Alois Wierlacher: Hingabe und Vertragsstiftung. Lessings Emilia Galotti und Goethes Iphigenie auf Tauris als Dramen bibelkritischer bzw. rechtspolitischer Sicherung menschlichen Lebens und Zusammenlebens. Mit einem fachstrategischen Beitrag über die Weiterentwicklung der im globalen Kontext unterschiedlich aufgestellten und standortbewusst agierenden Germanistik(en) zu einer multilateralen Regionalistik der deutschsprachigen Welt

Heidelberg: Winter 2020 – ISBN 978-3-8253-4660-7 – 38,00 €

https://doi.org/10.14361/zig-2021-120116

Hinter dem Titel von wahrhaft denkwürdiger Länge verbirgt sich ein Buch mit drei umfangreichen Kapiteln. Darin finden sich eine Auseinandersetzung mit Lessings Emilia Galotti, mit Goethes Iphigenie auf Tauris sowie eine (hochschul-)politische Diskussion um eine Neuausrichtung des Fachs Germanistik. Das letzte Kapitel ist das längste und es verdeutlicht, dass wir es nicht mit einer herkömmlichen literaturwissenschaftlichen Abhandlung zu tun haben: Wie bereits die Einleitung erkennen lässt, zieht der Verfasser mit dieser Veröffentlichung die Bilanz eines Forscherlebens. Er erkundet einerseits die genannten beiden kanonischen Theaterstücke auf der Basis eigener Analysen aus den 1970er/80er Jahren neu, indem er den gesellschaftskritischen Gehalt und das Potential der Stücke, zu ethischem und vernünftigem Handeln anzuregen, vor dem Hintergrund heutiger politischer und sozialer Gegebenheiten betrachtet. Wie lässt sich ein friedliches Zusammenleben dauerhaft sichern? Das ist die Frage, auf die, so Wierlacher, die beiden Dramen unterschiedliche Antworten geben können. Doch Wierlacher begreift nicht nur die fortdauernde Auseinandersetzung mit wichtigen zentralen Texten unter sich ändernden historischen Rahmenbedingungen als Kernaufgabe der Germanistik. Und so fragt er andererseits auch danach, was ganz generell – über die konkrete Auseinandersetzung mit Texten bzw. Sprache hinaus – Aufgaben einer Germanistik im 21. Jahrhundert sein können. Welche globalen Wandlungsprozesse sind im Kontext germanistischer Lehre und Forschung zu berücksichtigen? Inwiefern verändern sie das Fach, dessen Gegenstände und deren Betrachtung? Die drei Teile des Buches erweisen sich dadurch als miteinander verbunden, dass sowohl exemplarisch die beiden Dramen als auch das Fach Germanistik unter besonderer Berücksichtigung des Teilfachs Neuere deutsche Literaturwissenschaft daraufhin befragt werden, was diese zu einem besseren Selbst- und Weltverständnis jedes Einzelnen beitragen können.

Im ersten, Emilia Galotti gewidmeten Kapitel erschließt Wierlacher den Text über die darin enthaltenen biblisch fundierten Weltauffassungen sowie über die seiner Lesart zufolge verhandelten systemimmanenten Mängel »absoluter Herrschaft in Politik und katholischer Kirche« (32). Die kulturwissenschaftlich-hermeneutische Perspektive Wierlachers erfährt bereits in diesem Kapitel eine Ausweitung in zweifacher Hinsicht: einmal dadurch, dass er postuliert, Lessing ginge es »sowohl um lokale und regionale als auch um globale Fragen der Gestaltung des spezifisch menschlichen Lebens und des Zusammenlebens in der Weltgesellschaft« (34). Es ist allerdings nun mehr als fraglich, ob Lessing in einem Stück, das ausschließlich in Innenräumen spielt und kaum Bezüge zu realen örtlichen Gegebenheiten aufweist, »lokale und regionale Fragen« aufwirft. An Stellen wie dieser wird zu bemüht versucht, überdeutlich schon mittels Begrifflichkeiten eine Verbindung zum letzten Kapitel herzustellen. Zudem erweitert Wierlacher seinen literaturwissenschaftlichen Zugriff auf Lessings Trauerspiel auch dadurch mit Blick auf das letzte Kapitel zu sehr, dass er rückblickend eigene damit verbundene Lebens- und Denkwege offenlegt und sich dezidiert wertend über Kollegen wie Thomas Kuhn und Peter Szondi äußert. Deutlich wird durch eine solche Darstellungsweise die Motivation Wierlachers, einer aus universalistischem Anspruch heraus arbeitenden Germanistik den Rücken zu kehren, in die USA zu gehen und mit einer kultur- und differenzsensiblen Grundhaltung nach Deutschland zurückzukehren. Diese wirke sich seinen Ausführungen zufolge auf seine Forschung aus, weswegen er seither auch interkulturelle Fragen an Lessings Emilia Galotti herantrüge. Leider bleibt es aber bei der Darlegung einer monokausal hergeleiteten, persönlichen Motivation und Herangehensweise. Im Fokus steht das Individuum Alois Wierlacher, nicht er als Vertreter einer bestimmten Forschergeneration oder -gruppe. Insofern sind diese Äußerungen von biographischem, nicht aber von übergeordnetem wissenschaftshistorischem oder -soziologischem Interesse. Gleichwohl gelingt es Wierlacher, Lessings so häufig interpretiertem Stück durch interkulturelle Modelle wie dem der »Third Culture« (48) neue Aspekte abzugewinnen. Überzeugend ist in diesem Zusammenhang die ethische Dimension, die Wierlacher an Lessings Emilia Galotti immer wieder betont und die es erlaube, das Stück auch heute noch auf »globale Probleme des Fehlverhaltens religiöser und politischer Mächte« (91) zu beziehen. Das Stück erscheint ihm als »Frühform« öffentlicher, medial vermittelter Kritik etwa an sexualisierter Gewalt und an einem System des Absolutismus in Staat und Kirche, der das Interesse der Untergebenen »an einem ungestörten Leben und Zusammenleben« (90) gefährde.

Auch im zweiten Kapitel, das mit »Vertragsstiftung« überschrieben ist, geht Wierlacher von der berechtigten Grundannahme aus, dass »Gegenstände der Literaturwissenschaften […] in einem historischen Verstehensrahmen aufgrund besonderer Frageinteressen, Erfahrungen und theoretischer Annahmen konstruiert« werden (95). Der Wissenschaftler ist bei Wierlacher hier also weniger in seinen individuellen, thematisch-ästhetischen Vorlieben präsent, sondern als Vertreter einer bestimmten Zeit und den damit verbundenen Traditionen und Wissensbeständen. Und so zeichnet Wierlacher nach, wie sich sein eigenes Verständnis der Iphigenie veränderte, wozu entscheidend Internationalisierung und Globalisierung auch der Germanistik beigetragen hätten, und nicht zuletzt auch der cultural turn der Geisteswissenschaften insgesamt.

Tatsächlich gibt es kaum einen Text, der politische, soziale, psychologische und juristische Aspekte menschlichen Zusammenlebens in so konzentrierter Form verdeutlichte wie Goethes Iphigenie. Ganz zu Recht verweist Wierlacher diesbezüglich u.a. auf seinen grundlegenden, 1983 in der Zeitschrift für deutsche Philologie veröffentlichten Aufsatz Ent-fremdete Fremde. Goethes Iphigenie auf Tauris als Drama des Völkerrechts. An diesen knüpft er nun an: einmal, indem er Goethes Iphigenie zutreffend als überaus geeignete Lektüre im Sinne der hochschulpolitischen Zielsetzung der Hochschulrektorenkonferenz empfiehlt, »junge Menschen nicht nur berufsfähig zu machen, sondern für die Wahrnehmung eines Weltbürgertums […] zu qualifizieren« (100) ; dann auch, indem er Gast-, Fremden- und Völkerrecht sowie Iphigenies unfreiwilligen Rollenwechsel als Migrantin/Staatsfremde auf Tauris und dessen psychische Auswirkungen zusammendenkt. Es gelingt Wierlacher hier überzeugend, sowohl die das Stück prägenden juristischen Diskurse zu identifizieren und zu erläutern als auch dessen Aktualität für das 21. Jahrhundert darzulegen. Integration, Distanz und Verweigerung erscheinen als Verhaltensoptionen in der Fremde, die an der Figur Iphigenie beispielhaft erkennbar werden.

Die Auseinandersetzung mit Goethes Iphigenie verbindet – äußerst fruchtbar – interdisziplinäre Perspektiven, die Wierlacher auch im dritten, der Germanistik gewidmeten Kapitel nutzt. Dieses ist mit »Vom Nebeneinander zum Miteinander« überschrieben. Ausgehend von der bedauerlicherweise zutreffenden Feststellung, die Germanistik stehe »bekanntlich nicht im Rampenlicht von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft« (163), macht Alois Wierlacher Vorschläge, wie sich die Germanistik »unter Wahrung und Würdigung ihrer standortbedingten Blickwinkel zu einer im globalen Kontext operierenden Regionalistik der deutschsprachigen Welt« weiterentwickeln könnte (164). Dass dies seiner Ansicht nach notwendig ist, zeige die Vernachlässigung der »Fachversion der interkulturellen Germanistik« (170), die er selbst vertritt. Dies führt zu bedenkenswerten Überlegungen: Wierlacher konstatiert zwischen Auslands- und Inlandsgermanistik eine zunehmende Entfremdung, was er auf die Abschottung der Inlandsgermanistik zurückführt. Tatsächlich ist es fraglich, was für einen Nutzen der Gebrauch beider Begriffe überhaupt hat. Wierlacher begreift Germanistik nicht als zwiegespalten, sondern als ein in weiten Teilen der Welt präsentes Fach mit unterschiedlichen Ausprägungen. Diese reichten von philologischen Interessen über die Beschäftigung mit kulturwissenschaftlichen Gegenständen, die deutschsprachige Länder und Gebiete betreffen, bis hin zur Sprachvermittlung. Die von Wierlacher häufig beschworene Regionalistik zielt also darauf, die Germanistik in ihrer methodisch-theoretischen Vielfalt wie in ihrer topographischen Verbreitung zu würdigen. Und genau daraus, so seine Argumentation, erwüchsen unterschiedliche Forschungsinteressen, die aber alle gleichwertig seien. Die daraus resultierenden unterschiedlichen fachlichen Perspektiven und Ansprüche an das Fach sollten daher aufmerksam wahrgenommen und bei wissenschaftlichen und wissenschaftsorganisatorischen Diskussionen und Planungen stärker berücksichtigt werden, so eine durchaus berechtigte, zentrale Forderung des Autors. Eine weitere lautet, die Opposition zwischen in und out, Binnen- und Auslandsgermanistik, künftig zu vermeiden. Vielmehr sei zu überlegen, ob nicht Module zu internationalen Beziehungen und regionalwissenschaftlichen Themen, wie sie in nichtdeutschen Ländern seit Jahrzehnten in Studienordnungen germanistischer Fächer stehen, auch im deutschsprachigen Raum für Germanistikstudierende von Interesse und intellektuellem wie praktisch-beruflichem Nutzen sein könnten.

Alois Wierlacher plädiert dafür, dass die Germanistik gesellschaftliche Relevanz zurückgewinnen müsse. Dies könne durch eine verstärkte Beschäftigung mit Problemen heutiger Gesellschaften – u.a. sexueller Missbrauch, Wirtschaftskriminalität, Umweltverschmutzung – geschehen. Inwieweit dadurch andere, weniger zeitgebundene, aber gleichwohl relevante Fachthemen, etwa literarische Texte (!), aus dem Blickfeld geraten könnten, diskutiert der Autor nicht. Gleichwohl sind seine Ausführungen sehr dazu angetan, nur scheinbar selbstverständliche Haltungen und Einstellungen zur Welthaltigkeit der Germanistik, zur individuellen Einstellung die ›In-‹ und ›Auslandsgermanistik‹ betreffend und zur Entwicklung des Faches und seiner Teilfächer zu hinterfragen.

Als unbedingt notwendige Grundlage für ein vertieftes Fachverständnis identifiziert Wierlacher »ein gesichertes Wissen um die Dialektik von Eigenheit und Andersheit« (265). Die Interkulturelle Germanistik avanciert so betrachtet von einer Forschungsperspektive zur wissenschaftstheoretischen und berufspraktischen Basis. Dies ist in Zeiten enorm beschleunigter Globalisierung und Internationalisierung ein diskussionswürdiger Ansatz.

Die Argumentation verliert im Verlauf dieses dritten Kapitels allerdings etwas an Stringenz. Dazu tragen die Intermezzi bei, die dem »gespaltenen Kulturbegriff in Deutschland« sowie »Thomas Mann und Max Frisch« gewidmet sind, sowie die recht umfangreichen Reflexionen zur Gastlichkeit, deren Erforschung als Desiderat einer kulturwissenschaftlich interessierten Germanistik präsentiert wird. Die daraus resultierenden Überlegungen, dass etwa »Professuren für regionalwissenschaftliche Germanistik im globalen Kontext an Universities for Applied Studies« (322) einzurichten seien, dürften nicht jedem primär philologisch orientierten Leser einleuchten. Zu überlegen, wie sich Studienangebote gestalten ließen, die verstärkt kulturvermittelnd wirken, ist aber ein wichtiger Denkanstoß in Zeiten, in denen selbst große Fächer wie die Germanistik unter Rechtfertigungsdruck stehen und im nichtdeutschsprachigen Raum Gefahr laufen, in Studiengängen wie European Studies aufzugehen.

Insgesamt handelt es sich bei Hingabe und Vertragsstiftung um ein recht heterogenes Buch. Dessen Verfasser versucht, Fragen und Gegenstände, die ihn ein Forscherleben lang umgetrieben haben, zusammenzudenken und für eine Diskussion der Zukunft des Faches Germanistik fruchtbar zu machen. Dies gelingt stellenweise sehr gut, gerade weil viele Gedanken durchaus provokatives Potential bergen: Statt weitere philologische Tiefenbohrungen vorzunehmen, ergreift Wierlacher im dritten Teil seines Buches häufig Partei für eine anwendungsorientierte Germanistik, was nicht jedem und jeder gefallen dürfte. Und der Autor legt den Finger in eine Wunde: Obwohl die Germanistik im deutschsprachigen Raum zu den größten Fächern gehört und sich außerhalb dessen steigender Beliebtheit und damit weiter wachsender Studierendenzahlen erfreut, ist ihre Stellung in der Gesellschaft, was auch ein mediales Echo einschließt, eher marginal. Dass sich aber etwa die Literaturwissenschaft als Teilfach der Germanistik mit äußerst wertvollen Werken beschäftigt, die helfen können, Gegenwart zu verstehen und Zukunft zu planen, wird bei der Lektüre des dritten Kapitels von Hingabe und Vertragsstiftung rückblickend an Lessings Emilia Galotti und an Goethes Iphigenie exemplarisch deutlich; und zwar ohne dass die Beschäftigung mit den Stücken in einer bloßen Analogisierung aufginge oder diese zu Verständniskrücken degradierte.

Anne-Rose Meyer

(http://orcid.org/0000-0002-3794-4094)