Léon Hanssen: Menno ter Braak (1902-1940). Leben und Werk eines Querdenkers. Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas

Münster/New York u.a.: Waxmann 2011, ISBN 978-3-8309-2464-7, 44,90 Euro

Es gibt im frühen 20. Jahrhundert wohl nur wenige niederländische Intellektuelle, die für die deutsch-niederländischen Literaturbeziehungen eine ähnlich große Bedeutung haben wie Menno ter Braak. Keine Frage, der Kulturhistoriker Johan Huizinga – der ein Cousin der Mutter ter Braaks war – ist bis heute bekannt. Flämische Autoren wie Stijn Streuvels oder Felix Timmermanns haben vor allem in den 1930er bis 50er Jahre große Auflagen in Deutschland erlebt und das Bild von der niederländischsprachigen Kultur (beide sind Belgier) in Deutschland geprägt. Der Publizist Friedrich Markus Huebner ist wohl der eifrigste Vermittler zwischen dem deutschen und niederländischen Kulturraum und hat zahlreiche Schriften vorzuweisen, mit denen er beide Kulturräume miteinander zu vermitteln suchte. Allerdings ist er heute nur noch Spezialisten bekannt.

Im Vergleich dazu sind die deutschen Publikationen ter Braaks kaum erwähnenswert. Ein Aufsatz in Klaus Manns Die Sammlung ist schon eine der am prominentesten platzierten Schriften. Weitere streitbare Essays in der Exilpresse gehören noch dazu. Bemühungen um die Übersetzung seiner großen Romane und Essays ins Deutsche waren vergeblich.

Auch war ter Braak in Deutschland sogar zu Lebzeiten kaum bekannt, was mit seinem Wirkungsraum, aber eben auch mit dem Regime zu tun hat, das in den 1930er Jahren in Deutschland herrscht. Ter Braak war ein niederländischer Publizist, Zeitschriftenherausgeber und Zeitungsredakteur, zudem die wohl schärfste und kritischste Stimme im variantenreichen Konzert der niederländischen Publizisten. Ter Braak machte vor keinem der Großen der niederländischen und internationalen Literatur halt, wenn sein Urteil negativ war. Und seine niederländischen Schriftstellerkollegen fürchteten seine Verrisse so sehr, dass sie ihm den Spitznamen »Afbraak« – also Verriss – gaben.

Ter Braak, der selber ein variantenreiches Werk verfasst hat, darunter Romane und zahlreiche Großessays, gehört zu den jungen Wilden der 1920er und 30er Jahre, zu den radikal Modernen, die den Anschluss an die internationalen modernen und avantgardistischen Strömungen suchten, an die die niederländische Literatur und Kultur den Anschluss verloren hatte. Vertreter der niederländischen Moderne wie Paul Citroen oder Theo van Doesburg, dessen publizistisches Forum die im Kanon der Avantgardepresse prominente Zeitschrift i10 war, orientierten sich deshalb intensiv an der internationalen und vor allem deutschen Avantgarde, die die Standards einer modernen Kunst setzten.

Und auch Menno ter Braaks Interesse war nicht zuletzt auf die deutsche Literatur, Kultur und Politik gerichtet. Er schrieb seine Dissertation in den frühen 1920er Jahren über Kaiser Otto III. – in Berlin. Außerdem verfasste er selbst zahlreiche Rezensionen zu deutschen Publikationen und beauftragte als Kulturredakteur der Tageszeitung Het Vaderland nach 1933 den im mallorquinischen Exil lebenden deutschen Autor Albert Vigoleis Thelen, der nach dem Krieg zu einem der großen Außenseiter der deutschsprachigen Literatur werden würde (vergleichbar mit Heimito von Doderer und Arno Schmidt, wenn auch nicht so produktiv wie diese), mit der Rezension vor allem der exildeutschen Literatur. Angeblich hatte der in Belgien, dann in den Niederlanden lebende Friedrich Markus Huebner, der bislang diese Aufgabe hatte, es abgelehnt, einen der Joseph-Romane Thomas Manns zu besprechen, um es sich mit den neuen deutschen Machthabern nicht zu verderben. Ein Glück für Thelen, der damit ein kleines Zubrot bekam, und ein Glück für die deutsche Exilliteratur, die in Het Vaderland große Aufmerksamkeit erhielt.

Ter Braaks Haltung zum Nationalsozialismus entspricht dem: Er lehnte ihn entschieden ab und bekannte sich in den 1930er Jahren zu einer demokratischen Regierungsform, wie der Biograf Léon Hanssen berichtet, bemerkenswerter Weise unter dem Einfluss seiner Nietzsche-Lektüren. Seine klare Ablehnung des deutschen Faschismus führte schließlich zum Selbstmord ter Braaks beim Einmarsch der deutschen Truppen in den Niederlanden 1940. Ter Braak war sicherlich eine gefährdete, weil entschieden antifaschistische Figur im niederländischen Kulturleben. Dennoch sind die von Hanssen berichteten depressiven Schübe hierbei wohl nicht ganz ohne Wirkung geblieben.

Ter Braaks klare Positionierung in Sachen Nationalsozialismus schließlich machte ihn zu einem der wichtigsten Weggefährten der deutschen Exilanten in den Niederlanden. Einerseits mussten sie zwar Rücksichten auf das große und wirtschaftlich für die Niederlande bedeutende Deutschland nehmen, zugleich waren die Niederlande jedoch eines der beiden großen Verlagszentren des deutschen Exils.

In dieser Gemengelage wählte ter Braak eine entschiedene Position und förderte – kritisch – das deutsche Exil: Ihm ist die Entdeckung von Konrad Merz’ Ein Mensch fällt aus Deutschland zu verdanken. Er begleitete Erika Manns Kabarettruppe »Die Pfeffermühle« publizistisch bei ihrer niederländischen Tournee. Er beteiligte sich am sogenannten Holland-Heft der Zeitschrift Die Sammlung Klaus Manns.

Schließlich Thomas Mann: Mann schätzte den Leser und Kritiker Menno ter Braak, vor allem, wenn es um sein eigenes Werk ging, das von ter Braak mit großem Wohlwollen und Wertschätzung rezensiert wurde. Ter Braak suchte die Nähe des deutschen Autors bereits bei seiner Schweizreise 1937 und dann bei dessen Niederlandereise 1939, auf der Mann zwei Sommermonate in Nordwijk verbrachte. Zwar scheiterte die Publikation eines von ter Braaks Texten in Manns Zeitschrift Maß und Wert an Ferdinande Lion, der als Redakteur die Wertschätzung Manns von ter Braak nicht teilte. Aber diese Enttäuschung beeinflusste das Verhältnis der beiden Autoren nicht nachhaltig. Der Kontakt in dieser Zeit war sehr intensiv, nicht zuletzt wegen ter Braak Position im Kulturleben der Niederlande. Eines der Ergebnisse dieser Begegnungen ist die umfangreiche, lobende Rezension von Manns neuestem Werk Lotte in Weimar in Het Vaderland, an dem Mann in Nordwijk gearbeitet hatte.

Ter Braaks Wertschätzung deutscher Autoren und seine antifaschistische Positionierung, die er in den niederländischen Diskusionen harsch vertrat, hat ihn freilich nicht die Augen vor den Schwächen der exildeutschen Publikationen schließen lassen. Er kritisierte sie heftig und beklagte nicht zuletzt ihre literarischen Schwächen, die angesichts der großen Aufgaben, vor denen die Intellektuellen und Autoren standen, um so stärker ins Auge stachen: Die Flucht in den historischen Roman und den Biografismus behagte ihm nicht. Der ästhetische Stillstand, der weite Teile des literarischen Exils erfasst hatte, irritierte ihn, was er deutlich zum Ausdruck brachte, auch gegenüber Klaus Mann, den er gleichfalls hart kritsierte.

Die 1930er Jahre, die als große und wirksamste Zeit ter Braaks anzusehen sind, nehmen in der Biografie Léon Hanssens, die nun endlich in einer deutschen Fassung vorliegt, einen breiten Raum ein. Allerdings unternimmt Hanssen mehr: Er bettet den Kritiker, Intellektuellen und Redakteur auf der Höhe seiner Schaffenskraft in ein biografisches Narrativ ein, das es erlaubt, die Entwicklung ter Braaks angemessen wahrzunehmen. Der in der protestantisch geprägten »praatcultuur«, also Redekultur, aufgewachsene und publizierende ter Braak kam aus einer alteingessenenen mennonitischen, sozial denkenden und progressiven Pastorenfamilie, wie Hanssen resümiert. Für ihn war die Lösung von diesem Milieu ein notwendiger Befreiungsschritt, um seine eigene Position formulieren zu können. Und dennoch ist er diesem Milieu nicht entkommen, bilden doch die Literatur im weitesten Sinn und die mit ihr verbundene streitbare Exegese ein wichtiges Strukturmerkmal, dem auch ein laizistischer Autor wie ter Braak verhaftet blieb.

Die Übersetzung der in den Niederlanden 2003 erschienenen einbändigen Fassung der Ter-Braak-Biografie Léon Hanssens hat Marlene Müller-Haas unternommenen. Basis dieser Fassung ist eine großvolumige, zweibändige Erstfassung, die Hanssen in den Jahren 2000 und 2001 publiziert hat (diese Fassung ist nun in der »Digitale Bibliotheek voor der Nederlandse Letteren«, www.dbnl.org, zugänglich).

Hanssen schließt damit für deutsche Leser und für die deutsche Exilforschung eine wichtige Lücke, rückt ter Braak damit doch mehr in den Vordergrund, was allerdings auch seiner wirklichen Bedeutung entspricht.

Walter Delabar