Das Fremde und das Eigene / The Self and the Other

Internationale Konferenz der German Studies Association of Australia (GSAA). University of Sydney, 26.-28.11.2014

Thomas Schwarz

Die University of Sydney wurde Mitte des 19. Jahrhunderts an einem Ort gegründet, der vor der europäischen Landnahme von australischen Aborigines besiedelt war. Mit diesem Hinweis eröffnete Peter Morgan als Präsident der GSAA die Tagung, auf der aus fünf Kontinenten über 80 Referentinnen und Referenten Beiträge präsentierten. Der Respekt, den Morgan der anderen Kultur so erwiesen hat, gehört auch zu den Axiomen der interkulturellen Germanistik, an deren Gründung vor 30 Jahren die Tagung im Titel unmittelbar anknüpft. Für das, was man selbst vom Anderen lernen kann, bilde sie noch heute einen »Motor der Reflexion«, erklärte Arpad Sölter als Direktor des Goethe-Instituts von Sydney in seinem Grußwort. In seinem Vortrag für die Konferenz machte Morgan aufmerksam auf das seit den 1980er Jahren anhaltende Interesse der deutschen Literatur am Anderen, an transnationalen Themen, die über die Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe hinausgehen.

Die erste Sitzung des Tagungsprogramms rückte die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit in den Mittelpunkt. Deborah Ascher (Sydney) rekonstruierte in ihrem Beitrag die zehnjährige Geschichte des Jüdischen Museums in Breslau. Bei seiner Gründung im Jahr 1928 sah es für einen kurzen historischen Moment so aus, als ob sich die Auffassung einer Zugehörigkeit der jüdischen zur deutschen Kultur durchsetzen könnte. Doch kaum waren die Nazis an der Macht, betrieben sie die erneute Ausgrenzung der jüdischen Minorität und löschten schließlich eines der bedeutendsten Zentren jüdischer Kultur in Deutschland aus. Esther Jilowsky (Melbourne) setzte sich mit Texten von Enkeln jüdischer Überlebender des Holocaust auseinander. Diese haben ihre traumatischen Erfahrungen in Form von Erzählungen oder Fotos weitergegeben und so die postmemory (Marianne Hirsch) der nachwachsenden Generationen geprägt. Autoren der dritten Generation wie Vanessa Fogel (Sag es mir, 2012), Channah Trzebiner (Die Enkelin, 2013) oder Yascha Mounk (Stranger in my own Country, 2014) haben den Holocaust darüber hinaus auch aus zunehmender Distanz zum Geschehen in der Form von systematischem Geschichtsunterricht in der Schule kennengelernt. Jilowsky wandte sich in ihrem Vortrag gegen zwei widersprüchliche Vorurteile, mit denen sich diese dritte Generation konfrontiert sieht: 1.) Es gebe keine Juden mehr in Deutschland, und 2.) wenn es sie doch geben sollte, dann handele es sich um russische Juden. Péter Varga (Budapest) beleuchtete zum Abschluss dieser Sitzung das ungarische Beispiel, um zu zeigen, warum gerade in Budapest die symbiotische Verbindung mit der deutschen für die jüdische Kultur so bedeutsam war. In der multikulturellen Doppelmonarchie sahen sich die deutschsprachigen Juden im 19. Jahrhundert in einen Assimilationsprozess hineingezogen, in dem es galt, die jüdische und deutsche mit der ungarischen Identität auszutarieren. Arthur Holitscher verlieh der emotionalen Einstellung zu dieser Problematik Ausdruck mit dem Satz, man habe zwar »unter einem magyarischen Volk gelebt«, habe aber Deutsch gesprochen und »nichtmagyarisch« gefühlt. Die Reihe von Vargas Beispielen reichte von Theodor Herzl über Arthur Koestler bis Theodor Hertzka und zum Musiker Karl Goldmark. Letzterer lernte erst bei seiner Übersiedelung nach Wien ›reines Deutsch‹, zu seinem Lesekanon gehörte dabei nicht nur Goethes Götz, sondern auch der ›Knigge‹. Die Beherrschung des Deutschen als Bildungssprache galt in diesem Assimilationsprozess als Schlüssel zur europäischen Kultur. Die jüdische Wahrnehmung der deutschen Kultur als einer Heterotopie idealisierte vor allem die Wiener Kultur, eine tragische Illusion, wenn man bedenkt, dass sich die österreichische Hauptstadt zu einem Zentrum des Antisemitismus entwickeln sollte.

Eine weitere Sitzung widmete sich Christoph Ransmayrs Reiseprosa. Florian Lehman (Bamberg) analysierte drei Texte aus Der Weg nach Surabaya (1997) mit der These, dass Ransmayrs Schreiben die Differenz zwischen Eigenem und Fremdem aufhebe. Die verlorene Heimat komme in seiner Reportage über das österreichische ›Mostviertel‹ als ein nostalgisch verklärter Ort vor, in dem die Nazi-Vergangenheit systematisch verdrängt wird. Auf einem Bild im Rathaus hat man die Nazi-Symbolik mit der österreichischen Fahne übertüncht. Das KZ Mauthausen ist der blinde Fleck dieser Region. Christine Weller (Melbourne) ging auf Ransmayrs Atlas eines ängstlichen Mannes (2012) ein, dessen imaginäre Kartographie sie mit Hans Blumenbergs Konzept der ›geotropen Astronautik‹ verglich. Die geographisch vollständig erschlossene Erde wird dabei in ihrer Fragilität gleichsam von außen als wertvoller Ort betrachtet, an dem der Reisende als Augenzeuge Heimat in der Fremde erfährt. »Ich sah die Heimat eines Gottes« – so beginnt Ransmayrs erste Geschichte, die in die ungeheure Einsamkeit der pazifischen Inselwelt führt. Wellers zweiter Referenztext war Felicitas Hoppes Roman Pigafetta (1999), in dem der reisenden Ich-Erzählerin das Schiff zur Heimat und der Revenant des Chronisten der Magellan’schen Weltumsegelung zum wichtigsten Gesprächspartner wird. Beide Reisen um die Welt – so Weller – seien insofern teleologisch, als ihr imaginärer Fluchtpunkt in einem symbolischen Mutterleib liege. Bei Hoppe wäre dies der Bauch des Schiffes, bei Ransmayr eine Felsenhöhle des Himalaya.

Der ›Topos Australien‹, der 2013 das Schwerpunktthema des Limbus, des Jahrbuchs der australischen Germanistik, bildete, war auch Gegenstand einer Serie von Konferenzvorträgen. Ihr Diskussionsleiter, Alan Corkhill (Queensland), hatte im Limbus bereits Friedrich Gerstäckers australische Erzählliteratur vorgestellt. Jetzt merkte er in seiner Moderation an, dass der Schriftsteller im Auftrag des Frankfurter Parlaments nach Australien gekommen war mit der Mission, einen Ort für eine deutsche Siedlungskolonie zu erkunden. Daran anschließend arbeitete Christine Eickenboom (Bochum) in ihrem Vortrag heraus, wie sich in Gerstäckers Reisebericht das europäische Selbst in einer Dreieckskonstellation konstituiert, indem es Tahitianer und Aborigines kontrastiert. Während dem Autor die Südseeinsel als Paradies erscheint, nimmt er den fünften Kontinent als Hölle wahr. Laura Beck (Bremen) stellte dagegen Urs Widmers Erzählung Liebesbrief für Mary (1993) vor, in der Australien als ein hybrider Sehnsuchtsort auftaucht, in dessen Outback japanische Reisende ein Schweizer Teehaus besuchen. Das Australien dieser Erzählung wird ironisch als »intertextueller Raum« präsentiert, der sich aus zitierten Klischees zusammensetzt und als Projektion entpuppt.

Stefan Hajduk (Adelaide) rekonstruierte in seinem Vortrag aus dem Werk von Max Frisch eine »Poetik des ›Emigrantischen‹«. Diese setzte Frisch in seinem Itinerar zwischen London, Rom und New York auch in eine Lebenskunst um, indem er ein migrantisches Lebensgefühl der Unzugehörigkeit kultivierte. Auch Matthias N. Lorenz (Bern) behandelte mit Christian Kracht und Hans Christoph Buch Autoren, für die Reisen zur Ästhetik ihrer Existenz gehört. Lorenz nahm Kracht gegen Vorwürfe in Schutz, er sei ein eurozentrischer Exotist oder gar ein Kolonialnostalgiker. Während Georg Diez Kracht im Spiegel unter Rassismusverdacht gestellt hatte, hob Lorenz zu Recht hervor, dass sich Krachts historischer Roman Imperium (2012) eindeutig gegen die »unvorstellbare Grausamkeit« des Holocaust stellt. Eine identifikatorische Lesart sei nicht möglich, wenn Krachts Protagonist Engelhardt – wenngleich kontrafaktisch – in der Kolonie ›Deutsch Neuguinea‹ als Antisemit auftritt. Kritisch ging Lorenz dagegen in seiner Kontrastierung mit Hans Christoph Buch ins Gericht, der sich in Nolde und ich (2014) auf ein ähnliches Terrain begeben hat. Buchs »Südseetraum« behandelt die Reise Noldes in den Pazifik als einen biographischen Wendepunkt, der den Maler von seinem Antisemitismus kuriert habe. Dem Autor Buch waren zum Zeitpunkt der Niederschrift seines Textes die Dokumente noch nicht zugänglich, die Noldes anhaltenden Antisemitismus belegen.1 Wer sich dem Glauben hingegeben hat, dass der Arm der NSDAP nicht bis in die Weiten des Pazifik reichte, musste sich zuletzt durch Christine Winter (Sydney) eines Besseren belehren lassen. Ihre Archivstudien enthüllten die Aktivitäten einer Nazi-Zelle auf Samoa in den 30er Jahren, die allerdings die Rassenreinheitsdoktrin auf eigenwillige Weise interpretierte. Ihre eigene Hybridisierung ließ sich mit der sogenannten Arierthese (Edward Tregears The Aryan Maori, 1885) rechtfertigen, welche die polynesische Bevölkerung des Pazifiks zu Nachfahren einer arischen Migrationswelle aus dem indischen Subkontinent stilisiert hatte.

China war der Fokus einer Vortragsserie, die beispielhaft das Interesse der australischen Germanistik an einer akademischen Quervernetzung des Pacific Rim verdeutlicht. Kai Hu (Shanghai) stellte mit Johann Adam Schall von Bell einen deutschen Jesuiten vor, der im 17. Jahrhundert erfolgreich die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden überschritt und im chinesischen Kaiserreich als Wissenschaftler und Mandarin Anerkennung fand, vor allem wegen seines Beitrags zur Reform des chinesischen Kalenders. Yixu Lü (Sydney), Trägerin des vom DAAD verliehenen Jacob- und Wilhelm-Grimm-Preises 2014, problematisierte in ihrem Beitrag die ›Wissenschaftlichkeit‹ der Chinadarstellungen in Petermanns geographischen Mitteilungen, deren Autoren seit der Gründung der Zeitschrift 1855 diskursiv auch kulturelle Grenzen zogen. So sprachen sie der im täglichen Umgang angeblich »unsympathischen« chinesischen Einwohnerschaft eine »sittlich gestählte Volkskraft« ab. Das »ruhige« China wird zum Chronotopos einer Stagnation. Dessen Bevölkerung habe keinen Sinn für Zukunftspläne. Das imperiale deutsche Auge projiziert auf die chinesische Landkarte ein Netz imaginärer Eisenbahnlinien. Der koloniale Diskurs instrumentalisiert hier Stereotype über China aus dem 18. Jahrhundert, um den imperialen Zugriff der deutschen Kolonialmacht als einer »Amme« der chinesischen Entwicklung zu rechtfertigen. Sabina Groeneveld (Sydney) analysierte in ihrer Präsentation die Verschränkungen des zoologischen und des kolonialen Diskurses am Beispiel Qingdaos. Die Diskussion der Frage, wie sich in der Fremde Kühe halten lassen, war für die deutsche Kolonialmacht ein überraschend wichtiges Thema. Für die Kolonialherren war die Agrarwirtschaft ein »Vehikel der Moderne«. Der Ausstoß des Schlachthofs der kolonialen Stadt und ihr Fleischkonsum werden in diesem Diskurs zu Gradmessern der Entwicklung. Die Kolonisierung gilt dann als erfolgreich, wenn man in der Fremde essen kann wie in der Heimat.

Der Dank für die Organisation der Konferenz und für die gastfreundliche Betreuung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die in jeweils drei Parallelsektionen tagten, gebührt dem Team an der University of Sydney um Peter Morgan, Andrea Bandhauer, Tristan Lay und Yixu Lü. Von verschiedenen Seiten wurde in der Abschlussdiskussion betont, dass die internationale Zusammensetzung einen exemplarischen Beitrag zur Überwindung der Dichotomie zwischen Inlands- und Auslandsgermanistik geleistet hat. Die australische Germanistik hat mit dieser Tagung ihre Weltoffenheit und ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis gestellt.

Anmerkungen

1 | Auskunft Buchs im Anschluss an eine Lesung aus seinem Werk am 23.7.2015 in Berlin auf der Tagung »Poetiken des Pazifiks« am Japanisch-Deutschen Zentrum.