The article deals with textual multilingualism in the works of Polish- and German-speaking authors who emigrated from Poland to Germany in the 1980s. »Textual multilingualism« is defined as a coexistence of several languages in one text (after Petr Mareš). This phenomenon has been of great interest to academic research for about twenty years now, also under the names of heterolingual writing, intratextual multilingualism or exophony. The article examines the forms and functions of such textual multilingualism in the case of Germany-based Polish literature as well as its creative potential. The characteristics of heterolingual writing typical for particular authors are also analysed.
Title:Textual Multilingualism in Polish Literature Written in / from Germany
Keywords:heterolingual writing; multilingualism; Polish emigration to Germany
»Nackt wie ein heiliger Türke kam Antek am frühen Morgen, im braunen Licht der Dämmerung in Bartoszyce an« (Becker 2003: 21), heißt es zu Beginn eines der ersten Kapitel im Roman Kino Muza von Artur Becker. Der Chamisso-Preisträger von 2009 erlaubt sich mit diesem Satz einen kleinen Scherz und Kulturtransfer zugleich, denn ganz ohne Vorwarnung liefert er eine Lehnübersetzung des polnischen Sprichwortes »goły jak święty turecki«. Dieser Spruch geht höchstwahrscheinlich auf eine Passage der berühmten Reisebeschreibung Hierosolymitana peregrinatio (Juengst geschehene Hierosolimitanische Reise)1 von Mikołaj Krzysztof Radziwiłł (1601) zurück und meint türkische Asketen und Mystiker (Derwische), die der polnische Adelige im Nahen Osten zu sehen bekam. »Nackt wie ein heiliger Türke« (bzw. wie ein türkischer Heiliger) heißt im Polnischen bis heute so viel wie »vollkommen mittellos sein«.
Unter anderem mit dem Phänomen der Lehnübersetzung und -übertragung befasse ich mich in der Erforschung der »textuellen Mehrsprachigkeit«; diesen Begriff verwende ich nach Petr Mareš (»textová vícejazyčnost«, Mareš 2003; vgl. auch 2012) und verstehe ihn als einen Gegenpol (aber nicht Gegensatz) zur »literarischen Mehrsprachigkeit«. Es gibt nämlich sowohl mehrsprachige Autorinnen / Autoren als auch mehrsprachige Texte, bzw. mehrsprachige Autorinnen / Autoren müssen sich nicht unbedingt für einen Sprachwechsel entscheiden, sie können durchaus eine Koexistenz mehrerer Sprachen in einem Text wählen. Eine solche Sprachmischung innerhalb eines Textes kann, laut Dieter Lamping, »das sichtbarste Zeichen eines interlingualen, interliterarischen und interkulturellen Dialogs« sein (Lamping 1996: 45).
Das Phänomen der »textuellen Mehrsprachigkeit« wird in den letzten Jahrzehnten erneut (intensiv) erforscht, und zwar im Zuge des Interesses für Migration und Globalisierung der Kulturen; die Bandbreite der Begrifflichkeiten, die es jedoch zu erfassen versucht, ist ungewöhnlich groß: vom »heterolingualen Schreiben« (Sternberg 1981; vgl. auch Kilchmann 2012a: 11) über die »textinterne Mehrsprachigkeit« (Kremnitz 2004) und die »Mischsprachigkeit« (Knauth 2004) bis hin zur »Exophonie« (Arndt / Naguschewski / Stockhammer 2007). Das Phänomen der »textuellen Mehrsprachigkeit« gab es aber ›schon immer‹, ich meine hier die altbekannten »Barbarismen«2 oder »Makkaronismen«, vor denen man sich in der Schriftsprache bereits seit der Antike und erneut in der Aufklärungszeit zu schützen hatte.3 Die »textuelle Mehrsprachigkeit« im Fall der polnischen Autoren in / aus Deutschland hängt nicht nur mit dem Phänomen der Migration und Globalisierung zusammen, sondern auch mit der Tradition des heterolingualen Schreibens in Literaturen, die in polyethnischen Regionen entstehen.
Die »polnische Literatur in / aus Deutschland«, das zweite Element meines Titels, stellt einen Arbeitsbegriff dar, der sowohl die deutschsprachigen Werke als auch die polnischsprachige Literatur der Autoren, die in den 1980ern aus Polen nach Deutschland migriert sind, umfasst. Die damalige Solidarność-Exilwelle hat ca. 100.000 Migranten nach Deutschland gebracht4, darunter auch (künftige) Schriftsteller/-innen. Im Unterschied zu früheren polnischen Migrations- bzw. Exilwellen nach Deutschland (u.a. Ruhrgebiet, Hamburg) konzentrierte sich die Welle der 80er Jahre auf Westberlin. Auf den ersten Blick kann der Begriff als irreführend erscheinen, denn man kann z.B. Artur Becker, der 1985 aus Polen bzw. aus Masuren nach Deutschland emigrierte und seitdem konsequent auf Deutsch schreibt, nicht ohne Weiteres zum polnischen Autor erklären und seine Literatur zur polnischen Literatur. Jedoch auch das Phänomen der sog. interkulturellen Literatur in Deutschland ist eine wissenschaftliche Konstruktion; der Begriff stellt zum Teil ein Politikum dar, denn gemeint ist damit lediglich die deutschsprachige Literatur und nicht diejenige, die in Deutschland in den Muttersprachen der jeweiligen Migranten / Migrantinnen entsteht.5 Im Fall meines Arbeitsbegriffs der »polnischen Literatur in / aus Deutschland« sind sowohl Werke der Autorinnen / Autoren nach dem Sprachwechsel (wie Artur Becker, Magdalena Felixa, Dariusz Muszer oder Paulina Schulz)6 als auch die polnischsprachigen Publikationen der in Deutschland lebenden Schriftsteller / -innen (u.a. Natasza Goerke, Brygida Helbig, Krzysztof Niewrzęda, Janusz Rudnicki)7 gemeint. Werke, die ich zur »polnische[n] Literatur in / aus Deutschland« zähle, sind – unabhängig von der Sprache – konsequent am Vertexten der Migrationserfahrung beteiligt: an der Begegnung mit dem Fremden bzw. der Auseinandersetzung mit dem Eigenen.
Im Folgenden befasse ich mich mit verschiedenen Arten der »textuellen Mehrsprachigkeit« in der »polnischen Literatur in / aus Deutschland« am Beispiel dreier Autoren (Artur Becker, Dariusz Muszer und Janusz Rudnicki) und frage nach potentiellen Unterschieden in der Verwendung des Mehrsprachigen in deutsch- und polnischsprachigen Texten. Dabei formuliere ich die These, dass die polnischsprachigen Werke viel offensichtlicher und kreativer mit der textuellen Mehrsprachigkeit umgehen als die deutschsprachigen.
Für eine Eskalation des Mehrsprachigen in der deutschen interkulturellen Literatur der letzten Jahrzehnte kann zweifelsohne Feridun Zaimoğlus Kanak Sprak (1995) gehalten werden, das sich nicht nur gut verkaufte, sondern auch eine Reihe von literaturtheoretischen Texten provozierte, die sich mit der Multilingualität der Literatur befassten (vgl. Bogdal 2004; Skiba 2004). Die Produktion von und das Forschungsinteresse an mehrsprachigen Texten (egal, ob es sich um künstliche oder natürliche Sprachen handelt, die Grenzen dazwischen werden oft verwischt, vgl. hierfür u.a. Kilchmann 2012b: 111) ist zwar kein neues Phänomen der Zeit der Globalisierung, aber deren Produktion und Erforschung haben in dieser Zeit deutlich zugenommen.
Mit der »textuellen Mehrsprachigkeit« befassen sich gleichermaßen Literatur- und Kulturwissenschaftler/-innen wie auch Linguistinnen / Linguisten; unter den Letzten möchte ich vor allem den Prager Linguisten und Kommunikationswissenschaftler Petr Mareš (vgl. Mareš 2003 sowie 2012) sowie den Potsdamer Slavisten Peter Kosta hervorheben, der das Mehrsprachige in Osudy dobrého vojáka Švejka za světové války (Die Schicksale des braven Soldaten Schwejk während des Weltkrieges8) analysiert hat (Kosta 1986; 1989). Die Untersuchungen laufen häufig parallel zueinander und das Phänomen wird – wie bereits erwähnt – unterschiedlich benannt: Monika Schmitz-Emans entscheidet sich für die Termini »multilinguale Literatur« (Schmeling / Schmitz-Emans 2002) und die »Vielsprachigkeit der Literatur« (Schmitz-Emans 2004); im Kontext der interkulturellen Literatur spricht Alfons Knauth (2004) von der »Mischsprachigkeit«; Elke Sturm-Trigonakis (2007) verwendet in Bezug auf »hybride Literaturen« und die Konstruktionen einer »Neuen Weltliteratur« den Terminus »literarische Multilingualität in hybriden Texten«; Arndt, Naguschewski und Stockhammer (2007) sprechen in ihrem Band Exophonie von der »Anders-Sprachigkeit« und weisen darauf hin, dass sie wahrscheinlich nicht mehr eine Ausnahme von der Regel ist, sondern die Regel selbst: Die Autorin / Autoren befassen sich mit »sprachlichen Gemengelagen, Gemengselsprachen, gebrochenen Sprachen, Palimpsesten, translingualen Schreibweisen und Kreolisierungen« (ebd.: 27); die textuelle Mehrsprachigkeit wird zudem in Texten erforscht, die aus polykulturellen Regionen stammen, in Bezug auf Literatur aus Istrien verwenden daher Johann Strutz und Peter Zima (1996) den Terminus »literarische Polyphonie« (Strutz / Zima 1996 sowie Strutz 1996).
Bevor ich zu den angekündigten Analysen übergehe, möchte ich die häufigsten Formen und Funktionen der textuellen Mehrsprachigkeit vorstellen, die (nicht nur) in den Texten der interkulturellen Literatur zu finden sind, sondern auch in der Literatur aus polykulturellen Regionen (z.B. Zentraleuropa) vorkommen. Ich unterscheide hierbei vier Grundformen der textuellen Mehrsprachigkeit:
Auch bei der Aufschlüsselung der Funktionen einer »textuellen Mehrsprachigkeit« gibt es unterschiedliche Ansätze. Schmitz-Emans (2004: 204) betont ihre ludistischen Aspekte, weist aber vornehmlich auf ihren außersprachlichen und außerliterarischen Kontext hin: auf die zeitkritischen und antihegemonialen Funktionen. Laut Sturm-Trigonakis (2007: 144) bewirkt das Mehrsprachige wiederum eine »Entautomatisierung der Sprache«. Eine ähnliche Diagnose stellte bereits die polnische Forscherin Stefania Skwarczyńska in ihrem 1937 publizierten Aufsatz über »die Ästhetik des Makkaronismus«10, indem sie das Mehrsprachige (noch Makkaronismus genannt) für eine »raffinierte Protestform gegen eine […] unerträgliche Höflichkeit der Sprache« hielt (Skwarczyńska 1937: 342). Andere Forscher/-innen, z.B. András Horn (1981), untersuchen vor allem die »ästhetischen Funktionen der Sprachmischung«. All diese Funktionen werden unterschiedlich verteilt in den hier analysierten Texten sichtbar sein.
In Bezug auf die mich hier interessierenden Texte, d.h. die interkulturelle Literatur in Deutschland mit ostmitteleuropäischen Wurzeln, speziell die polnische Literatur in / aus Deutschland, muss noch auf den Forschungsansatz von Dirk Uffelmann hingewiesen werden: »Mit Makkaronismen, die geflügelte Worte werden, findet ein Import aus der (in unserem Fall) slavischen Herkunftssprache in die Mehrheitssprache (hier das Deutsche) statt, die durch den Normenverstoß kreativ deformiert wird« (Uffelmann 2003: 299). Diese »kreative Deformation« kann verschiedene Funktionen haben, wie der Forscher in einer späteren Studie zeigt, und zwar kann sie auch einem Akt der »Selbstorientalisierung« dienen (vgl. Uffelmann 2009). In einem solchen Fall erfolgt eine Übernahme von orientalisierenden Fremdstereotypen in der Funktion der Autostereotypen: Das beste Beispiel hierfür liefert der in Berlin von polnischen Migranten gegründete Club der polnischen Versager.11
Bereits in den ersten Kurzformen Janusz Rudnickis12, des am längsten in Deutschland lebenden polnischen Autors der Exilwelle der 80er Jahre, hat sich sein Verhältnis zu der zweiten Sprache herauskristallisiert. Ob in Można żyć (Es lässt sich leben, 1992) oder im Band Cholerny świat. Listy z Hamburga (Rudnicki 1994, Verdammte Welt. Die Briefe aus Hamburg), die Sprache spielt eine wichtige Rolle als ein Element der beschriebenen Welt, durch die der Erzähler wie ein Picaro zieht und nicht nur sprachliche, sondern auch gesellschaftliche Grenzen überschreitet (die Grenzen der politischen Korrektheit) (Makarska 2013b).
Sein Protagonist heißt in der Regel Janusz Rudnicki und wohnt in Deutschland bzw. pendelt zwischen Deutschland und Polen: »Mieszkam w Hamburgu, Coselstrasse numer trzy, piąte piętro. Nazywam się Janusz Rudnicki a Uschi Warner nazywa się Uschi Warner«13, heißt es z.B. in der Erzählung »Trzecia w prawo i druga w lewo od księżyca« (Die dritte rechts und die zweite links vom Mond).
Die Vertrautheit mit der personellen Ausstattung dieser Erzählung(en) überträgt sich auch auf die Vertrautheit mit der Zweitsprache. In den erwähnten Kurzformen wird die textuelle Mehrsprachigkeit meistens im Fall von Dialogen verwendet, wobei das Deutsche häufig (meistens bei der Ersterwähnung) erklärt oder paraphrasiert wird. Rudnicki liefert das Mehrsprachige also nicht nur als ein Element des Lokalkolorits; durch die Parallelität der Sprachen wird es für den Leser / die Leserin verständlich und nachvollziehbar. Häufig wird das Fremdsprachige der Gesprächssituation betont:»–Darf ich dich etwas fragen? to jest, czy mogę cię o coś spytać?« (Rudnicki 1994: 125). Dieses Gespräch wird sichtbar auf Deutsch geführt und für den Leser sofort gedolmetscht. Dies ist eine Strategie, die Rudnickis Erzähler dem Leser oft anbietet:
Einerseits sollen die deutschen Einsprengsel oder Redewendungen auf die Fremdsprachigkeit der Gesprächssituation hinweisen, andererseits werden beide Sprachen gleichzeitig beobachtet und auf ihre Ausdrucksstärke hin kommentiert. In einer Passage beklagt sich »Rudnickis« Gesprächspartnerin (Uschi), dass sie so »alleine«, so »einsam« ist. Nicht dieser Zustand weckt die plötzliche Aufmerksamkeit des Erzählers, sondern der sprachliche Ausdruck: »– Dlaczego, dlaczego do cholery, jestem taka samotna! […] Nie mówię nic, palę i czekam. Zastanawiam się, dlaczego Ich bin allein – brzmi dla mnie bardziej naturalnie, bardziej przekonywająco niż polskie: jestem samotna, nie mówiąc już o: jestem taka samotna« (ebd.: 124). (»– Warum, warum zum Teufel bin ich so allein! […] Ich sage nichts, rauche und warte. Und überlege, warum ›Ich bin allein‹ für mich natürlicher und überzeugender klingt als das polnische jestem samotna, geschweige denn: jestem taka samotna, ich bin so allein.«17)
Deutsche Zitate gibt es auch jenseits der Dialoge, die Parallelität der Sprachen, die sich zuvor in eine Sprachkritik verwandelt hat, wird jetzt zur Kulturkritik:
Nienawidzę tego ich Tschues, wymawianego śpiewnie dwiema sylabami. Starzy i młodzi urzędnicy i petenci, wszyscy cmokają się tu tym słodkim, mdławym Tschue-us, które zniwelować ma wiekowe i służbowe bariery. […]
Kaffee und Kuchen to drugie hasło[,] na które dostałem uczulenie. »Kawa i ciasto« zdobi tu zaproszenia, plakaty i afisze wszelkiego rodzaju imprez, najczęściej samodzielnych inicjatyw obywatelskich. […] »Kawa i ciasto« mają niczym nić Ariadny wyprowadzić nas z cywilizacyjnego labiryntu, Kaffee und Kuchen urasta tu do religijnego wymiaru (ebd.: 137f.).
(»Ich hasse dieses Tschuess, das singend zweisilbig ausgesprochen wird. Alte und junge, Beamte und Bittsteller, alle beschmatzen sich hier mit dem süßlichen, schalen Tschue-uss, das Alters- und Dienstbarrieren überwinden soll. […]
Kaffee und Kuchen ist die zweite Parole, auf die ich allergisch bin. ›Kaffee und Kuchen‹ ziert hier die Einladungen, Plakate und Ankündigungen zu allen möglichen Veranstaltungen, meistens sind das unabhängige Bürgerinitiativen. […] ›Kaffee und Kuchen‹ soll uns wie der Ariadnefaden aus dem zivilisatorischen Chaos hinausführen, Kaffee und Kuchen bekommt eine religiöse Dimension.«18)
In Artur Beckers19 deutschsprachiger Prosa – der Autor hat bis 2015 sieben Romane und zwei Erzählbände publiziert – findet man in den Dialogen selten polnische Passagen; in der Regel aber einzelne polnische Namen (auch Markennamen) oder Redewendungen in der meistens auktorialen Narration. In den von mir für die Analyse ausgewählten Kino Muza (2003) und Der Lippenstift meiner Mutter (2010) sind das des Weiteren Zitate aus polnischen Liedern oder Lehnübersetzungen, die auf die polnische Realität der 1980er Jahre rekurrieren. Im Unterschied zu Rudnicki wird bei Becker nicht alles Fremde erklärt, in Kino Muza werden polnische Einsprengsel oft kommentarlos (obwohl meistens kursiv hervorgehoben) in den Text aufgenommen, z.B. Wolna Europa oder Markennamen wie Bałtycka. Nur manchmal ergibt sich die Bedeutung durch die Parallelität der Sprachen, ähnlich wie bei Rudnicki: »Geh wieder nach Bremen zurück! Flieg meinetwegen nach Honkong! Verzieh dich endlich! Dorthin, wo der Pfeffer wächst! Spieprzaj!« (Becker 2003: 179.) In einigen Romanen (Der Lippenstift meiner Mutter sowie Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang) wird den Lesenden ein Glossar zur Verfügung gestellt, das nicht nur unbekannte Wörter (»kochanie«, »sarmata« oder »sejm«), sondern auch Eigennamen aus verschiedenen Kontexten (Edward Gierek, Zbigniew Boniek, aber auch Thomas Merton und Origenes) erklärt.
Beckers Romane – die in der Regel in Deutschland und Polen (d. h. in Masuren) spielen – verwenden oft polnische Vornamen; die Protagonistinnen / Protagonisten heißen Teresa, Antek, Beata, Eliza usw., manchmal sogar »Pani Eliza«. Manche Nachnamen werden mit den polnischen diakritischen Zeichen (Brzeziński), andere wiederum phonetisch wiedergegeben (Schtschurek und Tschossnek; siehe Becker 2010: 67). Polnischsprachig bleibt auch die Topographie, nicht nur Städte oder Flüsse werden polnisch benannt (die Handlung spielt oft in Dolina Róż, im Roman auch Rosenthal genannt), sondern auch Straßen, selbst wenn es sich dabei um eine Karl-Marx-Straße handelt: In Der Lippenstift meiner Mutter verwandelt sie sich in eine Karol-Marks-Straße (ebd.: 29).
Wahre »Spezialitäten« in Beckers Stil sind die zu Anfang erwähnten Lehnübersetzungen und der Umgang mit ihnen. Sie können entweder versteckt sein – so weisen sie dann nur signalhaft auf die Existenz der doppelten sprachlichen Identität der Romanfiguren hin – oder deutlich markiert und kommentiert, wie es in Beckers Prosa oft vorkommt. An einer Stelle wird in Kino Muza eine solche Redewendung markiert und kommentiert; Antek Hak, der im Übergangslager Friedland zu einem Deutschen »gemacht wurde« (und seitdem Arnold Haack heißt), behauptet in einem Bewerbungsgespräch, er sei ein Deutscher (vgl. Becker 2003: 239). Im gleichen Moment muss er »an ein Sprichwort aus seiner ersten Muttersprache« (ebd.) denken: »Aus dir – Haack – kann man genauso einen Deutschen machen wie aus einem Ziegenarsch eine Trompete!«20
Solche Satzentlehnungen bleiben ein festes Element der Romansprache, sie werden nicht kommentiert oder erklärt, sie weisen auf das Andere und Fremde hin, sie lassen das Fremde zu. Sie sind ein Abdruck des Zusammenspiels verschiedener Kulturen in einer Gesellschaft. Das Nichterklären und Nichtübersetzen von fremden Zitaten ist für viele Autorinnen / Autoren charakteristisch. »Gerade das Nichtverstehen der Texte wird […] auf eine Weise für das Verständnis einer fremden Kultur fruchtbar gemacht«, berichtet über ähnliche Verfahren der Literatur in Barcelona Ute Heinemann (1998: 115).
Zitate, Eigennamen, einzelne polnische Redewendungen finden sich selten in Dariusz Muszers21 Debütroman Die Freiheit riecht nach Vanille aus dem Jahr 1999. Muszers Eigenart ist etwas anders: Rudnicki verwendete oft sprachliche Parallelismen, Becker hatte ›seine‹ Lehnübersetzungen, für Muszer scheinen Delexikalisierungen typisch zu sein. Der erste Satz des Romans lautet: »Ich bin das kleinste schwarze Arschloch im Universum«. Und weiter: »Seit meiner Geburt verschlinge ich alles, was mir in die Finger kommt, sogar mich selbst« (Muszer 1999: 5). Gemeint ist damit – obwohl es bei der ersten Lektüre nicht ganz nachvollziehbar ist – »ein Loch, das verschlingt«, ein personalisiertes »Schwarzes Loch« also, das aber zugleich aufgrund seines unangenehmen Charakters »Arschloch« genannt wird. Der Satz wird möglicherweise klarer in der polnischen Variante des Textes, der 2008 veröffentlichten Selbstübersetzung Wolność pachnie wanilią: »Jestem najmniejszą Czarną Dziurą w zadku kosmosu« (Muszer 2008: 7; ich bin das kleinste Schwarze Loch im Hintern des Kosmos), wobei die Konstruktion »zadek kosmosu« (der Hintern des Kosmos) vor allem als eine (räumliche) Metapher verstanden werden soll.
Ich möchte noch ein zweites Beispiel einer solchen Delexikalisierung zeigen. Der Erzähler berichtet an einer Stelle über Hannovers Stadtviertel Sahlkamp: »Mit Recht kann man behaupten, dass der liebe Gott Sahlkamp am zehnten Tag seiner Tätigkeit als Schöpfer schuf. Er war bestimmt hundemüde, und deswegen ist sein Werk ziemlich in die Hose gegangen. Buchstäblich. Die Häuser dort sehen bekackt aus« (Muszer 1999: 164).
Das Bild eines göttlichen Schöpfers, der nicht mehr der Weltenarchitekt ist, sondern erfolglos bleibt und sich zusätzlich sogar in die Hose macht, ist drastisch. Ebenso erbarmungslos ist die negative Wahrnehmung des Stadtviertels.
Ich spreche hier über Muszer eins und zwei, denn einmal handelt es sich um den Autor (bzw. den Originaltext) und das zweite Mal um den Übersetzer (bzw. die [Selbst-]Übersetzung). Muszer tritt in beiden Rollen auf.22 Nach Dieter Lamping lassen sich Selbstübersetzungen in drei Gruppen aufteilen: als publikums-, autor- und werkbezogene (Lamping 1992: 214). Entsprechend können sie auch drei Formen annehmen: Vermittlung, poetische Sprachübung sowie Fortschreibung des Originals. Im ersten Fall wird der Text an ein Publikum gerichtet, das der Sprache des Originals nicht mächtig ist, im dritten wird er im Laufe der Übersetzung verändert und um- oder fortgeschrieben, die Übersetzerin / der Übersetzer genießt hier zusätzlich die (schöpferische) Macht als Autor/-in. (Im zweiten Fall ist die Übersetzung nur ein Vorwand für eigene poetische Übungen.) Während sich die Übersetzung im Fall einer Vermittlung sehr eng am Original hält, darf sich die Fortschreibung weit von dem Ausgangstext entfernen, entfalten und verändern. Im Fall der Selbstübersetzungen von Dariusz Muszer möchte ich vom Prozess sowohl der Vermittlung als auch Fortschreibung und selbstverständlich von einer poetischen Sprachübung sprechen.
Bei der interkulturellen Literatur bleibt die Translation immer auch ein Prozess der kulturellen Übersetzung. Laut Bachmann-Medick (1997) sind für eine solche Translation die Betonung der Andersheit und Fremdheit der dargestellten Kultur charakteristisch. Insbesondere bei Muszers Selbstübersetzung gehen die Experimente mit der Verfremdung (bzw. »der kreativen Deformation«) des Polnischen sehr weit. Neben der Einführung deutscher Lexeme in den polnischen Text23 werden auch deutsche Redewendungen wörtlich ins Polnische übertragen und kommentiert. An einer Stelle, wo über das Leben jenseits der Heimat berichtet wird, heißt es: »mit der Zeit [geht es] an die Nieren und aufs Herz, sofern jemand eines hat« (Muszer 1999: 35). Anstatt den Satz bedeutungsgemäß ins Polnische zu übertragen, entschließt sich der Autor / Übersetzer zum wörtlichen Kopieren der Redewendung (Lehnübersetzung) und zum anschließenden Kommentar: »Z czasem idzie ono człowiekowi mocno na nerki, jak mówią tubylcy« (Muszer 2008: 30). »Jak mówią tubylcy«, »wie die Hiesigen sagen«, ist eine Formel, die im Roman immer wieder erlaubt, Einbrüche der fremden Kultur und Sprache in den nun polnischen Text zu gewähren.
An vielen Stellen wird das Polnische bewusst verzerrt und verfremdet, indem relativ viele Lehnübersetzungen aus dem Deutschen benutzt werden. Ich nenne nur einige davon:
Original (Muszer 1999) | Übersetzung (Muszer 2008) | Normsprachlich wäre … | |
1. | Ich kann nix dafür. (160) | Nic za to nie mogę. (129) | Nic na to nie poradzę. |
2. | Das hört sich nicht gut an. (201) | Nie słyszy się to dobrze. (162) | To nie brzmi dobrze. |
3. | Der Film existiert nicht. (92) | Ten film nie egzystuje. (75) | Takiego filmu nie ma. |
4. | Wir melden uns bei Ihnen. (69) | Zameldujemy się u pana. (59) | Odezwiemy się do pana. |
5. | Von Anfang an wußte ich, daß ich dort nichts zu suchen hatte. (156) | Od początku wiedziałem, że nie mam tam nic do szukania. (125) | Od początku wiedziałem, że nic tam po mnie. |