In the last decade, colonial and postcolonial topics, as well as questions of multi-cultural change, have been discussed frequently in the public sphere in Switzerland. For contemporary Swiss authors, questions of otherness and of colonial violence are an important concern. Along with Martin R. Deans Meine Väter and Lukas Bärfuss’ Hundert Tage, Lukas Hartmanns Bis ans Ende der Meere is a significant example for the new postcolonial agenda in Swiss Literature. Hartmann’s protagonist is a fellow traveller of Captain Cooks second expedition to the South Sea; and his reports, as staged within Hartmann’s novel, give an impressive testimony of the predicaments of encounter in colonial situations.
»Als Schweizer«, so glaubt der Mitarbeiter einer Entwicklungshilfe-Organisation in Kigali, Ruanda, »habe ich mit dem Kolonialismus nichts zu tun« (Bärfuss 2008: 126). Mit diesem Ausspruch und der dahinterstehenden Haltung, die Lukas Bärfuss dem Protagonisten seines Romans Hundert Tage zuschreibt, trifft der Autor den Nagel auf den Kopf. Kaum eine Nation ist der kolonialisierenden Machtausübung so unverdächtig, kaum eine genießt ein traditionell so stark auf humanitäre Zielsetzungen ausgerichtetes Image wie diejenige, deren Vertreter unter der Flagge des weißen Kreuzes auf rotem Grund agieren. Warum dann überhaupt die heikle Präsenz vor Ort, in einem Krisengebiet? Um großzügig und aus überlegener Position den Benachteiligten, Notleidenden, Kriegs- und Gewaltopfern zu helfen, natürlich. Aber auch, um im gleichen Zug auf »unzuständig« plädieren zu können, wenn die aus der kolonialen Vergangenheit herrührenden, nur mühsam zurückgedrängten Konfliktherde zerstörerisch wieder aufflammen.
Schaut man sich aber das Umfeld an, in dem der junge Mann agiert, um den es in Bärfuss’ Roman geht, vergegenwärtigt man sich zudem die geschilderte Arbeitsweise der Schweizer Kollegen und ihr hierarchisches Verhältnis zu den afrikanischen Mitarbeitern, Helfern und Domestiken, betrachtet man schließlich die in sich widersprüchliche und aggressive sexuelle Beziehung zwischen dem Schweizer Mann und seiner ruandischen Geliebten, dann wiegt dieses ›nichts‹, mit dem der Protagonist die Frage nach dem Kolonialismus abtut, auf einmal viel schwerer. Der Kontext nämlich, in dem die eingangs zitierte, abwimmelnde Bemerkung fällt, ist durch einen Streit des Schweizer Entwicklungshelfers mit seiner ruandischen Geliebten gekennzeichnet. Sie wirft ihm vor, sie in Kolonialherrenmanier beherrschen und über sie verfügen zu wollen. Er seinerseits fühlt sich von ihr abhängig wie von einer schlechten Droge, und lässt sie das büßen. Es geht um persönliche Verletzungen, aber auch um eine Art von politischer Allegorie. Bärfuss skizziert in dieser Handlungslinie eine Dynamik fatal sich aufschaukelnder Schadens-Lust zweier, die voneinander nicht mehr los kommen (ebd.). Politisch motivierte, kulturelle und sexuelle Gewalt: Sie überlagern sich auf ein und demselben Schauplatz in einer gespenstischen Szenerie des Abschlachtens, die in der europäischen Nachrichtenlage nur als fanatisierter, ›innerafrikanischer‹ Genozid dargestellt und wahrgenommen wurde (Buch 2001).1 Bärfuss bietet einen ganz anderen Zugang; er nutzt die Chance, als Schweizer den vordergründigen Blick auf ein ›Stammesgemetzel‹ zu durchleuchten auf dessen koloniale Hintergründe und damit die Frage nach unserer europäischen Komplizenschaft mit dem Völkermord (und allem, was ihm vorausging) aufzuwerfen.
Involviertheit, Komplizenschaft, Schuld: Sie fühlbar zu machen, ist eine der Kernaufgaben von Literatur. Im Modus des Erzählens zeigt sich, wie es ist, die Distanz zu verlieren, keinerlei Sicherheitsabstand zu haben. Wie kommt es, dass internationale und zumal außereuropäische Schauplätze in der Deutschschweizer Gegenwartsliteratur eine so prominente Rolle spielen? Wenn Bärfuss und andere Autoren und Autorinnen darauf insistieren, sich aus Schweizer Perspektive mit Ruanda, dem Iran, Trinidad, Thailand oder Indien zu befassen, dann markiert diese Themenwahl mehr als nur einen exotischen Tick, es geht ganz offensichtlich um ein demonstratives »Interesse«, ganz wörtlich also um das Zeigen (und Bezeugen) eines Mitten-drin-Seins.
Die gegenwärtige Literatur der deutschsprachigen Schweiz hat, das ist offenkundig, die Themenfelder von Migration und Multikulturalität als Aufgabe erzählerischer Gestaltung für sich entdeckt. Allein schon an der Preisträgerreihe des 2008 erstmals vergebenen Schweizer Buchpreises lässt sich dies prägnant belegen. Auf Rolf Lapperts Roman Nach Hause schwimmen (München 2008), der eine aus den Elementen Irland, Schweden und Nordamerika zusammengesetzte Patchwork-Problemjugend entfaltet, folgten 2009 Ilma Rakusas unter dem Titel Mehr Meer (Wien 2009) vorgelegte autobiografische »Erinnerungspassagen«, die unter anderem slowenischen, slowakischen und ungarischen Spuren nachgehen und zugleich den Blick auf internationale Drehscheiben-Städte wie Triest, Petersburg, Paris und Zürich richten. Im Jahr 2010 schließlich gelang Melinda Nadj Abonji mit Tauben fliegen auf (Salzburg/Wien 2010) ein enormer Erfolg bei Publikum und Kritikern; der Roman erzählt von den kulturellen und politischen Verwerfungen, mit denen sich eine Familie aus der ungarischen Minderheit im Norden Serbiens konfrontiert sieht, und demonstriert, dass sich diese Konfliktlinien auch durch das neue Leben in der Schweiz noch längst nicht ›erledigt‹ haben.
Aber auch bereits etwas länger zurückliegende Buchtitel gehören zu dieser Themenlinie, wie beispielsweise Ruth Schweikerts Ohio, ein Familienroman, der Lebensläufe unter anderem aus Ostdeutschland, aus Italien und der Schweiz miteinander verknüpft und bis nach Südafrika und eben zu dem imaginären Fluchtpunkt Ohio weiterführt. Seit den 1970er Jahren schon folgten die Romane und essayistischen Betrachtungen Hugo Lötschers, der regelmässig längere Auslandsaufenthalte in den USA, in Lateinamerika und in Südostasien verbrachte, ganz explizit einem geradezu weltumspannenden Programm des kulturellen Austauschs und der Relativierung ideologischer Geltungsansprüche von Ethnien, Kulturen oder Nationen. Von einem kolonialkritischen Ausgangspunkt her hatte sich Lötscher mit zeitgeschichtlichen Betrachtungen u.a. zu Cuba (Zehn Jahre Fidel Castro, 1969) und zu Brasilien (Wunderwelt, 1979) zu Wort gemeldet; außerdem mit dem Globalisierungsroman Die Augen des Mandarin (1999) und dem auf die interkulturelle Schweiz zielenden Essayband Der Waschküchenschlüssel (1988/1998) mit teilweise schon länger zurückreichenden kleineren Prosaarbeiten. Und es wären etliche weitere Autoren wenigstens zu erwähnen. Peter Stamm etwa, der seine kammerspielartigen Erzählwelten gelegentlich in Paris, aber auch in den USA oder in den arktischen Breiten Nordeuropas ansiedelte, oder Christian Krachts Prosa, die aus einem fiktionalisierten Iran der islamischen Revolution und aus dem Fernen Osten berichtet.
In der aktuellen Literatur aus der deutschsprachigen Schweiz sind es neben Bärfuss vor allem Martin Dean und Lukas Hartmann, die in Schreibweise und kultureller Haltung eine Auseinandersetzung mit kolonialer Schuld aus der Perspektive postkolonialer Aufbrüche verfolgen. Lukas Hartmann (geb. 1944), Martin Dean (geb. 1955) und Lukas Bärfuss (1971): drei Autoren, die unterschiedlichen Generationen angehören und sich in verschiedenen literarischen Gattungen betätigen. Lukas Bärfuss ist vor seinem Ruanda-Roman mit Theaterstücken bekannt geworden; Hundert Tage ist sein erstes größeres Erzählwerk und ein Solitär auch insofern, als der Text sich auf einen prekären außereuropäischen Schauplatz begibt und auf das schwierige Thema eines afrikanischen Genozids einlässt. Bärfuss rückt besonders nahe an die Zeitgeschichte heran, indem er den Genozid in Ruanda vom Frühjahr 1994 als Geschehens-›Hintergrund‹ des persönlichen Dramas eines Schweizer Entwicklungshelfers in Szene setzt. Doch auch hier mangelt es nicht an Hinweisen darauf, dass in der grauenhaften Gewalt-Ekstase letztlich Fehlentwicklungen zum Ausbruch kommen, die auf koloniale Machtstrukturen und einseitig begünstigte Herrschaftseliten zurückgehen. – Martin Dean hat seit Anfang der 1990er Jahre eine Reihe von Romanen und Erzählungen vorgelegt, die atmosphärisch stimmige Schilderungen von (meist intellektuell geprägten) Lebensmilieus bieten und insofern ›realistisch‹ lesbar sind, dann aber wiederum sich häufig mit ironischen und fantastischen Verfremdungen durchsetzt zeigen, die eine nur inhaltsbezogene Lektüre irritieren. Martin Deans Meine Väter, 2003 erschienen, nimmt vom Gegenwartspunkt eines zeitgenössischen Schweizer Intellektuellen aus die koloniale Vergangenheit der Karibikinsel Trinidad in den Blick und interessiert sich dabei besonders für die indischen Einwanderer des 19. Jahrhunderts.2
Wenn ich mich in den hier vorgetragenen Überlegungen auf Lukas Hartmann und seinen 2009 vorgelegten, beim Publikum höchst erfolgreichen Roman Bis ans Ende der Meere beschränke, so deshalb, weil seine Erzählkonstruktion in diesem Feld am stärksten in die Geschichte der kolonialen Weltaneignung und der Globalisierungsphänomene des Zeitalters der Aufklärung zurückreicht. Lukas Hartmann ist sowohl als Kinderbuchautor wie als Verfasser von fiktionaler Prosa für Erwachsene und als Essayist bekannt. Er hat vielfältige Reise- und Auslandserfahrungen und arbeitete als Zeitungs- und Radiojournalist. Kennzeichnend für zumindest einige seiner Romane ist, dass sie auf tatsächliche Ereignisse und reale Vorbilder zurückgehen und mithilfe von genau recherchierten historischen und biografischen Quellen entstanden sind. Auch für seine Annäherung an die dritte Cooksche Pazifik-Exkursion und die Gestalt des an dieser Weltumseglung beteiligten Landschafts- und Porträtmalers John Webber, eines Londoner Künstlers mit Schweizer Wurzeln, nutzt Hartmann das Verfahren der auf geschichtlicher Quellenrecherche basierten historischen Fiktion.
Hartmanns Roman dieser epochal bedeutsamen Pazifik-Durchquerung ist indes keineswegs historisierend angelegt; vielmehr schreibt er sich ein in ein gegenwärtiges politisch-theoretisches Diskursfeld, welches sich schlagwortartig durch den Begriff des Postkolonialen umreißen lässt (Mar Castro-Varela/Shawan 2005). Die analytische Prämisse hinter dem Begriff ist etwa folgendermaßen zu umschreiben: »Post«, also nach dem Kolonialismus, erweisen sich in den ehemals als Kolonialbesitz von europäischen Nationen annektierten Kulturräumen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen noch derart stark von Kolonialgeschichte determiniert, dass von dieser Prägung nicht abgesehen werden kann und darf, erst recht nicht, wenn es um das Verhältnis zwischen diesen Gebieten und den ihnen ehemals übergeordneten Metropolen und Leitkulturen geht. Sämtliche kulturellen Hervorbringungen, auch und gerade diejenigen der einstigen kolonialen Protagonisten, sind retrospektiv auf die ihnen inhärenten Herrschafts- und Ungleichheits-Komponenten hin analytisch zu befragen und in deren Licht kritisch neu zu bewerten.
Wie die genannten Texte von Bärfuss und Dean, oder zuvor schon manche von Hugo Lötscher, betreibt Hartmann sein Schreibhandwerk nicht nur poetisch reflektiert, sondern mit einer dezidiert politischen Ausrichtung. Sein Roman nimmt auf Phänomene Bezug, die sowohl eine klare kolonialgeschichtliche Dimension als auch eine direkte Beteiligung von Schweizer Figuren aufweisen. In diesem jeweils ganz demonstrativ aufgestellten Konnex von Schweizer Lebenswelt und (post-)kolonialer Perspektive ist ein klares Statement zu sehen. Es besagt: Wie entfernt die beschriebenen Handlungen und Ereignisse auch von der Schweizer Lebens- und Lesewelt zu liegen scheinen – es ist zugleich die Geschichte der gegenwärtigen kulturellen Verhältnisse der Schweiz, die sich von dort und von damals her fortschreibt und die deshalb hier und heute zu erzählen ist.
Von Cook sprach die ganze Londoner Gesellschaft, sein Ruhm nahm ständig noch zu. Er galt als großer Navigator, als Entdecker, der den wilden Stämmen im Pazifik die Errungenschaften der Zivilisation brachte, als Kartograph, der die weißen Flächen der Erdkugel vermaß und sie dem Schutz der englischen Krone unterstellte. Das Gerücht ging um, der große Cook plane eine dritte Reise, die Admiralität werde ihn beauftragen, zum Südpol oder Nordpol vorzustoßen. (Hartmann 2009: 48)
Fast nichts scheint ihm unmöglich, dem großen Seefahrer und Entdecker, der mit seinen kühnen Exkursionen die Grenzen der Reichweite Englands immens ausgedehnt und über den ganzen Erdball erweitert hatte. Lukas Hartmann blendet sich mit seinem Roman mitten in ein bereits laufendes Experiment ein. In dieser Versuchsreihe, bei der zum hier gewählten Einstiegszeitpunkt bereits zwei mehrjährige Weltreisen vollbracht sind, eine dritte offenbar kurz bevorsteht, geht es darum, mit zu vollziehen, wie der Erdball als Schauplatz im Gleichklang mit dem über ihn erworbenen Wissen seine Gestalt verändert.
Cooks Erkundungsreisen nehmen, indem sie die Erde umspannen, deren besitzergreifende Vermessung vor; aus der besitzergreifenden Raumerkundung wiederum folgt die militärische Machtdemonstration und schließlich die Etablierung von dauerhaften, ökonomisch und politisch konsolidierten Herrschaftsstrukturen; kurzum: die Festigung kolonialer Verhältnisse. Sieht man von Kolumbus ab, der längst zum Mythos gewordenen Leitgestalt des ersten Entdeckungszeitalters, so hat kein einzelner Seefahrer die europäischen Vorstellungen überseeischer Welten und das Rollenmodell des Forschungs- und Entdeckungsreisenden so nachhaltig geprägt wie James Cook (1728-1778).3 Die hohe Konjunktur der Weltumseglungen und Pazifikfahrten, zu der im 18. Jahrhundert neben Cook u.a. auch die Unternehmungen Ansons, Wallis’ und Bougainvilles beitrugen, gewann ihre folgenreiche Wirkung wesentlich durch die Konsequenz und Systematik, mit der Cook im Auftrag der britischen Admiralität seine Erkundungsreisen plante, organisierte und durchführte.
Der Pazifik wurde in den 1770er Jahren zum Schwerpunkt europäischer Explorationsbestrebungen;4 dass Cook schon ein Jahr nach seiner Rückkehr aus der Südsee ein zweites Mal auf Weltreise geschickt wurde, ist ein Indiz dafür, wie stark sich nicht nur die wissenschaftlichen Aktivitäten, sondern auch die strategischen Erwägungen Englands und anderer Nationen auf den pazifischen Raum richteten. Mit der immensen Resonanz der zweiten Weltumseglung waren James Cook und die von ihm personifizierte Erkundung der pazifischen Seite des Erdballs zu einem epochalen Großereignis geworden. Die drei Weltreisen des James Cook und seiner Schiffsbesatzungen sind nicht im engeren Sinne als Bestandteil einer militärischen oder politischen Kolonialmission zu bewerten (Kaeppler 2009). Doch trugen sie erheblich dazu bei, die Präsenz und die Operationsmöglichkeiten europäischer Staaten und Unternehmungen im pazifischen Raum zu verstärken. Die Erweiterung von Wissensbeständen umfasste von der Nautik, der Geografie und Hydrologie ausgehend über Botanik und Zoologie nahezu alle Bereiche naturkundlicher Phänomene, bis hin zu Meteorologie und Astronomie. Hinzu kamen eine Vielzahl von ethnografischen Begegnungen und sozialen Kontakten, insbesondere mit den Einwohnern Neuseelands und der pazifischen Inselgruppen um Tahiti und (erst bei der dritten Cook-Reise) Hawaii. Schon die genauere kartografische Exploration von Küstenverläufen (um Afrika herum, an der Südspitze Südamerikas, in den Meeresstraßen Südostasiens) war eine gewaltige Leistung der Cookschen Expeditionen. Zudem hatte jede der drei Weltumseglungen noch mindestens einen speziellen, gezielten Auftrag erhalten: Bei der ersten Reise waren dies astronomische Beobachtungen, bei der zweiten ging es um die Klärung der Landmassen-Verteilung auf der Südhalbkugel und die Widerlegung des Mythos von der Existenz einer »terra australis«. Bei der dritten Expedition schließlich stand die Suche nach der »Nordwestpassage« im Vordergrund, nach einer möglichst ganzjährig schiffbaren Seeverbindung zwischen Atlantik und Pazifik, die nordwestlich am nordamerikanischen Kontinent vorbeiführen sollte.
Mit jeder der Reisen wurden die apparative Ausrüstung und Verproviantierung, der wissenschaftlich-technische Expertenbeistand und die Vorgehensweise bei der Erkundungsreise auf Basis bereits gewonnener Erfahrungen weiterentwickelt. Bereits die erste Exkursion hatte aufwendige optische Präzisionsinstrumente an Bord; für die Forschungsaktivitäten waren namhafte Wissenschaftler und Künstler angeheuert worden. Unter der Leitung von Joseph Banks (Gascoigne 1998), dem nachmaligen Präsidenten der Royal Society, waren der Botaniker Daniel Solander, der naturkundliche Grafiker Sydney Parkinson und ein weiterer Landschafts- und Porträtzeichner damit betraut, unterwegs und vor allem bei den Landerkundungen empirische Beobachtungen anzustellen und zu dokumentieren. Auf der zweiten Reise übernahm der Landschaftsmaler William Hodges diese Funktion (Guest 2007), unterstützt von Reinhold und Georg Forster (Vater und Sohn), die nach der Rückkehr von der Anfertigung des lukrativen offiziellen Dokumentationswerkes ausgeschlossen wurden. Zur verlässlichen Längengrad-Bestimmung in den Weiten des Pazifiks hatte die Expedition eine Replik des Harrison-Chronometers mitgeführt, eines besonders ganggenau arbeitenden Uhrwerks (Sobel 1996; Despoix 2005: 49). Als schwimmende »Aufschreibesysteme« (Friedrich Kittler) trugen Cooks Schiffe nicht nur den Geist, sondern auch die Rechenoperationen der europäischen Aufklärung durch die Weltmeere.
Die allgemeine Anteilnahme an dem Cookschen Unternehmen war hoch, dementsprechend wuchs die Bedeutung der künstlerischen und wissenschaftlichen Dokumentation des unterwegs Geleisteten, die Mitwirkung an den Präsentationen und Publikationen wurde zu einem Privileg, fast schon zur Staatsaffäre. Wenn Lukas Hartmanns Roman ein erbittertes Tauziehen schildert, welches sich Auftraggeber und Maler um ästhetische Details (Licht, Farben, Figurenpositionen) auf der von Webber gemalten Sterbeszene Cooks lieferten, so ist die Vehemenz dieser Kontroverse, bei welcher der Künstler ein ums andere Mal nachgeben muss, keineswegs übertrieben. Ging es doch in der Tat darum, welches ›Bild‹ sich England, Europa und ›die Geschichte‹ von den Erkundungen, Begegnungen und Verhaltensweisen der auf vorgeschobenem Posten agierenden Reisenden machen würden. So dramatisch die Fahrten selbst auch verlaufen sein mochten, abgerechnet würde erst am Ende – in den Besprechungszimmern, auf den Kartentischen, in Bibliotheken und Ausstellungshallen. Und in dieser Hinsicht erwies sich John Webber, der eigentliche Protagonist in Hartmanns Roman, geradezu als eine Schlüsselfigur.
Für Cooks dritte Weltreise, über deren Zweck und Ziel im Vorfeld schon allerlei Gerüchte kursieren, wird ein junger Maler angeheuert, der eher durch Zufall mit der Welt der Seefahrt in Kontakt kommt; in Lukas Hartmanns Erzählgefüge bildet dieser Moment eine in ihrer unvorhersehbaren Wendung besonders reizvolle Episode. Bei einer Kunstausstellung in der Londoner Royal Academy, in der John Webber mit dreien seiner Gemälde vertreten ist (u.a. einem Porträt seines Bruders, des Bildhauers Henry Webber), steht der junge Künstler voller Bewunderung und Faszination vor einer dort ebenfalls ausgestellten pazifischen Landschaftsdarstellung von William Hodges. »Ihm war gelungen, wonach Webber vergeblich gestrebt hatte: das Licht gleichsam körperlich zu malen.« (Hartmann 2009: 48). Die fremdartige Inselszene und die Leuchtkraft der Farben ziehen den mit professionellem Auge geschulten Betrachter derart in ihren Bann, dass er aufzufallen beginnt und von einem anderen Besucher gezielt angesprochen wird. Wie sich herausstellt, handelt es sich um einen gewissen »Doktor Solander«, jenen Botaniker also, der als Mitarbeiter des inzwischen berühmten Joseph Banks die erste der Cookschen Weltumseglungen mitgemacht hatte. Mit einem kleinen, unauffälligen Regie-Kniff bringt Hartmann in dieser Szene Solander, Hodges und Webber, das bedeutet: die dokumentierenden Künstler aller drei Cook-Exkursionen, zu einer singulären Konstellation zusammen; wie drei Planeten stehen das Gemälde Hodges’, sein Betrachter und der Hinzutretende für einen kurzen Moment in einer Linie. Die Szene beweist, historisch gesehen, gar nichts, suggeriert aber doch eine Art von ästhetischem Übertragungseffekt. Von Solander wird dem überraschten Webber angetragen, bei der neuerlichen Reise als Maler mit dabei zu sein; nach kurzem Zögern lässt John Webber sich auf das Abenteuer ein. Schon bei der Wahl des seinerzeit noch kaum bekannten Hodges hatte die Admiralität auf jugendliche Belastbarkeit und künstlerischen Ehrgeiz gesetzt, und tut dies nun mit der Rekrutierung Webbers erneut (Psota 2009: 66). Dass dieser mitspielt und für drei Jahre bei ungewissem Ausgang alles hinter sich lässt, hat etwas mit seiner Vorgeschichte zu tun, mit Webbers exzentrischer Kindheit und Jugend, die ihn schon frühzeitig mit der Erfahrung vertraut machte, wie es sich anfühlt, in der Fremde zu sein.
Denn für den jungen Mann ist die Pazifikfahrt nicht der erste Aufbruch ins Unbekannte, bei dem er Familie, vertraute Umgebung und Heimat hinter sich lassen muss. Der 1751 in London geborene Webber ist das Kind eines aus der Schweiz stammenden Vaters und einer englischen Mutter. Der Vater, Abraham Wäber, war Bildhauer und seinerseits als junger Mann von Bern nach England ausgewandert, wo er die Namensanpassung von »Wäber« zu »Webber« vollzog. Von den insgesamt sechs Kindern wurde gerade dem Sohn John ein Reiseleben und eine gewisse Ruhelosigkeit schon frühzeitig eingepflanzt, als die Eltern ihn im zarten Alter von sechs Jahren zurück in die Schweiz schickten, zu »Tante Rosina«, der in Bern lebenden Schwester des Vaters. Ihr, die das weitgereiste Kind in Empfang nimmt, gilt er als »mein kleiner Johann« (Hartmann 2009: 23); der Junge vollzieht den spiegelverkehrten Namenstransfer zum Migrationsweg des Vaters. Die Unruhe, die den Maler noch nach seiner Rückkehr von der Südsee im eingebildeten Fortwirken der Meereswogen durchpulst, ist im Grunde nichts anderes als der Rhythmus jener Vehikel, mit denen der Knabe einst in die Welt hinauszog. Das »Rumpeln im Kutschenbauch« (Hartmann 2009: 20) der Postkutsche nach »Berne, Switzerland« ergreift den Jungen nicht weniger elementar und beängstigend als später die Schwankungen des umgebauten Kohlenschiffes auf rollender See. »Manchmal kam es ihm vor, als sei er auf dem Schiff, das zu den pazifischen Inseln segelte, in Wirklichkeit immer noch der kleine Junge gewesen, der bloß den Ärmelkanal überquerte.« (Ebd.: 18)
Etwas Fremderes als die Berner Altstadtgassen ist für den etwas verschreckten, aber tapferen Knaben nicht vorstellbar; das Omen einer exotischen Bestimmung, was sonst. »Er hört die Brunnen rauschen, an denen sie vorbeigehen, Brunnen mit farbig bemalten Figuren, größere, als der Vater sie macht, eine ist ein Menschenfresser, und aus dem Rauschen hört er alle Namen der Geschwister, als wären sie in der Brunnenstube unter dem Trog eingeschlossen« (Ebd.: 23f.). Der bekannte Chindlifrässer-Brunnen mit seinem Saturnus-Motiv erscheint als sinnfälliges Mahnmal dafür, dass der Schock des Primitiven überall lauern kann, da dieser sich nicht aus der objektiven Wildheit der ›Anderen‹, sondern aus der je subjektiven Erfahrung kultureller Differenz speist. Es ist dies John Webbers erste Erfahrung unter Wilden, und sie setzt ein kleines Verwirrspiel kannibalistischer Stereotype in Gang, das den europäisch herablassenden Blick auf die Südsee-Insulaner vorab schon in seiner Selbstgewissheit desavouiert.
Nach mühsamer Eingewöhnung und Schulzeit war der junge Webber bei dem Berner Landschaftsmaler und Koloristen Johann Ludwig Aberli in die Lehre gegangen, später folgte ein längerer Studienaufenthalt in Paris. Die große Chance bietet sich dem talentierten Maler mit dem Angebot der Admiralität, das er ohne langes Zögern annimmt. Eine vage Liebschaft hält ihn ebensowenig in London wie die ungewissen Erfolgsaussichten seiner angehenden Künstlerkarriere; eine Prise Abenteuerlust ist bei seiner Entscheidung unverkennbar mit am Werk. Sobald aber der Sprung in die abgeschottete Schiffsgemeinschaft vollzogen ist, sieht Webber dasjenige, was ihm bevorsteht, mit ganz anderen Augen. Die Welt an Bord ist rauh, die Sitten sind abstoßend; mehr noch als die anfängliche Seekrankheit machen Webber die rüden Verhaltensweisen zu schaffen, etwa das üble Demütigungsritual der sogenannten Äquatortaufe. Nach und nach lernt er, sich unter den Zynikern, den sadistischen oder einfach nur geilen Kerlen auf dem Schiff ein paar wenige Freunde zu suchen, denen er Vertrauen entgegenbringen kann.
Im Juli 1776 beginnt die Reise, die von Cook erneut eingesetzte HMS Resolution mit 112 Mann unter seinem eigenen Kommando und die HMS Discovery mit 68 Mann Besatzung unter Kapitän Charles Clerke stechen in See. Wie schon bei der zweiten Exkursion wird die pazifische Seite über den Indischen Ozean angesteuert, also in östlicher Richtung. Eine ›echte‹ Weltumseglung mit geschlossener Kreisfigur wird die Route diesmal allerdings nicht ergeben, auch nicht für jene, die – anders als der Kapitän und einige weitere unterwegs verstorbene Besatzungsmitglieder – den Ausgangshafen Plymouth im Jahr 1780 wieder erreichen. Teneriffa und die Kap-Region an der Südspitze Afrikas sind die ersten Stationen, dann folgen längere Aufenthalte in Tasmanien und Neuseeland. Besonders intensive und zahlreiche Kontakte zu den Bewohnern ergeben sich in der Zeit, welche die Exkursion von Mai bis Dezember des Jahres 1777 auf den Freundschaftsinseln (Tonga) und den Gesellschaftsinseln (vor allem Tahiti) verbringt. Zu einem Höhepunkt wird Cooks ›Entdeckung‹ jener in Europa noch unbekannten Inselgruppe mit der Hauptinsel Hawaii im Januar 1778, die Cook nach Lord Sandwich, einem einflussreichen Vertreter der Admiralität, mit dem Namen Sandwich Islands belegt.
Ihr erstes Planziel erfüllt die Mission, indem sie Omai, der etliche Jahre in England verbracht hatte, wieder in seine angestammte Lebensregion zurückbringt. Anfangs berichtet Lukas Hartmanns Webber geradezu enthusiastisch von seiner Freundschaft mit dem »Mann aus Otaheite« (Hartmann 2009: 84); jener sei, wiewohl »von prinzlichem Geblüt«, doch überaus offen und »ohne Überheblichkeit« (ebd.: 85) – eine Einschätzung, die der treuherzige Maler, der auch ein Porträt des Insulaners anfertigt, bald in beiden ihrer Bestandteile revidieren muss. Webber sucht die Nähe Omais, erhält Einblick in dessen tiefe Zerrissenheit. Nur schweren Herzens habe er sich von England gelöst, sei aber zugleich voller Sehnsucht, seine Heimat wiederzusehen. Auf Tahiti aber zeigt sich Omai den Seinen mit grotesken Herrscherallüren, dringt vergeblich darauf, als König und Befehlshaber akzeptiert zu werden. Für einfühlsame Betrachter wie Webber oder den Schiffsarzt Anderson ist offenkundig, dass die »englischen Sitten« den armen Mann »verdorben« hätten; »er wolle nun, nach unserem Muster, über andere herrschen, obwohl sein Charakter ihn keineswegs dafür gerüstet habe« (ebd.: 186). Man hilft ihm, sich, wenn auch nur halbwegs erfolgreich, auf Huahine, einer der Gesellschaftsinseln, niederzulassen und zu etablieren.
Wie bei Omai, so verformen sich auch bei Kapitän Cook die Charakterzüge ins Unbeherrschte und Maßlose; »es ist, als würden sie sich gegenseitig beeinflussen«. Für jeden kleinen Diebstahl werden an den Südsee-Insulanern unverhältnismäßige Strafen exekutiert. »CC«, wie Webber den Befehlshaber nennt, zeigt sich »in der kalten Wut, die wir alle an ihm fürchten« (ebd.: 190). Immer häufiger lässt er Hütten niederbrennen, setzt die Entführung und Geiselnahme hochrangiger Stammespersonen als Druckmittel ein, zwar meistens erfolgreich, aber mit abnehmender Wirkung. Die in solchen Situationen hilflose Perspektive des Begleiters wird in den entsprechenden Passagen bezeichnender Weise nicht als Icherzählung, sondern in dritter Person wiedergegeben. »Webber hätte, als Zeuge, den Brand mit dem Stift festhalten können; er wusste, dass es ihm verboten war. Er hätte Cook darum bitten können, die Brandschatzung abzubrechen; er wusste, dass er’s nicht wagen würde.« (Ebd.: 182) Das »Faktum des leichtfertigen Stehlens« peinigt Cook »wie eine tiefliegende Verletzung« (ebd.: 244). Warum reagiert der Kapitän auf den offenbar laxeren »Eigentumsbegriff der Wilden« mit derart obsessiver Härte? Der asketische Leistungsethiker, so deutet der Roman Lukas Hartmanns überdeutlich an, kompensiert (und dekompensiert) einen Triebstau; seine Kälte und Schroffheit sind dessen verschobener Ausdruck. James Cooks Präferenzen liegen, klimaphysiologisch gesprochen, in den unwirtlichen, arbeits- und entbehrungsreichen Zonen des Nordens. Für Cook sind die Monate in den tropischen Breiten nervenzehrend; nicht nur, weil sie seinen eigentlichen Explorationsauftrag in den arktischen Gebieten verzögern, sondern auch, weil der Kapitän den ungenierten und brutalen sexuellen Verlustierungen seiner Männer mit Inselmädchen, die hierbei gefügig und meist auch geschlechtskrank gemacht werden, so machtlos wie frustriert gegenübersteht.
Von Mai bis Oktober 1778 arbeitet sich die Expedition an der nordamerikanischen Ostküste nordwärts vor, um sich so an ihren hauptsächlichen Auftrag, die Erkundung eines möglichen Seedurchgangs zwischen dem nordamerikanischen Festland und dem arktischen Packeis, heranzutasten. Doch außer einem längeren Aufenthalt im Nootka Sound, bei dem Webber und einige Begleiter ethnografische Studien machen können, hat dieser Teil der Fahrt nach Monaten keine zählbaren Ergebnisse erbracht. »Cook gab sich geschlagen, das Eis hatte ihn besiegt.« (Ebd.: 328) Der Kapitän beschließt, vor der arktischen Winterkälte den einstweiligen Rückzug anzutreten und mit den ausgemergelten Besatzungen beider Schiffe den Winter in südlicheren Breiten und wärmeren Gefilden zu verbringen. Als zwischenzeitlicher Liegeplatz, welcher die Lebensgeister der Entkräfteten und Frustrierten wiederherstellen konnte, empfahl sich keine Destination so sehr wie die eben erst entdeckten, wegen ihrer lieblichen Landschaften, dienstbaren Bewohner und angenehmen Wärme beliebten Sandwich Islands.
Cooks Schiffe und Männer werden völlig überraschend mit überwältigender Begeisterung in Empfang genommen, da ihre Ankunft mitten in die Vorbereitungen zu den hawaiianischen Mahahiki-Feiern fällt. »Ein verwirrendes, betäubendes Spektakel, ein Wirbel an Farben und Düften« (ebd.: 353). Hunderte sind auf den Beinen und in den Booten, um die Fremden zu begrüßen. Man ankert in der Kealakekua-Bucht vor der Insel Owhyhee (Hawaii), verbringt saumselige Wochen, umhüllt von scheinbar allseitiger Harmonie und Zufriedenheit. Als endlich der Aufbruch zu neuen Erkundungstaten erfolgt, muss die Fahrt wegen eines Seesturms bald schon wieder abgebrochen werden; die für die Hawaiianer unerwartete Rückkehr auf die Insel wird zum fatalen Wendepunkt.
In der Weitung sowohl des äußeren Horizonts wie der inneren Eigenständigkeit durchläuft der junge John auf der dreijährigen Reise eine Bildungsgeschichte und Herzenserziehung im Zeitraffer. Die Geschichte seines allmählichen Gewinns an Reife, Selbständigkeit und Urteilsvermögen geschieht parallel zum Vordringen des Schiffes über die Weltmeere. Nicht erst unter den ›Wilden‹ auf der anderen Erdseite wird John mit befremdlichen Ereignissen konfrontiert; auch im Verhalten der Besatzung und des Kapitäns häufen sich Vorfälle, bei denen er eigentlich einschreiten müsste: erpresserische Drohungen, physische Gewalt, ungehinderte sexuelle Übergriffe. Er habe »das Elend der angeketteten Neger« auf dem Sklavenmarkt von Kapstadt gesehen, schreibt John seiner Exbraut Dorothy nach London. »Bedrückend« sei das gewesen, er habe die Szene auf einer Skizze festgehalten, gegen die Cook sofort eingeschritten sei; man dürfe das »freundschaftliche Verhältnis« zu den Kap-Holländern nicht aufs Spiel setzen, lautet des Kapitäns Begründung (Hartmann 2009: 82). Aber allein schon aus wohlverstandenem Eigeninteresse sei festzustellen: »Ohne die Arbeit der Sklaven würde die Wirtschaft in den Kolonien zum Erliegen kommen.« (Ebd.: 83) Webber ist kein Held, kein aufbegehrender Gerechtigkeits-Kämpfer. Sein gefühltes Unbehagen aber wächst ins Beklemmende, gerade weil er nicht oder höchst selten in der Lage ist, wenigstens mit Gesten, wenn schon nicht Taten, dem Kolonialverhältnis und seinen Begleiterscheinungen entgegenzutreten.
Wie hat sich der historische Webber, die Vorlage der Romangestalt, auf der Schiffsreise und hernach verhalten? Der Künstler registriert, als eine Art grafischer Diarist, in zahlreichen Skizzen das Leben an Bord, porträtiert die Gesichtszüge mancher seiner Kollegen und vor allem des berühmten Kapitäns. An der wissenschaftlichen Datengewinnung beteiligt er sich, indem er Küstenumrisse und Landschaftsansichten in Zeichnungen und Aquarellen fixiert. Auch bei den Landgängen ist er meistens mit dabei, selbst dann, wenn es gefährlich wird, und hält die Begegnungen in seinem Sketchbook fest. So gelingt es ihm nach und nach, eine Fülle von wertvollen ethnografischen Beobachtungen über Opferriten, Festgebräuche, Tänze und Kleidung zu dokumentieren. Für sich selbst legt er eine Sammlung von Ethnographica an, die nach seiner Rückkehr nicht in die offizielle Verwertung der Exkursion durch die Royal Academy einfließen, sondern der Stadt Bern vermacht werden, die Webber 1787 zum zweiten und letzten Male besucht. Diese Sammlerstücke bilden einen Grundstock des Historischen Museums zu Bern und zeugen bis heute davon, »dass Webber nebst seinen darstellerischen Fähigkeiten dem wissenschaftlichen und enzyklopädischen Geist der Aufklärung verpflichtet war.« (Psota 2009: 68)
Lukas Hartmann hat für sein Cook-Buch eine ungewöhnliche Misch-Perspektive gewählt, und dies in mehrfacher Hinsicht. Er hat, erstens, dokumentarische Quellen ausgewertet und lässt diese sowohl in den Handlungsgang seines Romans wie in die Denkwelt seiner Figuren einfließen. Er bedient sich, zweitens, einer sowohl medias in res wie zugleich auch retrospektiv angesiedelten Erzählerperspektive, indem er Webber als eine wichtige, am Geschehen beteiligte Nebenfigur partienweise aus ihrer erlebenden, dann wieder aus der nachträglichen Sicht erzählen lässt.5 Drittens wählt der Autor dann wiederum für andere Kapitel eine nicht figurenperspektivierte Erzählweise in der dritten Person, die den Erlebnisberichten des Icherzählers als distanziertere Version gegenübersteht. Viertens schließlich inszeniert der Autor, indem er einen Maler als Protagonisten und zumindest teilweise auch Erzählmedium fungieren lässt, eine Art von Medien-Paragone der Zeugenschaft. Sprache und Bild stehen einander als Dokumentationsformen und Künste gegenüber. Angesichts dieser von Hartmann eingesetzten doppelten Optik stellt sich die Frage nach den Wahrheitsbedingungen oder, anders gesagt, nach der Korrumpierungs-Anfälligkeit beider Mitteilungswege.
Der Dokumentarist ist auftragsgemäß erpicht, möglichst beweiskräftig Alterität zu erbeuten.
Habe einem Menschenopfer beigewohnt und die Szenerie, die wir nur als barbarisch verurteilen könnten, in allen Einzelheiten gezeichnet. Es ist von allen bisherigen Bildern jenes, das in England mit Sicherheit am meisten Sensation machen wird. (Hartmann 2009: 148)
Das Bild bekräftigt, allein schon durch seinen ikonischen Vergegenwärtigungs-Modus, die mit der Darstellung einhergehende Existenzbehauptung. ›Seht her: Dieses, das hier zu Sehende, hat es tatsächlich so gegeben.‹ Die erwähnte Gravur A Human Sacrifice ist als Bildtafel in dem offiziellen Reisebericht enthalten (Psota 2009: 68). Sie konvertiert eine rituelle Handlung, deren Sinn sich für die Beteiligten anders dargestellt haben mag als für unzugehörige Beobachter, in eine Art von kriminalistischem Beweismittel; aus einem Ereignis (oder dem Eindruck eines Ereignisses) wird eine dauerhafte Spur.
Von Cooks dritter Exkursion zu erzählen, ist nicht möglich, ohne auf einen Vorfall einzugehen, dessen Dramatik in jüngeren ethnologischen Theoriedebatten wieder auflebte und höchst kontrovers diskutiert wurde.6 Marshall Sahlins vertrat in einer einflussreichen Studie die These, Cook sei als der Unglück bringende, weil zur Unzeit zurückkehrende Gott »Lono« von den Eingeborenen in einem Ritualmord getötet worden. Dieses Erklärungsmuster wurde später von postkolonial argumentierender Seite als typisch europäische Anmaßung zurückgewiesen, sich in die vermeintliche Perspektive der »Natives« hineinversetzen zu können. Sahlins wie auch sein Kritiker Obeyesekere, so entgegnen wiederum Dritte, hätten den eigentlichen Kernpunkt des Problems durch ihren Schlagabtausch eher verstellt, nämlich die konkrete Situation eskalierender Gewalt am Strand von Hawaii. 7 Schuld an dem unheilvollen Auftreten von Cook und seinen Leuten sei letztlich der wiederholte nervliche Kontrollverlust des englischen Kapitäns angesichts seiner disziplinlosen Mannschaft und der auf vielen Pazifikinseln (für europäische Maßstäbe) kleptomanisch agierenden Eingeborenen gewesen. Ein sich aufschaukelnder Mechanismus von Wutausbrüchen, Strafaktionen und massivem Autoritätsverlust Cooks habe sein Schicksal schon vor den Dolchstößen und Steinhieben gegen ihn besiegelt.
Der gewaltsame Tod der Führungsfigur, die Ermordung James Cooks am 14. Februar 1779, war das Desaster und Trauma schlechthin des gesamten Unternehmens. Zwar wurde die Exkursion fortgesetzt und erst nach einer weiteren mehrmonatigen Arktis-Erkundung die endgültige Heimreise angetreten. Doch stellte Cooks Tod das kulturelle Selbstverständnis des Projekts als einer zivilisatorischen Mission radikal in Frage. Der Schock saß tief und wurde im Mutterland durchaus in seiner Signalwirkung erfasst. Auch die alsbald einsetzende Verklärung seines tragischen Todes in einer ganzen Reihe fiktionalisierter Ausgestaltungen von »Captain Cook’s last Voyage« (Despoix 2005: 240) konnte das Verstörende dieses Fanals nicht wegwischen. Wie umgekehrt die Menschenopferung, so war auch die indigene Gewalttat gegenüber James Cook, als Bildszene festgehalten, ein Menetekel; hier drohte der symbolische Königsmord.
Erst lange nach der Rückkehr traut sich Webber an die Ausgestaltung dieses heiklen Sujets heran. »Er hatte Cook zuerst so gezeichnet, wie Leutnant Phillips ihn gesehen haben wollte: mit dem Rücken zum Meer und dem wartenden Boot, die Muskete auf die angreifenden Wilden gerichtet« (Hartmann 2009: 282). Doch das gefällt den Auftraggebern überhaupt nicht; der »große Entdecker als rabiater Angreifer« ist eine indiskutable Darstellungsweise, die mit allem Druck verhindert und durch ein positiveres Bild ersetzt werden muss. Ihren künstlerischen und moralischen Tiefpunkt erreicht die Kompromittierung des Malers, als er sich für die populäre Pantomime Omai: or, a Trip round the World des Bühnenbildners Philippe Jacques de Loutherbourg zur Verfügung stellt (Despoix 2005: 229ff.), die beide tragischen Figuren, den Exoten wie den Kapitän, der Schaulust des Unterhaltungstheaters preisgibt.
Indem Hartmann für die Darstellung der Exkursion den gleichsam als visuellen Chronisten mitreisenden John Webber zum wichtigsten Handlungsträger und herausgehobenen Wahrnehmungsmedium macht, kann er aus einer zeitgenössischen und sogar aus einer eingeweihten Perspektive berichten, die sich zwar relativ nahe an den entscheidenden Instanzen (während der Reise: nahe an Cook) befindet, ohne doch vollständig in die Führung involviert oder gar für deren Entscheidungen und Verhaltensweisen verantwortlich zu sein. Webber ist eine Art mittlerer Held, ein »Zauderer« (Birrer 2008), der sich durchaus eine unabhängige Sichtweise und eine eigene Meinung zutraut, der aber andererseits in den durch Loyalität und Zeitgeist gesteckten Grenzen verbleibt, wenn es darum geht, dieses europäische Projekt und seine Stellung zu den im pazifischen Raum berührten Kulturen zu bewerten.
Man hat bei Hartmanns Buch aus literaturkritischer Sicht von »überorchestrierten Konstruktionselementen« (ebd.) gesprochen; in der Tat ist die kompositorische Differenzierung der Zeiten, Schauplätze und Perspektiven ein Merkmal bedächtigen (auch politisch bedächtigen) Erzählens. Der Roman Bis ans Ende der Meere baut auf der Basis umfassend ausgewerteter Materialien (Bordtagebücher, Reiseberichte, Archivdokumente und Museumsobjekte) ein historisches Erzählgefüge, dessen einer Brennpunkt durch den tödlichen Tumult auf der Südseeinsel Hawaii vorgegeben ist, während der Autor den zweiten, zeitgenössischen Brennpunkt in den von »Johann Wäber« der Stadt Bern gestifteten Sammlungsbeständen findet. Anstatt abermals eine etablierte Heldengeschichte zu reproduzieren, führt der postkoloniale Blick zu Extremen, die sich auf erstaunliche Weise berühren: Omai und Kapitän Cook, die Chindlifrässer-Szene auf dem Berner Brunnen und das Menschenopfer von Tahiti.
Was die Schweiz betrifft, so unterscheidet sich die aktuelle ›Involviertheit‹ des Landes, seiner Bevölkerung, seiner wirtschaftlichen und kulturellen Akteure in die Aufarbeitung kolonialer Vergangenheit und in die globalen Prozesse der Gegenwart nicht (mehr) grundlegend von derjenigen, die in anderen Ländern zu beobachten ist. Das hat einerseits damit zu tun, dass tradierte nationale Spezifika gegenüber den extrem raschen und mobilen Phänomenen der globalen Kommunikation an Distinktionskraft verlieren, andererseits damit, dass sich in den Sozial- und Kulturtheorien die Aufmerksamkeitsraster verschoben haben: weg von den direkten und expliziten Aspekten von Kolonialisierung, hin zu den indirekten und eher impliziten Formen und Begleiterscheinungen. Darin ist zugleich der Befund ausgesprochen, dass die Schweizer Gegenwartsliteratur, welche diese Fragen in verstärkter Form aufnimmt und mit ihren ästhetischen Mitteln thematisiert und umformt, nicht mehr ›schweizerisch‹ im Sinne der Abgrenzung ist, sondern im Sinne einer mitwirkenden Stimme innerhalb eines gemeinsamen Ganzen. Und das wiederum bedeutet nichts anderes als ihre Ankunft in der Weltliteratur.
1 Für einen differenzierten Blick vgl. dagegen Stockhammer 2005.
2 Zu diesem Roman vgl. Honold 2008; Schwarz 2008: 47.
3 Thomas 2004; Kohl 2007; vgl. auch: James Cook und die Entdeckung der Südsee (2009).
4 Zum wissenschaftsgeschichtlichen Kontext umfassend Despoix 2005/2009. Die kolonialgeschichtliche Bedeutung der Pazifik-Erschließung für deutsche Autoren der Aufklärung skizziert Dürbeck 2007: 42-61.
5 Von »geschicktem Wechselspiel zwischen personaler Identifikation und recherchiertem historischem Gepräge« als einem Markenzeichen der Erzählweise Hartmanns spricht die Rezensentin Sibylle Birrer in der NZZ (2009)
6 Sahlins 1981/1986 und 1995; Obeyesekere 1992.
7 »Tatsache ist jedoch«, so meint Salmond (2003: 38), »dass Cooks Tod weder dem hawaiianischen Mystizismus zuzuschreiben ist noch westlicher Arroganz.« »Hin- und hergerissen zwischen den widerstreitenden Erwartungen seiner Männer und der Hawaiianer, fand sich Cook im Zwist mit beiden und verlassen von seinen Kameraden.«
Bärfuss, Lukas (2008): Hundert Tage. Roman. Göttingen.
Birrer, Sibylle (2009): Dem Paradies so nah und fern. »Bis ans Ende der Meere« – Lukas Hartmanns Roman über James Cooks dritte Expedition. In: Neue Zürcher Zeitung v. 4. Juli 2009.
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Kohl, Karl-Heinz (2007): James Cook als Heros der Aufklärung. In: Andreas Hartmann/Michael Neumann (Hg.): Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination. Bd. 5: Vom Barock zur Aufklärung. Regensburg.
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