Sigmund Freud in interkultureller und translatologischer Perspektive

Deutsch-russisches Parallelkorpus zu Sigmund Freuds Die Traumdeutung

Dmitrij Dobrovol’skij/Artem Šarandin

Abstract

The general aim of this paper is to show how the methods and tools of corpus research can deepen the text analysis from both linguistic and cultural perspective.The empirical data used here is drawn from a German-Russian parallel corpus of Freud’s The Interpretation of Dreams (Traumdeutung) together with its Russian translation. This parallel corpus is part of the Austrian Academy Corpus (AAC) at the Austrian Academy of Sciences in Vienna. In the parallel corpus a digital version of the German source text is aligned at the sentence level with its Russian translation. There are three translations of this work into Russian. For our project we used the first, ›canonical‹ translation by Dr. Kotik from 1913. One of our tasks is to analyse the use of sexual terms in their various contexts drawn from The Interpretation of Dreams. These words make up the core of research within our current project on the German-Russian parallel corpus of Freud. The linguistic aim of this project is to find lexical evidence of the existence of cultural and/or discourse-based conventions in use or avoidance of certain lexical items.

Vorbemerkungen

Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrages steht Sigmund Freud. Dazu gibt es mehrere Gründe sowohl kulturhistorischer als auch linguistischer Natur. Im Folgenden wird auf beide Aspekte eingegangen.1

Warum gilt Freuds Erbe nicht nur für Psychologen, sondern auch für Philologen sowie Kulturwissenschaftler als attraktiver Forschungsgegenstand? Zum einen (und das ist das Wichtigste) hat Freuds Theorie mehrere, bis dahin stark ausgeprägte Tabus der europäischen Kultur gebrochen. Er hat die Sexualthematik in die Kultur de facto eingeführt. Das bedeutet nicht, dass die sexologischen und sexualpathologischen Probleme vor Freud nie Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen waren. So hat z.B. Krafft-Ebing (1986) viel dazu publiziert. Nur waren das rein medizinische Schriften, die dementsprechend von einem sehr engen Kreis der Berufspsychologen und vor allem von Berufspsychiatern rezipiert wurden. Außerdem ging es in diesen Schriften um pathologische Fälle. Freud hat dagegen ›normale‹ Menschen beschrieben. Mehr noch, er hat bestimmte sexuelle Motive des menschlichen Handelns als Norm behandelt, als versteckte Mechanismen, die das Agieren aller Menschen steuern. Dies hat dazu geführt, dass eben Freud als Bahnbrecher in diesem Feld gilt, und zwar in den breiten Kulturkreisen verschiedener europäischer Länder. Seine Arbeiten auf diesem Feld sind in die Kulturgeschichte eingegangen, weil er die Thematik des menschlichen Sexualverhaltens allgemein verständlich behandelt und somit viele jahrhundertealte Tabus ins Wanken gebracht hat. So gesehen haben Freuds Schriften die europäische Kultur (inkl. Literatur, Theater, Filmkunst) grundlegend verändert. Man kann in diesem Zusammenhang von einer Art Kulturrevolution sprechen.

Zum anderen (und das ist sozusagen der technische Grund unseres Interesses an Freud) nehmen wir im Moment an einem korpuslinguistischen Projekt teil (unter Leitung von Dr. Evelyn Breiteneder), das im Rahmen des Programms AAC – Austrian Academy Corpus an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien verwirklicht wird. Dieses Programm ist heute Bestandteil des Forschungsinstituts ICLTT (Institute for Corpus Linguistics and Text Technology) an der ÖAW. Das Ziel des Projekts besteht in der Entwicklung eines mehrsprachigen Parallelkorpus zu Freuds Die Traumdeutung. Die Arbeit an diesem Projekt schließt mehrere Etappen ein. In der ersten Etappe, die schon abgeschlossen ist, wird der Originaltext (3. Aufl.) mit seiner russischen Übersetzung aus dem Jahre 1913 aligniert.2 Das Alignement verläuft auf Satzebene.3 Dass wir mit Russisch angefangen haben, hängt nicht nur damit zusammen, dass Russisch unsere Muttersprache ist, sondern auch damit, dass die russische Übersetzung der Traumdeutung die erste Übersetzung dieses Werks in andere Sprachen war und zur Verbreitung der Ideen Freuds enorm beigetragen hat.

Im Beitrag werden einige Besonderheiten der Übersetzung tabuisierter Lexeme ins Russische thematisiert und an Beispielen aus dem deutsch-russischen Parallelkorpus gezeigt. Es werden verschiedene Hypothesen über die kulturspezifische Tabuisierung bestimmter Entitäten aufgestellt. Dabei werden soziokulturelle Situationen im Russland und Österreich der Jahrhundertwende in Betracht gezogen.

Zunächst wird jedoch auf den kulturhistorischen Rahmen der Rezeptionsgeschichte der freudschen Ideen im Zarenreich und in der Sowjetunion eingegangen.

Freud und Russland

Freuds Einfluss auf die russische Kultur war besonders stark. Vor dem Ersten Weltkrieg verbreitet sich die Psychoanalyse in Russland sehr schnell. Seit dem Jahr 1909 beginnt die Popularisierung der freudschen Ideen in Russland. Freuds Schriften und die Schriften anderer Psychoanalytiker werden massenhaft ins Russische übersetzt.4 1911 entsteht die »Russische psychoanalytische Gesellschaft«.

Es ist bemerkenswert, dass Freuds Ideen in den anderen europäischen Ländern (England, Frankreich) zunächst kein besonderes Interesse geweckt haben. Russland hat dagegen die neuen Ideen begrüßt, die Psychoanalyse boomte, was mit der besonderen Kultursituation der damaligen Zeit, vor allem mit der enormen Freiheit und Offenheit der russischen kulturellen Elite zusammenhing. Diese Entwicklung übte später auch auf andere Länder einen starken Einfluss aus, in denen die freudschen Ideen schließlich auf ein professionelles und künstlerisches Interesse stießen. Erst nach der Verbreitung der Psychoanalyse in Russland beginnt Freuds gesamteuropäischer und nordamerikanischer Ruhm. Russland war vor der bolschewistischen Machtübernahme ein aufgeklärtes Land mit einer hochentwickelten intellektuellen Elite, die zur gebildeten Welt intensive Kontakte pflegte.

In den nächsten Abschnitten möchten wir kurz auf zwei Momente eingehen. Zum einen ist es die Frage, wie die russische Literatur Freud beeinflusste (Dostojewski etc.). Das erscheint hier wichtig, weil dadurch die Popularität der freudschen Ideen indirekt erklärt werden kann. Da Freud selbst viele Motive der russischen Kultur entnommen hat, ist es klar, warum seine Ideen den russischen Kunst- und Kulturschaffenden so nah und verständlich erschienen. Zum anderen sind es Freuds persönliche Kontakte mit russischen Intellektuellen. Als wichtige Bezugspersonen seien hier vor allem zwei Frauen erwähnt: Lou Andreas-Salomé und Sabina Spielrein.

Freud und die russische Kultur

Seine psychoanalytischen Ideen schöpfte Freud u.a. aus der russischen Literatur. In diesem Zusammenhang seien vor allem Dmitrij Merežkovskij (Mereshkovsky) und Fëdor Dostoevskij (Dostojewski) genannt. Über einige Romane Dostoevskijs wurde in den Sitzungen des Wiener psychoanalytischen Verbands diskutiert. Ein zentrales Thema war u.a. die Interpretation von Raskolnikovs Traum. Die bekannteste Arbeit Freuds, die sich auf Dostoevskij bezieht, ist Dostojewski und die Vatertötung (1928), basierend auf den Motiven aus den Brüdern Karamazov.5 In der Traumdeutung findet sich allerdings kein expliziter Bezug auf Dostoevskij. Insgesamt betrachtete Freud Dostoevskij als einen prominenten Psychopathologen.

Einerseits spielte die russische Literatur bei der Entwicklung der psychoanalytischen Ideen eine bedeutende Rolle, andererseits spielten die Ideen von Freud eine bestimmte Rolle bei der Entwicklung der russischen Literatur, Film- und Theaterkunst. Vgl. in diesem Zusammenhang das Schaffen von Vjačeslav Ivanov, Andrej Belyj, Michail Bachtin, Sergej Ėjzenštejn (Eisenstein), um nur einige Namen zu nennen. Michail Zoščenko, ein bekannter russischer Schriftsteller und Satiriker, hat seine depressiven Zustände mit psychoanalytischen Methoden selbst zu behandeln versucht.

Die Übersetzungen von freudschen Werken ins Russische sorgten dafür, dass das Wort »podsoznanie« (›Unterbewusstsein‹) in die Sprache der russischen Intellektuellen Eingang gefunden hat. Das alte Wort »bessoznatel’noe« (›das Unbewusste‹) wurde dadurch verdrängt.

Freuds persönlicher Bezug zu Russland. Lou Andreas-Salomé

Zu den wichtigen Kontakten Freuds mit den russischen Intellektuellen gehört seine Freundschaft mit Lou Andreas-Salomé und Sabina Spielrein. Im Folgenden wollen wir diese beiden Personen kurz vorstellen und auf einige aus psychoanalytischer Sicht wichtige Punkte ihrer Biografien eingehen. Hierzu der folgende Eintrag:

Lou Andreas-Salomé (*St. Petersburg 12.2.1861, † Göttingen 5.1.1937), Tochter des russischen Generals von Salomé, seit 1887 verheiratet mit dem Orientalisten Friedrich Carl Andreas. Sie war eine begeisterte Psychoanalytikerin, befreundet mit Friedrich Wilhelm Nietzsche, Rainer Maria Rilke und Siegmund [sic!] Freud. Sie schrieb Erzählungen, Essays und Romane. – Sie überlebte ihren Mann um sieben Jahre und wohnte weiter am Hang des Hainberges in ihrem Haus »Loufried«. Nach ihrem Tode wurde das Haus an der Herzberger Landstraße für eine Neubebauung des Berghanges, von dem man einen weiten Blick über Göttingen bis zu den Weserbergen hat, abgerissen, aber am Eingang zum neuen Haus Herzberger Landstr. 101 wurde 1972 für sie und ihren Mann ein Gedenkstein errichtet. (Motel 1993, 103)

Andreas-Salomé verbrachte in St. Petersburg die ersten 20 Jahre ihres Lebens. Wenn sie sich an ihre Kindheit erinnerte, fiel es ihr schwer, die Sprache zu nennen, die sie als Muttersprache betrachtet hatte. In der Familie hat man Deutsch gesprochen (ihr Vater war Balte deutscher Herkunft und die Mutter eine in Russland geborene Dänin deutscher Abstammung). Mit dem Kindermädchen hat sie Russisch gesprochen und mit der Gouvernante Französisch. Sie besuchte eine englische Privatschule. Diener im Hause waren Tataren, Schwaben und Esten. Dabei verstand sie sich als Russin.6

Abb. 1: Lou Andreas-Salomé

Bei einem Aufenthalt in Schweden begann Andreas-Salomé ein intensives Verhältnis mit dem 15 Jahre jüngeren Nervenarzt und Freudianer Poul Bjerre. Als er 1911 zum Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung nach Weimar fuhr, begleitete sie ihn und traf dort erstmals Sigmund Freud. Er wurde zur entscheidenden Bezugsperson ihrer letzten 25 Lebensjahre. Sie ahnte und hoffte, dass die neue Denkschule der Psychoanalyse – mit Freud als Vaterfigur – ihr Zugang zum Verständnis der eigenen seelischen Verfassung verschaffen könnte. Von Oktober 1912 bis April 1913 hielt sie sich in Wien auf, später folgten viele weitere Besuche. Sie hörte im Wintersemester 1912/13 Freuds Vorlesung in der psychiatrischen Klinik über Einzelne Kapitel aus der Lehre von der Psychoanalyse und nahm an seinen Mittwochssitzungen und Samstagskollegs teil. Mit ausdrücklicher Zustimmung Freuds beteiligte sie sich aber auch an den Diskussionsabenden Alfred Adlers, der sich 1911 von der orthodoxen psychoanalytischen Schule Freuds distanziert und mit seinem Verein für Individualpsychologie eine eigene tiefenpsychologische Schule begründet hatte.

Freud hielt sehr viel von seiner Schülerin. Durch ihren Wissensdurst, ihre Neugier auf menschliche Verhaltensweisen und die intensive Suche nach deren Verständnis wurde sie für Freud eine hochgeschätzte Diskussionspartnerin. Sogar ihre eigenwillige Ausdeutung psychoanalytischer Konzepte, denen sie eine vorwiegend poetische und literarische Form gab, akzeptierte er ohne Widerspruch. Er fand, sie sei die ›Dichterin der Psychoanalyse‹, während er selbst Prosa schreibe. In der Schule bei Freud (so der Titel ihres postum veröffentlichten Tagebuches der Jahre 1912/13) versuchte Lou Andreas-Salomé ihr eigenes Leben besser zu verstehen und zu beherrschen; darauf legte sie in Hinblick auf ihr fortgeschrittenes Alter besonderen Wert.

Freud riet ihr zum Beruf der Psychoanalytikerin. Sie schrieb Aufsätze für die psychoanalytische Zeitschrift Imago und war schon 1913 Gastrednerin beim Psychoanalytischen Kongress in Berlin. 1915 eröffnete sie in ihrem Göttinger Wohnhaus die erste psychoanalytische Praxis der Stadt. 1921 wurde sie Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung. Im selben Jahr begann ihre Freundschaft mit Anna, einer der drei Töchter Freuds. Zum 75. Geburtstag ihres Freundes und Lehrers am 6. Mai 1931 schrieb sie den offenen Brief Mein Dank an Freud. Der Adressat antwortete ihr:

Es ist gewiss nicht oft vorgekommen, dass ich eine ps[ycho]a[nalytische] Arbeit bewundert habe, anstatt sie zu kritisieren. Das muss ich diesmal tun. Es ist das Schönste, was ich von Ihnen gelesen habe, ein unfreiwilliger Beweis Ihrer Überlegenheit über uns alle […]. (Zit. n. Wildt 2008: 106)

Lou Andreas-Salomé darf eine der herausragendsten Persönlichkeiten in der gesamteuropäischen Kultur der Moderne genannt werden. Die russische Kultur (Literatur, Philosophie und Kunst) hat in ihrem Schaffen tiefe Spuren hinterlassen. Nachstehend bringen wir unkommentiert einige Urteile ihrer Zeitgenossen (vgl. Salber 2004):

Lou Andreas ist unter den heutigen Dichterinnen die geistigste, die psychologisch tiefste – das unterschreibe ich mit Buchstaben so hoch wie der Usspenski-Dom. Respekt vor Ihnen, begnadete Frau und vor Ihrer Kunst und vor Ihrer Weisheit.

Marie von Ebner-Eschenbach

Brief an Lou Andreas-Salomé (1901)

[…] was für Herrlichkeiten weiß diese Frau einzusehen, wie wendet sie sich alles, was ihr Bücher und Menschen im rechten Moment zutragen, zum seeligsten Verständnis, begreift, liebt, geht furchtlos in den glühendsten Geheimnissen umher, die ihr nichts thun, die sie nur anstrahlen mit reinem Feuerschein. Ich weiß und wußte seit jenen fernen Jahren, da sie mir zuerst zu so unendlicher Bedeutung begegnet ist, niemanden, der so das Leben auf seiner Seite hätte, im Sanftesten wie im Furchtbarsten die eine Kraft erkennend, die sich verstellt, die aber immer, selbst wo sie tötet noch, gebend sein will.

Rainer Maria Rilke

Brief an die Fürstin Taxis (1913)

Die letzten 25 Lebensjahre dieser außerordentlichen Frau gehörten der Psychoanalyse an, zu der sie wertvolle wissenschaftliche Arbeiten beitrug und die sie auch praktisch ausübte. Ich sage nicht viel, wenn ich bekenne, daß wir es alle als eine Ehre empfanden, als sie in die Reihen unserer Mitarbeiter und Mitkämpfer eintrat, und gleichzeitig als eine neue Gewähr für den Wahrheitsgehalt der analytischen Lehren […]. Meine Tochter, die mit ihr vertraut war, hat sie bedauern gehört, daß sie die Psychoanalyse nicht in ihrer Jugend kennengelernt hatte. Freilich gab es damals noch keine.

Sigmund Freud

Nachruf (1937)

Sabina Spielrein

Die zweite hervorragende Persönlichkeit war Sabina Spielrein. Die Internetressource Wikipedia berichtet knapp über sie:

Sabina Naftulovna Spielrein (russisch Сабина Нафтуловна Шпильрейн; * 1885 in Rostow am Don; † 12. August 1942 ebenda) war eine russisch-jüdische Psychoanalytikerin. Sie wurde als Tochter des vermögenden jüdischen Kaufmanns Naftula (später Nikolai) Spielrein und seiner Ehefrau Eva geboren. Die Mutter hatte Zahnmedizin studiert, widmete sich aber vorwiegend ihren fünf Kindern. Spielrein besuchte das Mädchengymnasium in Rostow und schloss es 1904 mit der Reifeprüfung ab.

1904 wurde sie wegen »Hysterie« in die psychiatrische Klinik Burghölzli in Zürich eingewiesen und dort u.a. von Carl Gustav Jung, dort Oberarzt, behandelt. […]7

Schon während der Schulzeit hatte Sabina Spielrein zum Entsetzen ihres Vaters marxistische Flugblätter und Revolutionsliteratur verteilt. In Zürich traf sie sich heimlich mit anderen Russen, die eine gesellschaftliche Umwälzung anstrebten – und erschreckte damit ihren Therapeuten. Im Frühling 1905 begann sie ihr Medizinstudium an der Universität Zürich.

1911 wurde Spielrein als erste Frau mit einem dezidiert psychoanalytischen Thema (Über den psychologischen Inhalt eines Falles von Schizophrenie) in Zürich zum Dr. med. promoviert. Spielrein hielt sich in München und Wien auf und lernte dort Sigmund Freud persönlich kennen. Sie nahm an den legendären Mittwoch-Gesellschaften teil und wurde als zweite Frau (nach Lou Andreas-Salomé) in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung aufgenommen.

Im Februar 1923 zog sie nach Moskau, und im Jahr darauf kehrte sie an ihren Geburtsort Rostow am Don zurück. Als Stalin 1936 die Psychoanalyse in der Sowjetunion verbieten ließ, arbeitete Sabina Spielrein zunächst als Pädologin und schließlich als Schulärztin. Sie veröffentlichte weiterhin wissenschaftliche Arbeiten in Fachzeitschriften, die außerhalb der Sowjetunion erschienen.

Abb. 2: Sabina Spielrein

Am 22. Juni 1941 überfielen deutsche Heeresverbände die Sowjetunion. Ein Jahr später, am 24. Juli 1942, nahmen die Deutschen Rostow ein. Die in Rostow lebenden Juden mussten sich am 11./12. August 1942 in einem Schulgebäude versammeln und dann zur Zmievskaja Balka marschieren, wo sie erschossen wurden. Darunter waren auch die 55-jährige Sabina Spielrein und ihre beiden Töchter Renata und Eva.

Sabina Spielrein hat die Hälfte ihres Lebens unter den Deutschen verbracht; sie mochte nicht glauben, dass die Deutschen für sie zur Lebensgefahr werden konnten. Auch Freud hat mit seiner Ausreise gezögert, indem er betonte, von einer Nation, die der Welt Goethe geschenkt hatte, könne nichts Böses ausgehen.

Einstellung zu Freuds Schaffen in Russland

Freud und seine Psychoanalyse blieben auch nach 1917 in Russland populär. Die bolschewistischen Machthaber hatten dazu jedoch unterschiedliche Meinungen. Lenin charakterisierte die freudsche Theorie als »eine Art kleinbürgerliche modische Marotte« (Цеткин 1955: 43f.). Seine Frau Nadežda Krupskaja, die vor allem durch ihre pädagogische Tätigkeit im jungen Sowjetstaat bekannt war, versprach sich dagegen viel von den modernen psychoanalytischen Ideen. »Die Überführung des Unbewussten ins Bewusste ist eine der wichtigsten pädagogischen Aufgaben unserer Zeit« (zit. n. Педология 1932: 103) hielt sie ihrem Mann entgegen. In den 1920er Jahren gab es in Moskau einen Kindergarten, in dem die Erziehung der Kinder auf psychoanalytischen Ideen basierte.

Die Einstellung der Intellektuellen zu Freud und seiner Lehre war zwar nicht immer begeistert, aber grundsätzlich eher positiv. Nadežda Mandelštam (Mandelstam), die Frau des großen russischen Dichters, die in Bezug auf Freud und seine Lehre eher neutral eingestellt war, erinnert sich an die Tatsache, dass Freud in Charkov 1922 als eine interessante Novität galt; über ihn (Freud) haben alle gesprochen, ohne dabei wirklich informiert zu sein. Sergej Ermolinskij, ein Freund von Michail Bulgakov, erinnerte sich mit Ironie an die Moskauer Intellektuellen der 1920er Jahre: »In Mode kamen langsam Freud und Spengler« (Эткинд 1993: 93).

Viele Arbeiten der Moskauer Psychoanalytiker wurden zuerst von dem Regime unterstützt und überwacht. Vor allem ist hier Leo Trotzki zu nennen, dessen Bezug zur Psychoanalyse einer besonderen Betrachtung bedarf. Er fand das Zusammenspiel des physiologischen Materialismus und der belletristischen Darstellung seelischer Zustände faszinierend.

Abb. 3: Sigmund Freud

In manchen Arbeiten der damaligen Zeit findet sich der Versuch, die Psychoanalyse mit dem Marxismus zu verbinden. Freudismus – so bezeichneten die Bolschewisten die psychoanalytische Lehre – wurde als ein wissenschaftlich fundiertes Versprechen aufgefasst, den Menschen umgestalten zu können, und zwar auf der Basis seiner Bewusstseinsänderung. Erst später wurde der Terminus Freudismus negativ konnotiert. Ab einem gewissen Zeitpunkt betrachtete Stalin die Psychoanalyse als »getarntes trotzkistisches Ideengut« (vgl. Сталин 1931), das aus der Sicht der Bolschewisten sofort auszumerzen sei.

Mitte der 1930er Jahre beginnt der Untergang der russischen psychoanalytischen Tätigkeit. Im Oktober 1934 wurde das ganze Netz von psychotechnischen Institutionen vernichtet. Durch den Beschluss des Sovnarkom waren 29 wissenschaftliche Forschungsinstitute abgewickelt, die Zeitschrift Psichotechnika [›Psychotechnik‹] wurde geschlossen.

Am 25. Januar 1935 wurde Isaak N. Spielrein (ein Bruder von Sabina Spielrein) verhaftet. Ihm wurde die Teilnahme an der trotzkistischen Opposition zur Last gelegt. Seine Tochter erinnert sich an diesen Tag: »An dem Tag wurde ich 19 Jahre alt […]. Erst 1939 sagte man mir, dass mein Vater für zehn Jahre Gefängnis ohne Anspruch auf Briefwechsel verurteilt worden war. Diese Formulierung bedeutete Erschießung.« (Эткинд 1993: 89)

Nach dem Fall von Trotzki war die Psychoanalyse in Russland streng verboten und alle Arbeiten wurden sofort gestoppt. 1936 gab es sogar ein offizielles Dekret, das die psychoanalytische Tätigkeit verbot.

Zuerst betrachtete Freud die jüngsten Entwicklungen in Russland eher mit Neugierde. Dabei hatte er wenig Ahnung von den wahren Absichten der Bolschewisten. Je mehr Freud aber das Wesen des Regimes verstand, desto stärker wendete er sich ab. Bald machte er sich Sorgen um die Entwicklung der Welt im Ganzen und sagte, dass ihm seine sieben Enkelkinder Leid täten. Im Endeffekt charakterisierte er das Wesen des sowjetischen Regimes als das Verbot des Denkens.

Im Zuge der Demokratisierung Russlands ändert sich wiederum die Einstellung zur psychoanalytischen Tätigkeit. Die freudschen Ideen erleben ihre Renaissance. 1996 verabschiedet Boris Jelzin das Gesetz Nr. 1044 Über die Reaktivierung psychoanalytischer Tätigkeit. Viele Arbeiten von Sigmund Freud, darunter auch die Traumdeutung, werden neu übersetzt.

Vor dem Hintergrund der Wiedererweckung des Interesses an Freuds Schaffen in Russland kann sich unser Parallelkorpus für die russische Forschung in diesem Bereich als nützlich erweisen. Das Vorhandensein eines Paralleltextes erleichtert bekanntlich die adäquate Interpretation des Originals.

Die Traumdeutung

Bei der Traumdeutung handelt es sich primär nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung, sondern um einen belletristischen Text, der auch für die Literaturwissenschaft von Interesse ist. W. Schmidt-Dengler betonte dies in einem im Frühling 2006 in Wien gehaltenen Vortrag. Darin liegt möglicherweise das Geheimnis seines Erfolgs beim breiten Publikum.

Zwischen 1895 und 1897 arbeitete Sigmund Freud an diesem Werk, das er 1899 (als Erscheinungsjahr steht 1900, was Freud aus symbolischen Überlegungen durchgesetzt hat) veröffentlichen ließ. Von Auflage zu Auflage hat Freud den Text stark überarbeitet, so dass es viele unterschiedliche Versionen gibt. Deshalb ist es so wichtig, darauf zu achten, welche Auflage bei der jeweiligen Übersetzung als Originaltext genommen wurde. Freud hielt Die Traumdeutung für das wichtigste Werk seines Lebens. Dadurch erklärt sich u.a. die Wahl des Textes für das Parallelkorpus.

Ein weiterer Grund liegt im revolutionären Charakter dieses Werkes. Freud betont, dass viele Symbole im Traum sexueller Natur seien. Dieses Werk eröffnete die Möglichkeit, über verschiedene tabuisierte Phänomene in der Gesellschaft zu diskutieren. Viele Sexualtabus sind somit gebrochen worden.

Aus linguistischer Sicht ist vor allem die Frage wichtig, wie die beiden Texte (Original und Übersetzung) aufeinander bezogen werden können. Alles, was oben besprochen wurde, kann als allgemeiner kultureller Rahmen dienen, den man benötigt, um den Text besser zu verstehen. Uns interessieren vor allem konkrete Übersetzungslösungen, Exaktheit bei der Übertragung bestimmter Inhalte, Gebrauch einzelner Wörter und Konstruktionen etc.

Zielsetzung und Material

Das eigentlich linguistische Ziel unseres Projekts ist es, zu zeigen, wie die korpusbasierten Methoden und Instrumentarien für eine lexikologische bzw. lexikografische Analyse angewandt werden können. Dabei handelt es sich vor allem um Wörter mit einem ausgefeilten kombinatorischen Profil, d.h. Wörter, die von ihren kontextuellen Partnern insofern stark abhängen, als ihr textuelles Verhalten nicht vollständig von ihrer semantischen Struktur abgeleitet werden kann, sowie um Wörter mit kulturbedingten Konnotationen. In dieser Hinsicht liefern Sigmund Freuds Texte relevante empirische Daten, denn sie enthalten den sogenannten Sexualwortschatz, der in der damaligen Zeit einen stark konnotierten Teil des Lexikons darstellte.

Lexikalische Einheiten, die sexuelle Handlungen oder anatomische und physiologische Details bezeichnen (im Folgenden: Sexualbegriffe), wurden in der Regel im öffentlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts vermieden, obwohl sie in der Fachsprache (z.B. in den medizinischen Texten) verwendet wurden. Freud führte dieses Vokabular und die entsprechende Thematik in den öffentlichen Diskurs ein.

Eine unserer Aufgaben besteht darin, die Verwendung von Sexualbegriffen in ihren verschiedenen Kontexten in der Traumdeutung zu analysieren. Ein Ziel dieses Projektes ist es, lexikalische Beweise für die Existenz von kulturellen und/oder diskursbasierten Konventionen bei der Verwendung oder Vermeidung bestimmter lexikalischer Einheiten zu finden. Der Vergleich des Originaltextes mit seiner Übersetzung ins Russische ermöglicht, die Rolle der betreffenden Konventionen in verschiedenen Kulturen zu untersuchen. Der korpusbasierte Textvergleich demonstriert bestimmte Unterschiede in der Verwendung von Sexualbegriffen im Ausgangstext und in der russischen Übersetzung. Es stellt sich dabei die Frage, wie diese Unterschiede erklärt werden können.

Zum einen können die hier zu hinterfragenden Evidenzen auf die Vielfalt der Diskursarten und -konventionen zurückgeführt werden, nämlich auf die Unterschiede zwischen fachlichem und öffentlichem Diskurs. Im Jahre 1913, als Die Traumdeutung zum ersten Mal ins Russische übersetzt wurde, war dieses Werk bereits so populär geworden, dass es gleich den fachlichen Bereich verlassen hat und als eine Art belletristischer Literatur aufgenommen wurde. Zum anderen kann hier angenommen werden, dass es zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewisse kulturelle und sprachkonventionelle Unterschiede zwischen der österreichischen und russischen Gesellschaft gab. Möglicherweise durften Sexualbegriffe nach russischen kulturellen Konventionen nicht im gleichen Maße frei verwendet werden, wie das im Wien der damaligen Zeit der Fall war.

Im ersten Schritt der Analyse wurden die Korpusdaten ausgewertet, um einige Hypothesen über den Normgebrauch von Sexualbegriffen aufzustellen und ihre Dynamik zu beschreiben. Der Vergleich mit dem modernen Sprachgebrauch gibt eine klare empirische Evidenz für diachronische Bedeutungsverschiebungen in dieser lexikalischen Domäne.

Im nächsten Schritt der Analyse wurden die einschlägigen deutschen Kontexte mit ihren russischen Übersetzungen verglichen. Dieser Vergleich ermöglicht es, einige Aussagen über die relevanten Besonderheiten der zwischensprachlichen Äquivalenz zu machen. Sehr oft werden die betreffenden deutschen Wörter und Ausdrücke nicht mit Hilfe ihrer »Standardäquivalente«, die alle bekannten zweisprachigen Wörterbücher als solche vermerken, übersetzt. Im letzten Schritt der Analyse werden einige mögliche Erklärungen für die empirischen Ergebnisse herausgearbeitet.

Die hier verwendeten empirischen Daten stammen aus dem erstellten deutsch-russischen Parallelkorpus zur Traumdeutung (vgl. dazu oben). Es gibt drei Übersetzungen dieses Werkes ins Russische. Für unser Projekt verwendeten wir die erste ›kanonische‹ Übersetzung von Dr. Kotik aus dem Jahr 1913. Als nächste Phase des Projekts wird eine englische Übersetzung hinzugefügt werden.

Analyse

Der Vergleich des deutschen Originaltextes mit seiner ersten russischen Übersetzung zeigt gravierende Unterschiede in der Behandlung von Themen wie Sexualität, anatomische und physiologische Details. Während der deutsche Text von Freud oft einfache und unkomplizierte Bezeichnungen der Genitalien und sexueller Handlungen enthält, ist die russische Übersetzung voll diskreter umschreibender Formulierungen. Im Weiteren wollen wir eine Typologie solcher Formulierungen vorschlagen.

Die erste Möglichkeit, tabuisierte Bezeichnungen zu vermeiden, ist die Verwendung eines lateinischen Terminus statt einer üblichen russischen Entsprechung (vgl. Beispiel 1 u. 2).

1. Der Träumer hatte mit zwölf Jahren einen bettlägerigen Kollegen besucht, der sich wahrscheinlich nur zufällig bei einer Bewegung im Bette entblößte. Beim Anblick seiner Genitalien von einer Art Zwang ergriffen, entblößte er sich selbst und fasste das Glied des anderen, der ihn aber unwillig und verwundert ansah, worauf er verlegen wurde und abließ.

Паціентъ этоть въ возрастђ 12 лђтъ посђтилъ однажды своего больного товарища: тотъ случайно сбросилъ съ себя одђяло и остался на минуту голымъ. При видђ его полового органа паціентъ мой, повинуясь своего рода принужденію, тоже обнажился и коснулся penis’а товарища. Тотъ былъ, однако, такъ разсерженъ, что онъ смутился и ушелъ.

2. Wer einige Übung im Übersetzen von Träumen hat, wird allerdings sofort daran gemahnt werden, dass das Eindringen in enge Räume, das Öffnen verschlossener Türen zur gebräuchlichsten sexuellen Symbolik gehört, und wird mit Leichtigkeit in diesem Traume eine Darstellung eines Koitusversuches von rückwärts zwischen den beiden stattlichen Hinterbacken des weiblichen Körpers finden.

Кто имђетъ извђстную опытность въ толкованіи сновидђній, тотъ сейчасъ же увидитъ въ проникновеніи въ тђсныя помђщенія и въ открываніи запертыхъ дверей наиболђе употребительную сексуальную символику и съ легкостью истолкуетъ это сновидђніе какъ изображеніе попытки coitus’а a posteriori.

Im Beispiel 1 wurde das einfache deutsche Wort Glied durch die lateinische Bezeichnung »penis« ersetzt. Es enthält auch eine andere lexikalische Verschiebung: Das Verb fassen wird mit Hilfe von коснуться [›berühren‹] ins Russische übersetzt. Dieses russische Verb beschreibt eine viel schwächere Intensität der betreffenden homoerotischen Handlung. Folglich entstellt hier die Übersetzung die Intention des Autors.

Im Beispiel 2 wird der Ausdruck Koitusversuch von rückwärts ebenfalls durch den lateinischen Terminus ersetzt, nämlich »coitus a posteriori«. Dieser Kontext enthält auch noch eine zusätzliche Abweichung vom Original. Die sexuell konnotierte Konkretisierung der Idee des »coitus a posteriori«, nämlich zwischen den beiden stattlichen Hinterbacken des weiblichen Körpers, wurde in der russischen Übersetzung weggelassen. Dies führte zu groben Sinnentstellungen: Während der deutsche Satz den Analverkehr thematisiert, kann die russische Übersetzung auch im Sinne des vaginalen Geschlechtsverkehrs verstanden werden.

Das zweite Verfahren besteht in der Milderung oder der völligen Eliminierung der sexuellen Message der Formulierung (vgl. Beispiele 3 und 4).

3. Das Liebespaar pflegte ihn, den älteren Knaben, durch Bier betrunken zu machen, wenn die Umstände einem nächtlichen Verkehre günstig waren.

Любовники напаивали его пивомъ, отъ котораго онъ тотчасъ же засыпалъ.

4. Der Sprachgebrauch tut dabei mit, indem er »Hinterbacken« als Homologie der Wangen anerkennt, »Schamlippen« neben den Lippen nennt, welche die Mundspalte einrahmen. Die Nase wird in zahlreichen Anspielungen dem Penis gleichgestellt, die Behaarung hier und dort vervollständigt die Ähnlichkeit.

Ротъ, губы часто символизируютъ влагалище, «срамныя губы», носъ – penis, волосы на головђ – растительность на половыхъ частяхъ и т. д.

Der weggelassene Teil im Beispiel 3 erläutert die Gründe, warum die Liebenden den Jungen schläfrig machen wollten und ihm deswegen Bier gegeben haben. Im Beispiel 4 wurde die »anale Beschreibung« weggelassen (vgl. in diesem Zusammenhang auch Beispiel 2).

Gewisse Passagen sind in der russischen Übersetzung ganz weggelassen worden. Der Grund dafür kann entweder die idiomatische Natur des deutschen Satzes (wie dies in Beispiel 5 der Fall ist) oder der Inhalt der Äußerung sein. Beispiel 6 hat deutliche homoerotische Konnotationen.

5. In unseren Landen existiert eine unfeine Bezeichnung für den masturbatorischen Akt: sich einen ausreißen oder sich einen herunterreißen.

6. Der Traum eines Mannes: Er sieht zwei Knaben, die sich balgen, und zwar Fassbinderknaben, wie er aus den herumliegenden Gerätschaften schließt; einer der Knaben hat den anderen niedergeworfen, der liegende Knabe hat Ohrringe mit blauen Steinen. Er eilt dem Missetäter mit erhobenem Stocke nach, um ihn zu züchtigen. Dieser flüchtet zu einer Frau, die bei einem Bretterzaun steht, als ob sie seine Mutter wäre. Es ist eine Taglöhnersfrau, die dem Träumer den Rücken zuwendet. […] – Ohrringe mit blauen Steinen tragen nach seiner Beobachtung meist die Prostituierten. […] – Die stehende Frau: Nach der Szene mit den beiden Knaben ging er am Donauufer spazieren und benützte die Einsamkeit dort, um gegen einen Bretterzaun zu urinieren.

Das dritte Verfahren zur Vermeidung von Sexualbegriffen besteht in der Verwendung umschreibender neutraler Bezeichnungen (vgl. Beispiel 7).

7. Ich mache hier auf die so häufige Verlegung von unten nach oben aufmerksam, die im Dienste der Sexualverdrängung steht, und vermöge welcher in der Hysterie allerlei Sensationen und Intentionen, die sich an den Genitalien abspielen sollten, wenigstens an anderen einwandfreien Körperteilen realisiert werden können.

Я обращаю здђсь вниманіе на столь частое «перенесеніе снизу вверхъ», которое наблюдается при оттђсненіи сексуальныхъ элементовъ и при помощи котораго при истеріи могутъ реализироваться на различныхъ частяхъ тђла ощущенія, относящіяся къ половой сферђ.

Es gibt auch Fälle, in denen die Übersetzung durchaus angemessen ist, d.h. Sexualbegriffe sind mit Hilfe ihrer »Standard-Äquivalente« übersetzt (vgl. Beispiele 8 und 9).

8. Die Kerze ist ein Gegenstand, der die weiblichen Genitalien reizt

Свђча – предметъ, способный раздражать половые органы женщины

9. Er rekonstruiert nun seine Gedanken bei diesem Anlasse: Ein dünnes Kondom ist gefährlich, ein dickes schlecht.

Онъ вспоминаетъ далђе, что при этомъ сообщеніи у него появилась мысль: тонкій кондомъ опасенъ, толстый же плохъ.

Diskussion

Es fragt sich, warum die russische Übersetzung nicht in allen Punkten dem Original folgt. Man könnte annehmen, dass das akzeptable Maß an Toleranz im Russland der damaligen Zeit etwas niedriger war. Diese Erklärung scheint allerdings kaum angemessen zu sein. Es muss bedacht werden, dass die russische kulturelle Elite des Fin de Siecle (und gewissermaßen auch die Gesellschaft im Ganzen) in Bezug auf Sexualität wesentlich freier war als das Wiener Bürgertum. Der Grund für die besprochenen Abweichungen vom Original liegt eher in der Textsortenspezifik. Die Traumdeutung wurde dem russischen Leserpublikum als eine fachwissenschaftliche Abhandlung präsentiert, während der Originaltext deutliche belletristische Züge aufweist. Deshalb richtet sich die russische Übersetzung eher nach den Gestaltungsnormen eines psychologischen bzw. medizinischen Fachtextes. Es handelt sich also nicht primär um kulturelle Unterschiede zwischen Österreich und Russland, sondern vielmehr um die Opposition konkreter Diskurstypen.

Ein weiterer Grund für die Unterschiede zwischen dem Original und seiner Übersetzung liegt möglicherweise darin, dass bestimmte Themen (z.B. Homosexualität) in der russischen Kultur der Jahrhundertwende stärker als im damaligen Wien tabuisiert waren.

Anmerkungen

1  | Unserem Beitrag liegen zwei Vorträge der Autoren zugrunde: »Sexualwortschatz bei Sigmund Freud« auf dem Internationalen Kongress der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik »Zwischen Ritual und Tabu« (Kairo, 3.–7. November 2010) und »Sigmund Freud in verschiedenen Kulturen« auf dem VIII. Kongress des Russischen Germanistenverbands zum Thema »Kulturelle Codes in Sprache, Literatur und Wissenschaft« (Nižnij Novgorod, 18.–20. November 2010).

2 Die dritte Auflage haben wir als Grundlage genommen, weil eben sie ins Russische übersetzt wurde.

3 Zu Parallelkorpora im »AAC« und Möglichkeiten ihrer linguistischen Anwendung vgl. u.a. Biber/Breiteneder/Dobrovol‘skij 2002. Zu Prinzipien des Alignements siehe Mörth 2003.

4 Im Jahre 1919 bemerkte Freud in einem Gespräch mit Sabina Spielrein, die seine Werke ins Russische übersetzen wollte, dass es nichts mehr zu übersetzen gebe; nahezu alles war schon übersetzt.

5 In der damals üblichen Transliteration »Die Brüder Karamasoff«.

6 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Lou_Andreas-Salomé [November 2011].

7 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Sabina_Spielrein [November 2011].

Literatur

Biber, Hanno/Breiteneder, Evelyn/Dobrovol’skij, Dmitrij (2002): Corpus-Based Study of Collocations in the AAC. In: A. Braasch/C. Povlsen (Ed.): Proceedings of the Tenth EURALEX International Congress. Vol. 1. Copenhagen.

Krafft-Ebing, Richard von (1886): Psychopathia Sexualis. Eine klinisch-forensische Studie. Stuttgart.

Mörth, Karlheinz (2003): Navigating the Markup: Treading New Paths in the Creation of Parallel Corpora. In: COMPLEX-Proceedings. (7th Conference on Computational Lexicography and Text Research, Budapest 11 April 2003.) Budapest.

Motel, Heinz (1993): Berühmte Persönlichkeiten und ihre Verbindung zu Göttingen. Göttingen.

Salber, Linde (2004): Lou Andreas-Salomé. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 6. Aufl. Reinbek b. Hamburg.

Wildt, Bert te (2008): Anderswohin tragen. Erinnerung und Sehnsucht in Wissenschaft und Kunst. Würzburg.

Лейбин, Валерий М. (1991): Развитие психоанализа в России // Психоаналитический вестник, №1, с. 32-55. 

Энциклопедия глубинной психологии (2001) / Пер. с нем. / Общ. ред. Андрея М. Боковикова. М.: «Когито-Центр», МГМ.

Эткинд, Aлександр (1993): Эрос невозможного. История психоанализа в России. СПб.: Медуза.

Цеткин, Клара (1955): Воспоминания о Ленине/ Пер. с нем. М.: Издательство политической литературы.

Педология 4 (1932).

Сталин, Иосиф В. (1931): О некоторых вопросах истории большевизма //Пролетарская революция, № 6, с. 3-12.