»Im Denken-an bleibt die Fremdheit bestehen«

Ununterbrochene Dialoge: Alterität im Werk von Hannah Arendt

Jennifer Pavlik

Abstract

This article analyses the meaning of alterity for Hannah Arendt’s works. Its aim is to present Arendt as a (post-)modern thinker who emphasizes that alterity is one of the most important (human) conditions for living together in a common world. As Arendt points out, alterity is not only the fundamental condition for the world of appearances but also for the human self. Thus, conversationsare relevant for understanding the other (even the other of the self). Arendt’s idea is to establish a Greek based model of friendship that iselementary for the public sphere.Friendship, in this sense, is characterized by conversations. Therefore, stories become relevant since they allow ›visiting‹ different perspectives and avoid finding any kind of absolute truth. By linking the aspect of a story-based model of conversation with the Kantian notion of the Common sense, Arendt builds her theoretical approach on a cultural independent condition: Conversation (and understanding) do not depend on common language skills or a shared cultural background. It is rather imagination (›Einbildungskraft‹) that becomes the precondition of understanding since it helps finding the right measure of distance and closeness for judgments.

»Wie können wir auf Fremdes eingehen, ohne schon durch die Art des Umgangs seine Wirkungen, seine Herausforderungen und seine Ansprüche zu neutralisieren oder zu verleugnen?« (Waldenfels 2006: 9) Mit dieser Frage weist Bernhard Waldenfels auf die grundsätzliche Schwierigkeit im Vollzug des Verstehensvorgangs des Anderen hin. Die Hermeneutik als »die Kunst, die Rede eines anderen, vornehmlich die schriftliche, richtig zu verstehen« (Schleiermacher), ist zumindest dort problematisch, wo im Akt des Verstehens eine Aneignung des Anderen vollzogen wird. So betont auch Alois Wierlacher in seinem für die Interkulturalitätsforschung wegweisenden Aufsatz, dass die »philosophische Hermeneutik nicht sehr hilfreich ist«, wenn es darum gehen soll, eine entsprechende Verstehenslehre zu etablieren, da

das Gelingen geschichtlichen Verstehens für ihn [Gadamer] letztlich in der Herstellung einer horizontverschmelzenden ›Einheit‹ des ›Einen und Anderen‹ [bestehe], die der Auflösung des Anderen im Einen bedenklich nahe kommt. (Wierlacher 1990: 58).

Auch wenn es gegen diese Interpretation gute Argumente gibt,1 bleibt immer ein letzter Verdacht bestehen und sogar jene, die Gadamer davon freisprechen, sein Denken sei ethnozentrisch, üben Kritik an seiner »Diktion«, »da die Schlagwörter der Horizontverschmelzung bzw. des Einverständnisses durchaus suggerieren, daß es in der Hermeneutik schließlich um die Überwindung von Fremdheit zugunsten homogener Harmonie gehe« (Vasilache 2003: 62). Wierlacher (1990: 60) plädiert vor diesem Hintergrund dafür, eine neue Verstehenslehre zu begründen, die er als »Hermeneutik des Komplements von kulturell differenten Außenansichten und kultureller Innendeutung« zu fassen versucht. Er betont die Notwendigkeit eines anderen Verstehensbegriffes, der Ausdruck »interkulturelle[r] Kommunikation« und damit letztlich eines »Gemeinschaftshandeln[s]« sei (ebd.). Der Vorteil von Wierlachers Ansatz ist die explizite Betonung der Eigengesetzlichkeit des Fremden, das im Akt des Verstehens in seiner Andersartigkeit bestehen bleibt. Mit Plessner bestimmt er seinen Verstehensbegriff als »Vertrautwerden in der Distanz, die das Andere als Anderes und Fremdes – und mit ihm das Eigene – zugleich sehen und gelten läßt« (ebd.: 69); methodisch beschreibt er seine Verstehenslehre entsprechend als »Hermeneutik komplementärer Optik« (ebd.: 67), bei der es darauf ankomme, Verstehensrollen zu spielen, um zu lernen »mit fremden Augen zu sehen« (ebd.: 69). Dies scheint eine Möglichkeit zu sein, dem »Paradox des Verstehens« zu entkommen und das »Phänomen des Fremden mit dem hermeneutischen Verstehensparadigma zumindest in einen Modus Vivendi überführen« zu können (Mein 2010: 60).2

Ein solcher Modus Vivendi lässt sich in prägnanter Form auch in den Werken Hannah Arendts finden. Er ist zugleich Ausdruck ihres Denkens und entspricht der von ihr geprägten Form des Denkens ohne Geländer, das, unkonventionell und freiheitsliebend, stets darum bemüht ist, sich vor Vereinheitlichungen zu schützen. Arendts Gedanken zum Thema ›Alterität‹ und ›Verstehen‹ bewegen sich dabei nicht weit entfernt von dem, was Wierlacher als »Gemeinschaftshandeln« und »Vertrautwerden in der Distanz« bezeichnet und bieten zugleich eine Vorstellung davon, wie man Alterität als Grundlage des (Zusammen-)Lebens fassen kann, ohne das Andere ins Eigene übertragen bzw. es ausschalten zu wollen. Arendt sieht in der Pluralität der Perspektiven im Gegenteil überhaupt erst die Möglichkeit, nicht nur gemeinsam sondern per se leben zu können und einen öffentlichen Raum zu stiften, der als Lebensgrund der Menschen fungieren kann. Ihre Überlegungen können vor diesem Hintergrund als ein möglicher Weg verstanden werden, wie man die Hermeneutik als Verstehenslehre produktiv nutzen kann, ohne Gefahr zu laufen, den Anschein zu erwecken, man wolle den Anderen okkupieren.

Interessanterweise führen ihre Überlegungen zugleich in das Zentrum jener Debatte, die Jacques Derrida und Hans-Georg Gadamer 1981 in Paris begonnen haben. Hier wie dort ist es das Gespräch, der ununterbrochene Dialog, der ein annäherndes Verstehen ermöglichen kann, ohne Anspruch auf eine endgültige Verständigung zu erheben. Wesentlich ist, dass die Gesprächspartner bereit sind, zumindest den (inneren) Dialog miteinander zu teilen, wie Derrida in seiner Trauerrede auf Gadamer betont:

Unsere Diskussion konnte wohl nur mit einer merkwürdigen Unterbrechung beginnen, die nicht etwa ein Mißverständnis war, sondern eine Art Sprachlosigkeit, eine Hemmung des noch Unentschiedenen. […] Da stand ich, mit offenem Mund, sprachlos. Ich sprach kaum mit ihm, und was ich damals sagte, richtete sich nur indirekt an ihn. Und doch war ich mir sicher, daß wir von nun an auf eine merkwürdige, aber innige Weise etwas teilen würden. Vielleicht eine Teilhaberschaft. Damals schon hatte ich eine Vorahnung: Was Gadamer wahrscheinlich einen ›inneren Dialog‹ genannt hätte, sollte in jedem von uns weitergeführt werden, manchmal wortlos, unmittelbar in uns oder indirekt. (Derrida/Gadamer 2004: 8)

Die Teilhaberschaft, die Derrida hier beschreibt, wird von Arendt in ein Freundschaftsmodell überführt, das als Grundlage des Gesprächs fungiert: Die Gesprächspartner müssen Freunde sein, um die nötige Toleranz und Distanz aufzubringen, die das Zusammenleben zur Voraussetzung hat. Nur so ist ein Verstehensmodell möglich, das versucht, die andere Perspektive nachzuvollziehen, ohne sie in die eigene überführen zu wollen.3

I.

Die Liste derer, die das Leben und Denken von Hannah Arendt beeinflusst haben, liest sich wie ein Abriss der Geistesgeschichte des abendländischen Denkens. Von Sokrates und Platon über Kant, Heidegger4 und Walter Benjamin (um nur auf einige Denker der philosophischen Tradition einzugehen) bis hin zu ihren vielfältigen Brieffreundschaften und Kontakten zu Dichtern und Denkern des 20. Jahrhunderts lassen sich unzählige Verbindungen und Querverweise finden, die Auskunft über die Quellen ihres (Nach-)Denkens geben. Ihnen allen verdankt Arendt »Denkbruchstücke« (Arendt 1989e: 236), auf deren Grundlage ihre eigenen Gedanken gewachsen sind und die ihr – vor allem während ihrer Emigration ab 1933 – geholfen haben, sich mit dem zu befassen, was ihres Erachtens nach Menschlichkeit (in finsteren Zeiten) auszeichnet. Hierfür war auch ihr ehemaliger Lehrer und späterer Freund Karl Jaspers ein wichtiger Gesprächspartner, dem sie in ihrer Zueignung wesentlichen Anteil an der Etablierung ihres Weltbildes zuspricht:

Was ich bei Ihnen gelernt habe und was mir in den folgenden Jahren half, mich in der Wirklichkeit zurechtzufinden, ohne mich ihr zu verschreiben, wie man sich früher dem Teufel verschrieb, ist, daß es nur auf die Wahrheit ankommt und nicht auf Weltanschauungen, daß man im Freien leben und denken muß und nicht in einem noch so schön eingerichteten ›Gehäuse‹ und daß die Notwendigkeit in jeder Gestalt nur der Spuk ist, der uns locken möchte, eine Rolle zu spielen, anstatt zu versuchen, irgendwie ein Mensch zu sein. Was ich persönlich nie vergessen habe, ist Ihre so schwer beschreibbare Haltung des Zuhörens, jene dauernd zur Kritik bereite Toleranz, die von Skepsis gleich weit entfernt ist wie vom Fanatismus und schließlich nur die Realisierung dessen ist, daß alle Menschen Vernunft haben und daß keines Menschen Vernunft unfehlbar ist. (Arendt 1976a: 8f.)

Menschlichkeit, Vernunft und Toleranz werden von Arendt in einem Atemzug genannt und gehören in ihren Augen untrennbar zusammen: »Aus der Betonung des Menschlichen, das auf dem Vernünftigen basiert, erwächst das Ideal und die Forderung der Toleranz« (Arendt 1976c: 108). In Anlehnung an Kant unterstreicht Arendt die Bedeutung der Vernunft für den Menschen, macht aber gleichzeitig deutlich, dass Kant ihres Erachtens nach auch »metaphysischen Trugschlüsse[n]« (Arendt 1979: 22) aufgesessen ist. Während Kant nach Erkenntnis aus reiner Vernunft gesucht hatte, bestreitet Arendt die Möglichkeit ›Vernunftwahrheiten‹ überhaupt entdecken zu können und unterscheidet strikt zwischen den Zielsetzungen von Vernunft und Verstand: »Die Vernunft ist nicht auf der Suche nach Wahrheit, sondern nach Sinn. Und Wahrheit und Sinn sind nicht dasselbe« (ebd.: 25). Während sich die Vernunft also mit der Sinnsuche beschäftigt, ist es der Verstand allein, dessen Ziel darin besteht, absolute Wahrheit zu erkennen. Diese grundsätzliche Unterscheidung hatte zwar schon Kant erkannt:

Es war ihm [aber] nicht völlig klar, in welchem Maße er die Vernunft – das Denkvermögen – befreit hatte, indem er sie im Rahmen der letzten Fragen rechtfertigte. Er äußerte defensiv: ›Ich mußte […] das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen‹, doch er hatte nicht Platz für den Glauben geschaffen, sondern für das Denken, und er hatte nicht ›das Wissen aufgehoben‹, sondern Erkenntnis und Denken voneinander geschieden. (Ebd.: 24)

Anhand dieser Unterscheidung gewinnen Arendts Denkbewegungen an Kontur: Ihr geht es nicht um Erkenntnis an sich, sondern um ein sinnvolles Verständnis der Wirklichkeit. Damit einhergehend ändert sich auch das Verständnis dessen, was Wahrheit für die geistigen Tätigkeiten und das Zusammenleben der Menschen eigentlich bedeutet. Die Wahrheit, um die es im Zusammenleben in einer Gemeinschaft geht, ist keine absolute Wahrheit mehr; der Mensch als lebendiges Wesen, das versucht, sich und seine Umwelt zu verstehen, kann seine Sinnsuche nicht mit axiomatischen Wahrheiten befriedigen, für ihn geht es vielmehr darum, seine »doxa« wahr zu machen, d.h. »die Wahrheit in ihrer doxa zu finden« (Arendt 1993: 386):

Jeder Mensch hat seine eigene »doxa«, seinen eigenen Zugang zur Welt, und deshalb muß Sokrates immer mit Fragen beginnen; er kann nicht im voraus wissen, welche Art von »dokei moi«, von Es-scheint-mir, der andere besitzt. Er muß sich von der Position des anderen in der gemeinsamen Welt überzeugen. Denn so wie niemand im voraus die doxa des anderen kennen kann, so kann niemand aus sich heraus und ohne weitere Anstrengung die seiner eigenen Meinung innewohnende Wahrheit kennen. (Ebd.)

In ihrem Denktagebuch bringt Arendt diesen Gedanken auf eine einfache Formel: »doxa = dokei moi = mir scheint es so = dies ist, was an Welt mir in meiner Partikularität auf- und einleuchtet = Meinung« (Arendt 2002a: 406). Die Welt kann sich dem Menschen nicht in ihrer Totalität offenbaren, was er sehen kann, sind nur Aspekte des Ganzen. Nach Arendt muss man sich von der Idee verabschieden, man könne die Welt an sich erkennen, da dieser Gedanke mit dem Anspruch einhergehe, die Welt besser als der Gesprächspartner verstehen zu wollen. Vielmehr müsse es darum gehen, die Welt menschlich zu gestalten, was in dem Moment gelingt, wo sie Gegenstand des Gesprächs wird (Arendt 1989a: 35). Dabei ist die dialogische Struktur des Gesprächs nicht nur für das Zusammenleben in einer Gemeinschaft und die Idee von Menschlichkeit von Bedeutung, sondern auch für das Verständnis des eigenen Ichs, das sich selbst während des Denkens erfährt. Arendt geht von einer inneren Dualität aus, die zwischen dem Ich und dem Selbst besteht und die während des Denkens in einem stummen Zwiegespräch aktualisiert wird. Die Annahme des Zwei-in-Einem verweist auf die Verwurzelung ihres Denkens in der griechischen Tradition, denn Dialogizität wir hier im Sinne der von Aristoteles erfahrenen Spaltung des Innenlebens verstanden: »Das Denken spricht mit sich selbst (wie mit einem Freund); […] Das Selbst im Denken ist ein Freund« (Arendt 2002b: 756). Die duale Spaltung des Ichs ist aber keineswegs die Conditio sine qua non dafür, dass das Denken möglich ist. Der schweigende Dialog indiziert zwar Dualität, »aber Vorbild [ist] der Dialog mit einem Anderen. Nur weil ich mit Anderen sprechen kann, kann ich auch mit mir sprechen, d.h. denken« (ebd.: 688). Die innere Spaltung, die – wie Arendt betont – wesentlich vom Bewusstsein5 ausgeht, entspricht der Partikularität der Außenwelt:

[D]ie spezifisch menschliche Verwirklichung des Bewußtseins im denkenden Zwiegespräch mit sich selbst verweist darauf, daß Unterschied und Anderssein, die in so hohem Maße kennzeichnend für die Welt der Erscheinungen sind, wie sie dem Menschen als Aufenthaltsort zwischen vielen verschiedenen Dingen gegeben ist, auch die eigentlichen Bedingungen für die Existenz des geistigen Ichs des Menschen sind, denn dieses Ich existiert ja nur in der Dualität. (Arendt 1979: 186)

Entscheidend an Arendts Annahme ist, dass sie davon ausgeht, dass dem Menschen während des Denkens bewusst wird, dass »[i]n mein Eins-Sein […] ein Unterschied eingefügt« ist (Arendt 1994b: 150). Dies ist in ihren Augen keinesfalls selbstverständlich und auch mit Blick auf die Welt der Erscheinungen nicht einfach die Grundbedingung des menschlichen Denkens, das sich – so könnte man meinen – nur aus der Negation heraus speist. Das denkende Ich braucht diese binären Strukturen zwar zur Wahrnehmung der Außenwelt, nicht aber um sein inneres Zwiegespräch führen zu können:

In mein Eins-Sein ist ein Unterschied eingefügt. Dieser Unterschied ist uns in anderer Hinsicht bekannt. Alles, was innerhalb einer Pluralität von Dingen existiert, ist nicht einfach das, was es ist, in seiner Identität, sondern es ist auch von den anderen Dingen verschieden; dieses Verschiedensein gehört zu eben seinem Wesen. Wenn wir versuchen, es in Gedanken festzuhalten, wenn wir es zu definieren wünschen, müssen wir dieses Anders-Sein (›alteritas‹) oder diesen Unterschied berücksichtigen. Wenn wir sagen, was ein Ding ist, sagen wir immer auch, was es nicht ist; jede Bestimmung ist Negation […]. (Ebd.)

Diese Bestimmung gilt nicht für das denkende Ich: »Dieses merkwürdige Ding, welches ich bin, braucht keine Pluralität,6 um Verschiedenheit herzustellen; es trägt den Unterschied in sich, wenn es sagt: ›Ich bin ich‹« (ebd.: 150 f.). Das Andere des Ichs, das Selbst, wird damit zum Bestandteil der menschlichen Identität, die sogleich eine andere Bestimmung erhält und wesentlich fragiler ist, als es dogmatische Identitätstheorien behaupten.7 Arendt zufolge ist die »moderne Identitätskrise« aus diesem Grund auch eine eigentliche Scheinkrise:

Für mich selbst bin ich, wenn ich dieses Mit-mir-selbst-bewußt-Sein artikuliere, unvermeidlich Zwei-in-Einem, was im übrigen der Grund dafür ist, weshalb die modische Suche nach der Identität vergeblich ist und unsere moderne Identitätskrise nur durch Verlust des Bewußtseins gelöst werden könnte. (Ebd.: 151)

Das menschliche Bewusstsein legt es Arendt zufolge nahe, anzunehmen, dass »Unterschied und Anderssein, die solch herausgehobene Kennzeichen der dem Menschen in einer Pluralität von Dingen als seine Wohnstatt gegebenen Welt der Erscheinungen sind, auch für die Existenz des menschlichen Ego die wahren Bedingungen seien« (ebd.). Die Dualität des Ichs bezieht sich in Arendts Argumentation auf das Denken; wenn der Mensch unter Menschen ist und sich austauscht, ist er dagegen immer als einer erkennbar. In dem Moment, in dem das denkende Ich in seiner Aktivität unterbrochen wird und sprechend und handelnd Auskunft über sich gibt, kann es als Person von seinem Gegenüber identifiziert werden. Sprechen und Handeln werden als Modi verstanden, durch die sich das Menschsein selbst offenbart (vgl. Arendt 1960: 214).

II.

Die Grundüberzeugung, dass Alterität und Anderssein zur Grundlage der Lebenswelt und des eigenen Ichs werden und somit als manifester Bestandteil des Daseins fungieren, hat Arendts Verständnis des Menschen und der Menschlichkeit geprägt. Sie verweist zugleich auch auf die Form ihres Denkens, das sie bei Heidegger gelernt hatte, wie sie rückblickend betont:

Technisch entscheidend war, daß zum Beispiel nicht über Plato gesprochen und seine Ideenleere dargestellt wurde, sondern daß ein Dialog durch ein ganzes Semester Schritt für Schritt verfolgt und abgefragt wurde, bis es keine tausendjährige Lehre mehr gab, sondern nur eine höchst gegenwärtige Problematik. (Arendt 1989c: 168)

Statt über die Dinge nachzudenken, geht es Arendt darum, an sie zu denken und so in einen Dialog mit ihnen einzutreten:

Denke ich im Modus des an, so entferne ich alles so Gedachte von mir, selbst wenn es präsent ist. Denke ich im Modus des über, selbst über Entferntes, so indiziere ich immer, dass ich mich des Gegenstandes bemächtigen will. Abendländisches Denken strebte immer, die Fremdheit der Welt, ihr Anderssein aufzuheben; als gedachte war die Welt mein Eigentum. (Arendt 2002a: 279)

Arendt versucht in diesem Sinne, ein Denken anzustreben, das sich darauf konzentriert, Toleranz zu bewahren und den Anderen, nicht nur im Denken, in seiner Andersartigkeit zu akzeptieren: »Im Denken-an bleibt die Fremdheit bestehen« (ebd.: 280). Diese Haltung ist es, die sie bei Jaspers kennengelernt hatte und über die sie sagt, sie sei manchmal versucht gewesen, »[s]ie nachzuahmen bis in den Gestus des Sprechens hinein, weil dieser Gestus für mich symbolisch geworden war für einen sich unmittelbar verhaltenden Menschen, für einen Menschen ohne Hintergedanken« (Arendt 1976a: 8f.). Hinter Arendts Überzeugung und ihrer Bewunderung für einen Menschen, der mit einer »dauernden zur Kritik bereiten Toleranz« sein Leben führte, steckt die Überzeugung, dass die Menschen, wie verschieden sie in ihrer aktualen Lebensform auch immer sein mögen, grundsätzlich ihre Menschlichkeit teilen. Geht diese Überzeugung verloren, wird aus der Alterität der Lebensformen ein Abgrund, der nicht überbrückt werden kann:

Wenn die Idee der Menschheit, deren schlüssigstes Symbol der einheitliche Ursprung des Menschengeschlechts ist, nicht mehr gilt, werden Völker, die ihre Existenz in Wahrheit der politischen Organisationsfähigkeit von Menschen in ihrem Zusammenleben verdanken, zu Rassen, zu natürlich-organischen Einheiten – wobei denn in der Tat nicht einzusehen ist, warum nicht vielleicht die braunen oder gelben oder schwarzen Völker von einem anderen Uraffen abstammen als die weißen und von der Natur zu einem Kampf gegeneinander auf Ewigkeit bestimmt sind. (Arendt 1976b: 26)

Die Idee der Menschheit muss folglich gewahrt werden und dies geschieht nach Arendt im Gespräch, in dem die verschiedenen »doxai« ausgetauscht werden. Was für das Denken gilt, hat auch für das Zusammenleben im öffentlichen Raum Bedeutung: »Wenn du zu denken wünschst, hast du dafür zu sorgen, daß die zwei, die das Denkgespräch führen, in guter Verfassung, daß die Partner Freunde sind« (Arendt 1994b: 151). Ist dieses Gespräch nicht möglich, wäre es um die Freundschaft und damit um die Menschlichkeit getan (vgl. Arendt 1989a: 37).

Wenn Arendt davon spricht, dass die Denkpartner Freunde sein müssen, hat sie ein bestimmtes Verständnis von Freundschaft vor Augen, das auf Aristoteles zurückgeht und vor allem die politische Relevanz der Freundschaft (vgl. ebd.: 34) betont. Mit Aristoteles teilt sie die Ansicht, dass die Freundschaft zwischen den Bürgern eines der Grunderfordernisse für die Frage der Menschlichkeit ist (vgl. ebd.: 35). Damit meint sie keineswegs, dass für ein fruchtbares Zusammenleben alle Menschen einer Meinung sein, oder ein besonders enges Verhältnis zueinander haben müssen. Wesentlich für dieses Verständnis von Freundschaft ist vielmehr das gemeinsame Besprechen der Erfahrungen:

Für die Griechen […] lag das eigentliche Wesen der Freundschaft im Gespräch, und sie waren der Meinung, daß das dauernde Miteinander-Sprechen erst die Bürger zu einer Polis vereinige. Im Gespräch manifestiert sich die politische Bedeutung der Freundschaft und der ihr eigentümlichen Menschlichkeit, weil dies Gespräch (im Unterschied zu den Gesprächen der Intimität, in welchen individuelle Seelen über sich selbst sprechen), so sehr es von der Freude an der Anwesenheit des Freundes durchdrungen sein mag, der gemeinsamen Welt gilt, die in einem ganz präzisen Sinn unmenschlich bleibt, wenn sie nicht dauernd von Menschen besprochen wird. (Ebd.)

Die Freundschaft ist demnach nicht intim persönlich, sondern stellt politische Ansprüche – sie bleibt auf die Welt bezogen. Hierfür sind zwei Aspekte von Bedeutung. Einerseits müssen die gemachten Erfahrungen ausgesprochen werden, um überhaupt stattzufinden (vgl. Arendt 1979: 104), und andererseits muss es einen Raum geben, in dem diese Gespräche ihren Platz finden:

Sobald wir anfangen, von Dingen auch nur zu sprechen, deren Erfahrungsort im Privaten und Intimen liegt, stellen wir sie heraus in einen Bereich, in dem sie eine Wirklichkeit erhalten, die sie ungeachtet der Intensität, mit der sie uns betroffen haben mögen, vorher nie erreicht haben. Die Gegenwart anderer, die sehen, was wir sehen, und hören, was wir hören, versichert uns der Realität der Welt und unser selbst […]. (Arendt 1960: 63)

Der öffentliche Raum, der das Zusammenleben von Menschen ermöglicht, wird von Arendt strikt vom privaten Raum der Familie abgegrenzt. Während das Zusammenleben innerhalb des Familienkreises davon geprägt ist, dass man Meinungsverschiedenheiten und Interessenskonflikte im Schoß der Familie zu verhindern sucht und das »reichste und befriedigendste Familienleben nur eine Ausdehnung und Vervielfältigung der eigenen Position bieten kann« (ebd.), basiert der öffentliche Raum gerade im Gegenteil auf der Pluralität der Perspektiven:

Die Subjektivität des Privaten kann durch die Familie außerordentlich intensiviert und multipliziert werden, sie kann so stark werden, daß ihr Gewicht sich auch im Öffentlichen fühlbar macht; aber diese Familien-›Welt‹ kann darum doch niemals die Wirklichkeit ersetzen, die aus einer Gesamtsumme von Aspekten entsteht, die ein Gegenstand in seiner Identität einer Vielheit von Zuschauern darbietet. (Ebd.)

Hinzu kommt, dass der öffentliche Raum nicht hierarchisch organisiert ist, sondern auf der Überzeugung beruht, dass sich die Menschen auf Augenhöhe begegnen. Hierfür ist die Alterität der Menschen wesentliche Voraussetzung, da das Prinzip der Gleichheit, das den öffentlichen Bereich beherrscht, nach Arendt nur von Ungleichen realisiert werden kann (vgl. ebd.: 272 f.). Die von Arendt eingeforderte Gleichheit ist nichts Gegebenes, sondern das Resultat einer gemeinsamen Abmachung: »Gleiche werden wir als Glieder einer Gruppe, in der wir uns kraft unserer eigenen Entscheidung gleiche Rechte gegenseitig garantieren« (Arendt 1955: 622). Alterität wird so zur Bedingung von politischer Gleichheit, die eine Gesellschaft überhaupt erst ermöglicht,

denn eine Gemeinschaft besteht natürlich niemals, nach den Worten Aristoteles’, aus dem Zusammenschluß zweier Ärzte, sondern bildet sich zwischen einem Arzt und einem Bauern, ›und überhaupt zwischen Leuten, die verschieden und einander ungleich sind‹. (Arendt 1960: 272)

Arendt argumentiert an dieser Stelle gegen den modernen Konformismus der Massengesellschaft, der unter Gleichheit den Prozess des Gleichmachens versteht und versucht, die Differenzen zwischen den Menschen zu nivellieren (vgl. Althaus 2000: 310). Dagegen manifestiere sich das Faktum menschlicher Pluralität auf zweierlei Art, als Gleichheit und Verschiedenheit (vgl. Arendt 1960: 213). Deshalb kann es auch keine Natur oder »Idee« des Menschen geben, denn dieser Annahme liegt der Gedanke zugrunde, dass menschliche Pluralität als Resultat einer unendlich variierbaren Reproduktion eines Urmodells erscheint (vgl. ebd.: 17). Nach Arendt ist jeder Mensch einzigartig: »Im Menschen wird die Besonderheit, die er mit allem Seienden teilt, und die Verschiedenheit, die er mit allem Lebendigen teilt, zur Einzigartigkeit, und menschliche Pluralität ist eine Vielheit, die die paradoxe Eigenschaft hat, daß jedes ihrer Glieder in seiner Art einzigartig ist« (ebd.: 214). Diese paradoxe Kombination aus Gleichheit und Verschiedenheit, die die Menschen auszeichnet, verweist auf die menschliche Angewiesenheit, sich auszudrücken, um verstanden zu werden. Einerseits gäbe es ohne Gleichheit keine Verständigung unter Lebenden und andererseits bedürfte es ohne Verschiedenheit weder der Sprache noch des Handelns für eine Verständigung (vgl. ebd.: 213). Ein Mensch, der des Sprechens und Handelns beraubt ist, ist in Arendts Augen dem Tod näher als dem Leben:

Ein Leben ohne alles Sprechen und Handeln […] wäre buchstäblich kein Leben mehr, sondern ein in die Länge eines Menschenlebens gezogenes Sterben; es würde nicht mehr in der Welt unter Menschen erscheinen, sondern nur als ein Dahinschwindendes sich überhaupt bemerkbar machen; wir wüßten von ihm nicht mehr als wir, die Lebenden, von denen wissen, die in den Tod schwinden, den wir nicht kennen. (Ebd.: 215)

Der öffentliche Raum, der den Menschen als »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten« (vgl. ebd.: 222 ff.) eine gemeinsame Lebenswelt eröffnet, ist aus Taten und Worten entstanden, die – und das ist entscheidend – in Form von Geschichten tradiert wurden. Damit verweist Arendt auf einen wesentlichen Bestandteil ihres Denkens, da der narrativen Strukturierung von Erfahrung – und damit auch von Erinnerung – eine wichtige Funktion für das Zusammenleben im öffentlichen Raum zukommt. Das eigentliche Produkt des Handelns wie des Sprechens besteht nämlich nicht in der Realisierung vorgefasster Ziele und Zwecke; es besteht vielmehr aus den von ihm gar nicht intendierten Geschichten (vgl. ebd.: 226). Die Geschichten, die aus den menschlichen Tätigkeiten hervorgegangen sind, sind für den Handelnden selbst erst einmal nur Nebenprodukte seines Tuns, sie bilden zugleich aber auch den Zwischenraum, in dem sich Menschen bewegen und ihren weltlich-objektiven Interessen nachgehen: »Diese Interessen sind im ursprünglichen Wortsinne das, was ›inter-est‹, was dazwischen liegt und die Bezüge herstellt, die Menschen miteinander verbinden und zugleich voneinander scheiden« (ebd.: 224). Das »old-fashioned story-telling« (Arendt 1962: 10), das auch Arendts eigene ›Methode‹ des Nachdenkens ist, bietet den Vorteil, in der gemeinsamen, pluralen Welt eine Sprache finden zu können, die es ermöglicht, verschiedene Sichtweisen nebeneinander bestehen zu lassen ohne diese in eine hierarchische Ordnung zu überführen. Sie lassen zudem verschiedene Interpretationen zu, wie Arendt in Anlehnung an Isak Dinesen betont: »Es ist wahr: Das Geschichtenerzählen enthält den Sinn, ohne den Fehler zu begehen, ihn zu benennen […]« (Arendt 1989b: 119). Arendts Ausführungen über die Pluralität der menschlichen Lebensformen sind Ausdruck ihrer Überzeugung, dass es für das Zusammenleben in einer Gemeinschaft wichtig ist, die Alterität der Menschen bestehen zu lassen. Sie verweisen zugleich auch darauf, dass jeder Mensch in seiner Einmaligkeit als Fremder in der Welt erscheint, dass er die Welt, in die er wie jeder andere Mensch als ein Fremder hineingeboren wird, erst zu seiner und der seiner Mitmenschen machen muss. Dieses Schicksal teilen alle Menschen und sie können es auch nur gemeinsam aufheben, indem sie die Erde zu ihrem Raum machen: »Das bloße Benennen von Dingen, die Schaffung von Wörtern, ist die menschliche Art der Aneignung und gewissermaßen der Aufhebung der Entfremdung von der Welt, in die ja jeder als Neuling und Fremder hineingeboren wird« (Arendt 1979: 104f.). Einen Platz in der gemeinsamen Welt zu finden heißt somit, den öffentlichen Raum als gemeinsames »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten« durch den Modus des Gesprächs zu etablieren. Dieser Modus ergibt nur dann Sinn, wenn die Gesprächspartner Freunde sind, die sich in ihrer Verschiedenheit respektieren und versuchen, die Perspektive des jeweils Anderen zu verstehen – das ist es, was Politik im Kern ausmacht:

Verstehen in der Politik heisst nie, den Anderen verstehen (nur die welt-lose Liebe ›versteht‹ den Anderen), sondern die gemeinsame Welt so, wie sie dem Anderen erscheint. Wenn es eine Tugend (Weisheit) des Staatsmanns gibt, so ist es die Fähigkeit, alle Seiten einer Sache zu sehen, d.h. sie so zu sehen, wie sie allen Beteiligten erscheint. (Arendt 2002a: 451)

Diese Menschlichkeit, die sich in der gegenseitigen Verständigung und in den Versuchen zeigt, die jeweils andere Sicht zu verstehen, verwirklicht sich in den Gesprächen der Freundschaft, die die Griechen ›philanthropia‹ nannten, eine ›Liebe zu den Menschen‹. Sie erweist sich darin, dass man bereit ist, die Welt mit den Freunden zu teilen, im Denken wie im Leben (vgl. Arendt 1989a: 35).

III.

Wenn Hannah Arendt betont, dass es ihr nicht darum gehe, ›den Anderen zu verstehen‹, sondern ›die gemeinsame Welt, so wie sie dem Anderen erscheint‹, dann verweist sie darauf, dass die Andersartigkeit des zu Verstehenden nicht angetastet werden soll. Zentrale Bedeutung in ihrem Denken hat das Gespräch (der innere Dialog wie das gesprochene Wort), das stets zum Austausch der jeweiligen Perspektiven anregt, ohne einen Konsens erreichen zu wollen, da jeder Gesprächsabschluss das Gespräch selber verstummen lassen würde und es damit um die Weltlichkeit der Welt und das (Zusammen-)Leben der Menschen geschehen wäre. Im Gespräch artikuliert sich ein Interesse am Anderen, der zugleich Mitstifter der gemeinsamen Welt ist. Die gemeinsame Lebenswelt entsteht aus einem Gewebe, das durch das ständige Besprechen der pluralen Perspektiven und das gemeinsame Handeln dasjenige zum Ausdruck bringt, was Wierlacher als »Verständigungsgemeinschaft« bzw. »Gemeinschaftshandeln« (Wierlacher 1990: 60 bzw. 69) bezeichnet: Man ist bereit, das Wort und die Welt zu teilen. Dies ist nicht nur ein Modus des gemeinsamen Verstehens, sondern die Grundlage des Lebens überhaupt. Indem Arendt über das bloße Besprechen der Dinge hinaus auf die Bedeutung des Geschichtenerzählens für die Etablierung des »Bezugsgewebes menschlicher Angelegenheiten« verweist, geht sie aber noch einen Schritt weiter. Die narrative Konstitution des ›Bezugsgewebes‹ eröffnet erst das, woran ›klassische‹ hermeneutische Positionen oft versagen: die Möglichkeit, verschiedene Sichtweisen nebeneinander bestehen zu lassen und diese qua Einbildungskraft besuchen zu können, ohne sie miteinander versöhnen zu wollen. Gadamer selber betont einen ganz ähnlichen Anspruch, wenn er auf Derrida bezugnehmend konstatiert:

Jedes Lesen, das zu verstehen sucht, ist nur ein Schritt auf dem nie zu einem Ende führenden Wege. Wer diesen Weg geht, weiß, daß er mit seinem Text nie ›fertig wird‹; er nimmt den Stoß an. […] Man gibt sich auf, um sich zu finden. Ich glaube mich gar nicht so fern von Derrida, wenn ich unterstreiche, daß man nicht vorher weiß, als was man sich findet. (Gadamer 1984: 61)8

Arendts Überlegungen bezüglich der Pluralität der Lebensformen und der grundsätzlichen Verschiedenheit allen Daseins sind mehr als eine bloße Hermeneutik in nuce. Sie sind Ausdruck ihres Verständnisses davon, was Menschen zu Menschen macht und auf welchen Grundlagen die Erde zur Lebenswelt der Menschen werden kann. Sie lassen sich dennoch fruchtbar machen für eine Verstehenslehre, die Interesse am Anderen bekundet, diesen aber nicht im Eigenen aufgehen lassen will und stattdessen auf den Austausch von Geschichten – fiktiven wie den eigenen Lebensgeschichten – setzt. Dies ist nur möglich, indem der Anspruch eines kohärenten Wahrheitsbegriffs zugunsten der Pluralität der Meinungen aufgehoben wird und begonnen wird, an ununterbrochenen Dialogen über die gemeinsame Lebenswelt teilzuhaben.

Nun könnte man – wie es Derrida in seiner Replik auf Gadamer getan hat – einwenden, dass dem Dialog immer ein ›Guter Wille zur Macht‹ vorausgehen muss und damit stets Bedingungen an Kommunikation geknüpft sind, die schon im Voraus jedwede Alterität zumindest ein Stück weit aufheben. Arendts Theorie kann vor diesem Hintergrund vorgeworfen werden, dass sie eine sehr limitierende Vorstellung von Gemeinschaft vor Augen hat, wenn sie die griechische Polis als Idealvorstellung des öffentlichen Raums – und damit des Gesprächs – vorstellt. Doch darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, dass der Modus der Freundschaft zwar Bedingung des Gesprächs ist, das ›Gespräch unter Freunden‹ aber gleichsam selber auf einer Voraussetzung beruht, die bedingungslos und für jedermann gültig ist, da es vom Gemeinsinn, dem Sensus communis, getragen wird (vgl. Arendt 1985: 94). In Anlehnung an Kant versteht Arendt unter dem Sensus communis

die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d.i. eines Beurteilungsvermögens […], welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten […]. Dieses geschieht nun dadurch, daß man sein Urteil an anderer nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile hält und sich in die Stelle jedes andern versetzt […]. (Kant 2006: B 157)

Indem man versucht, sich in andere Standpunkte zu versetzen, kann ein gewisser Grad an »Unparteilichkeit«, eine Abstrahierung der eigenen Perspektive erreicht werden (vgl. Arendt 1985: 60). Diese Distanz ist Voraussetzung für den Dialog: »[M]an kann nur dann kommunizieren, wenn man fähig ist, vom Standpunkt einer anderen Person aus zu denken; andernfalls wird man sie niemals erreichen, niemals so sprechen, daß sie einen versteht« (ebd.: 98). Zentral für Arendts Argumentation ist, dass der Sensus communis – wie auch Kant in der Kritik der Urteilskraft betont – nicht erworben werden kann, sondern a priori vorhanden ist. Er ist jener allen Menschen gemeinsame Sinn, der »selbst unter den Bedingungen einer völligen Trennung von Welt und Erfahrung funktioniert und eindeutig ›in‹ uns, ohne Bindung an ›Gegebenes‹ ist […]« (Arendt 1994c: 121). Verständigung und Verstehen hängen in Arendts Theorie also nicht davon ab, ob die Gesprächspartner von vornherein durch ein voraussetzungsreiches Freundschaftsmodell aufeinander eingestellt sind. Es muss vielmehr ein Verbindungsglied gefunden werden, das die verschiedenen Perspektiven so miteinander verschaltet, dass diese zwar in ihrer Individualität bestehen bleiben, dennoch aber miteinander in Beziehung und damit in ein Gespräch – imaginativ oder real – treten können. Mit Blick auf das Urteilen bestimmt Arendt diese Verbindung folgendermaßen:

Ich kann nicht eine Besonderheit mittels einer anderen beurteilen; um ihren Wert zu bestimmen, brauche ich ein tertium quid oder ein tertium comparationis – etwas, das zu den beiden Besonderheiten in Beziehung steht und doch von ihnen verschieden ist (Arendt 1985: 101).

Dieses dritte Element ist der allen Menschen von Geburt an eigene Sensus communis, durch den das subjektive Urteil mit der vorgestellten Position der Anderen in Beziehung gesetzt wird. Der große Vorteil der Distanz, die mit Hilfe der Einbildungskraft geschaffen werden kann, indem das sinnlich Wahrgenommene so abstrahiert wird, dass es ein Gegenstand des Denkens wird, ist, dass der Betrachter zu einem interesselosen Beobachter werden kann und nun kein subjektives Urteil, sondern ein allgemeingültiges Geschmacksurteil fällen kann. Deshalb kann der Geschmack auch, wie Kant betont, »mit mehrerem Rechte sensus communis genannt werden«; er ist jenes Beurteilungsvermögen, das »unser Gefühl an einer gegebenen Vorstellung ohne Vermittlung eines Begriffs allgemein mitteilbar macht« (Kant 2006: B 160). »Im Geschmack« also, so bringt es Arendt auf den Punkt, »ist der Egoismus überwunden«, da ich von meiner subjektiven Perspektive abstrahiere und im Anbetracht der Allgemeinheit urteile (Arendt 1985: 91).

Arendt bindet damit ihre Überlegungen bezüglich der Alterität der Perspektiven an ein ästhetischen Modell von Intersubjektivität rück und verschafft so der Kommunikation Grundlagen, die unabhängig von jeder Erfahrung – und damit kultureller Differenz – den Dialog ermöglichen und ihm vorausgehen.

Anmerkungen

1 So betont u.a. Andreas Vasilache (2003: 62 ff.), dass »die Gadamersche Horizontmetaphorik nicht von festen Horizonten und Standpunkten ausgeht und folglich nicht zwischen einem statischen eigenen und einem ebenso statischen fremden Horizont unterscheidet. Vielmehr betont Gadamer die ständige Vermittlung und gegenseitige Bedingung zwischen eigenem und fremdem Horizont. […] Auch im Hinblick auf die Horizontverschmelzung gilt die prinzipielle Unabschließbarkeit und die prinzipielle Beweglichkeit des Horizontes, so daß Gadamers Begriff der Horizontverschmelzung letztlich zu weitgehend ist, da es sich konzeptionell nur um die Annäherung, nicht die Verschmelzung von eigenem und fremdem Horizont handelt. Da Gadamer den ›wahre(n) Ort der Hermeneutik‹ in der ›Stellung zwischen Fremdheit und Vertrautheit‹ verortet, ist der Vorwurf der Überwindung von Fremdheit nicht gerechtfertigt. […] Ein weiterer Grund, der gegen den Vorwurf der Überwindung von Fremdheit spricht, ist in der bereits erwähnten Unabschließbarkeit der Interpretation zu sehen.« Vgl. dazu auch Hofer 1998. Gadamer selbst betont dies u.a. in seiner Auseinandersetzung mit Derrida (vgl. Gadamer 1984: 61 ff.).

2 Georg Mein (2010) betont darüber hinaus die viel grundlegendere Problematik der Sprachlichkeit jedes Verstehensversuches, die per se die Frage stellen lässt, ob Verstehen überhaupt ohne jegliche Aneignungstendenzen möglich ist. Auch Wierlachers Konzept ist diesem Problem verhaftet, da selbst das von ihm geforderte »Vertrautwerden in der Distanz« nicht ohne eine sprachliche Verständigung auskommt.

3 Zum Dialog der Freundschaft bei Hannah Arendt vgl. auch Mein 2011: 127-145.

4 Auch wenn es natürlich problematisch ist, davon zu sprechen, dass Heidegger einer jener Menschen war, der Arendt in finsteren Zeiten beistand, ist er zumindest einer ihrer großen Lehrer gewesen, bei dem sie nach eigenen Angaben das Denken lernte und dessen Nähe sie zeitlebens (wenn auch mit Unterbrechungen) gesucht hatte (vgl. Arendt 1989c: 169).

5 Vgl. Kristeva 1990. Man könnte Kristevas Theorie als psychoanalytische Auslegung des Arendtschen Gedankens lesen.

6 Vgl. zum Begriff der Pluralität bei Hannah Arendt u.a. Breier 2007; Gutschker 2002; Jaeggi 1997; Bösch 1999; Greven 1993.

7 Vgl. dazu die Parallelen zwischen Arendt und Bernhard Waldenfels: »Die Situation ändert sich, wenn zu Beginn der Neuzeit die große Gesamtordnung zersplittert, wenn die ›Kette des Seins‹, die einstmals alles mit allem verknüpfte, zerreißt und wenn das Subjekt, in dem die Gesamtordnung ihr Zentrum und ihren Gipfelpunkt zu finden schien, allmählich aus dem Zentrum rückt. Diese Zersplitterung der Vernunft und diese Dezentrierung des Subjekts gehören zu den Abenteuern der westlichen Moderne. […] doch erst im 18. und 19. und vollends im 20. Jahrhundert dringt das Fremde ausdrücklich und unwiderruflich in den Kern der Vernunft und in den Kern des Eigenen ein. Die Herausforderung durch ein radikal Fremdes, mit der wir uns konfrontiert sehen, bedeutet, daß es keine Welt gibt, in der wir völlig heimisch sind, und daß es kein Subjekt gibt, das Herr im eigenen Hause wäre.« (Waldenfels 1997: 17)

8 In seinem Nachruf in der FAZ stimmt Derrida (2002) Gadamers Einschätzung nach dessen Tod zu, wenn er seinem Cicerone zugesteht: »Wie recht er hatte, damals und heute noch!«

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