Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, ISBN 978-3-8260-3952-2, 49,80 Euro
Es ist das Spannungsfeld zwischen einer Poetik programmatischer Erinnerung und einer Poetik des naturmagischen Wortes, in welchem die Lyrik Johannes Bobrowskis verortet werden kann. Letztere bezieht die ethische und ästhetische Sensibilität ihrer Sprache aus den Ungelöstheiten mit ein, die dieses Feld beherrschen. Sie figuriert die Widersprüchlichkeit, moralische Ansprüche und die mit solchen verbundene Normativität in einem poetischen Sprechen einlösen zu wollen, das in der Inkommensurabilität eines mythisch vertieften und transzendent geöffneten Gedächtnisraumes seine Resonanz findet. Gewissermaßen ist diese Lyrik ambivalent gestalteter Ausdruck eines zwiespältigen Gefühls, das sich bei dem aus Tilsit stammenden Dichter, der zehn Jahre Kriegsteilnehmer und -gefangener war, als Disposition zum Schreiben einstellte: Nämlich einerseits das Eingedenken der Opfer des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges dem kollektiven Gedächtnis einschreiben, andererseits die individuelle Erinnerung an den europäischen Osten als eine naturnah intakte, mythische Sphäre der eigenen Kindheit bewahren zu wollen.
Diese Problematik einer dichterischen Bewältigung von historischer Vergangenheit sowie von und verbunden mit existentieller Vergänglichkeit findet sich im Gesamtwerk Bobrowskis, besonders konzentriert aber in den Gedichtbänden Sarmatische Zeit (1961) und Schattenland Ströme (1962). Sie bilden deshalb die materiale Grundlage von Sabine Eggers Studie, welche in gründlicher Auseinandersetzung, genauer Umsicht und produktivem Zugriff auf die Forschung zu Bobrowski dessen Grundthematik lebens- und kulturgeschichtlichen Eingedenkens neuartig in den Blick zu nehmen weiß. Denn sie betrachtet die doppelte Poetik der Erinnerung deutscher Schuld und der Unwiederbringlichkeit mythischer Ganzheit in der Optik des interkulturellen Fremdheitsdiskurses und reflektiert sie in literarhistorischen Zusammenhängen seit der Romantik. Dadurch kann Bobrowskis ethisch motivierte Programmatik zurückgebunden werden an poetologische Fragestellungen und seine Lyrik als ästhetische Praxis dialogischer Vergegenwärtigung aufgefasst werden.
Dies ist in der Bobrowski-Forschung bislang auch dort nicht geleistet worden, wo die strukturbildende Bedeutung des Mythischen für diese Lyrik thematisiert worden ist. Denn die Verarbeitung unterschiedlichster Mythologien dient nicht allein der poetischen Verklärung der baltischen Völker, des Ostjudentums sowie der eigenen Kindheit im Memelgebiet. Sie führt über diese einerseits schuldkompensatorischen, andererseits nostalgisch-regressiven Anteile hinaus in eine Fremde, deren Erfahrung das Subjekt seiner reflexiven Vertrautheiten beraubt und es den Zumutungen eines ganz Anderen aussetzt. Bobrowskis synkretistischer Umgang mit Mythen und Mythologien bricht immer wieder das Ganzheitsversprechen alles Mythischen. Solche polymythische Fremdheitserfahrung bietet keine Erholung von Allzubekanntem, von persönlicher Schuldbelastung oder von der Überdrüssigkeit am Eigenen. Sondern sie zieht das lyrische Ich und mit ihm den Leser in den esoterischen Kreis eines Wissens um die Möglichkeiten und Grenzen von Einheit, welche nämlich nur als immer schon verlorene durch individuelle Erinnerung oder kollektive Gedächtnispraktiken ›zu haben‹ ist. Exoterisch manifestiert sich dieses Wissen heute in einer Memorialkultur, welche die mnemotechnischen Prozesse in räumlich-soziale und dinglich-materiale settings einlässt.
Egger sieht in der durch Polymythie und andere Verfahren herbeigeführten Gebrochenheit der Tendenzen zu Einheitssehnsucht, Opferüberhöhung und Vergangenheitsidealisierung nicht zu Unrecht einen Einwand gegen Befürchtungen der Forschung, Bobrowskis engagierter Literaturansatz könne durch die Esoterik seiner mytho-lyrischen Sarmatienverklärung in Frage gestellt sein. Zudem stehe – so Egger – der von der Geschichte abstrahierenden Mythisierung auch eine Tendenz zur Entmythisierung entgegen, welche die Geschichte sehr konkret erfasst. Ebenso sei die Annäherung an das Fremde stets von einer Distanzierung von demselben begleitet. Die poetisch lancierten Mythologiebezüge sind nicht durchgängig entschlüsselbar, ihre Eingelassenheit in die Verse nicht immer semantisch aufschließbar, so dass ihre mehr als relative Fremdheit den sarmatischen Erinnerungsraum zu einem xenologischen Denkraum öffnet.
Der eher verunsichernden Begegnung mit dem Fremden anstelle einer verstehenden Aneignung desselben entsprechen die literarische Selbstreferentialität und eine textuell organisierte Brüchigkeit der Sprache. Diese ist zwar grammatikalisch zu weit intakt, als dass sie als experimentell gelten kann. Sie ist aber mittels Brechungen der Syntax, durch »Verknappung bis hin zu Einzelwörtern« (Egger 2009: 83), durch ihre Reimlosigkeit, einen freien Rhythmus, die teils archetypische, teils fragmentierte Bildstruktur, mit einer rhetorischen Verselbständigung von Landschaftselementen und der poetischen Selbstreflexivität der Natur modern genug, als dass sie für Egger deutlich von traditionellen Gedichtformen wie auch von der naturmagischen Nachkriegslyrik unterscheidbar ist. Sprachskepsis, Misstrauen gegenüber der ethischen Integrität des Gedichts, der ruinöse Missbrauch des Deutschen im Nationalsozialismus oder gar der Autopsie-Charakter alles Literarischen haben – im Unterschied etwa zu Celan – indes keine wesentliche Bedeutung für Bobrowski.
So ist es nur konsequent, wenn Eggers Erkenntnisinteresse sich nicht eigentlich auf die Sprache, ihre rhetorischen Strukturmerkmale und ihre genuin ästhetische Gestaltung im Gedicht richtet. Vielmehr konzentriert es sich auf deren mediale Qualitäten, die Evokation von Landschaftsbildern, für ein Auftreten der Natur als Subjekt und letztlich für die ethische Szene des Vernehmens des Anderen selbst. Bobrowskis Gedichtsprache wird auf die in ihr versuchte Eröffnung eines Erinnerungsraumes hin untersucht, in welchem das Fremde als ein in seiner Fremdheit ganz Eigenes zur Sprache kommen soll. Dem entsprechend lenkt Egger die Aufmerksamkeit auf die sprachgestischen Formen der Anrufung, des Beschwörens und Benennens. Sie umkreisen den Ort, der namenlosen Opfern zugedacht ist, wo die Dinge im Wort fassbar wie die Zeichen aus sich bedeutsam sind, an dem Gewesenes vergegenwärtigt und das Mythische in die Geschichte eingeholt wird. Um nun diesen bei Bobrowski imaginierten Ort als denjenigen eines Kommunikationsgeschehens zwischen individueller Erinnerung und kollektivem Gedächtnis näher beleuchten zu können, führt Egger den Begriff des Dialogs ein.
Damit aber handelt sie sich auch ein theoretisches Problem ein, das bereits zu Beginn in der konzeptuellen Grundlegung der Studie durch eine terminologische Weichenstellung gelöst schien. Denn dort wurde der in den Interkulturalitätsdebatten der letzten Jahrzehnte nach den philosophischen Vorgaben Gadamers modulierte Begriff des Fremdverstehens (Wierlacher 1993) durch denjenigen der Fremderfahrung (Waldenfels 1990; 2006) ersetzt. Dies erfolgte in der methodischen Absicht, das Fremde durch seine phänomenologische Perspektivierung als eine Alius-Figur thematisieren zu können. So wird es Egger erst möglich, die jeweiligen Eigenheiten des Anderen und kulturspezifischen Kontexte Osteuropas, wie sie von der sarmatischen Lyrik aufgerufen werden, schon vom Verfahrensansatz her zu berücksichtigen. Zutreffend scheint mir auch die Annahme zu sein, dass die Poetisierung von Mythen (der Natur, der Weite, der Ebenen, der Landschaft des Ostens sowie der Kulturen der Pruzzen, Kuren, Litauer und Juden) der Vermittlung von individuellen und kollektiven Erinnerungsprozessen dient. Vielleicht ließe sich sogar zeigen, dass Bobrowski Mythen immer als Alius-Figuren einsetzt. Dies heißt aber nicht, dass alle Alius-Figuren qua Mythen auftreten. Indem Egger das Alius-Fremde auf seinen »mythischen Charakter« festlegt und Mythen in ihrer kommunikativen Funktion betrachtet, öffnet sich der analytische Durchgang vom »sarmatischen Erinnerungsraum« zum Gedicht als »Gesprächsraum« (Teil II, 129-377): Bobrowskis Lyrik als Dialog mit dem Fremden.
So kann aber auch der ungewollte Eindruck entstehen, dass das Fremde doch als das Andere (Alter) zugänglich sei: ein reflexives Gegenspiel zum Eigenen oder ein mythisch verkleideter Gesprächspartner des wechselseitigen (Selbst-)Verstehens. In dieser mit einem Mal nahe liegenden Perspektive hermeneutischen Fremdverstehens qua Dialog im Gedicht indes wäre die lyrische Rede auf den Status eines argumentativen Diskurses reduziert, ginge das Ästhetische irritationslos im Ethischen auf und Bobrowskis mytho-poetische Esoterik liefe gänzlich auf eine moralische Veranstaltung hinaus. Fremdheit, fällt dem Leser dann ein, ist freilich nicht nur Effekt von Mythenzitationen, sondern auch das nicht-mythisierende Gedicht kann als eine Alius-Figuration rezipiert werden. Schon die poetische Sprache zieht der außersprachlichen Wirklichkeit Bilder des Heterogenen ab, macht das Ich zum Fremden und kann außerdem noch Mythisches anspielen, ohne auf Dialogerzeugung aus zu sein.
Egger weiß ihre Untersuchung den hermeneutischen Fallstricken der Dialogizität allerdings dadurch zu entziehen, dass sie ihren Dialogbegriff im Sinne der Dialogphilosophie Bubers und der Dialogethik Lévinas verstanden wissen will und nicht etwa aus den diskurstheoretischen Zusammenhängen von Apel und Habermas bezieht. So gelingt es ihr, die sarmatischen Gedichte der Offenheit eines ethischen Denkraums auszusetzen, in welchem das Dialogische in den Dimensionen der individuellen Erinnerung, des kulturellen Gedächtnisses und einer rückhaltlosen Fremderfahrung ausgeleuchtet und poetologisch dekliniert wird. Die wirkungsgeschichtliche Rückbindung von Bobrowskis Poetik an das Sprachdenken Hamanns und Herders, Hölderlins und Benjamins schließlich ermöglicht eine Überführung von Eggers subtilen Gedichtanalysen in einen ästhetischen Reflexionsprozess, welcher der sarmatischen Lyrik auch über deren ethische Grundierung hinaus gerecht wird.
Letztere indes bleibt die thematische Basis auch für Eggers Untersuchung, indem sie den vom ethischen Impuls Bobrowskis ausgehenden Fragen nach Schuld und Eingedenken, Verantwortung und Gedächtnis, NS-Opfer und Erinnerung nachgeht. Hierfür zeichnet sie in einem ersten Teil (I. Theoretische Grundlagen und kultureller Kontext) bis ins 18. Jahrhundert zurückreichende Traditionslinien der Diskurse über Mythos, Geschichte und Osteuropa nach und diskutiert deren Bedeutung für die deutsche Literatur im Zeitraum 1910 bis 1965. Darin erkennt Egger Bobrowski für seine Generation ost- und westdeutscher eine Ausnahmestellung zu. Denn er wende sich in besonderer Weise Ostmitteleuropa zu, indem er die deutsche Schuld in Verbindung mit interkulturellen Aspekten thematisiert und dabei eine »Auseinandersetzung mit der Ethnizität der Opfer des Nationalsozialismus« (128) führt.
Aber nicht nur aufgrund dieser ihm zugesprochenen Sonderstellung begegnet Egger dem möglichen Einwand, dass Bobrowskis Werk womöglich nicht genug hergäbe für eine wissenschaftliche Studie dieser Größenordnung im gegenwärtigen Diskussionszusammenhang. Vielmehr geschieht dies auf der eindrucksvollen Basis seiner historisch-systematischen Kontextualisierung und dem Aufzeigen immer neuer Reflexionsperspektiven. Denn im zweiten und dritten Teil (II. Der sarmatische Erinnerungsraum als ›mythischer‹ Gesprächsraum; III. ›Mythische‹ Strukturen des Geschichtsbildes) werden diese hinsichtlich der Kernbegriffe Mythos (Cassirer) und Erinnerung noch systematisch erweitert um raumtheoretische, geschlechtertypologische, phänomenologische, archetypische, religiöse, geschichtsphilosophische und poetologische Aspekte. Die herangezogenen Referenzwerke werden nicht eigens problematisiert, sondern sie dienen einer theoretischen Kontextualisierung. Deren zunehmende Engmaschigkeit bietet der Interpretationsarbeit laufend neue Anknüpfungspunkte und verdichtet sich zu einer veritablen Gesamtdeutung der sarmatischen Lyrik. Aufs Ganze gesehen: eine sorgfältig durchdachte, aufwendig gearbeitete und überzeugend organisierte Studie zu Bobrowskis Lyrik und ihrer literaturgeschichtlichen Bedeutung, welche zugleich neue Möglichkeiten eines interkulturellen Ansatzes für die Untersuchung sprachlich-stilistischer Aspekte in lyrischen Texten aufzeigt.