ZiG: Herr Timm, glaubt man den Beteuerungen der politischen Führungskaste sowie den Stellenprofilen international agierender Großkonzerne, so leben wir derzeit im Zeitalter der Interkulturalität. Dies mag vor dem Hintergrund des rasant fortschreitenden Globalisierungsprozesses zunächst eine triviale Erkenntnis sein, doch stellt sich ja auch die Frage, was Interkulturalität eigentlich genau für eine Kategorie sein soll: Ist Interkulturalität ein moralischer Imperativ an jeden einzelnen? Ist Interkulturalität ein politisches Programm oder ein Standortfaktor der Wirtschaft? Oder ist Interkulturalität vielleicht auch eine heuristische, ja, eine ästhetische Kategorie?
Uwe Timm: Nun, ich würde sagen, das Entscheidende am Phänomen der Interkulturalität ist zunächst einmal, dass man so etwas wie ein Staunen erleben kann. Also das, was die Griechen als thaumázein bezeichnet haben. Dieses Moment, dass man, aus der Normalität, aus der Gewohnheit heraus doch plötzlich etwas ganz anderes erfährt. Und dieses Erstaunen sollte etwas sein, das nicht gleich mit Meinungen zugedeckt wird, sondern das sich öffnet. Sie haben ja den Begriff des Heuristischen gebraucht – das wäre in der Tat ein entscheidendes Moment: neue Erkenntnisse zu gewinnen. Ich meine damit die Einsicht, dass kulturelle Voraussetzungen eben nicht biologisch gegeben sind, sondern immer einen geschichtlichen Hintergrund haben. Und aus dieser Tatsache entsteht ja so etwas wie ein Gebot der Distanz, d.h. die Notwendigkeit, sich in andere Bereiche hineinzubegeben, sich fremde Kulturen erst einmal anzusehen, anzuschauen, sie phänomenologisch zu beschreiben, und zwar ohne dabei gleich in wertende Schemata zu verfallen, wie immer positiv oder negativ die auch sein mögen. Zugleich ist diese ganze Begeisterung dem Fremden gegenüber natürlich auch verdächtig und fragwürdig. Verdächtig, im Sinne einer oktroyierten Haltung des Globalisierungssympatisanten, der alles Andere und Fremde gleichsam apriori begeistert begrüßen muss – sozusagen als interessante Novität. Es sollte doch eher so sein, dass sich das thaumázein emotional niederschlägt und von dieser Ebene aus den Erkenntnisprozess beeinflusst. Denn dieses Staunen ist eben nicht nur etwas, von dem man sagt: ›Ja, das ist jetzt ganz interessant‹, sondern etwas, das auch eine existentielle Betroffenheit mittransportieren kann und sollte, damit es ins Bewusstsein eindringen kann und nicht nur ein Oberflächenphänomen bleibt.
Interkulturalität – egal, wie man sie nun im Detail fassen mag – impliziert immer auch das Verhältnis von Eigenem und Fremden. Sie sprechen mit Blick auf interkulturelle Erfahrungen vom Staunen, vom »thaumázein«, das Aristoteles als den Beginn aller Philosophie charakterisiert hat. Wie würden Sie den Zusammenhang von Fremdheitserfahrung und Staunen im konkreten Alltag beschreiben?
Es gibt diesen Satz von Karl Valentin: Fremd ist der Fremde nur in der Fremde, der beschreibt, was eigentlich fremd ist, und wie sich das aus dem Moment heraus spitzfindig sinnleer definiert. Fremdheit, so denke ich, kann man eigentlich nur an konkreten Beispielen diskutieren. Die Fremdheit beispielsweise, die ich als Kind erlebt habe bei meiner ersten Begegnung mit US-amerikanischen Soldaten. Es war das erste Mal, dass ich einen Menschen mit schwarzer Hautfarbe sah, einen amerikanischen GI – und das war ein ganz unglaubliches Erlebnis für mich. Dieses kindliche Staunen darüber, dass es Menschen gibt, die tatsächlich eine ganz andere Hautfarbe haben. Und nun kann man sehr genau zeigen, wie in diesem Prozess der Begegnung mit dem Fremden das kindliche Staunen sofort besetzt worden ist, und zwar von dem damaligen, ja stark rassistisch betonten Bewusstsein, dass das nicht gleichwertige Menschen sind. Da ist auf der einen Seite die Unschuld des ersten Erkennens, das wirklich überraschend ist; und auf der anderen Seite wird diese Unschuld sofort überlagert und besetzt von einer damals gängigen pejorativen Wertung. Hier zeigt sich, so meine ich, dass die Basis von jeglichem Rassismus die äußerliche Abweichung ist. Und mit solchen Abweichungen ist ja jeder im ganz normalen Alltag konfrontiert. Auch hier wieder ein persönliches Beispiel, für das ich überhaupt nicht in entlegene Regionen der Welt reisen musste: Als ich als gebürtiger Hamburger nach Bayern kam, da bestand für mich das Fremdsein vor allem darin, dass ich den bayerischen Dialekt nicht richtig verstand. Und hier liegt ja eine entscheidende Erkenntnis. Zwar ist das Fremde zunächst rein äußerlich erfahrbar, aber der nächste Schritt beginnt genau da, wo die Sprache ins Spiel kommt. In dem Moment, wo man jemanden nicht versteht, ist das Fremdsein am deutlichsten. Man muss für solche Erfahrungen gar nicht nach Japan oder nach Afrika fahren. Als ich nach München gekommen war, wollte ich mir bei einem Friseur die Haare schneiden lassen (damals hatte ich noch mehr Haare). Also sitze ich vor dem Spiegel und dieser bayerische, sehr freundliche Friseur schneidet und schneidet. Und ich sitze da unter diesem Umhang und gucke in den Spiegel. Weil ich zur Höflichkeit erzogen worden bin, versuche ich dem, was der Friseur mir so erzählt, Interesse entgegenzubringen, obwohl ich kaum etwas verstehe. Ich sage also immer: »Ach ja?« und »Tatsächlich?« usw., und mit einem Mal reißt der Friseur mir den Umhang herunter und sagt: »Naußi geht’s!« Er hat mich rausgeschmissen. Meine Interpretation ist nun, dass ich ihn an irgendeinem Punkt völlig falsch verstanden haben muss und wahrscheinlich »Ah ja, stimmt!« oder mit einer anderen Floskel geantwortet habe, als er vielleicht gesagt hat »Ihr Preißen haltet uns alle für Deppen!« Ich hab es nicht klären können und bin dann zum nächsten Haarschneider gegangen, um meine halbfertige Frisur korrigieren zu lassen. Doch der hat mich auch rausgeworfen – nicht weil ich Norddeutscher war, sondern weil er dachte, sein Vorgänger hätte auf meinem Kopf Läuse detektiert. In solchen, eigentlich ganz banalen Situationen werden Fremdheitserfahrungen gemacht und dieses Moment des Fremdseins, das man phänomenologisch ja ganz genau beschreiben kann, habe ich auch heute noch in Bayern: Dass ich immer wieder stutze über die Sprache, dieses Moment des Fremden im bayerischen Dialekt. Was übrigens auch sein Gegenteil beinhalten kann: Lande ich in München, habe ich inzwischen ein heimatliches Gefühl, wenn ich die ersten bayerischen Laute höre.
Fremdheit selbst tritt offensichtlich graduell auf. Da gibt es die unauffälligen Abweichungen, die noch leicht zu integrieren sind bis hin zur existentiellen Irritation, die das eigene Selbstverständnis radikal in Frage stellt. Und genau hier stellt sich ja die Frage, wie fremd das Fremde sein darf, damit es noch verhandelbar bleibt? Gerade in der Auseinandersetzung mit dem Islam und seiner religiös verankerten Rechtskultur der Scharia kommt immer wieder die Frage auf, ob die westliche Zivilisation mit ihrem Apriori der Aufklärung und Gleichberechtigung dieser Kultur gegenüber nicht gleichsam imperialistisch auftritt. Dennoch scheint es unmöglich, diese elementaren Werte der europäischen Kultur auch nur ansatzweise in Frage zu stellen, weil durch sie erst Dialog und Verständigung möglich werden. Wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus?
Sie haben das wirklich ganz exakt beschrieben. Das Problem ist ja genau dieser Anspruch, den man hat, in der Tradition der Aufklärung zu stehen und nicht dahinter zurückgehen zu wollen. Dieser Anspruch ist nun konfrontiert mit einem ganz anderen Verständnis von Welt, von Geschichte, von Kultur. Ich würde darauf beharren, dass dieses Moment der Aufklärung gelten muss. Und zwar insofern gelten muss, solange es den Anderen nicht zwingt, Positionen aufzugeben, die für ihn konstitutionell wichtig sind in der Religion. Gleichzeitig ist die Trennung von Religion und Recht für mich absolut unhintergehbar. Ich will einfach keine Scharia haben, auch wenn Nachbarschaftsprobleme und Ähnliches mit ihr aus dem Weg geräumt werden können. Aber ich glaube auch zutiefst, dass der mühsam errungene Prozess der Zivilisation gezeigt hat, dass alles, was mit Folter, mit Steinigung und mit Todesstrafe überhaupt zusammenhängt, einfach abzulehnen ist. Diese Variationen, ob man nun einen Schleier trägt oder nicht trägt – diese ganzen Feinheiten, die wären und sind den einzelnen Gruppen zu überlassen und vor allen Dingen auch den jeweiligen Ländern, die sich ja ihre eigenen Entwicklungswege bahnen müssen und diese Wege auch notwendig brauchen, um ihren eigenen, kulturspezifischen Weg zu finden. Aber ich bin als Leser von Norbert Elias und Jürgen Habermas zutiefst davon überzeugt, dass dieser Zivilisationsprozess ein wirklicher Prozess ist, der zu einem Mehr an Autonomie des Individuums führt. Und dazu gehört natürlich auch, dass man Karikaturen zeigen kann, die mit der Religiosität distanziert umgehen. Das ist vielleicht unbequem, ist aber auch in einem langen und mühsamen Prozess erkämpft worden und nicht vom Himmel gefallen. Auch das Recht auf Blasphemie ist in dem Prozess der Aufklärung erkämpft worden. Ich würde auch dem mitunter vorgebrachten Argument widersprechen, dass das Individuum gar nicht das Ziel sein muss, dass es stattdessen eher um die Gruppe geht, dass eine bestimmte Menge an Gläubigen ihr eigenes Recht setzt. Das kann nicht das Ziel sein!
Wenn man sich etwa den Umgang mit den afrikanischen Flüchtlingen ansieht, die im italienischen Lampedusa zu hunderten im wahrsten Sinne des Wortes an Land gespült werden, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Europa auch eine Festung des Eigenen – vor allem der eigenen Interessen ist. Woran liegt es Ihrer Ansicht nach, dass wir auf der einen Seite einen weit verbreiteten Konsens mit Blick auf eine multikulturelle Gesellschaftsstruktur haben, auf der anderen Seite aber das Schicksal der kulturell Depravierten so erfolgreich ausgeblendet wird? Hier gibt es kaum öffentlichen Protest.
Ich glaube, dass diese beiden Phänomene tatsächlich zusammenhängen. Da ist das gute Gewissen, das man mit vergleichsweise unerheblichen Handlungsvorgaben nährt und das einem suggeriert, dass man liberal, verständnisvoll und human sei. Auf der anderen Seite aber in der konkreten Wirklichkeit, wo es wirklich darum ginge, Menschen zu retten, also wirklich auch zu helfen, zu teilen, und d.h. natürlich auch, ökonomisch zu teilen – da hört das ganz selbstverständlich auf. Diese multikulturellen Bekenntnisse sind nichts anderes als der moralische Firnis, der über die Wirklichkeit mit ihren gravierenden Anforderungen gelegt wird, damit man diese Anforderungen erfolgreich ausblenden kann. Diese Ungleichheit zwischen der Ersten und der Dritten Welt, um den Begriff in der Tradition von Franz Fanon zu gebrauchen, diese Ungleichheit ist ja eklatant, und die permanente Weiterausbeutung dieser Dritten Welt tritt ja jedem, der sie sehen will, deutlich vor Augen. Aber die Antwort darauf ist, dass man sich festungsartig abschottet, weil man diese Flüchtlinge nicht haben will. Gleichzeitig werden aber auch kaum Anstrengungen sichtbar, dass man in den Heimatländern dieser Flüchtlinge Voraussetzungen für ökonomische und soziale Veränderungen schafft. Es müsste einen internationalen Ausgleich geben, und zwar in einer Größenordnung, die man sich so gar nicht vorstellen kann. Ich spreche von Größenordnungen, die eigentlich nur dann diskutabel sind, wenn solche Nuklear-Katastrophen wie in Fukushima oder Bank-Katastrophen passieren, die das weltweite Finanzsystem bedrohen – wo also immer auch das Eigene bedroht ist. Aber wenn man sich vorstellen würde, man würde 87 Milliarden Euro, also Beträge, die man ohne größere Bedenken für die Hypo Real Estate ausgibt, einfach bestimmten Ländern zur Verfügung stellen, ebenfalls als Kredit mit minimalen Zinsen – wenn man sich vorstellen könnte, Länder wie Tunesien, Algerien und Ägypten, um einfach mal drei Namen zu nennen, hätten jeweils fast 30 Milliarden Euro zur Verfügung für Investitionen, dann wäre das wirklich mal ein adäquates Angebot. Aber das wird natürlich nicht gemacht, für die Notwendigkeit solcher Umverteilungen gibt es kein Bewusstsein in der Bevölkerung, die ja nur auf die Stabilisierung im eigenen Umfeld getrimmt wird.
Glauben Sie, dass die Literatur in diesem Zusammenhang Impulse geben könnte – etwa in dem Sinne, dass sie genau solche notwendigen Veränderungen im öffentlichen Bewusstsein hervorrufen kann?
In dem Moment, wo die Literatur sich dieser Problematik annimmt, wo sie in diesen Bereich beschreibend und beobachtend hineingeht, also auch von der Sprache her, ist das natürlich ein Prozess, der durchaus eine Sensibilisierung im öffentlichen Bewusstsein nach sich ziehen könnte. Allerdings ist das meines Erachtens weniger im Modus der Fiktionalität zu leisten, sondern eher im Bereich der Essayistik. Aber es ist nicht zufällig, dass solche Fragestellungen von Literaten – und ich schließe mich da ein – im Augenblick kaum verhandelt werden. Zwar werden mit großer Verve ästhetische Debatten geführt, doch der Bereich, wo es konkret wird, wo tatsächlich ökonomische Dinge behandelt werden müssten, dieser Bereich wird ziemlich ausgespart. Dabei wäre es ja durchaus denkbar, das zum Thema der Literatur zu machen – man könnte beispielsweise mit Dokumentarliteratur arbeiten. Das vermisst man auch regelrecht, und es wäre ohne Frage Aufgabe der Literatur, überhaupt erst einmal sichtbar zu machen, wo die sprachlichen Umdeutungen stattfinden. Denn es gibt ja Analysen der strukturellen ökonomischen Ausbeutung der Länder der dritten Welt durch die Industrienationen. Literatur müsste sich solche Erkenntnisse als Basis erarbeiten. Mit ästhetischer Einfühlung allein kann man solche Probleme nicht darstellen. Ein weiteres Problem ist, dass man in den afrikanischen Ländern das Subjekt einer Veränderung nicht richtig erkennen kann. Diese wirklich korrupten Regierungen, die dort die Macht ausüben und nur durch Bürgerkriege gekippt werden, aus denen neue dubiose Machthaber hervorgehen, lassen kaum Spielraum für konstruktive Ansätze. Aber jetzt mit Tunesien, mit Ägypten, mit Syrien usw. ist eine Aufbruchsituation da.
Wenn man sich jetzt Ihr Werk ansieht, so sieht man deutlich, dass es von dem ersten Roman Heißer Sommer aus dem Jahre 1974, bis hin zu Halbschatten von 2008, durchzogen ist von Begegnungen mit dem Fremden. Denken Sie, dass die Literatur durch ihre thematische Bezogenheit auf das Fremde ein ähnliches Staunen hervorrufen kann wie die konkrete Begegnung mit fremden Kulturen – und dann vielleicht auch zu einer Form von Selbstreflexion über das Verhältnis von Eigenem und Fremdem führen kann?
Ich würde mir das wünschen. Aber ich kann das natürlich selbst als Letzter entscheiden. Das ist wirklich eine Frage an den Leser, ob er dadurch zum Staunen, ob er dadurch zu einer Reflexion gebracht wird. Aber wünschen würde ich mir das natürlich. Und ein gewisser Optimismus ist dennoch da, weil es bei mir selbst so war, beim Lesen und dann auch beim Schreiben. Ich habe dieses Fremde, dieses ganz Andere immer auch auf der Folie der eigenen Identität gesehen, die damit auch in Frage gestellt wurde. Zum Beispiel die Identitätsfrage in meinem Roman Morenga (1978). Als ich damals Namibia bereiste, ist es eine ganz primäre Erfahrung gewesen, wie anders Wirklichkeit und Welt dort wahrgenommen werden kann. Man denkt ja immer, dass Zeitempfinden transkulturell ist – ist es aber nicht. Jemand kann ganz anders Zeit empfinden und beschreiben, als man das selber machen würde. Und wir Europäer stehen immer unter diesem Diktat der Rationalität des Schnellen. Auf die Frage: »Wo geht es hin?«, antworten wir immer ganz zielorientiert: »Geradeaus, rechts, links, dann geradeaus«. In Afrika ist das anders. Ich habe in Namibia mal einen deutschsprechenden Afrikaner nach dem Weg gefragt. Seine Antwort lautete in etwa: »Mr, Du musst erst immer geradeaus gehen und dann kommt ein großer Stein und dann kommt noch ein Stein, dann kommt ein großer Baum und wenn Du den Baum siehst, dann weißt Du, Du bist falsch gegangen!« Er hat also einen ganz anderen Weg beschrieben, der sich dann vielleicht irgendwo gegabelt hat. Das Wunderbare daran aber ist ja, dass er einen Weg beschrieben hat, den ich normalerweise nicht sehen würde. Das ist eine grundpoetische und epische Erfahrung. So eine Erfahrung würde ich auch meinem Leser wünschen und sie ist von mir auch intendiert. Der Roman besteht ja aus Neben- und Umwegen.
In Morenga ebenso wie in Heißer Sommer wird die Begegnung zwischen den Kulturen in Form eines Gewaltverhältnisses beschrieben, wie es um 1900 der Fall war, nämlich in Form von Kolonialismus. In Heißer Sommer taucht es in einer Episode auf, in einer relativ wichtigen, in der in Hamburg das Wißmann-Denkmal gestürzt wird. »Wißmann legen wir um!«, heißt es dort. Und diese Szene ist ja auch in der Entwicklung der Hauptfigur des Romans, Ulrich Krause, eine wichtige Episode – etwa mit Blick auf seine Emanzipation von seinem Elternhaus, wo ja auch solche Texte wie Heia Safari von Lettow-Vorbeck gelesen und an die Kinder weitergegeben wurden. Ist es denn für die damaligen jungen Leute der 1968er-Generation nicht nur Verabschiedung und Widerstand gegen die Eltern und gegen den Nationalsozialismus, sondern auch Widerstand gegen den Kolonialismus?
Ja, das ist nicht zufällig, das 1968 verbunden war mit der Anti-Apartheid-Bewegung und den ganzen Befreiungs-Bewegungen in Latein-Amerika und in Afrika, die sich gegen die noch bestehenden Kolonialverhältnisse – also Portugal speziell – richteten. Das war in dem damaligen Bewusstsein immer mit vorhanden und auch integraler Bestandteil der Studentenbewegung und der Außerparlamentarischen Opposition. Man hatte eben Franz Fanon, Nirumand und Che Guevara gelesen, da sind ja diese Kolonialstrukturen – insbesondere bei Franz Fanon – richtig analysiert. Aber ich denke, es geht noch weiter. Es ist nicht nur diese Form, die das ideologiekritisch aufgearbeitet hat – also Wißmann und Heia Safari und diese Stereotypen, wonach die europäische Kultur die dominante sei und die Afrikaner, also die Neger, wie es damals hieß, einfach nur faul und dumm seien. Die Erfahrung, auch meine Erfahrung, geht eben auch dahin, dass hier Kindheitserlebnisse latent wirken. Ich kann mich beispielweise erinnern, dass mir Kameraden meines Vaters, ehemalige Schutztruppen-Offiziere, von Afrika erzählten. Und die erzählten Dinge waren für mich als Kind höchst faszinierend, dass die schwarzen Kinder nicht geprügelt wurden und überhaupt tun und lassen konnten, was sie wollten. Und zur Schule mussten sie auch nicht gehen. Das entsprach natürlich genau dem, was man sich als Kind eigentlich wünscht, insbesondere vor dem Hintergrund des enormen Erziehungsdrucks, der auf jedem von uns lastete. Das Unheimliche ist, dass diese Menschen aus fremden Kulturen drangsaliert wurden, geprügelt und eingesperrt wegen Arbeitsverweigerung. Sie wurden mit gutem Gewissen umgebracht. Die sozialdarwinistische Vorstellung war, dass diese Völker, insbesondere die Schwarzen, sowieso zum Untergang verurteilt wären. Das war eine Basis der kolonialen Ideologie. Zugleich gab es diesen psychopathologischen Hass auf die andere, fremde Kultur. Die eigenen hochgeschätzten Tugenden waren mit einem Verlust erkauft worden. Man hasste das andere, die Freundlichkeit, die Muße, die freiere Sexualität, weil man all das zugunsten von Disziplin, Pünktlichkeit, Ordnung unterdrücken musste. Vereinfacht gesagt: Man tötete, weil man in sich selbst die Wünsche abgetötet hatte. Man prügelte, weil man selbst geprügelt worden war. Und man prügelte mit einem guten Gewissen, weil man selbst geprügelt worden war, damit man fleißig und ordentlich wurde. Dass die eigenen Tugenden mit einem hohen Preis bezahlt worden waren, geht natürlich auch in die Emotionalität ein, denken Sie nur an die ganzen Vorstellungen von freier Sexualität. Richtig daran ist, dass tatsächlich mit dem Zivilisationsprozess etwas unterdrückt worden ist.
Wir möchten noch einmal zu Morenga nachfragen: Das ist ja dann der Roman gewesen, nach Heißer Sommer, der die Begegnung zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten ganz intensiv verhandelt. Es ist ein historischer Roman, der am Anfang des 20. Jahrhunderts spielt. Die Hauptfigur, der Tierarzt Gottschalk, wird nach Deutsch-Südwestafrika geschickt, um gemeinsam mit den deutschen Kolonialtruppen den Nama-Aufstand niederzuschlagen. Hier wird einerseits das kolonialistische Gewaltsystem in aller Deutlichkeit vorgestellt, gleichzeitig aber haben wir hier auch einen Helden, der von dem sehr angesteckt wird, was Sie vorher »thaumázein« genannt haben. Und dieses Staunen scheint bei der Hauptfigur so weit zu gehen, dass er sein Leben am Ende komplett verändert. Kann man Morenga als einen Entwicklungsroman lesen, der diesen Weg vom Staunen über die Selbstreflexion hin zur Selbstveränderung vorführt?
Das finde ich eine schöne Interpretation, der ich zustimmen würde. Gottschalk fällt ja eine Entscheidung, die ihn aus dieser Schutztruppe austreten lässt, er will seinen Beruf nur noch als Zivilist ausüben. Er ist ja nicht völlig vernagelt, wie andere Offiziere, die beschrieben werden und die ein Bild von den Schwarzen haben, das es ihnen gar nicht erlaubt, überrascht zu sein. Dieses Moment des Staunens kommt gar nicht an sie heran, denn das Andere in seiner Andersartigkeit zu würdigen bedeutet ja immer auch, dass man etwas von sich selbst in Frage stellt. Und da, wo das Moment der Irritation nur mit Meinungen zugeschlagen wird, fällt dann natürlich auch die Selbstreflexion weg. Gottschalk überlegt sich ja auch, zu desertieren, aber da ist zugleich seine Einsicht, dass er das nicht kann. In der Tat ist es ja schwierig, wenn nicht unmöglich, total ins Fremde überzugehen, darin aufzugehen. Das haben manche Missionare versucht, und die sind dann zu komischen Figuren geworden, vor allem dann, wenn sie sich wie die jeweilige Ethnie kleideten, die es zu missionieren galt. Natürlich sieht man sofort: Das ist ein verkleideter Europäer – und so komisch werden die Afrikaner sie wohl auch empfunden haben.
Die Entwicklung des Gottschalk in Morenga wird ja auf sehr komplexe Weise, nämlich polyperspektivisch, erzählt; hinzu kommt, dass der ganze Roman Montagecharakter hat. Meinen Sie, dass dieser Umgang zwischen Kolonisieren und Kolonisierten aus heutiger Perspektive nur noch auf diese reflexive und zum Teil distanzierte Art und Weise erzählt werden kann? Oder anders gefragt: Wie hängt denn der Inhalt von Morenga mit der Form des Romans zusammen?
Für mich ist es in der Tat notwendig, so zu erzählen, denn ein anderes Erzählen habe ich sehr früh als neue Kolonisation empfunden. Wenn man als Autor einfach auktorial in die Afrikaner hineingeht, d.h. einfach so tut, als hätte man deren Bewusstsein, deren Weltvorstellung, deren Sicht auf andere Menschen, dann ist das einmal mehr ein kolonisatorischer Zugriff. Und da, wo das versucht wurde, ist das ja auch immer peinlich bis rassistisch. Die Diskrepanz zwischen dem, wie man mit Sprache umgeht, und dem, was Wirklichkeit ist, darf nicht einfach ausgeblendet werden. Zwischen Sprache und Wirklichkeit gibt es eine Differenz und die muss mitreflektiert werden, insbesondere wenn es ein historischer Stoff ist. Es ist ja schon schwierig, sich in die Bewusstseinslage von preußischen Offizieren hineinzuarbeiten – selbst für mich, der das noch von zuhause kannte, also die Sprache, den Ton, die Verhaltensnormen. Gänzlich unmöglich wird es dann aber bei afrikanischen Figuren.
Wenn wir uns jetzt ihrem Roman Der Schlangenbaum aus dem Jahr 1986 zuwenden, dann wechseln wir auch den Kontinent von Afrika nach Südamerika. Die Hauptfigur ist hier ein Ingenieur Namens Wagner, der ebenfalls durch die Begegnung mit anderen Kulturen einen Entwicklungsprozess durchläuft. Sind Gottschalk und Wagner ähnliche Charaktere oder gibt es doch entscheidende Unterschiede?
Ich denke, sie sind ziemlich unähnlich. Gottschalk ist eher, so sehe ich ihn jedenfalls, ein Träumer. In Morenga heißt es ja über Gottschalk: »Träumer und Juden haben keinen Platz in der Preußischen Armee« – das ist ein Moltke-Zitat. Der Wagner ist doch eher jemand, der zupackt, eine feste Vorstellung hat, ein Technokrat im guten Sinne ist – also recht normal. Gottschalk hingegen hat weit poetischere Vorstellungen. Der geht ja nach Afrika, weil er immer schon im Kolonialwahn war, im Laden seines Vaters den Safran gerochen hat usw. und sich daraus ein Vorstellungsbild von der fernen und exotischen Welt gemacht hat. Und dieses Bild muss er dann korrigieren, als er den Zusammenhang zwischen den Kolonialwaren und der kolonialen Situation erkennt. Bei Wagner im Schlangenbaum ist das ganz anders: Da geht es ja um diese Papierfabrik, die nach ganz normalen Gesichtspunkten – so wie er es erlernt und studiert hat – arbeiten soll. Damit das funktioniert, muss die Fabrik natürlich stabil gebaut werden. Dann wird Wagner damit konfrontiert, dass die Bodengutachten nicht stimmen und das Areal absichtlich falsch vermessen wurde und dass dieser Neubau wie die Titanic im Sumpf versinkt. Alles, was er jetzt dagegen unternimmt und was nach westlichen Prämissen auch sinnvoll und richtig erscheint, schlägt hier in das Gegenteil um.
Also scheint die europäische Technik gegen die südamerikanische Natur, den Urwald, keine große Chance zu haben?
Nicht solange so korrupte Verhältnisse herrschen und eine Militärdiktatur da ist. Die im Schlangenbaum geschilderten Verhältnisse entsprechen ja im Wesentlichen der tatsächlichen Situation damals in Argentinien. Ich war selber häufig dort unten und bin mit einer Deutsch-Argentinierin verheiratet. Man sieht dort die absurdesten Bauten – Kapitalvernichtung im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn Geld da ist, muss das irgendwie verbraten, also verbaut werden. Es gibt dort Brücken, mitten in der Pampa, aber keine Auf- und Abfahrt, keine Straße, die dorthin führt.
Das ist ja auch das zentrale Sinnbild des Romans: eine Brücke, die mitten in der Landschaft steht.
Ja, ich fand das so schlagend als Bild. In verkleinerter Form haben wir das auch auf den kanarischen Inseln, wo sehr viel EU-Gelder verbaut worden sind – in riesigen Straßenkreiseln beispielsweise, auf denen keine Autos fahren, sondern Esel drüber trappeln. Geld, was heute für sinnvolle Investitionen fehlt.
Auch in Ihrem letzten Roman Halbschatten aus dem Jahr 2008 spielt das Thema ›Interkulturalität‹ eine zentrale Rolle. Sie begeben sich dort wiederum in eine ganz andere Kultur hinein – in die japanische. Im Mittelpunkt dieses Romans steht die Langstreckenfliegerin Marga von Etzdorf, auf deren Grabstein steht: »Fliegen ist das Leben wert«. Erzählt wird von der unglücklichen Liebe der Protagonistin, von ihrem Flug nach Japan und von ihrem Selbstmord. Sie fühlt sich, so sagt Marga von Etzdorf einmal in einem Interview in Ihrem Roman, schwerelos, in einem Schwebezustand, wenn sie fliege. Und das Fliegen hat neben dieser unschuldigen Dimension auch eine interkulturelle, denn das Fliegen verbindet ja unterschiedliche Kulturen miteinander. In diesem Zusammenhang drängt sich aber noch ein weiterer Aspekt auf, mit dem wiederum die gewalttätige Seite von Interkulturalität zur Sprache kommt. Denn das Fliegen verbindet ja nicht nur Kulturen, sondern wird natürlich auch zur Kriegsführung eingesetzt. Daher spielt in Halbschatten auch das Militärische eine besondere Rolle, so dass der ganze Roman stark von dieser Dialektik geprägt ist, die das Fliegen auf der einen Seite als Bedingung für interkulturelle Begegnungen fasst, auf der anderen Seite aber als kriegerische Bedrohung und das Ende jeden Dialogs.
Marga von Etzdorf spricht in Halbschatten das völkerverbindende Element des Fliegens ja explizit an – wobei das natürlich sehr komplex ist, wie auch der technische Fortschritt und das ganze Fliegen, also die schnelle Überwindung großer Distanzen, selber äußerst komplexe Prozesse sind. Letztlich ist Marga von Etzdorf eine tragische Figur, die zutiefst überzeugt ist, dass das Fliegen, das an sich ja etwas Positives ist, missbraucht worden ist – im Ersten Weltkrieg ja schon, durch die Bomber und Jagdflieger. Gleichzeitig aber ist sie davon überzeugt, dass man das auch wenden kann zu einer völkerverbindenden Form. Für diesen Wunsch zahlt sie den Preis, dass sie zweimal Bruch macht, ihre Maschine verliert, und sich dann auf einen Deal einlässt, indem sie sich von den 1933 an die Macht gekommenen Nazis ein Flugzeug vermitteln lässt und plötzlich nicht mehr für sich, sondern für die Nation fliegt. Sie ist nicht mehr im ritterlichen Verständnis frei und auf Aventüre aus, sondern sie ist plötzlich Handelsvertreterin. Denn sie hat auch noch eine Maschinenpistole an Bord, die sie für eine deutsche Waffenfirma Arabern anbieten soll. Sie macht das, um fliegen zu können. Aber es ist genau das, was sie eigentlich nicht wollte. Ein Grund sicherlich, warum sie sich erschießt. Sie ist eine zutiefst tragische Figur. Das macht sie im Gegensatz zu Elly Beinhorn so interessant. Die Geschichte ist eben ambivalent. Es wäre darauf angekommen, auch politisch zu sehen, in welche Richtung das geht, wie weit man sich einlassen darf, welche Kompromisse erlaubt sind und welche nicht. Auch dieses heroische Gefühl, das sie durchaus hat – Fliegen als Völkerverständigung, Mut, Tapferkeit, auch ihr Emanzipationsanspruch als Frau, es den Männern gleichzutun – wie weit das plötzlich, in einer Zeit, wo das nationalistisch propagiert wird, höchst fragwürdig wird.
Herr Timm, Sie sind ja nicht nur ein Autor, der sehr viele Bücher geschrieben hat, sondern auch ein Autor, der permanent liest. Sie lesen Literatur aus vielen verschiedenen Kulturen. Was hat Sie dabei besonders geprägt?
Früh waren die Russen ganz wichtig und zwar die Klassiker. Tolstoi, Puschkin, Dostojewski, Lermontov, dann die US-Amerikaner: Hemingway, Faulkner, Steinbeck, dann, am Braunschweigkolleg, die Franzosen: Camus, Sartre und die französischen Klassiker. Ganz wichtig für mich, für den jungen Autor, wurden die südamerikanischen Autoren, die ich durch meine Frau kennengelernt habe, die Übersetzerin ist. Ich habe zum Beispiel schon früh García Márquez gelesen, als er bei uns noch ziemlich unbekannt war und eine Auflage von 2 000 oder 3 000 Exemplaren hatte. Garciá Márquez und andere Autoren wie Alejo Carpentier haben gezeigt, dass alles möglich ist – das hat mich ermutigt. In Deutschland gab es damals diese Diskussion, dass man keinen historischen Roman mehr schreiben könne, dass man nicht erzählen könne usw. Diese ganze Provinzialität der Literatur in den 70er Jahren, da waren permanent Verbotsschilder aufgestellt, was man alles nicht mehr durfte. Und dann kommen die Lateinamerikaner – das ist ganz wichtig gewesen – und sagen: »Es geht alles – wenn es gut ist!«
Herr Timm, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!
Das Gespräch mit Uwe Timm führten Christof Hamann und Georg Mein am 31. Mai 2011 in Köln.