Adolf Muschg’s novel Der Rote Ritter. Eine Geschichte von Parzivâl (1993) is characterized by different strategies of artificial language usage and especially by the frequent use of foreign language elements. In this respect, the novel follows the traces of its most important hypotext, Wolfram’s von Eschenbach Parzival, but also of other medieval texts that combine elements of different languages. In Muschg’s novel the concrete usages of foreign words and phrases take over different functions. Thus, several fictitious characters are portrayed by their affinities toward specific languages, and these languages are also related with distinctive ideas, matters and discourses. Altogether, Muschg operates with foreign language elements in a way that is closely related with a general language-reflexive tendency typical of Der Rote Ritter as a whole – with a tendency to reflect about words and phrases, about letters, writing and the media of scriptural communication. Muschg’s story about Parzivâl is closely related with his poetics of the polyvalent and of ‹brindled’ phenomena both in nature and literature, and in this regard he can also claim to be a follower and herit of Wolfram von Eschenbach.
Title:On Multilingualism in Adolf Muschg’s »Der Rote Ritter« in the Context of his Aesthetics of the Polyvalent and the Brindled
Keywords:multilingualism; hybridization; medieval literature; polyvalence; language reflection
Texte, die aus Elementen mehrerer als different geltender Sprachen bestehen, werden aus sehr unterschiedlichen Motiven heraus verfasst – in welchem genaueren Sinn dabei auch immer von ›Sprachen‹ die Rede sein mag und wie auch immer die Mischung im Einzelnen proportioniert ist.1 Diese Motive stehen in Korrespondenz zu jeweils besonderen text- und zeitspezifischen Ästhetiken, auch wenn sich durchaus werk- und epochenübergreifende Ähnlichkeiten und Muster (re-)konstruieren lassen. Vielfach sind die miteinander kombinierten Sprachelemente miteinander kontrastierenden Bereichen der dargestellten Wirklichkeit zugeordnet, um diese dadurch prägnant und kontrastiv zu charakterisieren. Dies gilt etwa für fremdsprachige Einsprengsel in Reiseerzählungen oder für Romane, die in fernen Zeiten oder fremden Ländern spielen: Hier kann das Fremde durch Fremdsprachlichkeit markiert werden, etwa wenn Ausländer ihre eigene Sprache verwenden oder den dominierenden Code des Textes nur gebrochen sprechen. Zur differenzierenden Figurencharakteristik lassen sich verschiedene Idiome auch dann effektvoll einsetzen, wenn die Zugehörigkeit dieser Figuren zu Lebenswelten betont werden soll, die mit bestimmten Sprachen konnotiert sind. So rufen französische Äußerungen in nichtfranzösischen Texten spezifische Assoziationen hervor, die entweder mit der Imagologie Frankreichs korrespondieren oder auf Frankophilie respektive eine französisch dominierte Teilkultur außerhalb Frankreichs verweisen. Signalisieren gerade französische Einsprengsel in der deutschen Literatur des bürgerlichen Zeitalters vielfach ›Hochkulturelles‹, so steht Dialektales meist metonymisch für die Volks- und Populärkultur respektive für das, was man sich darunter vorstellt. Literarische Figuren, die gelehrt sind oder als gelehrt gelten möchten, schmücken sich gern mit lateinischen oder pseudolateinischen Redewendungen. Dass auch Erzählerinstanzen ihr Publikum mit Latein beeindrucken können, wird schon im einleitenden Teil des Don Quijote humoristisch in Erinnerung gerufen; ein Freund erteilt dem Romanerzähler den Rat, entsprechend ›gebildet‹ wirkende Passagen in sein Werk einzuflechten (Buch 1, 1605). – Maccaronische Dichtungen, wie sie seit der Frühen Neuzeit verfasst wurden, wirken in erster Linie scherzhaft und verspielt; ihre aus der Kombination von Heterogenem resultierende Komik kann dabei aber durchaus satirisch-kritische Funktionen haben und insofern durch Verfremdungseffekte entlarvend wirken.2 Selbst und gerade die so genannte ›Nonsens‹dichtung, deren Anfänge in einschlägigen Überblicksdarstellungen und Anthologien unterschiedlich weit zurückdatiert werden, stimuliert mit ihrer Affinität zum Sprachenmix und Codebruch Einsichten – zumindest schärft sie das Sensorium des Lesers für die Grenzen und Grenzräume kodifizierter Kommunikation und demonstriert programmatisch die Folgen einer Subvertierung von Regeln. Sei es zu kritischen, sei es zu scherzhaften Zwecken – Textpassagen, die als fremdsprachlich wahrgenommen werden, widersetzen sich einer schnellen und glatten Lektüre und machen auf die sprachlich-stilistische Faktur des Textes als solche aufmerksam. Von primär inhaltlich-thematisch motivierten Spielformen der Sprachenmischung ließen sich solche unterscheiden, die eher aus einer spielerisch-experimentellen Haltung gegenüber den Sprachen respektive gegenüber Konventionen sprachlicher Mitteilung hervorgehen; sprachlich hybride Nonsensdichtung wäre hier als Beispiel zu nennen. Klare Grenzziehungen zwischen eher gegenstands- und eher sprachbezogenen Motivationen der Sprachenmischungen lässt das komplexe Gegenstandsfeld allerdings nicht zu.
Um gemischtsprachige Texte als ›Mischungen‹ wahrzunehmen, bedarf es eines Sensoriums für die Differenzialität der verwendeten Codes. Kein Zufall ist es insofern, dass die im engeren Sinn gemischtsprachige Dichtung mit dem Maccaronismus der Renaissance aufblüht, in der die Volkssprachen in ihrer Unterschiedlichkeit bewusster wahrgenommen und als Literatursprachen ästhetisch genutzt werden. Mehrsprachige Dichtung hat freilich eine hinter diese Zeit weit zurückgehende Vorgeschichte, aber auch diese steht im Zeichen der Wahrnehmung sprachlicher Distinktionen. So sind poetische Mischungsspiele mit den Sprachen der Literalität – mit dem Griechischen und dem Lateinischen – vor allem dort betrieben worden, wo sich die Schriftlichkeit der Texte als solche besonders exponierte: in Beispielen der Visualdichtung, in Texten fürs Auge, adressiert an die Träger einer gelehrten Schriftkultur – an Leser, die Texte erstens visuell rezipierten und dabei zweitens wegen ihrer Fremdsprachenkompetenz für Kontraste zwischen den Sprachen besonders sensibilisiert waren (vgl. Ernst 2004).
Gegenüber ›normalsprachlichen‹ Texten stellt Sprachlich-Heterogenes die Abweichung dar – so zumindest scheint es auf den ersten Blick. Andere Perspektiven auf Gemischtsprachiges ergeben sich aber dort, wo die Abgrenzbarkeit zwischen scheinbar distinkten verbalen Codes als solche in Frage steht. Bedenkt man, dass es keine reinen Idiome gibt, weil sprachgeschichtlich ständige Transgressionsprozesse zwischen den Sprachräumen stattfinden, während von Fremdeinflüssen abgeschottete und insofern ›unvermischte‹ Sprachen allenfalls durch Restriktion und Zwang zeitweilig bestehen können, so erscheint das Gemischte als ›normal‹. Dies ist in einer globalen Kultur, die sich als das Produkt vielfältiger Hybridisierungsprozesse begreift, evidenter denn je. Entsprechend haben sich in der jüngeren Literatur auch die Strategien der Sprachenmischung modifiziert – und mancher Autor verwendet Hybridsprachiges in einer Weise, die gerade den repräsentativen Zug solcher Phänomene betont.
In mittelalterlichen Erzählwerken finden sich manche Beispiele für die Verwendung sprachlicher Elemente, die als fremdsprachlich wahrgenommen werden, und schon hier ist von einer komplexen Motivationslage auszugehen. Vielfach geht es darum, die höfische Kultur zu profilieren. In der mittelhochdeutschen höfischen Literatur dienen französische Ausdrücke und Passagen dazu, höfisch geprägte Institutionen, Gegenstände und Vorstellungen zu benennen, die sich im deutschen Sprachraum mangels deutschsprachiger Äquivalente zusammen mit ihren französischen Bezeichnungen etabliert haben (vgl. Bumke 1986: 112; Zotz 2002: 119). Im Tristan Gottfrieds von Straßburg beispielsweise fungieren französische Elemente zur Darstellung einer gehobenen, idealisierten höfischen Sphäre, wobei die fraglichen Passagen wohl nicht auf die französische Vorlage des Thomas von Britanje zurückgehen, die Gottfried seinem Werk zugrunde legte, sondern vermutlich von Gottfried selbst eigens für seinen Text geschrieben worden sind. Explizit kommentiert Thomasîn von Zirklaere die Verwendung ›welscher‹, also französischer Ausdrücke in deutschen Texten: Sie bringe dem Leser die höfische Ausdrucksweise näher und damit die Vorstellungswelt, der diese korrespondiere (Rückert 1965: V. 41-45; zit. bei Zotz 2002: 117). Die Frage, inwieweit Thomasîns didaktisch motivierte Einstellung zum Gebrauch ›welscher‹ Ausdrücke wirklich eine Erklärung für die dichterische Praxis Gottfrieds und anderer Autoren im Umgang mit Fremdwörtern darstellt, ist allerdings kontrovers diskutiert worden. Denn diese Verwendung setzt beim Publikum ja bereits voraus, dass es die einschlägigen Termini und Passagen versteht, mit der höfischen Welt als einem literarischen Sujet also bis zu einem bestimmten Grad vertraut ist.
Andere Gründe für die häufigen Rekurse auf Französisches sind bei Wolfram von Eschenbach zu unterstellen. Dieser spielt und experimentiert gern mit Sprache, schätzt ungewöhnliche und innovative Ausdrucksweisen, setzt auf Vielfalt und Kontraste und demonstriert seine Sprachartistik absichtsvoll mit allen denkbaren, eben auch mit fremdsprachlichen Mitteln.3 Anders als Gottfried irritiert Wolfram seine Leser gern; möchte jener, vereinfacht gesagt, mittels französischer Einsprengsel die vorgestellte höfische Welt verständlicher machen, so scheint Wolfram mit dem Verständnisvermögen seiner Leser gelegentlich zu spielen, es herauszufordern, absichtsvolle Irritationen zu erzeugen. So gesehen hat seine abwechslungsreiche Sprachgestaltung eher ästhetische als inhaltsbezogen-didaktische Motive.
Eine wiederum andere Motivation fremdsprachlicher Elemente in mittelalterlichen Texten ist rezent darin gesehen worden, dass so Fremdes und Fremdheitserfahrungen sprachlich auf prägnante Weise markiert werden. Wo die Figuren auf Fremdes und Fremde treffen, wo es darum geht, kulturelle Differenzen und entsprechende Distanzen zu signalisieren, können Codebrüche effektvoll eingesetzt werden (dazu Zotz 2002: 118). Stimuliert wird eine solche Lesart zweifellos durch Schwerpunktthemen der jüngeren Kultur- und Literaturwissenschaft: durch Interessen an Kulturen und kulturellen Differenzen, am Fremden in seinen verschiedenen Ausprägungsformen, an literarischen Gestaltungsoptionen kulturell fremder Gegebenheiten. Nicht zufällig hat man in jüngerer Zeit an mittelalterliche Texte die Frage herangetragen, inwiefern sie sich mit dem Thema des Kulturkontakts befassen, Figuren aus fremden Kulturen profilierend und kontrastierend gestalten, ja, eine frühe Form des Exotismusdiskurses repräsentieren (vgl. Brüggen 2014). Insofern Fremdes und ›Exotisches‹ u.a. durch seine fremd klingenden Namen markiert ist, hat die fragliche Thematik gleichsam per se auch eine zumindest latente sprachästhetische Dimension.
Ergänzend sei auf einen weiteren Fragehorizont hingewiesen, der sich im Kontext der Untersuchung sprachenmischender Schreibweisen und gemischtsprachiger Texte anlässlich mittelalterlicher Werke ergibt: Mittelalterliche Ausdrücke und Textpassagen, insbesondere Passagen aus literarischen Werken, gehören zu denjenigen ›fremdsprachigen‹ Beständen, auf die neuere Schriftsteller zurückgreifen können, wenn es darum geht, gemischtsprachige Texte zu komponieren. Wiederum sind unterschiedliche Gründe im Spiel, wenn ein moderner oder zeitgenössischer Autor das Mittelalter zitierend ›zu Wort‹ kommen lässt. Entsprechende Passagen können inhaltlich-thematisch motiviert sein, etwa, indem sie dem dargestellten Gegenstand besonders affin erscheinen oder als besonders treffende Formulierungen zum Einsatz kommen; sie können auch ästhetisch-artistisch motiviert sein, primär auf Verfremdungseffekte abzielen und gegebenenfalls den Pastichecharakter des entstehenden Textes unterstreichen. Wichtige Differenzierungen ergeben sich zudem zwischen der Verwendung wiedererkennbarer Zitate und Kryptozitationen, zwischen eher konservativ und eher experimentell wirkenden Schreibweisen sowie zwischen authentischen und fingierten Zitaten, zu denen auch Scheinübersetzungen gerechnet werden können (vgl. dazu Pöckl 1986). Nicht immer ist eindeutig entscheidbar, wo der Respekt vor dem Vorbild endet und die Parodie beginnt – respektive: wo das Streben nach scheinbarer Authentizität in unfreiwillige Parodie umschlägt.
Adolf Muschgs Roman Der Rote Ritter. Eine Geschichte von Parzivâl (1993) basiert auf Wolframs Parzival, dessen Fabel hier frei und mit teils umfangreichen Erweiterungen und Ausgestaltungen nacherzählt wird. Gerade durch diesen freien Umgang mit dem Vorgängertext bewegt sich Muschg wiederum, wenn auch in einem anderen Sinn als dem der Inhaltswiederholung, in den Spuren seines mittelalterlichen Vorläufers: Besteht die Kunst des Erzählers doch auch in Wolframs Epoche schon im Umgestalten, nicht in der bloßen Paraphrase. Ein auktorialer Erzähler präsentiert im Roten Ritter die von Wolfram bekannte Geschichte Parzivals, wobei auch Handlungselemente und Motive aus Wolframs Titurel einbezogen werden (vgl. dazu Carnevale 2005: 41f.). Die Figurendarstellung und andere Merkmale des Erzählerdiskurses sind dabei an modernen und zeitgenössischen Verfahren orientiert; der Erzählstil steht im Zeichen der Psychologisierung, der Reflexivität und vielfachen ironischen Brechung. Verfremdungen bestimmen die Darstellung der Artusritterwelt im Ganzen wie im Detail, so etwa, wenn die Gralsburg als ein gigantisches Gefängnis dargestellt wird, dessen Insassen hier unter Verleugnung aller natürlichen menschlichen Bedürfnisse ihr kärgliches Dasein fristen – oder wenn der Artushof und seine Angehörigen als skurrile Gesellschaft erscheinen, die in rituell-verfestigten Lebensformen gefangen ist.
Nicht nur inhaltlich lassen sich Beziehungen zwischen Muschg und seinem mittelalterlichen Vorläufer herstellen: Beide sind bewusst und ostentativ Sprachartisten. Kultiviert schon Wolfram einen kunstvoll-wendungsreichen Darstellungsstil, so steht auch Muschgs Darstellungsverfahren im Zeichen vielfältiger Wendungen und Brüche (vgl. Niermann 2004: 241-252).4 Und reflektiert schon Wolfram explizit über seinen Stil, indem er das Bild eines hakenschlagenden Hasen wählt, so enthält auch Der Rote Ritter vielfältige Selbstreferenzen. Muschg folgt konzeptionell und stilistisch gleichsam der Spur des Hasen. Explizit ist von den Instanzen die Rede, die am Erzählprozess beteiligt sind, von den Parametern, die dabei ins Spiel kommen, von dem komplexen Wechselspiel zwischen Inhalten, Darstellungsverfahren, Produktions- und Rezeptionsaspekten. Die ›Fabel‹ wird als Akteurin vorgestellt (vgl. Muschg 1993: 849) – eine ironische Reminiszenz an mittelalterliche Beglaubigungen von Texten durch den überlieferten Stoff, zugleich ein Spiel mit dem Projekt der poetologischen Fundierung. Das vertrackte Eierkapitel, in dem drei Eier unter Rekurs auf ein Wortspiel (»Ei« ist das Kürzel für »Erzählinstanz«) als »Agenten dieser Erzählung« vorgestellt werden,5 bietet einen für Muschgs Roman besonders charakteristischen poetologischen Exkurs, eine ironische (und dabei intertextuell-anspielungsreiche) Begründung der Erzählung innerhalb der Erzählung (Kap. »Die 3 Eier. / Worin die Agenten dieser Erzählung sich zeigen und erklären.«, ebd.: 112-124). Mit den Streitereien zwischen den drei Eiern geht es nicht zuletzt um die Frage nach der Verbalisierbarkeit dessen, was das Auge sieht, das Ohr hört – also nach der Artikulierbarkeit von Erfahrung.
Zu den autoreferenziellen Strategien, die Muschgs Roten Ritter prägen, gehören insbesondere vielfältige Thematisierungen von Sprache und Sprachlichem, von Redeformen und Ausdrucksweisen, von Wörtern und Wendungen, von Stilen und verbalen (Selbst-)Darstellungsweisen. Figuren sind durch die Art charakterisiert, wie sie sprechen, aber auch durch die Texte und Redeweisen anderer, mit denen sie sich beschäftigen. Welche Aufmerksamkeit der Erzähler der Art widmet, wie seine Figuren reden, welcher Idiome sie sich bedienen und wie sie ihre Worte artikulieren, ließe sich exemplarisch am Fall von Parzivâls orientalischem Halbbruder illustrieren: Feirefîz, eine »blendende Erscheinung«, spricht ein »keineswegs akzentfreies, doch reiches Französisch«, er hat dabei einen »morgenländische[n] Ton«, »von […] halb gehauchten, halb rauhen Rachenlauten begleitet« (ebd.: 864). Als Feirefîz seine Dienstleute aufzählt, ergibt sich eine lange Liste mit vielen seltsamen Namen und Hinweisen auf ferne Länder, die den mittelalterlichen Fabeleien nachempfunden sind, zudem aber mehrfach durch Hinweise auf sprachliche Besonderheiten charakterisiert werden.6 Erzählerbericht und Figurenreden enthalten vielfach Elemente anderer Sprachen. Muschg (hierin einer langen literarischen Tradition folgend) charakterisiert einzelne Figuren durch ihre Affinitäten zu bestimmten Sprachen und er ordnet (auch hierin in den Spuren vieler Vorläufer) diese Sprachen bestimmten Teilbereichen oder Aspekten der intradiegetischen Wirklichkeit zu, einer Wirklichkeit, die maßgeblich eine des verbalen Austauschs, der gelingenden oder scheiternden Verständigung ist.7
Insbesondere mittelhochdeutsche Textelemente dienen der Evokation einer ›mittelalterlichen‹ Welt, die im Kontext des Romans allerdings meist eher ironisch wirkt, als dass sie ›Authentisches‹ signalisierte. Manchmal enthalten die Kapitelüberschriften solche Sprachelemente – aber auch mit diesen bewegt sich der Erzähler gerade nicht in der Spur tatsächlich zitierter Vorgängertexte, sondern präsentiert sich als Sammler von und Bastler mit Vokabeln und Phrasen unterschiedlicher Provenienz.8 Mittelhochdeutsche Passagen kommen wiederholt gerade dort zum Einsatz, wo Erzähler oder Figuren ihre Worte abwägen oder den Kommunikationsprozess doch besonders markieren.9 Auch werden mittelhochdeutsche Verse gelegentlich zum Stein des Anstoßes, weil sie hintersinnig und vieldeutig sind. Als Herzeloyde einen Roman aus der Bibliothek des Klosters Vahr kommen lässt, hält der ausleihende Abt dessen Lektüre für bedenklich – und zwar mit dem Hinweis auf eine bestimmt Stelle: »Da wurde wohl geoffenbärt / Und auch vor aller welt bewährt / daß der gar tugendreiche Krist / windschaffen wie ein Ärmel ist.« (Muschg 1993: 201; vgl. dazu Gottfried 1969: 219.) – Demnach handelt es sich bei dem Roman um den Tristan des Gottfried von Straßburg, bei der inkriminierten Stelle um eine viel kommentierte Passage, in der Tristans erfolgreiches Betrugsmanöver bei einem Gottesgericht geschildert wird.
Im bewussten Rekurs auf die mittelhochdeutsche Literatur und ihre französischen Sprachelemente behandelt Muschg das Französische als Sprache der höfischen Welt.10 So verwendet Schiônatulander, Gahmurets Knappe, gegenüber Sigûne französische Ausdrücke. Er, der sich u.a. mit einem französisierenden Rufnamen Qui-qui nennen lässt, nennt sie »Princesse« (Muschg 1993: 11), und der erste kurze Dialog zwischen den beiden ist eine Antizipation des späteren vertraulichen Miteinanders.11 Schiônatulander spricht ein »singendes Französisch« (ebd.: 13), er versteht sich auf Wortspiele wie »La mer l’amère ma mère«, verabschiedet sich von Sigûne mit »A Dieu, mon amour!« (ebd.: 19), präsentiert sich »à la mode« (ebd.: 155). Gelegentlich deutet er an, man könne die Abläufe an Herzeloydes Hof mit etwas mehr »Chic« arrangieren (ebd.: 136). Für triviale Spielformen des Minnewesens »hat er nur dédain übrig«, die Trivialitäten des Nichthöfischen erzeugen ihm »ennui« (ebd.: 153). – Die ersten Ritter, die Parzivâl zu sehen bekommt, werfen mit französischen Sprachbrocken um sich: »Marche«, »pressant«, »Allez!« (ebd.: 320). Auch Artûs schmückt sich mit Phrasen wie »Ravissant«, »Nous sommes très touchés«, »Incroyable«, »A la guerre comme à la guerre!« (ebd.: 798). Parzivâls Opfer Ithêr benutzt beim ersten Treffen (herablassend) ebenfalls französische Ausdrücke, die seine Zugehörigkeit zur höfischen Welt signalisieren (»perdu«, »croys-moi«, »mon petit chou«, »A la bonne heure«, »Malheur«; ebd.: 366), und im späteren Kampf sind französische Worte das Letzte, was er sagt, bevor er fällt: »Cela suffit maintenant!« (Ebd.: 378) Nicht nur dieser letzte Satz, sondern die Ausschmückung der brutalen Kampfszene als solcher mit französisierendem Beiwerk wirken ironisch. Das Französische steht metonymisch für die schöne Welt der Artusästhetik und der Artusritteridee, die angesichts des realen Sterbens, angesichts von Not und Gewalt, von Einsamkeit und Ratlosigkeit seltsam deplatziert wirken und keiner der Figuren jene ethisch-kulturelle Orientierung verschaffen, die sich mittelalterliche Autoren von der höfischen Ideenwelt noch versprechen mochten. (Bei Wolfram freilich, und das macht ihn für Muschg interessant, ist das Französische ja auch schon Gegenstand ludistischer Behandlung.)
Verhaltene Ironie bestimmt weitgehend auch den Rekurs auf lateinische Vokabeln und lateinische Sätze. Sie gilt dem Bildungswissen, der Gelehrsamkeit und einer religiös-moralischen Orientierung, die im Mittelalter noch zu weiten Teilen an lateinische Begrifflichkeiten gebunden ist. So erfährt Parzivâl von Trevrizent von den Todsünden, von »AVARITIA«, »GULA«, »INVIDIA«, »LUXURIA«, »SUPERBIA«, »ACCIDIA« und »IRA« (ebd.: 688-697). Wer Latein spricht, distanziert sich ein Stück weit von den Nöten und Trivialitäten des Alltagslebens, und so zitiert der Hofkaplan gelegentlich »auf der Zinne seinen Vergil«, wenn es gilt, seltsame Verhaltensweisen seiner Mitwelt zu kommentieren: »Quid non mortalia cogis / Pectora, auri sacra fames?« (ebd.: 98); der Erzähler kommentiert: »Ihm stand wenigstens das heilige Latein zu Gebote. Die Damen […] blieben sprachlos.« (Ebd.) Wiederholt erscheint das Lateinische als Sprache des bewussten Zitats, als Sammlung von Formeln und Floskeln. Als Herzeloyde Informationen über Gahmuret einzieht, fällt anlässlich seiner afrikanischen ersten Frau Belakâne die Bemerkung »sum nigra sed pulchra« (ebd.: 43). »Quod licet Jovi non licet bovi«, bemerkt Artûs, als seiner Frau der Ritter Feirefîz zu sehr gefällt (ebd.: 868).
Der Magier und Weltmann Klinschor ist durch seine Liebe zum Englischen charakterisiert. Er führt den »Tea« in die Welt seiner nichtenglischen Zeitgenossen ein (ebd.: 176, 179) und putzt sich mit englischen Vokabeln; Ausrufe wie »my foot« durchsetzen seine Rede (ebd.: 177). »Er hat gekämpft, so what?«, so kommentiert er den Bericht über Gahmuret, und spricht von der »fairnesse [sic]«, die auch den eher widerstrebenden Ritter zum Kampf motiviere (ebd.: 171). Jungen, so seine Überzeugung, bleiben, weil sie anders als Mädchen nie Kinder sein dürfen, zeitlebens »unfit for life«, »zum Dasein nicht geeignet« (ebd.: 174). Auf Englisch drückt sich aber auch der Grâl aus – und dies weniger als Reverenz gegenüber Britannien als Herkunftsland des Artusstoffes als vielmehr in Anspielung auf lakonisch-prägnante Inschriften im Rahmen moderner Etikettierungs-, Beschilderungs- und Reklamepraktiken. »WELL DONE« – so kommentiert eine Umschrift auf dem Grâl die Heilung des Anfortas, was Parzivâl zwar lesen, aber nicht verstehen kann (ebd.: 907). Und als Repanse de Schoye den Grâl wieder fortträgt, bemerkt dieser mit denkbarer Prägnanz: »THAT’S IT« (ebd.: 908). Dass durch das Bild einer englischen Signalschrift ausgerechnet auf dem Grâl auch das Englische Ironisierungsfunktionen übernimmt, bedarf kaum der weiteren Kommentierung.
»[W]as hat nicht alles Platz in einem Alphabet!« – so Trevrizent gegen Ende einer längeren Mahnrede an Parzivâl, dem er seine Wissensdefizite vorhält, unter denen der Analphabetismus des jungen Ritters besonders gravierend erscheint (ebd.: 700). Parzivâl soll die Schriftzeichen kennenlernen. Unter dem Titel »Die Fibel« (ebd.: 702-710) folgt diesem Aufruf zum »Buchstabenlernen« (ebd.: 700) ein Alphabettext, der jeweils mit einem graphisch abgehobenen Buchstabenbild beginnt – mit einer figuralen Initiale, wie sie in mittelalterlichen Handschriften, aber auch in späteren Spielformen der Manuskript- und Drucktextgestaltung in vielfältigen Varianten gestaltet worden sind. Der Typograph Robert Massin hat 1970 eine viel rezipierte Kollektion figuralschriftlicher Beispiele von der Antike bis zur Gegenwart zusammengestellt (vgl. Massin 1970b und 1970a). Die Initialen in Muschgs Romankapitel ähneln Massins Beispielen, also historischen Formen der Initialengestaltung, wobei nicht die Vorbilder aus dem Mittelalter, sondern die aus Renaissance und Barock quantitativ dominieren, ergänzt um zeitgenössische Beispiele (wie Buchstaben aus Legosteinen). Das Konzept der figuralen, als mimetische Gestalten oft wie ›lebendig‹ wirkenden Buchstaben spielt in der Geschichte figuraler Alphabete eine leitmotivische Rolle; auch in Massins Sammlung liegt darauf ein starker Akzent. Muschgs »Fibel« enthält gleichfalls Buchstaben, die zugleich ›lebendige‹ Figuren sind, anthropomorphe, theriomorphe und hybride. Um diesen Typus von Figuralschrift geht es (wie zur Betonung seiner Signifikanz) in Muschgs Roman zudem anlässlich einer anderen Alphabetisierungsgeschichte: Auch Sigûne wird von Trevrizent im Lesen und Schreiben unterrichtet – und sie nimmt die Buchstaben als animierte Gestalten wahr, als Wesen aus anderen, möglichen Welten – ja, sogar als Wesen, die Geschichten erzählen.12
»Die Fibel«, Parzivâls Lerntext, besteht aus Textabschnitten, die nicht nur der alphabetischen Reihe entsprechend jeweils mit einer markanten Initiale beginnen, sondern zudem unter einem bestimmten Datum stehen (dem jeweiligen Unterrichtstag Parzivâls) und sich inhaltlich auf das Leben Parzivâls beziehen. Es gilt, so signalisiert diese Konstruktion, das eigene Leben ›buchstabieren‹, den Text der eigenen Erfahrungen ›lesen‹ zu lernen. Die Texte sind vorwiegend aus Wörtern komponiert, die mit dem jeweils dominierenden Buchstaben beginnen; mit »Aller Anfang, ach« beginnt der A-Text (Muschg 1993: 702); der G-Text mit »Grâl, Gottes gewaltig Geheimnis« (ebd.: 703) etc. Als Kurzfassung von Parzivâls Lebensgeschichte bildet die »Fibel« eine Art mise-en-abyme des Romans. Sprachenmischungen und Sprachhybridisierungen finden sich dementsprechend auch hier. So sind zwar die Texte überwiegend auf Deutsch verfasst, einer jedoch, wenngleich ein sehr kurzer, auf Französisch: Der Text zum Q besteht nur aus dem Ausruf: »Quelle pitié.« (Ebd.: 707) Der Abschnitt zum C ist in sich aus Elementen des Deutschen, Englischen und Französischen zusammengesetzt: »Chronisch cool, comme-il-faut? / Camouflage, chevalereskes Cliché! / Commons [sic] sense ist der Charme und die Chance des Chefs! / Checkt’s der Clown?« (Ebd.: 703)
Sind hier die verwendeten Idiome klar voneinander unterscheidbar, so enthält der Abschnitt über den Buchstaben I zum einen viele Lehnwörter, die aus dem Französischen ins Deutsche implantiert worden und insofern keiner der beiden Sprachen exklusiv zuzuordnen sind – sowie zum anderen einzelne ›Leihgaben‹ aus dem Lateinischen und Griechischen, die zwischen redensartlich-geläufigem fremdsprachlichem Zitat (»in medias res«) und Lehnwort (»infantil«, »Idiot«) changieren. »Ithêr hast du insultiert? immobilisiert? totgeschlagen? / Immer in medias res? / Impulsiv? aus Ingrimm? / Irreparabel. Irrsinn. Infantil. / Irgendeiner war das nicht, Idiot. / Imitierst Ithêrs Identität, immerfort. Immerhin.« (Ebd.: 704)
Zum Thema Vielsprachigkeit und Sprachenmischung steht der »Fibel«-Text über diese konkreten Beispiele verbaler Mixturen und Kreuzungen hinaus aber noch in einer weiteren Beziehung: Es geht mit den Buchstaben ja um Elemente geschriebener Texte, die für die Verschriftlichung von Texten unterschiedlicher Provenienz genutzt werden – also um einen visuellen Code, der über Sprachgrenzen hinweg verwendet wird. (Dass die »Fibel«-Texte aus dem Vokabular verschiedener Sprachen bestehen, macht dies sinnfällig.) Das Alphabet als ein Reservoir an Zeichen, der sich Angehörige verschiedener Sprachräume bedienen, ist ein Code für alle Sprachbenutzer – keine präbabylonische Ursprache allerdings, sondern das Produkt menschlicher Kultur, einer Kultur, in die Parzivâl von Trevrizent initiiert wird. Der Umstand, dass die verschiedenen Initialen ganz unterschiedlich gestaltet sind, verweist auf die Arbitrarität der Schriftzeichen. Texte haben, so zeigt sich, nicht ein einziges ›Gesicht‹, sondern viele mögliche Gesichter; gestattet ihre Verschriftung doch vielfache Modifikationen – und dabei ist die Art, wie sie sich als Textbilder präsentieren (also beispielsweise als Ensemble aus anthropomorphen Figuren oder als kompliziertes geometrisches Liniengeflecht), doch durchaus bedeutungskonstitutiv. Insofern ist eine sprachliche Äußerung als solche bereits niemals mit sich ›identisch‹; in ihren Verschriftungen nimmt sie erst (wechselnde) Gestalt an. Einen Text zu schreiben impliziert allein durch die letztlich kontingente Entscheidung für einen bestimmten Schriftcode, aus den schließlich unerschöpflichen Möglichkeiten seiner Präsentation eine auszuwählen, die dann mitbestimmt über das, was er dem Leser sagt.
Zu den inhaltlichen Modifikationen des Ausgangsstoffes, die im Zeichen einer unvermeidlich ironisch wirkenden Assimilation an moderne lebensweltliche Zusammenhänge stehen, gehört Sigûnes Beziehung zu »Gardevîas«, einem Laptop, den sie in ihrem Zimmer findet und der mit ihr in einen Dialog tritt.13 Gardevîas – dessen Name aus dem Titurel stammt, wo er ebenfalls mit Schriftlichkeit assoziiert ist14 – spricht die mittlerweile alphabetisierte Sigûne an, erzählt ihr (schriftlich) Geschichten respektive Geschichtenbruchstücke, die mit ihrem Leben und dem ihrer Umwelt verbunden sind, und lädt sie zu einer interaktiven Lektüre ein. Die Leserin kann und soll sich den Text, den sie lesen will, selbst aus angebotenen Bausteinen zusammensetzen. Da ihr als Titel zunächst »PARZIVÂL« vorgeschlagen wird, tritt das Computerspiel, ähnlich wie die »Fibel«, in eine Spiegelungsbeziehung zu Muschgs Roman, ja es erscheint als dessen mise-en-abyme. So verweist Muschgs Roman auf seinen eigenen Status als Produkt der Kombinatorik von Textbausteinen – und zwar von Bausteinen, die der Leser letztlich so arrangieren und interpretieren kann, wie er es möchte.
Nach dem Eingangsflimmern begrüßte er sie wie gestern mit dem rätselhaften HOI und stellte sich vor. Danach aber ließ er keinen Text folgen, sondern eine Reihe von Titeln.
PARZIVÂL
Und verblaßte beinahe pathetisch; dann flimmerte der Schirm ganz leer, um schließlich drei Sätze erscheinen zu lassen
SPIZZ FINGERLÎN
PICK ITEM
1 MAL SPILN
Das sah wie eine Gebrauchsanweisung aus, und das Folgende wie ein Inhaltsverzeichnis:
ITEM I WIE DIE VERBORGENE HOEH BESCHAFFEN IN WELCHER FRAU HERZELOYDE GEZOGEN WARD
ITEM II WIE FRAUEN HERZELOYDEN DRINGLICHE BERUFUNG GESCHAH ZUR STEUER DES ELENDES ZWEIER KOENIGREICHE WÂLEIS UND NORGÂLS
ITEM III WIE FRAU HERZELOYDE HERUNTERKAM IN DIE STADT KANVOLEIS UND IHR DER BESTIMMTE BRAEUTIGAM GEKNICKT WARD OHN ALLES BEILAGER […]
ITEM VII WIE DIE MEHRSTEN KOENIGE VON IHREN FEHDEN ABSTUNDEN AUF DASS SIE KAEMEN UND SICH MANNLICH ZEIGTEN VOR FRAUEN HERZELOYDEN AN DEROSELBEN WOHL BESTALLTEM PFINGST-TURNIER (ebd.: 244f.).
Sigûne nimmt diesen an frühneuzeitlich-barocke Romankapitelüberschriften erinnernden Text als ein »kurioses Fränkisch« wahr (ebd.: 245). Dass Gardevîas, neben neuhochdeutschen und mittelhochdeutschen auch englische Vokabeln (teilweise verballhornt) verwendet – und zwar dann, wenn es um die Lenkung des PC-Benutzers geht (»PICK ITEM«, »OKEEH«) –, verweist anachronistischerweise auf die dominante Sprache globaler digitaler Kommunikation in der Gegenwart. Der Computer Gardevîas als technisches Medium ist samt seiner Affinität zum Englischen die zeitgenössische Antwort auf die postbabylonische Zersplitterung der Sprache in Sprachen. Dass er Sigûne offenbar die Geschichte eines Pfingstturniers erzählen möchte, erinnert an die kompensatorische Funktion pfingstlicher Ereignisse angesichts der babylonischen Dissoziation – wurden doch am Pfingsttag die predigenden Apostel von den Angehörigen verschiedenster Völker und Sprachgemeinschaften verstanden. Auch der Handlungsstrang um »Gardevîas« steht also in einer mehrschichtigen Beziehung zum Thema Mehr- und Mischsprachigkeit. Sigûnes Laptop repräsentiert insbesondere Kommunikationsangebote, die den Leser (›user‹) in ein Netzwerk möglicher Geschichten unterschiedlicher Provenienz einbeziehen – Geschichten aus unterschiedlichen Zeitaltern und Sprachräumen. Gardevîas ist der Erzähler schlechthin – und als solcher ein Mittler zwischen entfernten Räumen und Zeiten. »Lange Wege sind fällig in der Welt dieser Fabel«: Mit diesem Satz beginnt der erste eigentliche Text, den Sigûne zu lesen bekommt (ebd.: 239). Die Kommunikation mit Gardevîas erfolgt schriftlich15 – wobei sich die lesbare Schrift zunächst aus dem Diffusen bloßen Geflimmers und unlesbarer Figurationen ausdifferenzieren muss.16 Als ein Prozess sprachlicher Interaktion ist die Kommunikation zwischen Sigûne und Gardevîas vor allem durch eine Besonderheit geprägt: Beide Beteiligten profitieren sprachlich voneinander, indem sie sich auf die zunächst differente Ausdrucksweise des Partners, respektive: auf dessen Erwartungshorizont, einlassen. Sigûne lernt von Gardevîas, aber Gardevîas lernt auch von Sigûne, indem er seine Ausdrucksmittel ihren Erwartungen anpasst.17 Manchmal allerdings versteht Sigûne ihren Computer nicht, was er sagt, erscheint ihr als »Nonsense« (ebd.: 249)18 – doch das syntaktisch wirre Gestammel hat gleichwohl eine Bedeutung; es verweist auf ihre künftige Trostlosigkeit über den Tod Schiônatulanders. Die Grenze zwischen Unsinn und Sinn ist als solche offenbar diffus und durchlässig.
Noch in anderer Hinsicht, nämlich mit Blick auf ihren Realitätsgehalt, entziehen sich Gardevîas’ Texte der eindeutigen Beurteilung. Gardevîas lässt, wie es heißt, Sigûne die »Stimmen der Wirklichkeit« (ebd.: 246) vernehmen; wie ein Zauberspiegel führt er ihr vor, was sie nicht selbst erlebt hat, macht sie mit bislang verborgenen Zusammenhängen vertraut, öffnet dabei aber auch die Grenze zwischen Wirklichem und Möglichem respektive zwischen Realem und Imaginärem. Ob ihre Leidenschaft für die Kommunikation mit dem Computer als Erweiterung ihres Wissens und ihrer Weltkompetenz zu interpretieren ist oder als Kompensationsversuch für Einsamkeit und als Rückzug von der Welt, ist nicht eindeutig entscheidbar.
Ein Text Muschgs über den mittelhochdeutschen Parzival, verfasst im Rückblick auf seine germanistische Studienzeit und seine frühe Auseinandersetzung mit Wolframs Text, erschließt diverse Zugänge auch und gerade zu Muschgs eigenem Parzivâl-Roman – und dies insbesondere mit Blick auf seine Experimente mit Sprachenmischung und verbalen Hybridisierungsprozessen (Muschg 1994). In Max Wehrlis Wolfram-Seminar, so Muschg, habe er erstmals eine Arbeit verfasst, die er für die Darstellung einer »Entdeckung« hielt: Anlässlich des Themas »Parzival und die Minne« sei er auf die Farbensymbolik im Parzival aufmerksam geworden (vgl. ebd.: 19) und habe dabei die Bedeutung von Farbkontrasten im Parzival entdeckt: Schwarz-Weiß, Rot-Weiß, beginnend beim Elstergleichnis. Kontraste stehen im thematischen Zentrum, und Farbkontraste spiegeln dies metaphorisch – so Muschgs Grundidee zu Wolframs Roman. Der scheckige Feirefîz spiele, so Muschg, im Roman Wolframs eine »Schlüsselrolle« (ebd.: 21). Die Signifikanz des Scheckigen als Kernmotiv bestätigt auch die schwarzweiß-gefleckte Elster (»›Parzival‹ beginnt mit dem Gleichnis der Elster, des schwarzweißen Vogels par excellence«; ebd.: 20) – und auch die Zukunftsperspektiven des Romans sind – wie Muschg betont – mit dem Motiv des Gescheckten verbunden: »Die letzte Geburt aus Schwarz und Weiß wird als Priesterkönig Johannes Ost und West in einem umfassenden Friedensreich vereinigen« (ebd.: 24).
Wolframs motivliche Insistenz auf dem Kontrastiven, dem Fleckig-Gescheckten, dem Durchmischten – das ganze »Farbenspiel des Romans« (ebd.) – eröffnet für Muschg die zentrale thematische Dimension des Werks: Der Parzival nehme, so Muschg, anlässlich seiner vielfachen Kontrastbildungen auch im Umgang mit Figuren und Handlungen doch jeweils keine eindeutigen Gut-Böse- respektive Positiv-Negativ-Wertungen vor; er hinterfrage das »Musterhafte« gerade und weiche damit vom »erbaulich-didaktischen Roman« ab (ebd.: 20). Schuld und Unschuld sind nicht klar geschieden; Parzival lebe mit Zweideutigkeiten (ebd.: 21), und das Ende von Wolframs Erzählung modelliere differente, ja kontroverse Lebensoptionen. »Dem Roten Ritter die Gralswürde, dem Gescheckten der rote Mund der Himmelsjungfrau!« (Ebd.: 24) Auch auf ästhetisch-kompositorischer Ebene steht Wolframs Parzival für Muschg im Zeichen des Mischens und des Spiels mit Heterogenem. Der Dichter verwendet »Muster« (ebd.: 27) und treibt mit ihnen sein profanierendes, dabei aber nicht eindeutig degradierendes Spiel; er nimmt tradierten Motiven und Konzepten ihre Eindeutigkeit – und macht durch seinen Umgang mit Tradiertem sinnfällig, dass auch scheinbar feste Werte, Orientierungsmuster und Vorbilder ständig neu wahrgenommen und gedeutet werden. Was sie der Nachwelt bedeuten, ist nicht festgelegt. Nur was zwischen differenten Bedeutungsoptionen, differenten Einfärbungen changiert, ist lebendig.
Der Roman spielt […] bis an die Grenze des Sakrilegs mit heiligen Mustern. […] Er beansprucht Gotteskindschaft für den Sündenleib und Gnadenwahl für das Liebeslager. Die Gralsgemeinschaft selbst ist ein Orden ganz eigener geistlich-weltlicher Verfassung. (Ebd.)
So ist Wolfram auf das Spiel mit Schwarz und Weiß, Rot und Weiß verfallen. Es ermöglicht die Verfügbarkeit von Wertvorstellungen, die nicht fix bleiben dürfen, wenn diese Figur [Parzival] leben soll (ebd.: 31).
Die hier umrissene Ästhetik des Gemischten, ›Mehrfarbigen‹, ›Uneindeutigen‹ erscheint als der konzeptuelle Rahmen, innerhalb dessen auch die sprachkombinatorischen und hybridisierenden Schreibweisen im Roten Ritter zu sehen sind. Das ›Gemischte‹ wird auch hier Sinnbild eines dynamischen Wechselspiels zwischen vermeintlich stabilen Oppositionen, zum Inbegriff des Uneindeutigen – und damit zur Metapher dessen, was sich in ›lebendiger‹ Bewegung befindet und Zukunft eröffnet. Ein Motiv, in dem sich die von Wolfram intendierte Vieldeutigkeit seines Romans laut Muschg in besonderem Maße kondensiert findet, ist das des Grals.19 Muschg erinnert an verschiedene Versuche, den Gral im Parzival zu interpretieren, die aber doch zu keiner Entschlüsselung dieses mysteriösen Objekts geführt haben – eines Objekts, dessen Beschreibung im Text schon insofern mehrdeutig ausfällt, als nicht klar ist, wie die entsprechende Textpassage gelesen werden soll. Er selbst setzt das Spiel der assoziativ gesteuerten Interpretationshypothesen ein Stück weit fort, indem er die unaufhebbare Mehrdeutigkeit der dem Gral zugeordneten Benennungen betont – ihre unterschiedliche Lesbarkeit im Horizont eines fremdsprachlichen Codes, des Lateinischen, das sich hier auf verschiedene Weisen ins Deutsche übersetzen lässt, eines im Übrigen zudem vielleicht rezeptionsgeschichtlich verderbten Lateins. Im Parzival Wolframs sei
›das Ding‹ ein Stein, rätselhaft wie er selbst: ›Lapsit exillis‹. Heißt das ›Lapis lapsus ex coelis‹, der vom Himmel gefallene Stein, verwandt mit dem Meteoriten in der Kaaba zu Mekka? Aber vielleicht war der ›Lapsit exillis‹ eigentlich der ›Lapis exilis‹, der ›unbedeutende‹ Stein? Dann wäre er nichts anderes als der alchemistische Stein der Weisen […] Oder reden wir vom ›Lapis exulis‹, dem Stein des Exils? Dann spräche das verderbte Latein die Sprache der Kabbala (ebd.: 79f.).
Namen und ihre Bedeutungen, so signalisiert dieser kurze Exkurs über den »Lapis exilis«/»Lapis exulis«, befinden sich auf einer ständigen Wanderschaft durch Zeiten, Kulturen und Sprachräume. Dem korrespondiert – wie Muschg in Erinnerung ruft – die Wanderung literarischer Stoffe (hier: des Parzivalstoffes) durch die Zeiten und Sprachräume. Wie die einzelnen Wörter, so haben auch die Geschichten keine feste Bedeutung, sie passen sich dem an, als was man sie rezipiert, gescheckt und uneindeutig wie Feirefîz, die Elster, der Priesterkönig Johannes – und wie gemischtsprachige Texte.
Wolfram behauptet, nicht Chrétien de Troyes verdanke er die rechte Kunde vom Gral, sondern einem gewissen Sänger aus der Provence mit Namen Kyot; der soll sie seinerseits in Toledo aus einer arabischen Quelle geschöpft haben, als deren Verfasser wiederum ein jüdischer Astronom namens Flegetanis genannt wird. Eine faszinierende Ableitung, wenn man unterstellt, der Jude stehe für die Kabbala, das Arabische für die Sterndeutung, Toledo für die hohe Schule der Alchimisten und Kyot für die katharische Häresie. Alle diese Quellen kann im ›Parzival‹ raunen hören, wer sein Ohr dafür geschärft hat – und alle werden sie sein Orientierungsbedürfnis narren, wenn er anfängt, ihnen mit System nachzugehen. (Ebd.: 80f.)
Muschg charakterisiert den bei Wolfram so vieldeutigen, also semantisch ›gescheckten‹ Gral signifikanterweise durch den Begriff des »Spiels«: Seine Uneindeutigkeit und Nichtidentifizierbarkeit korrespondiert mit dem Umstand, dass er Gegenstand ständiger und unabschließbarer Aushandlung ist. Ein solches Aushandlungsspiel vollzieht sich auf moralisch-didaktischer Ebene (so Muschgs Wolfram-Lesart) zwischen Gott und den Menschen, dem Schöpfer und seinen Geschöpfen, insofern es den einen und eindeutig rechten Weg nicht gibt und alternative Lebensoptionen spielend erprobt werden, dabei als Alternativen aber auch stets bedacht werden müssen. Analog dazu vollzieht sich ein Spiel zwischen dem Erzähler und seinen Figuren: Ersterer stellt diese zwar dar, aber was sie und ihre Schicksale ›bedeuten‹, legt er nicht fest.20
In seinen Überlegungen zu Wolframs Parzival und zum Gral als einem Sinnbild des Uneindeutigen akzentuiert Muschg bezogen auf Letzteren übrigens bereits eine Eigenschaft, die auch in seinem Roten Ritter wiederholt herausgestellt wird: Der Gral ist mit Schrift metonymisch und metaphorisch verbunden: Er ist Schriftträger – und als notorisch vieldeutiges Objekt eine Chiffre der Literarität.21 – Mit Gardevîas hat der Grâl im Roten Ritter übrigens seine Affinität zum Englischen (genauer: zu einem lakonischen ›Allerweltsenglisch‹) gemeinsam. Sollte Gardevîas als Gral des digitalen Zeitalters zu verstehen sein? Auf seiner Tastatur finden sich jene Buchstaben, aus denen (wie auch Muschgs »Fibel« demonstriert) die gemischt- und hybridsprachlich verfassten Geschichten der Menschen zusammengesetzt sind.
Muschgs Roter Ritter ist nicht allein durch vielfältige Beispiele für den Einsatz fremd- und mischsprachiger Textelemente charakterisiert; diese Verwendung steht zudem im Zeichen ›gemischter‹ Motive. So knüpft er an die einleitend umrissenen Traditionen der Sprachenmischung und -hybridisierung, des Codewechsels und der Codeverschmelzung an. (So etwa an die Schreibweise Wolframs von Eschenbach, aber auch an eine lange Tradition der Verwendung französischer Einsprengsel zur Signalisierung echter oder prätendierter kultureller Raffinesse oder der Verwendung lateinischer Sprachelemente als Metonymien gelehrter Bildung sowie schließlich an ›karnevalistisch‹ wirkende Praktiken des Spiels mit verbalen Versatzstücken.) Damit rücken nicht allein die fraglichen Textpassagen ins Zeichen der Uneindeutigkeit, sondern der Roman als ganzer lässt sich auch nicht auf eine einzige prägende Sprachästhetik festlegen. – Mit der Einbeziehung verschiedener Schriftsysteme im Kapitel über »Die Fibel« erweitert Muschg das Spektrum verwendeter ›Vielsprachigkeit‹ um die Dimension der Visualität von Sprache – und erinnert zumindest daran, dass es neben der Ausdifferenzierung von Sprache in ›Sprachen‹ auch auf der Ebene der Schrift vielfältige Codes gibt – Codes, die man unter dem Aspekt ihrer Differenzialität beobachten kann, aber auch ›hybride‹ Codes. Den vermutlich plakativsten Fall von Hybridisierung auf der Ebene schriftlicher Darstellung stellen wohl jene Buchstabenbilder in der »Fibel« dar, die gleichzeitig als Schriftzeichen und als figural-›mimetische‹ Gebilde zu betrachten sind: Buchstaben in der Gestalt von Menschen, Tieren, Pflanzen, Fabelwesen, Monstern, Gebäuden etc. Das anlässlich von Sigûnes und Parzivâls Alphabetisierungsprozess aufgegriffene Konzept des animierten Buchstabens, des Buchstabenfabelwesens, des beweglichen Spiels anthropomorpher und monströser Buchstabengestalten verbindet Muschgs Roten Ritter im Übrigen mit einem weiteren Roman, in dem das Thema Vielsprachigkeit und sprachliche Hybridisierung eine thematisch zentrale Rolle spielt: mit Umberto Ecos Il nome della rosa (1980).22
Die Kombination und Entdifferenzierung heterogener Sprachelemente im Roten Ritter machen eine Ästhetik des Vermischten und Uneindeutigen sinnfällig, zu deren Kernbegriffen neben dem der »Verwandtschaft« auch der des »Spiels« gehört. In Spielen kommt das Gemischte und Vieldeutige zur Entfaltung, und der Gral, selbst ein vieldeutiges Objekt, katalysiert Muschgs Wolfram-Lektüre zufolge einschlägige Ambiguisierungsprozesse. Als Schriftträger verweist er zudem darauf, dass Geschriebenes von unaufhebbarer Vieldeutigkeit ist, bedingt durch die Heterogenität und Vielgesichtigkeit der Codes, die jeden Text prägen – respektive: nach denen er gelesen werden kann (wiederum sind die Buchstabenbilder, die einerseits als Lettern, andererseits als Abbilder erscheinen, programmatisch ambig), bedingt auch durch den Umstand, dass schriftgebundene Kommunikation selbst ein Spiel ist. Es vollzieht sich zwischen Schöpfern und Geschöpfen, zwischen Autoren und Lesern – wobei (wie im Fall von Sigûne und Gardevîas) die Beteiligten selbst jeweils erst ein Profil gewinnen, ein vorübergehendes und immer wieder modifizierbares allerdings.
1 | Vgl. zum Thema literarischer Vielsprachigkeit und Sprachenmischung u.a.: Liede 1963; Forster 1970 (dt.: Forster 1974); Classen 1996; Knauth 1991; Schmeling / Schmitz-Emans 2002; Schmitz-Emans 2004; Knauth 2011.
2 | Vgl. zum Maccaronismus u.a.: Genthe 1836; Knauth 2004.
3 | »Auch Wolfram […] verwendet […] französische Wörter, die sich allerdings bei ihm eher in eine Reihe stellen mit kruden Wortschöpfungen und anderen sprachlichen Bizarrerien.« (Zotz 2002: 118) – Vgl. dazu auch Kiening 1989.
4 | Niermann (2004) kommentiert in diesem Kapitel (»Gegenspieler, Mitspieler und das Spiel des Textes«) Muschgs Roman im Rekurs auf spieltheoretische Erörterungen. Sie erwähnt die Sprachenmischungen im Unterkapitel »Sprachspiele« (ebd.: 248f.) als eine sprachludistische Verfahrensweise unter anderen.
5 | Eine der drei für die Erzählung tragenden Instanzen ist der Mund (»Pekadî hat keinen Mund, er ist ein Mund«); eine zweite das Gehör (»Kadipê hört aber auch das Knacken eines Herzens, bevor es bricht. Er hört ein Salzkorn ebensogut fallen wie eine Feder.«), eine dritte der Gesichtssinn (»Dipekâ, das dritte Ei, ist zum Sehen gerundet, zum Schauen geschaffen.«) (Muschg 1993: 113f.)
6 | Einer der genannten Dienstleute ist »der König Amaspartîns von Schipeljonte, wo man nur ein einziges Wort kennt, das lautet wie Pescheräh und wird als Klage ausgestoßen«; ein anderer ist »der König Liddamus von Agrippe, wo man einander statt guten Tag Hals- und Beinbruch wünscht« (ebd.: 887).
7 | Wo verschiedene Sprachen gesprochen werden, bedarf es gelegentlich der Übersetzung. Wenn in der Burg Schastelmarveile, jenem schon bei Wolfram geschilderten Ort der Qualen, »[ü]ber der Kammer mit dem Satansbett […] die Devise: Quod facis sentias« steht (ebd.: 179), so findet der anglophile und anglophone Klinschor gegenüber Herzeloyde hierfür einen englischen Ausdruck: »Look what you made us do« (ebd.: 180).
8 | Im Kapitel »Spîl doch mal / Wie Sigûne sich im Verkehr mit ihrem Tröster zu einer Dame herausbildet« (ebd.: 244) geht es um Sigûnes Kommunikation mit einem Computer.
9 | So hinterlässt der junge Gâwân bei Sigûne ein »Pergamentlein«, das er mit seinem eigenen Blut beschrieben hat und auf dem steht »Ih bins Gâwân, Gottes Kind« (ebd.: 110); zu den Ausdrucksweisen, die der Erzähler Revue passieren lässt, um die Benennbarkeit des Grâls zu erwägen, gehört auch »der saelden überval« (ebd.: 225), und der betrunkene Parzivâl zitiert mittelhochdeutsche Verse über die Vögel: »Sie heben sich vil schône und fliëgen in anderü Lant« (ebd.: 416).
10 | Herzeloydes Einladung, auf einem Turnier um ihre Hand zu kämpfen, ist eine »Herausforderung sans pareil«; gesprächsweise erläutert werden unter Teilnehmern und Zuschauern ritterliche Kleidungs- und Ausstattungsstücke wie das »Senftenier«, das »Huffenier«, das »Spaldenier«, das »Kollier« (ebd.: 25f.); der Ritter Herr Killirjakac hat die Devise »Au fond le meilleur!« (ebd.: 38).
11 | »Qui vive? fragte Sigûne mit kleiner Stimme und mußte sich räuspern. / Moi. / Qui? / Qui-qui. Mir fehlt was. Ich hab was. / Wie seid Ihr über die Mauern –? / Ich erzähl’s Euch. macht auf! / Un moment! sagte sie« (ebd.: 11).
12 | »Sigûne hatte nichts zu lachen, wenn er die Ungeheuer, zu denen sich die Buchstaben unter seinen gepflegten Händen auswuchsen, beim Namen nennen sollte. / Die Ungeheuer? Das war buchstäblich zu verstehen. Denn er verwandelte die Lettern, um sie einzuprägen, in Wesen nicht von dieser Welt, als da sind: Tritonen, Kentauren, Greife, Hydren, Medusen oder Lemuren. Und am Ende war es das Unmögliche daran, was das Einprägen erleichterte. Denn jeder Buchstabe nahm den Leib einer Fabel an, die in keinem Buch geschrieben stand. Trevrizent schien sie aus dem blanken Nichts zu schöpfen. Er hängte sie an einem Kielkropf auf, am Schattenwurf eines X oder am Galgen eines P, und schien sie nach Belieben fortspinnen zu können« (ebd.: 215f.).
13 | Gardevîas ist eine Erweiterung der »Bibliothek«; er erscheint, als Sigûne Gottfrieds Tristan liest und sich langweilt, weil sie allein ist. Im Bücherregal entdeckt sie zwischen den Bücherrücken plötzlich einen grünen Streifen, den sie noch nie gesehen hat, und zieht den dort zwischen Altem Testament und Alexanderroman platzierten Gegenstand aus dem Regal. Von »ungewöhnlichem Gewicht«, aufklappbar, »eine in grüne Seide geschlagene Platte oder Tafel, die sich um ein geschmiedetes Scharnier öffnen ließ«, ist das Objekt nicht, wie sie zunächst vermutet, ein Stein, sondern »eher eine doppelte Scheibe von jenem ›Glas‹ genannten Stoff, mit dem die Burg neuerdings angefangen hatte, ihre Fensterlöcher […] abzudichten und für ein wenig Licht durchlässig zu machen«. »Der Steingrund war überfangen von einer glatt polierten Oberflächenschicht, wie ein randloser Spiegel, in dem aber nichts zu sehen war« (ebd.: 238). – Die Passage illustriert u.a. exemplarisch den Versuch, ein unbekanntes Objekt mit der Sprache einer Zeit zu beschreiben, zu der es selbst nicht gehört, sodass brauchbare Vokabeln erst gesucht werden müssen.
14 | »Gardevîas« (hüte den Weg, achte auf den Weg) ist ein Name aus Wolframs fragmentarischer Dichtung Titurel, wo er in einer Episode um Sigune und Schionatulander fällt: Gardeviaz heißt ein Hündchen, das Schionatulander Sigune bringt, das ihr aber entläuft, sodass sich Schionatulander schließlich auf die Suche nach ihm machen muss. Das Hündchen trägt ein langes, mit edlen Steinen besetztes Halsband, auf dem eine Liebesgeschichte (die seiner früheren Besitzer) geschrieben steht. Sigune liest die Geschichte, wird durch die Flucht des Hundes aber unterbrochen und will nun auch den Rest lesen. An die Stelle des (Hals-)Bands der Erzählung tritt bei Muschg (unter Beibehaltung des Namens des Trägers) der Text auf dem Bildschirm.
15 | »KEIN LICHT KEIN WORT« (ebd.: 244): Mit diesem Hinweis auf die technisch-mediale Genese des jeweils lesbar werdenden Wortes aus der Lichtschrift des Laptops wird der Schöpfungsbericht der Genesis übrigens auf programmatische Weise verkehrt, insofern dort das Licht aus dem Wort hervorging (»Und Gott sprach: es werde Licht«).
16 | »Dann aber begann es in der Tafel zu wimmeln und zu laufen; Kringel, huschende Zeichen, Andeutungen von Figur, die in einem Punktgestöber auftauchten und wieder untergingen. Immer eindeutiger wollte sich da etwas abbilden, fuhr auseinander und fügte sich neu zusammen, während die Glasur heller wurde und mit der Zeit gleichmäßig leuchtete […]. Immer deutlicher fügte sich das Gezappel zu Zeichen zusammen, zu einer Schrift. In stark vereinfachten Lettern stand da zu lesen: HOI SIGÛNE« (ebd.: 238).
17 | »Was er [Gardevîas] darin [in Sigûnes Augen] lesen konnte, nahm Einfluß darauf, wie er sich ausdrückte.« (ebd.: 248) – Gardevîas ist offenbar ein ›lernfähiger‹ PC.
18 | »RÔT AUF GRUENER HEIDE NAHM DIE TOTE IHREN TOTEN AUF DEN SCHOSS OUWÊ MUOTER WAZ IST GOT UND KUSTE KEINEN ROTEN RITTER MEHR DENNACH TÔTET UNDE TOETELT BIS DAZ DER TOD EUCH SCHEIDE GOT IST GROSS MEIN GOTT WIE GROSS IST DEIN IOHANNES« (ebd.: 249).
19 | »In der Entdeckung der Komplementarität von ›Gut‹ und ›Böse‹ macht der Roman die Gnadenerfahrung der Menschenverwandtschaft und besiegelt sie im vieldeutigen und zugleich ketzerisch individualisierten Sakrament des Grals« (Muschg 1994: 25).
20 | »Der Gral steht für die Utopie eines göttlichen Spiels, das den Schöpfer und seine Geschöpfe, den Erzähler und seine Figuren partnerschaftlich verbindet« (ebd.: 97).
21 | Muschg betont, dass Wolframs Gral »zentral ein Träger der Schrift ist« (ebd.: 81) – er sei ein »alphabetisches Symbol, […] Chiffre entwickelter Literarität« (ebd.).
22 | Diverse weitere Parallelen zu Ecos Roman wären anzuführen, allen anderen voran die Lokalisierung der Handlung im Mittelalter und die ostentative Intertextualität, die Prägung durch Bachtins Polyphoniekonzept – und die Verwendung fremdsprachiger Textelemente.
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