Authors who have written in more than one langue can have very divers attitudes towards these languages. This article describes some of these attitudes, using examples that cover very different personal developments and testimonials. In the end, the article proposes as tentative typology.
Title:Multilingual Authors and their Languages. Remarks on a Complex Relationship
Keywords:multilingualism; multilingual authorship; language choice
»…que le Gascon y arrive, si le François n’y peut aller!«
Montaigne, Essais, I, XXVI1
Die Frage, welchen Einfluss die Verwendung einer bestimmten Sprache auf einen literarischen Text haben könnte, hat schon (zu) viel Tinte fließen lassen. Ich habe mich unvorsichtigerweise selbst an den Spekulationen beteiligt, frage mich jedoch seit langem, ob es eine Antwort auf die Frage geben kann. Zu viele Faktoren spielen eine Rolle: solche, die von der Situation einer Sprache in der Gesellschaft abhängen, also nicht von einem Autor / einer Autorin zu beeinflussen sind (Status, Prestige, soziolinguistische Situation u.a.), aber auch von der Autorin / vom Autor abhängende, wie Bildungssprache(n), symbolische Beziehungen zu Sprachen und nicht zuletzt Kompetenz und Sprachbewusstsein. Die Liste der Variablen ließe sich beliebig verlängern. Daher ist es vielleicht sinnvoll, mit einer anderen Frage zu beginnen und zu überlegen, welches Verhältnis Autorinnen / Autoren zu den von ihnen verwendeten Sprachen bzw. zu Sprache überhaupt haben können. Im Folgenden will ich mich dem Problem zunächst durch die Diskussion der Situation einiger ausgewählter Autoren annähern, um zu versuchen, daraus am Ende vorsichtige Schlüsse zu ziehen. Es ist offensichtlich, dass es sich allenfalls um eine erste Annäherung handeln kann.
Stefan Heym (1913-2001) musste ein bewegtes Leben führen: In Chemnitz als Helmut Flieg geboren, floh er bereits kurz nach der Machtübernahme durch Hitler, zunächst nach Prag, dann in die USA. Dort arbeitete er bei Zeitschriften der Emigration mit. Während des Krieges wurde er zum US-Bürger und Offizier, verließ aber als Opfer der antikommunistischen Verfolgungen (McCarthy-Ära) das Land wieder und lebte seit 1953 in der DDR. Er veröffentlichte 1942 seinen ersten Roman, Hostages, auf Englisch. Während er bei seiner journalistischen Arbeit in den USA sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch schrieb, verwendete er für seine literarischen Werke bis 1972 (fast) ausschließlich das Englische; erst dann kehrte er zum Deutschen zurück. Er schrieb vor allem Romane, die nach sorgfältiger Quellenrecherche (zeit-)historische Themen behandeln, und hatte damit in beiden deutschen Staaten großen Erfolg. Später wurde er zum exponierten linken Kritiker der DDR-Regierung. Dafür wurde er einerseits verfolgt, auf der anderen Seite aber nicht – wie andere oppositionelle Intellektuelle – ausgegrenzt, da er den Sozialismus nicht in Frage stellte. Heym war am 4. November 1989 einer der am meisten gefeierten Redner bei der großen Kundgebung in Berlin. 1994 wurde er als parteiloser Kandidat für die PDS in den Bundestag gewählt und war Alterspräsident, zog sich allerdings schon nach einem Jahr aus dem Parlament zurück. Durch sein ganzes Werk zieht sich die Bemühung um einen humanen Sozialismus.
Stefan Heym war engagierter Linker und wollte daher mit seinen Werken auch gesellschaftliche Wirkung erzielen – was ihm immer wieder gelang. Daher war – bei ähnlicher Kompetenz – die Sprachwahl für ihn eine auch pragmatische Entscheidung. In einer deutschsprachigen Umgebung bediente er sich (vor allem) des Deutschen, während der Jahre in den USA eignete er sich das Englische so an, dass es seine Absichten ohne Abstriche auszudrücken vermochte. Der Beobachter hat den Eindruck, dass er sich der Vorstellung, die Montaigne im Zusammenhang mit dem obigen Motto entwickelt, nämlich die Sprache habe vor allem den Gedanken zu dienen, leicht anschließen könnte. Bei allem literarischen Anspruch hatte für ihn der Inhalt vor der Sprachwahl den Vorrang.2
Isaac Lang (1891-1950), der sich später Yvan Goll nannte, aber auch andere Pseudonyme verwendete, wurde in Saint-Dié in Frankreich geboren, wuchs aber im damals kaiserlichen Metz in einer zweisprachigen Familie auf; er studierte in Straßburg und beteiligte sich noch vor dem Ersten Weltkrieg am entstehenden deutschen Expressionismus. Nach 1918 lebte er mit seiner Frau Claire vor allem in Paris, wo er fast nur auf Französisch publizierte, das Deutsche aber erst nach 1933 völlig aufgab. In dem Balladenwerk La chanson de Jean sans Terre (1936-1944) verkörpert der englische König Johann Ohneland sein eigenes Schicksal, ohne Wurzeln und ohne feste Bleibe. Goll konnte Europa rechtzeitig verlassen und lebte 1939-1947 in New York. Dort schrieb er auch einige literarische Texte auf Englisch, allerdings mit bescheidenem Erfolg. Als er schwer krank nach Europa zurückkehrte, verfasste er sein letztes großes lyrisches Werk – nun wieder auf Deutsch –, Traumkraut, das erst 1951 postum erschien (vgl. Schmeling 1996).
Auch bei Goll wird man den Sprachwechsel mit dem Wechsel der Lebenssituationen und dem Wunsch nach Rezeption in Verbindung bringen können. Im Kaiserreich schrieb er (fast nur) auf Deutsch, in Paris vor allem Französisch, in den USA versuchte er sich im Englischen. Allerdings zeigte die Rückkehr des schwer Leidenden zum Deutschen, dass er noch einen anderen Bezug zur Sprache hatte, und das, obwohl er damals nicht mit einer breiten Rezeption im deutschen Sprachraum rechnen konnte. Noch heute genießt sein Werk nur eine vergleichsweise bescheidene Anerkennung, auch wenn er in den literarischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielte.3
Celan (Paul Ancel, 1920-1970) wurde in Czernowitz geboren, das gerade von der österreichisch-ungarischen Monarchie an Rumänien übergegangen war. Die Stadt und die ganze Bukowina waren damals polyglott: »Die Menschen der Bukowina sprachen ukrainisch, rumänisch, hochdeutsch, schwäbisch und jiddisch, daneben andere Sprachen und Dialekte« (Felstiner 1997: 28). An dieser Vielsprachigkeit hatte Celan von Anfang an Anteil: Seine Mutter achtete auf die Verwendung des Schriftdeutschen zu Hause (nach Tradition der bukowinischen jüdischen Bourgeoisie4). Sein Vater legte mehr Wert auf eine jüdische Erziehung, so wuchs der Sohn mit einer ganzen Reihe von Sprachen auf, zu denen, neben jenen des Hauses, bald auch das Rumänische als (eine) Schulsprache kam. 1938 fuhr Celan nach Tours, um dort ein beabsichtigtes Medizinstudium vorzubereiten; damit öffnete er sich auch dem Französischen. Im Sommer 1939 kehrte er, wohl aufgrund der politischen Lage, nach Czernowitz zurück, das im Juni 1940 von der UdSSR besetzt wurde: Celan bemühte sich rasch darum, Russisch und Ukrainisch zu lernen, zugleich wurden seine Kontakte mit dem Jiddischen intensiver. Zwar kam er selbst einigermaßen glimpflich durch die schlimmste Zeit zwischen 1941 und 1944, seine Eltern fielen jedoch beide dem rumänischen Antisemitismus zum Opfer. Nach der Rückeroberung durch die Rote Armee schrieb er für Lokalzeitungen Übersetzungen aus dem Rumänischen ins Ukrainische, zugleich nahm er ein Anglistikstudium auf. Von April 1945 bis Dezember 1947 lebte er in Bukarest, wo er (auch) rumänische Texte schrieb und zu einem der Autoren des jungen rumänischen Surrealismus wurde. Im Dezember 1947 verließ Celan Bukarest und kam nach langer Wanderung (zu Fuß) nach Wien, wo er allerdings nur wenige Monate blieb, das restaurative und nach wie vor antisemitische Klima in Österreich sagte ihm nicht zu. Er zog über Innsbruck weiter nach Paris, das er im Juli 1948 erreichte und in dem er bis an sein Lebensende blieb. Er heiratete eine Französin, man darf annehmen, dass das Französische zu seiner alltäglichen Umgangssprache wurde. Er kam nur relativ selten nach Westdeutschland, seine innere Verletzung schien immer stärker zuzunehmen. 1970 setzte er seinem Leben selbst ein Ende.
Celan hat, sieht man von den wenigen Monaten im ersten Halbjahr 1948 ab, nach seiner Jugend in Czernowitz nie im geschlossenen deutschen Sprachgebiet gelebt. Der Beobachter ist versucht zu sagen, er habe es, nach einem kurzen Versuch, sorgfältig umgangen. Auf der anderen Seite hat er – auch wieder mit einer kurzen Ausnahme – ausschließlich auf Deutsch geschrieben und während seiner Pariser Zeit viel, vor allem aus dem Französischen und dem Russischen, ins Deutsche übersetzt. Bekannt sind die folgenden beiden Zitate, die sein Verhältnis zu seinen Sprachen kennzeichnen: »Nur in der Muttersprache kann man die eigene Wahrheit aussagen, in der Fremdsprache lügt der Dichter.« (Zit. n. Felstiner 1997: 75) Später schreibt er an einen Verwandten in Israel, »dass es nichts auf der Welt gibt, um dessentwillen ein Dichter es aufgibt zu dichten, auch dann nicht, wenn er ein Jude ist und die Sprache seiner Gedichte die deutsche ist.« (Zit. n. ebd.: 89)
Da diese Äußerungen aus späterer Zeit stammen, kann man annehmen, dass Celan seine Versuche, auf Rumänisch zu schreiben, spätestens im Nachhinein als gescheitert betrachtet hat. Es ist allerdings nicht klar, welche Konzeptionen er in seinen frühen Jahren vertrat. Natürlich werden das persönliche Schicksal und der Verlust der Eltern, besonders der Mutter, einiges zu dieser Einschätzung beigetragen haben. Auf der anderen Seite ist er offensichtlich innerlich gespalten: »er schwankt zwischen einem Gefühl, nicht anders schreiben zu können und einer scharfen Abgrenzung gegenüber den deutschen Verhältnissen in der Zeit des Kalten Krieges.« (Kremnitz 2004: 231) Gerade bei einem Autor, der sich in zahlreichen Sprachen gewandt bewegte, ist eine solche Fixierung auf eine, nämlich – hier im wahrsten Sinne – die, Muttersprache bemerkenswert.
Vladimir (Vladimirovič) Nabokov (1899-1977) wurde in St. Petersburg geboren, doch weilte er schon in jungen Jahren zu längeren Aufenthalten in England, und sein Vater, ein führender Politiker der Kadettenpartei, sorgte dafür, dass er mehr oder weniger zweisprachig aufwuchs (er lernte auch früh und gut Französisch). Nach der Revolution floh die Familie über die Krim nach England, 1919 nahm Nabokov sein Studium in Cambridge auf. Im März 1922 wurde sein Vater von zaristischen Attentätern in Berlin ermordet, das veranlasste den Sohn zur Übersiedlung, nicht zuletzt, um seine Familie zu unterstützen. Nabokov blieb bis 1937 in Berlin, das zunächst das Zentrum des russischen Exils war, bevor sich dann, vor allem aus wirtschaftlichen Gründen, die große Emigrationsgemeinde zerstreute. Er kehrte 1937 von einer Lesereise ins Ausland nicht mehr zurück (seine jüdische Frau und der Sohn folgten bald nach) und lebte bis 1960 in den USA, wo er als Professor für russische Literatur, zuletzt an der Cornell-Universität, wirkte. Nach dem Erfolg von Lolita (1955) gab er diese Tätigkeit auf. Er wohnte fortan mit seiner Frau in Montreux in der Schweiz und arbeitete nur noch als Schriftsteller und Entomologe.
In den fünfzehn Jahren in Berlin schrieb er weiterhin auf Russisch (gewöhnlich unter dem Pseudonym Sirin), obwohl seine Bücher ihre Handlung zu einem erheblichen Teil in Berlin hatten und einige offensichtlich für eine Übersetzung ins Deutsche (mit-)gedacht waren. Er erklärte bisweilen, dass er sich vom Deutschen fernhalten wollte, damit sein Russisch nicht durch Interferenzen beeinträchtigt werde. Andererseits ist bekannt, dass Nabokov sich in Berlin nicht wohlfühlte (warum blieb er dann so lange?), diese Aversion verstärkte sich – aus leicht nachvollziehbaren Gründen – mit der Machtübernahme durch Hitler. Er hat ihr mehrfach Ausdruck gegeben und ist später nie nach Berlin zurückgekehrt, obwohl er immer wieder eingeladen wurde. Fast unmittelbar, nachdem Nabokov sich in den USA niedergelassen hatte, begann er auf Englisch zu schreiben und begründete damit seinen Weltruhm. Man kann natürlich argumentieren, dass er von Anfang an das Englische besser beherrschte als das Deutsche, das veranlasst dann allerdings zu der Frage, warum er nicht schon in Berlin begonnen hatte, (auch) auf Englisch zu schreiben. Offensichtlich ging mit dem Weggang aus Berlin eine persönliche Zäsur einher: Aus dem russischen demokratischen Emigranten wurde der amerikanische Schriftsteller (es ist vielleicht typisch, dass er oft in Enzyklopädien und ähnlichen Werken als »US-amerikanischer Schriftsteller russischer Herkunft« auftaucht).
Auch bei Nabokov wird man vermuten dürfen, dass die Rezeption seiner Literatur für ihn eine große Rolle spielte; jedoch bedurfte es eines tiefen Einschnitts auch im äußeren Leben, damit er den Schritt vom russisch- zum englischsprachigen Schriftsteller vollziehen konnte. Der bloße Aufenthalt in einer anderen Umgebung (fünfzehn Jahre Berlin) genügte nicht, um ihn zum Sprachwechsel zu veranlassen (vgl. u.a. Zimmer 2001; Urban 2003).5
Robert Lafont (1923-2009) wurde in Nîmes geboren und starb in Florenz. Sein Leben lang stand er im Dienste der okzitanischen Sprache und Kultur, zunächst, nach dem Zweiten Weltkrieg, als Autor und Organisator (er war 1945 Mitgründer des Institut d’Estudis Occitans und später sein Präsident), als Gymnasiallehrer und vor allem als Hochschullehrer an der Universität Montpellier und Begründer eines wichtigen Zweiges der peripheren Soziolinguistik. Nach seiner Emeritierung 1985 zog er nach Florenz, wo seine (zweite) Frau, die italienische Forscherin und Schriftstellerin Fausta Garavini6 damals noch an der Universität lehrte (vgl. Fourié 2009: s.v. Lafont, dort weitere Quellen, auch seine autobiographischen Schriften geben manchen, wenn auch oft nicht leicht zu entschlüsselnden, Aufschluss; vgl. auch Kremnitz 2005). Er spielte in Frankreich eine Rolle als Theoretiker der Neugliederung des Staates, als Sprach- und Literaturwissenschaftler, als Historiker, vor allem jedoch fühlte er sich selbst als okzitanischer Schriftsteller.
Daraus resultiert sein Sprachgebrauch bei Publikationen: Seine zahlreichen wissenschaftlichen und politischen Arbeiten und seine Pressebeiträge verfasste er auf Okzitanisch, Französisch, mitunter auf Katalanisch und in anderen romanischen Sprachen, je nach dem konkreten Bedarf, sein literarisches Schaffen – Romane, Theater, Poesie, Novellen – auf Okzitanisch. Er fühlte sich der okzitanischen Sprache und Kultur so verpflichtet, dass ein anderes sprachliches Medium (fast) nicht in Frage kam. In manchen seiner späteren Theaterstücke bildete er die damalige französisch-okzitanische Diglossie des Südens ab, durch personenspezifische Sprachverwendung oder durch Sprachmischung; das geschah in einer Bemühung um (sprachlichen) Realismus. Ein einziger veröffentlichter literarischer Text entstand auf Französisch, nämlich der Roman Chronique de l’éternité (1991). Es handelt sich um einen der nicht wenigen Texte von Lafont, die das Ende der Menschheit thematisieren; alle anderen wurden auf Okzitanisch geschrieben. Der Roman wurde 1986 verfasst, in den ersten Monaten nach der (definitiven) Umsiedlung Lafonts nach Florenz. Man wird in diesem Umstand ein entscheidendes Motiv für den Sprachwechsel sehen dürfen: Die Veränderung der Lebens- und Kommunikationssituation führte zu einem – einmaligen – Wechsel der Literatursprache. Lafont hat in späteren Gesprächen diesen Zusammenhang – etwas zögernd – zugegeben. Er band die Publikationssprache von wissenschaftlicher und Sachprosa zwar an die kommunikativen Absichten, sein literarischer Ausdruck war aber an das Okzitanische gebunden, wenn ihm das auch den Weg zu einer weiteren Rezeption (zunächst) versperrte.
Mehrfach hat Lafont, auf der Grenzlinie zwischen seiner wissenschaftlichen und literarischen Praxis, sich zur Übersetzbarkeit von literarischen Texten geäußert und dabei große Skepsis erkennen lassen. So sagte er etwa 1990: »Encore ne s’agit-il jamais, ou presque, d’une véritable autotraduction: plutôt de deux entreprises parallèles, de deux interventions sur deux registres pour deux séries d’œuvres.« (Lafont 1992: 35)7 Im selben Text schrieb er gegen Ende: »On ne peut pas vraiment s’écrire et se traduire. Tout ce qu’on peut, quand on est écrivain en deux langues, c’est se récrire. Mais il vaut peut-être mieux se faire récrire par qui a ce métier.« (Ebd.: 39)8 Ähnliche Gedanken führte er 1996 aus (vgl. Lafont 1996). Das ganze Schaffen Lafonts zeigt, dass er sich in dieser Hinsicht von Montaigne (den er sonst sehr schätzte) absetzte und Sprache nicht als beliebiges Gefäß für Gedanken ansah. Auf der anderen Seite sah er ein, dass Gedanken, die ihre Adressaten erreichen sollen, in für sie zugänglicher Form ausgedrückt werden müssen; daher der sprachliche Pragmatismus in seinen wissenschaftlichen und politischen Texten. Die vielfache Verwendung des Okzitanischen auch in solchen Texten zeigt umgekehrt, dass er für seine Sprache eine umfassende kommunikative Funktion fordert. Diese Haltung ließ ihn, vor allem im Alter, kritisch werden gegenüber okzitanischen Kollegen, über die die Vermutung umging, sie fassten ihre Texte zunächst auf Französisch ab, um sie dann in das Okzitanische zu übertragen.
Man wird daraus schließen dürfen, dass der konkrete sprachliche Ausdruck bei allem Realismus hinsichtlich der Rezeption für Lafont eine große Rolle spielte und dass für ihn die Sprache eine über die bloße Mitteilung hinausgehende Funktion hat.9
Canetti (1905-1994) wurde in Rustschuk in Bulgarien geboren; er entstammte einer sephardischen Familie, die im Alltag das Sephardische (Judenspanische) verwendete. Daneben wurde er früh mit dem Deutschen konfrontiert (ohne es schon zu verstehen), das seine Eltern als Sprache der Privatsphäre verwendeten, vor allem aber mit dem Bulgarischen, das die Dienstmädchen (und wohl auch große Teile der übrigen Umgebung) sprachen. Allerdings – Canetti berichtet in seinen autobiographischen Werken darüber – kam ihm das Bulgarische allmählich abhanden, als seine Eltern 1911 nach Manchester verzogen. Dort kam das Englische als Umgangs- und Schulsprache hinzu; das Kind musste es rasch erlernen, um die Schule besuchen zu können. Als indes der Vater schon im folgenden Jahre starb, zog die Mutter mit den Kindern 1913 nach Wien. Canetti musste während eines Sommeraufenthaltes in Lausanne Deutsch lernen, wiederum, um in die Schule gehen zu können – ein gewaltiges Unternehmen, das glückte, wenn auch Canetti noch in seinem Alterswerk über die damit verbundene Überforderung klagte (vgl. Canetti 1977: 86f.).
Auch im nächsten Aufenthaltsort, Zürich, war Deutsch Umgangssprache, ebenso in Frankfurt und dann wieder in Wien. 1938 musste Canetti mit seiner Frau Wien verlassen und lebte die nächsten Jahrzehnte in London, bevor er dann ab den siebziger Jahren zunächst sporadisch und dann ständig in Zürich blieb. Das Deutsche war seine hauptsächliche Bildungssprache, insofern überrascht es nicht, dass er sie für seine ersten Arbeiten vor der Flucht nach London wählte. Andererseits war das Deutsche die vierte Sprache, die er nach Sephardisch, Bulgarisch und Englisch lernte. Hätte er nicht längere Zeit im deutschen Sprachraum zugebracht, wäre die Sprachwahl vermutlich anders erfolgt. (Die Mutter zog nach dem Bruch mit dem ältesten Sohn 1924 nach Frankreich, und die beiden jüngeren Brüder, Nissim, später Jacques10, 1909-1997, und Georg, später Georges, 1911-1971, die beide in Frankreich erfolgreich waren, wählten das Französische als Publikationssprache). Bemerkenswert ist, dass die langen Jahrzehnte in England Canetti nicht dazu veranlassten, (auch) auf Englisch zu schreiben, das er vorzüglich beherrschte und das ihm sicher – in seiner lange Zeit prekären Existenz – materielle Vorteile gebracht hätte.
Er hat sich wiederholt über das Thema geäußert, schon 1944 in seinen Aufzeichnungen (vgl. Canetti 1973: 62f.), später vor allem in einem Gespräch mit Horst Bienek. Darin erklärte er:
Nein, ich habe immer nur deutsch geschrieben und werde es nie anders halten. Deutsch war mir viel zu wichtig, als ich nach England kam, um daran etwas zu ändern. Es wird auch Stolz mitgespielt haben. Ich wollte mir von niemand – und schon gar nicht von Hitler – vorschreiben lassen, in welcher Sprache ich schreibe. (Bienek 1965: 40f.)
Schon früher hatte er geäußert, dass er sich im Englischen nicht genügend leichtfüßig bewegen könnte. So stellte er 1964 fest: »Im Lesen und Schreiben bin ich nur deutsch zu Hause. Es ist nicht wahr, dass ich mehrere Sprachen habe, in anderen Sprachen bin ich nur dasselbe wie alle anderen.« (Zit. n. Hanuschek 2005: 310) Sicher wird man in dem (widersprüchlichen) Verhältnis zur Mutter ein Argument für die Wahl des Deutschen vermuten dürfen, ebenso im eigenen Stolz und in der Ablehnung Hitlers – allerdings weisen die Äußerungen in der Geretteten Zunge auf ein noch tieferes Verhältnis zu Sprachen hin; sie machen zwar auf der einen Seite klar, dass Inhalte von einer Sprache in eine andere ›wandern‹ können – Canetti erinnert sich der auf Bulgarisch gehörten Märchen seiner Kindheit nur noch auf Deutsch –, aber auch, dass es auf der anderen Seite ein Band zwischen dem Gesagten und seiner Sprache gibt. Auch er unterscheidet sich in seinen Sprachkonzeptionen massiv von Montaigne.11
Joseph Conrad (1857-1924), der ursprünglich Józef Konrad Korzeniowski hieß, wurde als Angehöriger der polnischen Oberschicht in der Ukraine geboren und besuchte das Gymnasium in Krakau. Er verlor früh seine Eltern, die in der polnischen Unabhängigkeitsbewegung engagiert waren. Seit seinem 17. Lebensjahr fuhr er zur See, zunächst auf französischen Schiffen, später ausschließlich auf englischen. 1884 erwarb er die britische Staatsbürgerschaft. Schon seit seiner Kindheit beherrschte er neben dem Polnischen auch das Französische, wie das damals – nicht nur in der polnischen Oberschicht – üblich war. Das Englische musste er erst als Erwachsener erlernen. Damit erklärt er, warum er zunächst auf französischen Schiffen fuhr. Seine eigentliche Absicht sei es jedoch immer gewesen, »wenn Seemann, dann nur englischer Seemann« zu werden. So jedenfalls stellt er das in seinem autobiographischen Werk A Personal Record. Some Reminiscences dar (vgl. Conrad 1982, 154-157). Dort schreibt er auch über seinen ersten Kontakt mit der englischen Sprache in Marseille:
[D]a geschah es, daß ich zum allerersten Male in meinem Leben in englischer Sprache angeredet wurde – in der Sprache meiner heimlichen Wahl, der Sprache meiner Zukunft, lange währender Freundschaften, tiefster Neigungen, qualvoller Stunden und müßiger Stunden, auch einsamer Stunden, gelesener Bücher, gedachter Gedanken, erinnerter Empfindungen – ja, meiner Träume! (Ebd.: 171f.)
In einer »Vorbemerkung des Autors«, die der zweiten Auflage von 1919 vorangestellt ist, geht Conrad noch weiter und widerspricht dem in einem damaligen Zeitschriftenaufsatz vermittelten Eindruck, er habe zwischen dem Französischen und dem Englischen eine wohlüberlegte Wahl getroffen. Er versichert darin:
In Wahrheit ist meine Fähigkeit, in englischer Sprache zu schreiben, ebenso angeboren wie jede andere Fertigkeit, mit der ich etwa zur Welt gekommen bin. Ich hege die seltsame, unabweisbare Überzeugung, dass diese Fähigkeit stets ein unveräußerlicher Teil meiner selbst gewesen ist. Die englische Sprache konnte von mir weder gewählt noch adoptiert werden. Daß es da eine Wahl geben könnte – dieser Gedanke ist mir überhaupt nie gekommen; und was die Adoption angeht – nun ja, eine Adoption hat stattgefunden, doch war ich es, den der Genius der Sprache adoptierte, jener Sprache, die mich, da ich kaum dem Alter des Stammelns entwachsen war, so vollständig zu der ihren machte, daß ihre Eigentümlichkeiten, wie ich fest glaube, unmittelbar auf mein Naturell einwirkten und meinen noch formbaren Charakter bildeten. Das ist ein sehr intimer Vorgang und aus eben diesem Grunde zu geheimnisvoll, um sich erklären zu lassen. […] Ich kann nach all diesen Jahren hingebungsvoll ausgeübter Praxis mit ihrer zermürbenden Last von Zweifeln, von Unzulänglichkeiten, von innerem Schwanken nur verlangen, man möge mir Glauben schenken, wenn ich sage, daß ich, wo nicht in englischer Sprache, dann überhaupt nicht geschrieben haben würde. (Ebd.: 7-9)
Natürlich stellt diese Äußerung ein nachträgliches Konstrukt dar. Doch muss man Autoren zunächst beim Wort nehmen, bevor man ihre Erklärungen im Spiegel irgendeiner Theorie oder eines anderen Wissens in Frage stellen kann. Die Erklärung klingt wie die nachträgliche Rationalisierung eines weniger klar verlaufenen Prozesses. Gehen wir von ihr aus, so befinden wir uns in maximaler Entfernung der Meinung von Paul Celan in Bezug auf die Aussagefähigkeit des Dichters, eine gewisse Nähe ergibt sich indes zu den Äußerungen von Elias Canetti im Hinblick auf seine Erinnerungen an die Geschichten aus der Kindheit. Conrad scheint nicht auf eine potenzielle Leserschaft geblickt zu haben, als er begann, auf Englisch zu schreiben, seine Hingabe an diese Sprache war so absolut und wird als so evident dargestellt, wie das sonst allenfalls bei Schreibenden vorkommt, deren Literatur in ihrer Erstsprache entsteht.
Auch die Biographie von Jorge Semprun (y Maura, 1923-2011) wurde durch die Konflikte des 20. Jahrhunderts stark beeinflusst. Er wurde in eine großbürgerliche Familie hineingeboren, allerdings war sein Vater Republikaner; nach dem Ausbruch des Bürgerkrieges wurde er zum Gesandten in Den Haag ernannt. Der Sohn wuchs mit Spanisch und dem Deutsch seiner Gouvernanten auf (die Mutter starb schon früh), später kam das Niederländische hinzu (das in seiner Biographie keine tiefen Spuren hinterließ). Nach der Niederlage der Zweiten Republik wich der Vater mit seinen jüngeren Kindern nach Paris aus, Jorge musste sich rasch das Französische (vollends) aneignen, um seine Schullaufbahn mit dem Baccalauréat abschließen und danach studieren zu können. Lange Zeit breitete er über die Umstände und den Zeitpunkt des Erwerbs seiner Französischkenntnisse einen Schleier, relativ spät wurde deutlich, dass er wohl gewisse Schulkenntnisse der Sprache hatte. Erst in dem Band Adieu, vive clarté … (1998) schildert er einige Motive für seinen raschen und vor allem akzentfreien Spracherwerb. Als Angehöriger der Résistance wurde er in das KZ Buchenwald gebracht. Nach der Befreiung 1945 nahm er zunächst am Untergrundkampf gegen Franco-Spanien teil, zuletzt war er Mitglied des Politbüros der spanischen KP (PCE, seit 1956); er war vielfach illegal in Spanien. 1962 begann er während einer längeren Razzia in einem Versteck in Madrid das Buch zu schreiben, das unter dem Titel Le grand voyage (1963) seinen literarischen Ruhm begründen sollte. Gleichzeitig entfernte er sich mehr und mehr von der damaligen Parteilinie, was im Januar 1965 zum Ausschluss aus der Partei führte. Von dieser Zeit an war er vor allem als Schriftsteller tätig. Die meisten seiner bekannten literarischen Werke wurden auf Französisch geschrieben, man darf allerdings nicht vergessen, dass Semprun während der Diktatur zahlreiche politische Texte verfasste, die gewöhnlich auf Spanisch geschrieben waren, zunächst in verschiedenen Periodika des PCE, später vor allem im Umkreis der Zeitschrift (und des Verlages) Ruedo Ibérico, die in der nichtkommunistischen linken Emigration eine wichtige Rolle spielten. Daneben hatte er in den ersten Jahren nach dem Krieg (Propaganda-)Gedichte auf Spanisch veröffentlicht, von denen er sich später distanzierte. Erst die Autobiografía de Federico Sánchez (1977), seine (erste) Abrechnung mit dem PCE, erschien im Original auf Spanisch, 1993 veröffentlichte er Federico Sánchez se despide de ustedes (über seine Zeit als Kulturminister in Madrid) zugleich in beiden Sprachen (es handelt sich um eine Selbstübersetzung),12 und 2003 den (letzten) Roman Veinte años y un día nur auf Spanisch.
Die Evolution von Sempruns sprachlicher Identität – seiner Identität überhaupt – ist ein langer, nicht widerspruchsfreier Prozess. Hier können nur einige Etappen aufgezeigt werden. In einem Gespräch mit Guy Braucourt sagt Semprun 1974:
Obwohl ich immer meine spanische Staatsbürgerschaft beibehalten habe und immer im Kontakt mit Spanien geblieben bin, habe ich immer nur auf Französisch geschrieben, und das von Anfang an und ohne Zögern, seit dieser Großen Reise, die ich immerhin in Madrid geschrieben habe und wo ich nur Spanisch sprach […]. Dennoch sage ich mir immer wieder, dass ich eines Tages auf Spanisch schreiben muss, denn ich habe mich nie definitiv damit abgefunden, kein Schriftsteller spanischer Sprache zu sein. (Zit. n. Braucourt 1974: 4; Übers. G.K.)
Wenig später gibt er Probleme mit seinem Selbstverständnis zu, wenn er 1977 in einem Gespräch mit Rosa Montero sagt:
[D]as Problem der Identität ist schon immer eines meiner größten Probleme, ich weiß nicht wirklich, wer ich bin. Der Umstand, dass ich sehr jung ins Ausland gehen musste und die Notwendigkeit oder die Möglichkeit oder das Vergnügen hatte, im Geheimen in der französischen Résistance zu arbeiten und immer mit anderen Identitäten lebte, hat mich sehr gezeichnet. Ich würde fast sagen, dass mir dieser Verlust der Identität gefällt. (Zit. n. Montero 1977: 6; Übers. G.K.)
Erst allmählich, nach dem Ende der Diktatur und der transición, nachdem ihm klar wird, dass er nicht einfach nach Madrid zurückkehren kann, wird Semprun auch deutlich, dass seine Identität komplexer (geworden) ist. So sagt er 1986, rund zehn Jahre nach Francos Tod, in einem Gespräch mit Pierre Boncenne: »Ich habe diese zugleich sehr angenehme und sehr schwierige Situation definitiv akzeptiert. Es ist ebenso angenehm wie beunruhigend, in verschiedene sprachliche Formen zu schlüpfen und sich darin zu bewegen. Diese Art sprachlicher Schizophrenie habe ich für mich angenommen.« (Zit. n. Boncenne 1986: 107; Übers. G.K.) Er verstärkt diese Aussage einige Jahre später in einem Gespräch mit Gérard de Cortanze:
Ich weiß, dass meine doppelte sprachliche Identität etwas ist, an dem mir sehr liegt. Ich will die literarische Verwendung der beiden Sprachen nicht aufgeben. Ich versuche, koste es, was es wolle, diese Besonderheit aufrechtzuerhalten. Ich möchte nicht ein Spanier sein, der schließlich nur noch auf Französisch schreibt. (Zit. n. Cortanze 1994: 99; Übers. G.K.)
Anlässlich der Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels vertieft Semprun seine Selbstanalyse noch, er sagt:
Letztendlich ist mein Vaterland nicht die Sprache, weder die spanische noch die französische. Mein Vaterland ist das Sprachvermögen. Das heißt, ein Raum sozialer Kommunikation und sprachlicher Möglichkeiten, in dem die Chance besteht, das Universum darzustellen und es vielleicht ein wenig oder am Rande zu verändern. (Semprun 2003: 62f.)
Zwar hat Semprun seine literarischen Texte im Hinblick auf die jeweilige Zielgruppe geschrieben, insofern gibt es gewisse Parallelen etwa zu Heym und Goll, auf der anderen Seite haben sich seine Selbstwahrnehmung und -definition im Laufe der Jahrzehnte verändert und präzisiert. Semprun sieht gegen Ende seines Lebens jenseits der konkreten Sprache eine Ausdrucksfähigkeit, die ihn zum Schreiben befähigt. Allerdings bedurfte es, die lange Folge der Zitate beweist es, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, eines langen Weges und vielleicht dessen, was ich an anderer Stelle »Erinnerungsarbeit« (Kremnitz 1998: 165) genannt habe.13
Ich wollte anhand einiger Beispiele zeigen, wie unterschiedlich das Verhältnis von Autoren zu ihren Literatursprachen sein kann. Verhalten sich manche Autorinnen / Autoren pragmatisch und sind daher zum gelegentlichen Sprachwechsel bereit, sofern er in ihrer Reichweite ist, identifizieren sich andere mehr oder weniger mit bestimmten Sprachen, wobei neben der Erstsprache andere Sprachen ›erwählt‹ werden können. Mitunter bedarf es eines Umweges, um zu einem solchen Resultat zu kommen. Meines Erachtens lassen sich zwei grundsätzliche Ausrichtungen unterscheiden: neben eine eher kommunikative Sprachkonzeption, wie sie mir etwa bei Heym vorzuliegen scheint, tritt eine stärker an der sprachlichen Form orientierte; diese taucht in unterschiedlichen Varianten und verschiedener Stärke auf. Sie wird bei Celan in Bezug auf die Erstsprache offenbar, während Nabokov nach einem tiefen biographischen Einschnitt die Sprache wechselt, dann aber beim Englischen bleibt, und Lafont eine Aufteilung nach Textsorten vornimmt.14 Canetti, Conrad und Tschinag entscheiden sich für eine später erlernte Sprache, die die beiden Erstgenannten als ausschließliches literarisches Ausdrucksmittel verwenden (Tschinag verwendet nach ersten Erfolgen auch seine Zweitsprache, das Mongolische). Nur selten liest man, wie bei dem späten Semprun, von einer darüber hinausgehenden Konzeption, bei der das Sprachvermögen die Möglichkeit des Sprachenwechsels aus (gewöhnlich) kommunikativen Gründen enthält (allerdings lassen sich auch Canettis Jugenderinnerungen unter diesem Aspekt lesen); er setzt nicht auf konkrete Sprachen, sondern auf ein abstraktes Sprachvermögen. Auf jeden Fall muss der Leserin / dem Leser deutlich sein, dass alle Sprachen, die ein Autor / eine Autorin, auch nur partiell, beherrscht, in seine literarische Ausdrucksfähigkeit einfließen. Es ist anzunehmen, aber meines Wissens noch kaum vergleichend untersucht, dass die unterschiedlichen Sprachkonzeptionen Konsequenzen für das Schreiben haben; hier wäre ein weites Feld für zukünftige Untersuchungen, die neben literarischen Kriterien auch sprach- und kommunikationswissenschaftliche berücksichtigen sollten. In einer Zeit, in der die Zahl mehrsprachiger Autorinnen / Autoren zunimmt, bekommen solche Fragen ein besonderes Gewicht. Indes sind derartige Untersuchungen nicht einfach: Die Zahl der Variablen ist groß, und es können sich solche unter ihnen befinden, die sich unserer Kontrolle entziehen. Deshalb stehe am Ende dieser kurzen Überlegungen ein Zitat des französisch- und spanischsprachigen Autors Claude Esteban (1935-2006):
Il ne s’agit pas que de parler une langue, il faut laisser la langue parler en soi – et ceci entraîne le locuteur bien au-delà de sa volonté consciente. Car cette langue, si nous la faisons nôtre, nous imprime ses modes et ses conduites d’être. Dirai-je, sans paraître excessif, qu’elle informe en quelque façon notre destinée? (Esteban 1990: 117)15
1 | Montaigne schreibt zu einer Zeit, in der Sprache nur in geringem Maße ideologisch befrachtet war.
2 | Vgl. Reif 2013; Hörnigk 2013; siehe auch http://www.stefan-heym.de; http://de.wikipedia.org/wiki/Stefan_Heym [Stand: 25.9.2015].
3 | Man könnte den rumänischen Autor Panait Istrati (1884-1935) in die Nähe von Heym und Goll stellen: Er musste zuerst Französisch lernen, bevor er in dieser Sprache seine erfolgreichsten Werke schrieb. Er führte Rumänien und die unteren Schichten der rumänischen Gesellschaft als literarischen Ort in Frankreich ein. Nach seinem Bruch mit dem Stalinismus kehrte er nach Rumänien zurück und schrieb dort die letzten Jahre seines Lebens wieder auf Rumänisch, teilweise übersetzte er sich auch selbst (zurück). Zu Istrati vgl. vor allem Stiehler 1990 und 2000.
4 | Das Jiddische war Zeichen der Zugehörigkeit zur Unterschicht, wie etwa Josef Burg, 1912-2009, der ›letzte‹ Autor der Stadt, der auf Jiddisch schrieb, immer wieder bemerkte. Vgl. Kitzmantel 2012; Yavetz 2008.
5 | Vielleicht kann man ihm – mit aller Vorsicht – den elsässischen Schriftsteller René Schickele (1883-1940) zur Seite stellen, der zweisprachig war, jedoch zeit seines Lebens auf Deutsch schrieb; erst nach seiner Flucht nach Frankreich (1932) verfasste er seinen letzten Roman, Le retour (1938), auf Französisch.
6 | Fausta Garavini ist die italienische Kennerin Montaignes; sie hat seine Werke übersetzt und herausgegeben.
7 | »Es handelt sich doch niemals, oder fast nie, um eine wirkliche Selbstübersetzung: schon eher um zwei parallele Unternehmungen, um zwei Interventionen auf zwei Registern für zwei Reihen von Werken.« (Übers. G.K.)
8 | »Man kann nicht wirklich sich selbst schreiben und sich übersetzen. Alles was man kann, wenn man Schriftsteller in zwei Sprachen ist, das ist sich nochmals zu schreiben. Aber man lässt sich vielleicht besser von denen nochmals schreiben, deren Beruf das ist.« (Übers. G.K.)
9 | Man könnte ihm eine Reihe anderer Autorinnen / Autoren zur Seite stellen, meist Sprecher/-innen wenig verbreiteter dominierter Sprachen. Hier sei nur an die früh verstorbene Montserrat Roig (1946-1991) erinnert, die ihre journalistischen Texte (auch) auf Spanisch schrieb, während ihr literarisches Schaffen ausschließlich auf Katalanisch stattfand, oder an Pierre (Péire) Bec (1921-2014), den Nestor der okzitanischen Forschung, der seine literarischen Werke ausschließlich auf Okzitanisch schrieb, während seine Forschungsarbeiten vor allem auf Französisch erschienen.
10 | Jacques Canetti wirkte in Frankreich als Direktor von Cabarets und war vor allem der Entdecker zahlreicher berühmter Chansonsänger.
11 | Auch der tuwinische Schriftsteller Galsan Tschinag (geb. 1943?) verwendete zunächst das Deutsche als literarische Ausdrucksform, es ist wohl die fünfte von ihm erlernte Sprache. Erst als er auf Deutsch erfolgreich war, veröffentlichte er auch auf Mongolisch. Tschinag hat das Verhältnis zu seinen Sprachen mehrfach genau umrissen (vgl. Tschinag 1996: 93). Allerdings ist die Bindung hier wohl weniger existentiell.
12 | Die beiden Texte unterscheiden sich leicht voneinander, vgl. die Analyse von Robert Tanzmeister 1996.
13 | Die Lebensdaten von Semprun wurden anhand der sehr zuverlässigen biographischen Skizze in Semprún 2012, S. 13-83, überprüft. – In gewisser Hinsicht lässt sich Samuel Beckett (1906-1989) Semprun zur Seite stellen. Auch er geht durch verschiedene Stadien literatursprachlicher Praxis hindurch, bevor er wirklich zum zweisprachigen Schriftsteller wird, der sich systematisch selbst übersetzt und dessen Werke erst in beiden Fassungen, der englischen und der französischen, vollständig zu sein scheinen.
14 | Lafont ist mit zwei Sprachen aufgewachsen, dem Französischen, das seine Eltern verwendeten, und dem Okzitanischen der Großeltern; man kann daher nicht eindeutig von einer Entscheidung für die Erstsprache sprechen.
15 | »Es geht nicht nur darum, eine Sprache zu sprechen, man muss die Sprache in sich sprechen lassen – und das beansprucht den Sprecher weit über seinen bewussten Willen hinaus. Denn diese Sprache, wenn wir sie zur unseren machen, prägt uns unsere Existenz- und Verhaltensweisen ein. Kann ich sagen, ohne exzessiv zu wirken, dass sie in gewisser Weise unser Schicksal mit leitet?« (Übers. G.K.)
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