörder Saha’es gehalten zu werden. Als er auf der Flucht ist, ruft ihn der in seinem eigenen Blut im Sterben liegende Saha’e und gibt ihm einen Beutel mit Schmuck und 1200 Rupien. Das Geld gehörte einer muslimischen Prostituierten, Sultana, und Saha’e erteilt Mumtaz den Auftrag, den Beutel Sultana auszuhändigen. Diese Menschlichkeit und Selbstlosigkeit gelten heute noch im Kontext der religiös entflammenden Konflikte als ein Zeichen der Hoffnung und Toleranz besonders in Indien. Der Zuhälter Saha’e wird zu einem Messias, der die religiös aufgehetzten Feindlichkeiten für unsinnig erklärt und die wahre Menschlichkeit aufrechterhält. Die Erzählung eröffnet bereits mit dem Elan einer unvergänglichen Botschaft:
Don’t say that one lakh Hindus and one lakh Muslims died, say that two lakh human beings died. […] They are foolish, who think that guns can kill religions. Mazhab, din, iman, dharm, faith, belief – all these are found in our soul, not in body. How can they be annihilated by butcher’s cleavers, knives and bullets? (Ebd.: 168)
Saha’e ist der Gegenpol des anonymen Zuhälters in der Erzählung Sau Kendil Power ka Bulb. Das ist die erschreckende Geschichte einer Prostituierten, die von einem skrupellosen Zuhälter dermaßen ausgebeutet wird, dass sie sich zu jeder Zeit bereit erklären muss, sich einem Freier auszuliefern. Sie leidet unter schwerem Schlafmangel. Dieser Schlafmangel wird dadurch dramatisch verstärkt, dass sie nachts in einem Raum bleiben muss, in dem eine 100-kW-Glühbirne unablässig brennt. Der Ich-Erzähler ist ein solcher Kunde, der die grässliche Lage der Prostituierten sieht und sie wieder nach Hause bringt, ohne ihre Dienste in Anspruch genommen zu haben. Als er aus Neugierde nochmals die Frau besuchen geht, verschlägt es ihm den Atem, als er sie in demselben Raum mit der glühenden 100-kW-Glühbirne schlafen und neben ihr den Zuhälter liegen sieht, den sie vermutlich mit einem Stein ermordet hat. Der brutale Zuhälter stellt das oft vorkommende Bild eines Ausbeuters dar, der die verwahrlosten Frauen wie Tiere behandelt. Die immer brennende Lampe ist die groteske Äußerung der dunklen Seite der Gesellschaft, die wie ein Blutegel die Lebenskräfte der marginalisierten Gruppen aussaugt, um selbst zu gedeihen. Die übertriebene Helligkeit der 100-kW-Glühbirne blendet die Augen der Leser*innen und lässt sie diese buchstäblich stechende Wirklichkeit nur verschwommen wahrnehmen.
Was haben diese nuancierten Bilder der Zuhälterfiguren miteinander zu tun? Welche Gemeinsamkeiten bieten sie? Können sie aus der gegebenen Rolle herausspringen und eine andere übernehmen? Diese Fragen eröffnen neue Lesarten, die Mantos Werke, besonders seine Großstadtnarrative, als einen Ausdruck der ›kleinen Politik‹ verstehen lassen. Die Minderheiten, die Randgruppen in der Gesellschaft finden bei Manto immer einen Platz im Zentrum des Erzählflusses. Nicholas Thoburn (vgl. 2002) setzt sich in seinem Aufsatz Difference in Marx. The lumpenproletariat and the proletarian unnamabl mit der Verortung des Proletariats bei Marx auseinander und bringt die These ein, dass das Proletariat nicht mit einer historischen Identität dargestellt wird, sondern als ein ›kleiner‹ politischer Kompositionsmodus. Thoburn argumentiert, im Anschluss an Deleuzes und Guattaris These, dass die Macht der Minderheiten ihr universelles Bewusstsein im Proletariat findet (vgl. Deleuze/Guattari 1988: 472). Der französische Philosoph Gilles Deleuze und der französische Psychoanalytiker Félix Guattari lehnen die bereits existierende Fetischisierung der Identitäten ab, auch die des Proletariats, und plädieren für eine ›kleine Politik‹, die in den eingeengten Räumen und unmöglichen Lagen der kleinen Leute, der Minderheiten, operiert, wo diese Minderheiten eine kohärente, fassbare Identität nicht annehmen wollen. Ich möchte mich auf die ›kleinen‹ Zuhälterfiguren bei Manto konzentrieren und diese (lumpen)proletarischen Figuren als universelle Figuren der ›kleinen Politik‹ betrachten. Manto richtet sein Augenmerk auf diese scheinbar namenlosen Figuren und befreit sie von den erwarteten, fast klischeehaften Rollenbildern. Sie überschreiten die sozialen Rollengitter und tragen zum Verständnis der sozialen bzw. historischen Prozesse bei. Die Figur des Zuhälters als Chiffonnier kann man im übertragenen Sinne verstehen, wenn man sich mit Walter Benjamins Baudelaire-Studien beschäftigt. An dieser Stelle weiche ich von der Analogie des Zuhälters als Chiffonnier ab und gehe zur Analogie des Dichters und des Historikers als Chiffonnier über. Damit ist in erster Linie Manto selbst gemeint.
Bereits in seinem Werk Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte dokumentierte Karl Marx die Zusammenstellung der Gesellschaft vom 10. Dezember 1849 unter Louis Bonaparte:
Unter dem Vorwande, eine Wohltätigkeitsgesellschaft zu stiften, war das Pariser Lumpenproletariat in geheime Sektionen organisiert worden […]. Neben zerrütteten Roués mit zweideutigen Subsistenzmitteln und von zweideutiger Herkunft, neben verkommenen und abenteuernden Ablegern der Bourgeoisie: Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Lazzaroni, Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler, Maquereaus, Bordellhalter, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz, die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse, die die Franzosen la Bohème nennen; mit diesem ihm verwandten Elemente bildete Bonaparte den Stock der Gesellschaft vom 10. Dezember. »Wohltätigkeitsgesellschaft« – insofern alle Mitglieder gleich Bonaparte das Bedürfnis fühlten, sich auf Kosten der arbeitenden Nation wohlzutun. Dieser Bonaparte, der sich als Chef des Lumpenproletariats konstituiert, der hier allein in massenhafter Form die Interessen wiederfindet, die er persönlich verfolgt, der in diesem Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen die einzige Klasse erkennt, auf die er sich unbedingt stützen kann, er ist der wirkliche Bonaparte, der Bonaparte sans phrase. (Marx 2013; Hervorh. S.A.)
Es gab auf dem indischen Subkontinent keine als exklusiv markierte Tradition der »Bohème«. Manto konnte aber instinktiv zu diesen ›Elementen‹ eine gewisse Affinität empfinden und begründete so durch seine Narrative eine »Wohltätigkeitsgesellschaft«. Die Rotlichtfiguren und die Chiffonniers waren genau genommen kein Teil der »Bohème«. Aber der im Frust und »Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen« identifizierbare Lumpensammler lässt sich, mutatis mutandis, durch die Dichterstimme ergänzen. Da der Chiffonnier sich stets mit dem »Abfall« beschäftigt, hat er die unmittelbarste Beziehung dazu und weiß, wie man ihn noch retten kann. Baudelaires Beschreibung eines Chiffonniers und seine Affinität zur Dichterfigur sind wegen der revolutionären Vorstellungen, die Gesellschaft zu verändern (wenn auch nur in Gedanken), sehr leicht übertragbar auf die Motivationsprofilierung eines Autors. In Baudelaires Wein der Lumpensammler (Le Vin des Chiffoniers) heißt es:
Sieht man einen Lumpensammler, der daherkommt, kopfschüttelnd, stolpernd und an die Mauern stoßend wie ein Dichter; und ohne um die Spitzel, seine Untertanen, sich zu kümmern, schüttet er ungehemmt sein Herz aus, das glorreiche Taten träumt.
Er leistet Eide, diktiert erhabene Gesetze, zermalmt die Bösen, richtet die Opfer auf, […] berauscht […] sich am Glanz der eignen Tugend. (Baudelaire 1975: 275)
Dieser Ehrgeiz und das Selbstbewusstsein des revolutionär-träumerischen Lumpensammlers spiegelt sich in Mantos Auswahl der Themen und der Protagonisten. Seine Figuren kommen meistens aus dem Abgrund der Gesellschaft und werden verschmäht. Manto sammelt sie alle behutsam zusammen und verwertet sie so, dass man sie nicht als die Infizierten behandelt, sondern als den Schorf der vielen gesellschaftlichen Wunden. Man braucht nur leicht an ihm zu kratzen, dann offenbart die Gesellschaft ihre ungeheilten Wundstellen. Manto unterstellt dabei die selbstbewusste Souveränität eines Dichters, wobei er nicht auf die bourgeoise Gesellschaft angewiesen ist, um nach dem »Auswurf« Ausschau zu halten, sondern er zeigt den sich sonst für respektabel haltenden Bürger*innen, was für eine ›Reinigungsfunktion‹ die Ausgeworfenen einnehmen können. Er wollte jedoch nicht den Arzt spielen und die Gesellschaft von den Krankheiten heilen. Er hielt sich nicht für einen Apotheker, bei dem man fertige Arzneimittel gegen diverse Krankheiten kaufen konnte.7 Die Geistesverwandtschaft Mantos mit Baudelaire ist verblüffend und deshalb umso auffälliger. Ihre Bemerkungen über die subterranen Themenwelten der Prostituierten, Bordelle, Kleinkriminellen, Alkoholiker usw. kann man an der Transkulturalität der behandelten Thematiken ablesen. Die erwähnten Themen fesseln Schriftsteller wie Baudelaire und Manto, obwohl die beiden Autoren geographisch, zeitlich, kulturell, sprachlich weit entfernt voneinander zu verorten sind. Die Transkulturalität stiftet das »Menschliche«, das »Grenzübergreifende« und verbindet die beiden Autoren.
Irving Wohlfarth sieht die unerlässliche Aufgabe eines Historikers darin, durch die ›Abfälle der Geschichte‹ zu waten und dann die ›intelligente Auswahl‹ zu treffen.
He [der Historiker; Anm. S.A.] represents the two extremes of destruction and preservation, each one turning dialectically into the other. For in the end everything (and nothing) is to be saved. Then there will be no more refuse and refusal. But the more pressing task […] is to go through the garbage and make intelligent choices. (Wohlfarth 1986: 157; Hervorh. S.A.)
Wohlfarths Bemerkungen über die Aufgabe des Historikers sind im Falle von Manto umso relevanter, als dieser den schmalen Weg geht, der als die hauchdünne Grenze zwischen Literatur und Geschichte fungiert. Die historischen Kulissen der indo-pakistanischen Teilung nehmen einen breiten Raum im Œuvre Mantos ein. Der Chiffonnier ist der Rücksammler der Geschichte. Der Dichter ist in dem Sinne der Chronist, der die namenlosen Opfer der Geschichte zitiert bzw. katalogisiert, ohne zwischen den Großen und den Kleinen zu unterscheiden.
Mantos Narrative sind ein Epitaph für die unnennbaren Physiognomien der Geschichte. Sie haben eine Gestalt, die die Grenzen von Zeit, Ort, Rasse, Religion überschreiten und trotzdem sämtliche Gesellschaften heimsuchen, »wo die Menschheit gewitterschwanger gärt und brodelt« (Baudelaire 1975: 275). Baudelaire hätte ihn »Philosophe de la rue« alias »Chiffonnier« genannt.
1 Aus Baudelaires Du Vin et du Haschisch wird hier zit. n. Benjamin 1996: 441. »Hier ist ein Mann damit beauftragt, die Trümmer eines Tages in der Hauptstadt einzusammeln. Alles, was die große Stadt verworfen hat, alles, was sie verloren hat, alles, was sie verschmäht hat, alles, was sie kaputt gemacht hat, katalogisiert er, er sammelt es. Er sammelt die Archive der Ausschweifungen, das Sammelsurium der Ausschüsse. Er trifft eine Sortierung, eine intelligente Auswahl; er sammelt, wie ein Geizhals einen Schatz, den Abfall, der, von der Gottheit der Industrie zerkaut, zu Gegenständen des Gebrauchs oder des Genusses wird.« (Übersetzt mit www.DeepL.com/Translator)
2 Kapharnaum war im Neuen Testament die nach Nazareth zweite Heimatstadt Jesu, die auch eine Zoll- und Polizeistation zwischen zwei jüdischen Fürstentümern war, in der alle Gegenstände, die Reisende und Wegelagerer in die Stadt bringen wollten, auf potentielles Schmugglergut oder Gefahren für die Gesellschaft überprüft wurden.
3 Die Übersetzung für das Wort ›Zuhälter‹ heißt ›Dalal‹ auf Hindi, der Nationalsprache Indiens, und Marathi, der Regionalsprache im Bundesstaat Maharashtra. Es gibt eine bekannte Straße namens ›Dalal Street‹, wo die Börse Bombay Stock Exchange steht. Die wirtschaftlichen Konnotationen des Wortes sorgen für eine spezifische Deutung, wenn man Mantos Texte in der Hindi- bzw. Marathi-Übersetzung liest.
4 In seiner berühmtesten Gedichtsammlung, Les Fleurs du Mal (Die Blumen des Bösen), ist der dritte Zyklus, der sich an die Tableaux Parisiens anschließt, mit Le Vin überschrieben. Er besteht aus fünf Gedichten, mit den (deutschen) Titeln: Die Seele des Weines, Der Wein der Lumpensammler, Der Wein des Mörders, Der Wein des Einsamen und Der Wein der Liebenden. Das zweite Gedicht Le Vin des Chiffonniers, aus dem die oben zitierten Zeilen stammen, entstand in der Zeit um das Jahr 1843 (es existiert auch eine Prosafassung, als Teil der Abhandlung Du Vin et du Haschisch, aus dem Jahre 1851). Zu Le Vin des Chiffonniers vgl. Baudelaire 1975: 274-276.
5 Bis 1996 hieß die Stadt Bombay, nach dem portugiesischen ›Bom Baia‹ (Gute Bucht). 1996 wurde der Stadtname zu Mumbai umbenannt. Natürlich kommt die Stadt als Bombay und nicht als Mumbai in dem Werk Mantos vor.
6 Bombay ist Schauplatz für viele Geschichten Mantos, besonders für die, in denen Prostituierte vorkommen (vgl. Manto 2012a).
7 Manto war der Auffassung, »wir sagen den anderen, woran sie leiden, aber besitzen keine Apotheke.« (Manto 1998: 85)
Baudelaire, Charles (1975): Sämtliche Werke/Briefe. Bd. 3: Les Fleurs du Mal = Die Blumen des Bösen. Hg. v. Friedhelm Kemp u. Claude Pichois in Zusammenarb. mit Wolfgang Drost u. Robert Kopp. München.
Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1976): Kafka: Für eine kleine Literatur. Aus dem Franz. v. Burkhart Kroeber. Frankfurt a.M.
Dies. (1988): A Thousand Plateaus: Capitalism and Schizophrenia. Bd. 2. Übers. v. Brian Massumi. London.
Kimmich, Dorothee (2009): Öde Landschaften und die Nomaden in der eigenen Sprache. Bemerkungen zu Franz Kafka, Feridun Zaimoğlu und der Weltliteratur als »littérature mineure«. In: Dies./Özkan Ezli/Annette Werberger (Hg.): Wider den Kulturenzwang: Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur. Bielefeld, S. 297-316.
Kraus, Karl (1986): Sprüche und Widersprüche. In: Ders.: Aphorismen. Hg. v. Christian Wagenknecht. Frankfurt a.M. (= Karl Kraus. Schriften. Bd. 8), S. 7-178.
Manto, Sa’adat Hasan (1997): Blinder Wahn. Erzählungen. Übers. v. Lothar Lutze u.a. Berlin.
Ders. (1998): Gesammelte Werke. Bd. 1: Dastavez. Neu Delhi.
Ders. (2001a): Saha’e. Übers. v. Muhammad Umar Memon. In: Ders. Black Margins. Sa’adat Hasan Manto Stories. Ausgew. v. M. Asaduddin. Hg. v. Muhammad Umar Memon. New Delhi. S. 168-176.
Ders. (2001b): The Black Shalwar. Übers. v. Ralph Russel. In: Ders.: Black Margins. Sa’adat Hasan Manto Stories. Ausgew. v. M. Asaduddin. Hg. v. Muhammad Umar Memon. New Delhi, S. 57-73.
Ders. (2012a): Bombay Stories. Übers. v. Matt Reeck u. Aftab Ahmad. Noida.
Ders. (2012b): Khushiya. In: Ders.: Bombay Stories. Übers. v. Matt Reeck u. Aftab Ahmad. Noida, S. 1-9.
Ders. (2012c): Siraj. In: Ders.: Bombay Stories. Übers. v. Matt Reeck u. Aftab Ahmad. Noida, S. 194-204.
Marx, Karl (2013): Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: Ders.: Politische Schriften. Hg. v. Hans-Joachim Lieber. Darmstadt (= Neuauflage der Marx-Werkausgabe. Werke, Schriften. Bd. 3), S. 268-387.
Thoburn, Nicholas (2002): Difference in Marx. The lumpenproletariat and the proletarian unnamable. In: Economy and Society 31, H. 3, S. 434-460.
Tiedemann, Rolf (41996): Einleitung des Herausgebers. In: Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften. Bd. V.1. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M., S. 9-77.
Wohlfarth, Irving (1986): Et Cetera? The Historian as Chiffonnier. In: New German Critique 39, S. 142-168.