Tatjana Geschwill: Sprache und Identität im Bukowiner Judentum

Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2015 – ISBN 978-3-8253-6436-6 – 32,00 €

Die von Tatjana Geschwill im Heidelberger Verlag »Winter« erschienene Dissertation Sprache und Identität im Bukowiner Judentum veranschaulicht, dass es nicht eine, sondern mehrere Sprachen sind, die Bukowiner Juden sprechen. Da sich mit den Jahren die Präferenz jeweils einer Sprache etabliert, sind Gründe und Umstände für die Entscheidung für oder gegen eine Sprache ein interessantes und in der Forschung nicht allzu oft anzutreffendes Forschungsobjekt, dem sich Geschwill im Kontext von Erinnerung und Identität nähert. Sie untersucht »die Beziehung der multilingualen Sprecher zu den von ihnen erlernten und in der Narration mit besonderem Fokus versehenen Sprache« (13). Anhand von dreizehn Interviews mit in Israel lebenden Einwanderern aus der Bukowina geht die Autorin deren sprachbiografischen Selbstzeugnissen nach und verifiziert den Erwerb und Stellenwert der deutschen, hebräischen, jiddischen und rumänischen Sprache. Die teilweise abgedruckten Interviews veranschaulichen nicht nur den empirischen Zugang dieser Studie, sondern dokumentieren das Bukowiner Deutsch, das noch heute in Israel gesprochen wird, jedoch kaum einer systematischen Erforschung unterzogen werden kann. Geschwill bemüht sich um sprachbiografische und sprachbezogene Analysen der Interviews, um die Rolle der jeweiligen Sprache, die Umstände ihrer Erlernung und die Anlässe ihrer Verwendung auszuloten.

Die durch Mehrsprachigkeit geprägten Lebensbedingungen der Interviewten – sowohl die historischen und sprachpolitischen Prämissen in dem multiethnischen Kronland, als auch die von Emanzipationsbestrebungen und Antisemitismus beeinflussten Sprachgebote und ‑verbote und schließlich die durch Willkür geprägten Verschleppungen, Umsiedlungen und Auswanderungen – werden im Kapitel »Geschichte der Bukowina« vorgestellt und in den Kontext der vorliegenden Forschungen eingeordnet. Diese geschichtlichen Umwälzungen finden sich dann in den (Sprach‑)Biografien der Interviewpartner wieder und helfen, die von ihnen angesprochenen Ereignisse und geschilderten Erlebnisse in den historischen Kontext einzuordnen.

Im nächsten Schritt nähert sich Geschwill dem theoretischen Komplex ›Erinnerung, Identität und Narration‹. Dabei stellt sie verschiedene Identitätskonzeptionen vor und behandelt ausführlich den Zusammenhang zwischen Erinnerung und Identität. Als Besonderheit der Interviewten wird die Häufigkeit akzentuiert, »mit der die Lebensgeschichte bereits erzählt wurde und die Bereitwilligkeit, mit der sie nach wie vor erzählt wird.« (74) Das darauffolgende ›Korpus‹ enthält dreizehn durch die Autorin zusammengefasste Lebensgeschichten der Interviewten und Transkriptionen zahlreicher Gesprächsfragmente. Diesem empirischen Teil der Studie folgt ein theoretisches Kapitel zu Sprachbiografie- und Mehrsprachigkeitsforschung, das u.a. die Bedeutung von Sprachen im Judentum und die identitätsstiftende Funktion der deutschen Sprache beleuchtet. Geschwill akzentuiert die »unschätzbare Kraft der Muttersprache« im 19. Jahrhundert und kommt zu dem Schluss, dass »man diese Sichtweise letztlich benutzt hat, um den Juden die Teilhabe an der deutschen Kultur, Sprache und Nation abzusprechen.« (139)

Bei der Auswertung der Interviews bemüht sich die Autorin um eine differenzierte Darstellung der Erlernung, Bedeutung und Verwendung der jeweiligen Sprache. Für die deutsche Sprache konstatiert sie eine identitätsstiftende Funktion, die im Elternhaus begründet wurde und als Ausdruck der Erinnerung an die Eltern auch in der Emigration gesprochen wird. Mit der emotionalen Bindung an die deutsche Muttersprache geht die Vorstellung von einem Widerstand einher, der sich im Gebrauch des Deutschen trotz der Erlebnisse im Nationalsozialismus begründet. Erfolgte die Migration im Rahmen der zionistischen Jugendbewegung, so geht eine identitätsstiftende Kraft vom Hebräischen aus. Insgesamt stellt die Studie fest, dass sich fast »alle Gesprächspartner unabhängig ihres Alters zur Zeit der Einwanderung unmittelbar um den Erwerb des Hebräischen« bemühten. (167.) Der bereitwilligen Erlernung des Hebräischen steht eine distanzierte Haltung und Zwiespältigkeit bezüglich des Jiddischen entgegen. Gründe dafür sieht Geschwill in der Konnotation des Jiddischen als Sprache des Exils, der Armut und der Diskriminierung. »Keine oder nur marginale Rolle« (178) wird dem Rumänischen bezeugt, was hauptsächlich durch seine »unfreiwillige Aneignung« (184) erklärt werden kann.

Eines der weiter zu verifizierenden Ergebnisse der Studie ist die Qualität der Sprachbeherrschung, die von einigen weiblichen Interviewten geltend gemacht wurde. Während die männlichen Gesprächspartner den funktionalen Aspekt der Verständigung in mehreren Sprachen betonen, thematisieren Frauen Sprachsensibilität und Emotionalität bei der Sprachauswahl. Allerdings scheint keiner der Interviewten im Erwerb einer neuen Sprache eine Bedrohung für seine Identität zu sehen. Neben dem differenziert beschriebenen Stellenwert der jeweiligen Sprache sind diese Ergebnisse ein bemerkenswerter Beitrag zur Erforschung von Mehrsprachigkeit, Sprachbiografik und dem Zusammenhang von Sprache, Erinnerung, Identität und Narration.

Die von Geschwill durchgeführten Interviews bieten einen guten Einblick in die Sprachbiografien der in Israel lebenden Auswanderer aus der Bukowina, können jedoch aufgrund der fokussierten Gruppe der Interviewten nicht das gesamte, nach dem zweiten Weltkrieg in verschiedene Länder zerstreute Bukowiner Judentum abdecken. Dies aber wäre die Aufgabe künftiger Forschungsarbeiten, sich ausgehend von Geschwills Studie den Sprachbiografien und dem Stellenwert verschiedener Sprachen im Leben der durch Mehrsprachigkeit geprägten Bukowiner Juden beispielsweise in den USA, Rumänien oder der ehemaligen Sowjetunion zu widmen.

Natalia Blum-Barth