The article aims in regard to the so-called ›Migrantenliteratur‹ at a theory of middle range between the mostly barren fundamental debates about inter- or trans- or multi-culturalism and often very precise interpretations of literary texts, which due to the lack of a common frame are not to mediate with each other. The proposal is to understand the texts of ›Migrantenliteratur‹ in the light of current theories of memory as cultural translations, that opens a ›third space‹ between national-cultural entities. This proposal is proved by a reading of Libuše Moníkovás novel Pavane für eine verstorbene Infantin.
Die insgesamt sehr gelungene Arbeit der Sektion »Interkulturalität als Herausforderung und Forschungsparadigma der Literatur- und Medienwissenschaft«1 auf dem letztjährigen Kongress der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG) in Warschau (30. Juli – 7. August 2010) teilte sich in zwei für die Gesamtdiskussion wohl typische Stränge: Eine, nach meiner Einschätzung, fruchtlos bleibende Generaldebatte, wer was wann und warum Inter-, Trans-, Multikulturalität oder sonst wie nennt, sowie eine Fülle von präzisen Analysen literarischer Texte, die sich jedoch nur schwer miteinander in Zusammenhang bringen ließen. Mit der im Titel meines Beitrags genannten »Bestandsaufnahme« ist somit zunächst die Frage nach einer Theorie sozusagen mittlerer Reichweite gemeint, die eine Vermittlung derartiger Einzelinterpretationen leisten kann.
Im Internet-Lexikon Wikipedia liest man, der Begriff »Migrantenliteratur« meine eine Literatur, »die von Autorinnen und Autoren geschaffen wird, die selbst oder zusammen mit ihren Eltern in ein zunächst fremdes Land migriert sind« (Art. »Interkulturelle Literatur«). Sollte jemand diese reine Autorfixierung der Unterkomplexität von wikipedia-Artikeln anlasten wollen, sei er auf das Thema der Herbst-Tagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung aus dem Jahr 2008 verwiesen, das lautete: »Eingezogen in die Sprache, angekommen in der Literatur« (Deutsche Akademie), das ja auch nur auf die Autorinnen und Autoren zielt. In einem vor einiger Zeit von H-Germanistik versandten Call for Papers war gar von einer »Literatur mit Migrationshintergrund« [Hervorh. d. Verf.] die Rede, womit eine Erfahrung der Autoren umstandslos zur Eigenschaft der Texte wird.
Zu fragen ist: Welches Lektüre-Modell liegt einem solchen Verständnis von ›Migrantenliteratur‹ zugrunde? Etwa dieses: »Poesie ist Darstellung und Ausdruck des Lebens«. Der Autor wendet sich »dem Bedeutsamen« zu und erhebt »die Erinnerung, die Lebenserfahrung und deren Gedankengehalt […] in das Typische«, so dass »das Geschehnis […] zum Träger und Symbol eines Allgemeinen wird« (Dilthey 2005: 151). Die hier zusammengestellten Zitate stammen aus Wilhelm Diltheys Das Erlebnis und die Dichtung. Man weiß allerdings, zu welch hanebüchenem Biografismus das Verständnis von Texten als Erlebnisdichtung etwa in der frühen Goethe-Philologie geführt hat. Die Suche nach einem angemesseneren Lektüre-Modell verschiebe ich jedoch zunächst für den Blick auf die Vorgeschichte dessen, was heute oft ›Migrantenliteratur‹ genannt wird.
Im Jahr 1955 warb die alte Bundesrepublik die ersten ausländischen Arbeitskräfte aus Italien an; bis zum Anwerbestopp 1973 folgten Angehörige weiterer sieben Nationen. Einige der ins Land Geholten begannen zu schreiben. Für ihre Texte fand sich das Label: ›Gastarbeiterliteratur‹, das den zynischen Begriff des ›Gastarbeiters‹ (gemeint war ja nicht Gastfreundschaft, sondern eine baldige Rückkehr in die Heimat) wiederum autorzentriert auf literarische Texte anwendete. Franco Biondi und Rafik Schami haben in ihren Bemerkungen zur Gastarbeiterliteratur im Jahr 1981 von einer »Literatur der Betroffenheit« (Biondi/Schami 1984) gesprochen, während Horst Hamm in seiner Einführung in die deutschsprachige Gastarbeiterliteratur den Begriff der »authentischen Literatur« (Hamm 1988: 48ff.) vorgeschlagen hat, weil, wie er an einem Korpus von 15 Anthologien überprüft hatte, 78,5 Prozent der darin Vertretenen eine hervorragende Berufsausbildung hatten oder sie anstrebten, also mitnichten Gastarbeiter waren (ebd.: 52). Zuletzt sind »Literatur der Betroffenheit« und »authentische Literatur« jedoch auch nur Übersetzungen von »Erlebnisdichtung«.
Bei Horst Hamm liest man: »Vor der Gründung des ›Polynationalen Literatur- und Kunstvereins‹ 1980 […] kann man von Gastarbeiterliteratur nicht sprechen« (ebd.: 31). Der deutschsprachige Name sowie die grundsätzliche Tatsache einer Vereinsbildung verweisen hier auf die/eine deutsche Kultur, die aber zugleich auf eine Vielfalt der Nationen hin überschritten wird. Biondi und Schami geben solcher ›Polynationalität‹ allerdings eine spezifische Wendung, wenn sie schreiben, die schlechten Lebensverhältnisse der Gastarbeiter hätten einerseits zur »Überanpassung« an die deutsche Gesellschaft geführt, »andererseits zur Einschalung […] in kleinen länderbezogenen Gemeinschaften« (Biondi/Schami 1984: 139). Anschließend verweisen sie darauf, dass die Größe der Kommunikationshürden zwischen Türken und Griechen davon abhänge, »wie bewusst die einzelnen sind, vor allem weil die Bourgeoisien beider Länder bis heute noch imstande sind, von ihrer Krise auf den ›Erzfeind‹ abzulenken« (ebd.: 141). Im Bezug auf diese nationalen Gruppen könnte man – mit einem Begriff, den Fritz J. Raddatz für die DDR-Literatur geprägt hat – von »Verständigungsliteratur« (Köhn 2006: 704) sprechen, die erst einmal die Lage der eigenen Gemeinschaft zu klären versucht. Biondi und Schami aber schreiben der ›Gastarbeiterliteratur‹ eine Verständigung zwischen den nationalen Gruppen zu, deren Möglichkeit sie daran binden, »wie bewusst die einzelnen sind«. Wenn dieser Formulierung der Begriff der »Bourgeoisien« folgt, wird deutlich, dass es dabei um ein Klassenbewusstsein geht. Dazu passt die Forderung: »Die erste Aufgabe der Gastarbeiterliteratur liegt im Kampf gegen die aufgezwungene Trennung unter sich und zwischen ihnen und den deutschen Arbeitern« (Biondi/Schami: 141). Dies stellt eine mögliche Rechtfertigung des Labels ›Gastarbeiterliteratur‹ als Arbeiterliteratur mit klassenkämpferischem Impetus dar. Schon im Motto des Aufsatzes antwortet ein ›Gastarbeiter‹ auf die Frage, ob er Zugang zur deutschen Kultur gefunden habe: »Wie sollte ich? Nicht mal die deutschen Arbeiter haben Zugang zur deutschen Kultur gefunden. Die ist nämlich eine Kultur der höheren Deutschen für höhere Deutsche« (Hernando 1980, zit. n. Biondi/Schami 1984: 136). Gegen die Einheit der Deutschen wird hier also eine neue Einheit gestellt: die der klassenbewussten Arbeiter aller Nationalitäten. Formalisiert haben wir es mit jeweiligen Einheiten (die Deutschen, die Türken, die Griechen, die Arbeiter etc.)2 und Oppositionen zu tun (eigen versus fremd, ›oben‹ versus ›unten‹).
1984 erscheint dann ein Themenheft der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik unter dem Titel Gastarbeiterliteratur. Am Ende seines Vorworts formuliert Helmut Kreutzer (11):
Aber die »Gastarbeiter-« bzw. »Ausländer-Literatur« ist offensichtlich nicht nur von ›literarischem‹ Interesse. Der Soziologe und der Anthropologe, der Pädagoge und der Politiker sind auf sie hinzuweisen, und im literarischen Publikum wird mancher, der »Ausländer-Literatur« ganz ohne professionelle Gründe liest, durch sie dahin gebracht werden, sich und seinen »ausländischen« Nachbarn anders zu sehen […].
Die angeführten Gründe für ihre Lektüre machen die Gastarbeiterliteratur zur »Auskunftsliteratur« (Köhn 2006: 704). Mit diesem Begriff hat Fritz J. Raddatz die Tatsache gemeint, dass Texte von DDR-Autoren im Moment ihrer alleinigen Publikation in der BRD nur mehr zur Auskunft über die Zustände im so fremden anderen Deutschland dienten. Mit dem LiLi-Themenheft aber wird ›Gastarbeiterliteratur‹ zur Auskunftsliteratur für höhere Deutsche. Diese Zuschreibung hat durchaus Teil am Zynismus des Begriffs ›Gastarbeiterliteratur‹, denn den so angepriesenen Texten wird eine eigenständige literarische Qualität höheren Grades abgesprochen (von Interesse ist offenbar nur das Was des Berichteten, nicht sein Wie), auch wenn dies mit dem Hinweis auf einen erweiterten Literaturbegriff kaschiert wird.3
Ohne mich hier auf Datierungsfragen einlassen zu können, wurde der Begriff ›Gastarbeiterliteratur‹ bald vom Begriff ›Migrantenliteratur‹ verdrängt. Das damit aufgerufene ganz andere ›Theorie-Design‹ möchte ich mit einem zwar nicht wissenschaftlichen, aber wohl schlagenden Argument belegen. Wenn man ins Vokabel-Programm leo.org den Begriff Gastarbeiter eingibt, erscheinen englische Übersetzungen wie »alien employee« oder »foreign worker«. Gibt man aber »Migrant« ein, schaltet das Programm automatisch auf die andere Suchrichtung um und bietet als deutsche Übersetzung des englischen »migrant« eben unter anderem »Migrant«.4 Mit diesem Wort ist somit das aufgerufen, was Elisabeth Bronfen, Benjamin Marius und Therese Steffen im Untertitel ihres Buches Hybride Kulturen die »anglo-amerikanische[ ] Multikulturalismus-Debatte« genannt haben. Vorausgesetzt wird nun nicht mehr eine bloße Wanderung von ›A‹ nach ›B‹, sondern eine globale Migration auf vielen Wegen. Wenn Bronfen und Marius in der Einführung formulieren, es gehe vor diesem Hintergrund heutzutage »weniger um [einen] Ausschluss des nicht Dazugehörigen […], sondern vielmehr um die Produktivität interner Differenzen« (Bronfen/Marius 1997: 3),5 dann erscheint so ein Modell, das das eben benannte der oppositionellen Einheiten übersteigt, indem es eine Pluralisierung zu Differenzen unternimmt und so, mit Homi Bhabha zu reden, einen »third space« (vgl. Bhabha 1994; Rutherford 1990) etabliert. Wer, wofür ich großes Verständnis hätte, der Bhabhaschen ›Hybridität‹ nicht viel abgewinnen kann, weil sie nicht das leistet, was ein Begriff zu leisten hat, nämlich einen Unterschied zu machen, sei auf die Verwendung des Begriffs im Aufsatz »Human Migration and the Marginal Man« des Chicagoer Stadtsoziologen Robert Ezra Park (Park 1928) oder auf Michail Bachtins Unterscheidung zwischen »intentionaler« und »organischer« Hybridisierung (vgl. Bachtin 1979) verwiesen. So aber verliert ›Migrantenliteratur‹ den Status als ›Auskunftsliteratur‹. Im neuen Theorie-Design ist nämlich nicht nur der Migrant ›hybrid‹, sondern auch die ihn aufnehmende Gesellschaft; die ›Migrantenliteratur‹ wird zum Spiegel der eben auch hybriden deutschen Leser.
In meiner Sicht bewirkt, zumindest markiert im Horizont der deutschen Literatur Feridun Zaimoglus Kanak Sprak diesen Wandel, was der Erklärung bedarf. Einleuchten mag noch, dass Kanak Sprak das alte Paradigma verabschiedet hat, da Zaimoglu in seinem immer noch zu oberflächlich gelesenen Vorwort von einer »weinerliche[n], sich anbiedernde[n] und öffentlich geförderte[n] ›Gastarbeiterliteratur‹« (Zaimoglu 1995: 11) schrieb, die tatsächlich »Müllkutscher-Prosa« (ebd.: 12) sei. Im Satz: »Die ›besseren Deutschen‹ sind von diesen Ergüssen ›betroffen‹, weil sie vor falscher Authentizität triefen, ihnen ›den Spiegel vorhalten‹, und feiern jeden sprachlichen Schnitzer als poetische Bereicherung ihrer ›Mutterzunge‹.« (ebd.), schafft Zaimoglu übrigens durch die Worte »bessere Deutsche« und »betroffen« (Biondi/Schami), »Authentizität« (Horst Hamm) und den Verweis auf einen Text von Sevgi Ermine Özdamar (»Mutterzunge« [Özdamar 1990]) so etwas wie eine Geschichte der Gastarbeiterliteratur und Rede von ihr in nuce. Weiter heißt es, dass sich die
einzelnen Kanaken-Subidenditäten zunehmend übergreifender Zusammenhänge und Inhalte bewußt [werden]. […] Inmitten der Mainstreamkultur entstehen die ersten rohen Entwürfe für eine ethnizistische Struktur in Deutschland (Zaimoglu 1995: 17).
Zaimoglu folgt damit nicht mehr dem hier anfänglich benannten Modell oppositioneller Einheiten, sondern fragt eben nach der möglichen »Produktivität interner Differenzen«.
Wie aber soll ein Buch, das meist nach dem Modell von Erika Runges Bottroper Protokollen (Runge 1968) rezipiert worden ist, für das Überschreiten einer bloßen ›Auskunftsliteratur‹ einstehen? Zur Antwort hilft die Frage, wer in diesem Buch überhaupt spricht. Die Sprache der »Kanak Kids in den Straßen«, schreibt Zaimoglu, sei ein »sich laufend weiterentwickelnde[r] symbolische[r] Jargon, der häufig als blumige Orientalensprache mißverstanden wird. Dieser Folklore-Falle mußte meine Nachdichtung entgehen« (Zaimoglu 1995: 14 [Hervorh. d. Verf.]). Und:
Sie sprachen aufs Band, manchmal aber machte ich mir Notizen, oder behielt, wenn sich eine sofortige Niederschrift situationsbedingt verbot, das Gesagte im Gedächtnis. Zudem prägte ich mir das nonverbale Umfeld der Kanak Sprak ein, das reiche Repertoire an Mimik und Gebärden (ebd.: 15).
Wichtig ist die absteigende Linie der Authentizität: Tonband, Aufzeichnungen, Gedächtnis, die allesamt vorab schon von der präzisen Bestimmung der Misstöne als »Nachdichtung« überholt worden sind, die ein »in sich geschlossenes, sichtbares, mithin ›authentisches‹ Sprachbild« (ebd.: 18) schaffe. Wenn Zaimoglu am Ende des Vorworts schreibt: »Hier hat allein der Kanake das Wort« (ebd.: 18), dann stimmt das eben nur insofern, als er für ihn spricht. Die vermeintlichen O-Töne sind ›(Nach-)Dichtungen‹. Man kann es als Hybris des Autors verstehen, dass er meint, bloß in seiner Dichtung zeige sich die hybride Sprache der Kanaken in authentischer Weise – aber dies ist keine migrantenspezifische Autorenhybris. Nur die Präzision seiner Texte, jene, wie es heißt, Konstruktion der Realität »vom Schreibtisch aus« (ebd.: 17), erklärt für mich auch hinreichend die Rezeption als O-Töne – und jenes Skandal-Potential, das sich in allen Talkshows zeigte, in denen Zaimoglu mit diesem Buch damals herumgereicht wurde. Seine, so wörtlich, »deutsche[ ] Übersetzung der Kanak Sprak« (ebd.: 17 [Hervorh. d. Verf.]) macht die Reden der Kanaken erst anschlussfähig an die Kultur der höheren Deutschen. Was somit als authentische Aussage der Kanaken (und damit im weiteren Sinne wiederum als Erlebnisdichtung) gelesen wurde, schreibt sich tatsächlich von einem poetischen und übersetzerischen Kalkül her.
Auf der Suche nach einem angemesseneren Lektüremodell der ›Migrantenliteratur‹ wende ich mich – wohl erst einmal kontraintuitiv – von Wilhelm Dilthey zeitlich zurück zur komplexeren Hermeneutik Friedrich Schleiermachers. Der benennt als Aufgabe der Hermeneutik den Versuch, »die Rede [eines Autors] zuerst ebensogut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber« (Schleiermacher 1993: 94). Damit ist immerhin etwas im literarischen Text benannt, was nicht durch die Intention oder gar das bloße Erlebnis des Autors in diesen hineinkommt, was sich sozusagen mitschreibt – einfach gesagt: als Teile des kulturellen Gedächtnisses. Schleiermacher kompliziert dies mit der Generalaussage zur Literatur: »[Ü]berall ist Konstruktion eines endlichen Bestimmten aus dem unendlichen Unbestimmten« (ebd.: 80), die bei ihm sowohl auf die Sprache des Textes wie auf die Psychologie des Autors zielt.
Der Bezug zur ›Migrantenliteratur‹ lässt sich herstellen mit Ausführungen von Gerhart von Graevenitz aus seinem Buch zum West-Östlichen Divan Goethes. Unter der inzwischen durchgesetzten Prämisse, dass sich der späte Goethe vom Symboliker zum Allegoriker gewandelt hat, skizziert von Graevenitz sein Lektüremodell des Divan an einem Erasmus von Rotterdam darstellenden Stich Albrecht Dürers (vgl. Abb. S. 83). Die Tafel im Hintergrund6 versteht von Graevenitz als Statthalter einer »allgemeinen memoria« (Graevenitz 1994: 137 u.ö.). Die vertikale Linie, die sich mittig durch das Bild ziehen lässt, verbindet diese »allgemeine memoria« mit dem Schreiben des Erasmus und den davor befindlichen Büchern. Gleichzeitig lässt sich aber eine Linie von Erasmus’ Augen ziehen, die sich im Geschriebenen mit der Linie, die vom kulturellen Gedächtnis zum einzelnen Buch führt, trifft. Das durch Erasmus’ Hand verborgene Geschriebene ist also sowohl von der »allgemeinen memoria« als auch vom individuellen Willen des Autors bestimmt. Der Betrachter aber blickt auf diese Schreibszene über die im Vordergrund lagernden Bücher hinweg. So werden die Bücher zu dem Ort, an dem der Leser ins Zirkulieren der Schriften einsteigt. Was Erasmus in seinem Geschriebenen aus dem kulturellen Gedächtnis ausgewählt und so in die individuelle Gestalt eines einzelnen Werks überführt hat, muss der Leser wieder auf die »allgemeine memoria« hin öffnen, um den Sinn des Geschriebenen und in den Büchern Gedruckten zu erfahren.7 Die Unendlichkeiten des kulturellen Gedächtnisses und die (mit Schleiermacher eben davon abgeleiteten) Unendlichkeiten der Autor-Psychologie fließen in der geformten Einheit eines literarischen Textes zusammen. Mit Renate Lachmann (1990: 37) zu reden: »Jeder konkrete Text als entworfener Gedächtnisraum konnotiert den Makro-Gedächtnisraum, der die Kultur repräsentiert oder als der die Kultur in Erscheinung tritt«.8
Wenn ›Migrantenliteratur‹ aber – wie auch immer – etwas mit der Einwanderung der AutorInnen in eine ihnen fremde Kultur zu tun hat, dann steht der von Graevenitzsche wie Lachmannsche Singular von »memoria« oder Kultur der Anwendung des explizierten Modells auf sie noch entgegen. Kultur meint eben auch immer, vereinfachend, wenn auch mit Clifford Geertz gesagt: »Lebensweise eines Volkes« (Geertz 1997: 53). Damit gerät ins Modell ein doppelter Bruch. Ins Feld der »allgemeinen memoria« ist nun eine Nationalkultur ›A‹, eine Nationalkultur ›B‹, aber eben auch ein ›third space‹ einzutragen, in dem ›A‹ und ›B‹ erst in ein Verhältnis zueinander geraten können. Es ist der Bereich, in den etwa Yoko Tawada hineinfragt, wenn sie in einem Essay »Korrespondenzen zwischen dem Theater Heiner Müllers und dem japanischen Nô-Theater« (Tawada 1992) analysiert oder sich der Struktur Celanscher Gedichte von ihren Übersetzungen ins Japanische her nähert (vgl. Tawada 1996). Die ›Migrantenliteratur‹ lässt aus den Unendlichkeiten der Nationalkulturen, der »allgemeinen memoria« und der Autorenpsychologie konkrete Texte hervorgehen, in denen die Differenzen zwischen den Nationalkulturen produktiv werden. Der Vorgang solchen Produktivwerdens kann im weiteren Sinne als kulturelle Übersetzung verstanden werden.
Um dies zu erläutern, will ich erst einmal vorführen, was damit nicht – oder zumindest nicht in erster Linie – gemeint ist. In Sevgi Ermine Özdamars Roman Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus findet sich eine dem deutschen Leser fremde türkische Welt beschrieben – in einer gelegentlich auch befremdlichen Sprache. Man liest etwa von der »Baumwolltante« (Özdamar 1992: 9) oder von »Würmer ausschütteln« (ebd.: 114) und »Schachteln lüften« (ebd.: 247). Das alles sind wörtlich aus dem Türkischen ins Deutsche übersetzte Redeweisen. Regula Müller unterstellt, dass solche Schreibweise es uns ermögliche, »ohne mitleidige oder überhebliche Gedanken, wissend und unsicher zugleich, ›der Fremdheit‹« (Müller 1997: 147) zu begegnen, womit sie die spezifische Fremdheit des dargestellten türkischen Alltags meint. Walter Benjamin hat in seinem Essay Die Aufgabe des Übersetzers, in dem sich unter anderem der Satz, dass das Wesentliche der Dichtung »nicht Mitteilung, nicht Aussage« (Benjamin 1992: 9) sei, findet, formuliert, dass »Treue in der Übersetzung des einzelnen Wortes« – und das ist es ja, was Özdamar betreibt – »fast nie den Sinn wiedergeben [könne], den es [das Wort] im Original hat« (ebd.: 17). Man begegnet so zwar der »Fremdheit«, aber eben doch nur im Sinne eines »›exotischen‹ Zaubers« (Zaimoglu 1995: 12) – oder, um Nina Hagen zu variieren: ‚alles so schön fremd hier’.
Statt mich aber auf eine weitere Benjamin-Exegese einzulassen, wende ich mich den Anmerkungen zum Übersetzen in Goethes Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des west-östlichen Divans zu, die ja auch Benjamin als mit »das Beste […], was in Deutschland zur Theorie der Übersetzung veröffentlicht wurde« (Benjamin 1992: 20), lobt. Unter dem Zwischentitel »Uebersetzungen« liest man dort von »dreyerley Arten Uebersetzung«, deren erste »uns in unserm eigenen Sinne mit dem Auslande bekannt« (Goethe 1999: 453) mache. »Eine zweyte Epoche folgt hierauf, wo man sich in die Zustände des Auslandes zwar zu versetzen, aber eigentlich nur fremden Sinn sich anzueignen und mit eignem Sinne wieder darzustellen bemüht ist« (ebd., 454). Im »dritten Zeitraum« als »höchste[m] und letzte[m]« versuche sich dann »die Übersetzung dem Original identisch« zu machen. Diese Art stoße auf Widerstand, da »der Übersetzer, der sich fest an sein Original anschließt, […] mehr oder weniger die Originalität seiner Nation« aufgebe, wodurch »ein Drittes« (ebd.: 455) (so wörtlich bei Goethe!) entstehe. Eine solche Übersetzung nähere sich der »Interlinear-Version« (ebd.: 457); »hiedurch werden wir an den Grundtext hinangeführt, ja getrieben, und so ist denn zuletzt der ganze Zirkel abgeschlossen, in welchem sich die Annäherung des Fremden und Einheimischen, des Bekannten und Unbekannten bewegt« (ebd.: 457f.). Mutatis mutandis: »Migrantendichtung« – der zweite Wortteil im Sinne Benjamins – betreibt eine Übersetzung von Kulturen ineinander, welche die Originalität einzelner Nationalkulturen aufgibt und ein Drittes entstehen lässt, in welchem »die Annäherung des […] Bekannten und Unbekannten« Platz findet.
Es folgt die notwendig kleinteilige Probe auf die Tauglichkeit des damit etablierten Modells an Libuše Moníkovás zweitem Roman Pavane für eine verstorbene Infantin9 von 1983. Im Artikel zu Moníková im Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur lautet der erste Satz zur Pavane: »Die Ich-Erzählerin Francine Pallas ist nach 1968 aus Prag in die Bundesrepublik gekommen. Ihr Gefühl des Fremdseins, ihre Verletzbarkeit und ihre Erinnerungen an Prag und an böhmische Legenden durchziehen den Text.« (Vedder 2000: 3) Dem muss man nicht widersprechen – und doch wird hier ein zu simpler Lektüreschlüssel vorausgesetzt, über den aber kaum einer der Forschungsbeiträge zur Pavane zuletzt wirklich hinauskommt,10 als bestünde die Leistung dieses Romans darin, über die Tschechoslowakei, Böhmen und Prag poetisch Auskunft zu geben.
Es beginnt schon damit, dass sich kaum einer Gedanken über den Namen der Erzählerin macht11: Francine ist das französische Pendant zu Franziska, der weiblichen Form von Franz. Pallas erinnert an Athene (eine Kopfgeburt) und kann – beim Austausch nur eines Buchstabens – als Palast für ein Schloss stehen. Der Hallraum des Namens bietet also wenig Böhmisches, eher Französisches, griechische Mythologie und einen klaren Verweis auf Franz Kafkas Schloß-Roman.
In keinem Aufsatz habe ich auch erwähnt gefunden, wie viele »Ausländer« (105 u., 106) diesen Text bevölkern: ein »Portugiese« (Moníková 1988: 11)12, eine »alte Frau aus Schlesien« (13), eine »türkische Albino-Familie« (13), »ein mieser kleiner Sudete« (14), »türkische[ ] Frauen« (14), „ein Südländer in einer roten Weste« (53), »Molukker« (54), ein »alte[r] Türke« (55), »kleine Algerier« (72), eine »dicke gutmütige Österreicherin« (88), »Slawen« (118), »Skandinavier«, »Briten«, »Österreicher« resp. »Kakanier« (alle vier: 118), »Gastarbeiter[ ]« (104); eine Szene schildert den Auftritt von Angela Davies auf einem Frauenfestival (70f.). Gewiss spielen manche Szenen der Handlung in Prag – ansonsten aber in Oberhausen (7), in Göttingen (80), auf der dänischen Insel Femø (24, 65 u. 70), in Kopenhagen (70) und Paris (66 u. 71); auch Berlin (135) und Uppsala (87) werden erwähnt. Gewiss finden sich Hinweise auf Hervorbringungen der tschechischen Kultur, aber im Verhältnis zum sonst Angesprochenen in deutlicher Minderzahl. Schon auf der ersten Seite begegnet ein »jugoslawische[r] Beitrag« (7) zum Oberhausener Kurzfilmfestival. Erwähnt wird Vittorio De Sicas Film Miracolo a Milano (16), Virginia Woolfs Orlando (19) und A Room Of One’s Own (23), eine chinesische Holzente, die die Erzählerin »Vaucansons Ente« (48) nennt und damit auf Jacques de Vaucanson, einen französischen Ingenieur und Erfinder anspielt, das Taschenbuch zur verbreitung geographischer kenntnisse von Johann Gottfried Sommer13 (vgl. 36) aus dem Jahr 1823, ein »Papinsche[r] Topf« (60), der seinen Namen dem wiederum französischen Erfinder Denis Papin verdankt, den man aber auch einfach als Schnellkochtopf hätte anführen können; erwähnt werden Ellen Betrix, Juvena, Max Factor, Helène Rubinstein, Dior und Yves Saint Laurent (alle: 64); die sechste Symphonie Allan Petterssons (76), eines schwedischen Komponisten, Maurice Ravels sogar titelgebende Pavane für eine verstorbene Infantin (40f.) sowie sein Zyklus Ma mère l’Oye (93), Kublaj Khan (85f.), ein Mongolen-Herrscher, die Beatles und Zupfgeigenhansel (beide: 93), Valeska Gert (131), der Film Los Olividados von Luis Buñuel (132), Paul Hentzners German visitor to Greenwich Palace von 1598 (vgl. 139),14 ein Gleichnis von Meister Chuan (vgl. 141), einem taoistischen Philosophen aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., sowie die Geschichte von Apollon und der cumäischen Sibylle (142). Gewiss finden sich tschechische Einsprengsel wie der Satz »Čí jsem?« (36) (›Wessen bin ich?‹) oder die Überlegung der Erzählerin, Kafka auf Tschechisch zu sagen, dass er der Schriftsteller des Jahrhunderts sei (»Jste největší spisovatel století.« [93]), aber mit Abstand mehr französische oder englische Formulierungen, wie »nature morte« (20) für Stillleben oder das Wortspiel »better a bottle in front of me / than a frontal lobotomy« (144).15 Natürlich ist viel von Kafka in diesem Roman die Rede, doch wird meist im gleichen Atemzug Arno Schmidt erwähnt – und auch Kafka steht nicht einfach für Prag, sondern für dessen spezifische Interkulturalität (nicht nur) am Beginn des 20. Jahrhunderts: das »Gemisch von Tschechen, Juden und Deutschen« (58). Als Vertreter einer böhmischen oder gar tschechoslowakischen Kultur wird Kafka jedenfalls nicht aufgerufen; in einem Traumgespräch erläutert ihm die Erzählerin vielmehr: »Sie sind [hier] erst spät verboten worden, weil man sie vorher nicht kannte, dafür aber auf lange Sicht« (93). Gewiss vergleicht sich die Erzählerin an mehreren Stellen mit Libuše, der mythischen Gründerin Prags, doch hat sie zuvor eben auch ihren Freund Jan mit »Asa-Thor« aus der Edda (81) und »Oishi Kuranosuké« (81), dem Anführer der glorreichen 47 in einer alten japanischen Sage, verglichen. Von all dem findet sich in der Forschungsliteratur kein Wort!
Zu einer bloßen ›Auskunftsliteratur‹ will auch nicht passen, dass Moníková auf das Cover ihres Buches Diego Velázquez’ Gemälde Las Meninas hat setzen lassen, wobei die Seitenverkehrung und farbliche Invertierung des Bildes auf der Originalausgabe für die Differenz zwischen Malerei und Literatur einstehen kann, die (zur Reflexion der Differenz unterschiedlicher Medien erweitert) den Roman durchaus mit bestimmt. Die Nähe der Selbstreflexivität dieses Bildes zu der des Dürer-Stichs ist evident, auch wenn ich die entsprechende Lektüre Michel Foucaults aus der Ordnung der Dinge (Foucault 1971) hier vorausgesetzt sein lassen muss. Der von Dürer wie Velazquez mit ins Bild gesetzte Einbezug des Rezipienten findet jedenfalls auch in der Pavane seinen Ort, wenn in einem der drei Versuche, ein positives Ende für die Familie Barnabas aus dem Schloß-Roman zu erschreiben, die Adresse eines Briefes aus dem Schloss nur als »An …« verzeichnet ist und man in einer Fußnote liest: »hier setzen Sie den Namen Ihres Vaters ein, – des Alkoholikers, verirrten Parteimitglieds, – dem Sie nach Jahrzehnten endlich verziehen haben« (124).
Weitgehend unkommentiert (wenngleich immerhin öfters benannt) bleibt in der Forschungsliteratur auch, dass die erste Identifikation der Erzählerin mit Libuše sich beim Anhören von Ravels Pavane (nichts Böhmisches, nirgends) ereignet. Der zweiten längeren Passage, die die Libuše-Legende aufruft, steht voran: »Auf der Südseite des Berges Petřín sehe ich in einem verlassenen Steinbruch einen Menschen liegen […], mit einem Messer in der Brust« (76). Hier ist offensichtlich von Kafkas K. aus dem Proceß die Rede; seinem erstarrten Blick folgt die Erzählerin in die chtonische Unterwelt Prags, wodurch nachvollziehbar wird, warum das Tier, dem sie durch die Tunnel der Metro nach Vyšehrad folgt, so sehr an das zuvor schon erwähnte Tier aus Kafkas Der Bau erinnert – und erst ganz am Ende als böhmischer Löwe identifiziert wird.
Für gerade mal 148 Seiten dieses Buches ist das ein wenig viel des Überlesenen!
Meiner Suche nach einer Theorie mittlerer Reichweite kommt entgegen, dass im Roman der Grund für seine eigene einseitige Lektüre schon genannt wird, wenn sich die Erzählerin zum von ihr gegebenen Arno Schmidt-Seminar denkt: »Ich werde in die unsinnige Situation gedrängt, über einen Autoren zu verhandeln, wo es darauf ankommt, ihn zu lesen« (57). Zu den Studierenden im Kafka-Seminar heißt es: »Wenn ich ihnen einen Text gebe […] und sie frage, wo er spielt, transponieren sie die Geschichte sofort auf eine symbolische Ebene, erinnern sich, was sie über Kafka gehört oder gelesen haben […], und sind nicht imstande, den konkreten Inhalt zur Kenntnis zu nehmen« (58).16 Wendet man das auf Moníkovás Pavane an, zeigt sich rasch, worum es ›wirklich‹ geht. Zu einem Gespräch mit ihrer Freundin Geneviève in Paris merkt die Erzählerin an: »Wir entwickeln unsere imperialen Vorstellungen von der Vereinigung Europas mit den Hauptstädten Prag und Paris« (71). Die Gespräche werden, wie man erfährt, in einer Mischung aus »Englisch, Französisch und Tschechisch« (74) geführt. Als eine der Besserungen, die mit der Rückkehr der Herrscherin Libuše einhergehen sollen, findet sich: »Die Richtigstellung der bohemischen Kartographie nach Shakespeare – Einzeichnung der böhmischen Küste, Die Verbesserung von Mitteleuropa« (140). Das Kursivierte zitiert den Titel eines ›Romans‹ Oswald Wieners, der, knapp gesagt, von der Allmacht der Sprache handelt. Der Hinweis auf Shakespeare gilt dessen Winter’s Tale, in dessen dritten Aufzug Antigonus fragt: »Thou art perfect then, our ship hath touch‘d upon / The deserts of Bohemia?« (Shakespeare 1974, 1584)17. Ingeborg Bachmann hat – ausgerechnet im legendären Kursbuch 15 von 1968, in dem vermeintlich der Tod der Literatur ausgerufen wurde – darauf mit einem Gedicht unter dem Titel »Böhmen liegt am Meer« reagiert, in dem es heißt: »Wollt ihr nicht böhmisch sein, Illyrer, Veroneser, / und Venezianer alle«?18 (Bachmann 1968: 95) So wird das Strukturprinzip von Moníkovás Pavane erkennbar, das höchst präzise Teile eines vor allem europäischen kulturellen Gedächtnisses (und zwar verschiedener Nationalkulturen) ineinander übersetzt.19
Libuše Moníková hat sich in einem Essay zu Jorge Luis Borges (vgl. Moníková 1990) sowohl gegen das »Aleph« (Borges 1992c) wie den »Zahir« (Borges 1992b) – das in einem Punkt kondensierte Alles oder die fixe Idee, die zuletzt die ganze Welt überdeckt – als poetologische Prinzipien ausgesprochen und für die räumliche und zeitliche (und damit auch politische) Präzision des Erinnerten plädiert.20 Vor dem Hintergrund der Unendlichkeiten der aufgerufenen Nationalkulturen wie einer »allgemeinen memoria« betreibt Moníková, die sich unumwunden als »deutsche Autorin« (Moníková 1991: 202) bezeichnet hat, also ein hochkomplexes Spiel kultureller Übersetzungen, das Böhmen den ihm zustehenden Platz in Europa erschreibt und zugleich Europa auf dieses (auch historisch) nicht am Rande stehende Böhmen verweist. Die Pavane tut dies aber nicht als ›Auskunftsliteratur‹, auch wenn darin gegen manche Unkenntnis angeschrieben wird. Von einer solchen ist gleich auf der ersten Seite die Rede, wenn die Vorsitzende des Oberhausener Kurzfilmfestivals – »etwa achtunddreißig, selbstbewußt«– unter den vertretenen Ländern die »Tschechei« nennt und die Erzählerin kommentiert: »kein Land sonst verstümmelt« (7). Später heißt es: »Ich kann mich an diese Frechheit, an die joviale Ignoranz, nicht gewöhnen, an das fette Nicht-Wissen, an die Vereinfachungen, die ostentativ falsche Schreibweise meiner Daten, dazu das touristische Know-how über die ›Goldene Stadt‹« (41f.). Doch will der Roman dem nicht durch ›Auskunft‹ über die Tschechoslowakei und Prag abhelfen, sondern dadurch, dass er die europäischen Verhältnisse unter Einbezug Böhmens literarisch ins Lot bringt. Dazu passt auch der Rollstuhl, in den sich die Erzählerin auf Grund eines nur psychosomatischen Hinkens setzt, das in der Forschungsliteratur – man ist versucht zu fragen: was sonst? – meist als Symptom einer Hysterie gedeutet wird.21 Überlesen bleibt so, dass der Rollstuhl erst in der Zeit, als sie das kafkasche Schloß fortschreibt, ins Spiel kommt und sie sich auf diese Weise eine Identität als Krüppel aneignet, deren ›Haltbarkeit‹ die Blicke der anderen bestätigen. Zuletzt aber stößt sie den Rollstuhl in einer rituellen Verbrennung (ausgerechnet am Todestag von Kafka und Schmidt) von sich, weil sie Olga Barnabas ein besseres Ende (und damit sich selbst eine andere Identität als Writer, Écrivain, Spisovatelka, Autorin) erschrieben hat. Olga wird zur Migrantin, indem sie das Dorf verlässt. Und der Roman eines literarisch verbesserten Mitteleuropas endet mit der Zeile aus einem Beatles-Song: »[S]he’s leaving home, bye bye« (147) – und damit in der aktuellen Lingua franca.
Am Ende lässt sich meine These zur ›Migrantenliteratur‹ also dahingehend zusammenfassen, dass diese vor dem Hintergrund der Unendlichkeiten einer »allgemeinen memoria« Versatzstücke aus Nationalkulturen ineinander übersetzt – und zwar im Sinne eines Produktivwerdenlassens der Differenzen. Wenn Wladimir Kaminer im ersten Kapitel seiner Russendisko die von ihm beschriebene fünfte russische Emigrationswelle an das Judentum derer, die nach Deutschland übersiedeln durften, bindet und man liest, dass sich diese Juden eben nicht »durch ihr Aussehen von der restlichen Bevölkerung« unterschieden, dass sie »blond, rot oder schwarz« sein konnten, »mit Stups- oder Hakennase«; zuletzt: »Es reichte, wenn einer in der Familie Jude oder Halb- oder Vierteljude war« (Kaminer 2000: 13) – dann zitiert er präzise die Versatzstücke eines deutschen Antisemitismus wie die ›Nürnberger Rassegesetze‹ und lässt seinen Text damit ganz im Sinne der von mir behaupteten Übersetzungen weit komplexer werden, als man es dem naiv-gewitzten Erzähler zutrauen mag.
Gesucht hatte ich ein Theoriemodell mittlerer Reichweite, das Detailinterpretationen von ›Migrantenliteratur‹ aneinander anschließbar werden lässt.22 Es versteht sich aber von selbst, dass das vorgeschlagene Modell – von Goethe her entwickelt und zwischendrin gar auf Kafka bezogen – eine tatsächliche Einhegung der ›Migrantenliteratur‹ nicht mehr erlaubt.23 Das war im Übrigen immer schon mit der »Bestandsaufnahme« im Titel meines Beitrags gemeint. Zuletzt scheint es mir auch viel eher die Frage zu sein, wie man heutigentags und zukünftig den ›Bestand‹ der (immer noch als Nationalliteratur oder aber als »Weltliteratur« im Sinne Goethes verstandenen?) Literatur selbst angemessen denkt und beschreibt – aber das wäre keine Frage mittlerer Reichweite mehr.
1 Die Sektion wurde von Ortrud Gutjahr (Hamburg) gemeinsam mit Deniz Göktürk (Berkeley) und Alexander Honold (Basel) geleitet. Vgl. online unter http://www.slm.uni-hamburg.de/ifg2/personal/Ortrud_Gutjahr/Sektion_33_Interkulturalitaet.pdf [November 2011].
2 Entscheidend ist allerdings, dass Biondi/Schami (1984: 141) »Untergruppen« bilden. Man liest in Fortsetzung der Stelle zu den »Bourgeoisien«: »Weitaus weniger bekannt ist jedoch der Abgrund zwischen den Nord- und Süditalienern, zwischen Türken und Kurden aus der Türkei. Dies alles führt zu einer Schwächung der nationalen Abgrenzungen in den Ghettos, aber auch zur Schwächung der Solidarität unter den Gastarbeitern, die durch die aufgezwungene Konkurrenz noch zusätzlich geschwächt wird«. Das Schema der oppositionell gegeneinander gestellten Entitäten bleibt dabei erhalten; es ergibt sich jedoch eine – ggf. ad infinitum – fortführbare Pluralisierung.
3 Kreuzer 1984: 8 schreibt: »Man kann so zusammenfassen: Die Literatur, auf die wir […] mit diesem Heft Literaturwissenschaftler, Kritiker, mittelbar auch das literarische Publikum hinweisen wollen, stammt von, handelt von oder wendet sich an Menschen aus dem Migranten-Milieu der Bundesrepublik Deutschland – insbesondere dem Milieu von Arbeitnehmern ausländischer Herkunft und ihren Angehörigen. Der Literaturbegriff wird dabei in einer derart erweiterten Form zugrunde gelegt, daß sich neben fiktionalen, lyrischen und essayistischen Publikationen der Print-Medien auch Aufführungen des Theaters, Spielfilme des Kinos und Sendungen des Rundfunks einbeziehen lassen«.
4 Vgl. http://dict.leo.org/ende?lp=ende&lang=de&searchLoc=0&cmpType=relaxed§Hdr=on&spellToler=&search=Gastarbeiter und http://dict.leo.org/ende?lp=ende&lang=de&searchLoc=0&cmpType=relaxed§Hdr=on&spellToler=&search=Migrant [November 2011].
5 Man liest in dieser Einleitung auch (mit Verweis auf Homi K. Bhabha, Salman Rushdie und Judith Butler): »Kultur muß als Ort des Widerstreits zwischen Repräsentationen von Welt, Subjekt, Geschichte usw. verstanden werden« (Bronfen/Marius 1997: 13).
6 Die lateinische Inschrift auf dieser Tafel lautet übersetzt: »Bild Erasmus’ von Rotterdam gezeichnet von Albrecht Dürer nach dem Leben«; die darunter stehende griechische: »Besser zeigen ihn seine Bücher.«
7 Gerhart von Graevenitz schreibt: »Im Zirkulieren der kulturellen Zeichen ist Schreiben die Spiegelung des Lesens. Der Dichter liest die Bilder und Buchstaben der allgemeinen memoria. In seinem privaten Schreiben hält er diese Zirkulation an, um seinen individuellen Text entstehen zu lassen. Über seine Leser aber wird der individuelle Text zurückfinden in den Kreislauf der memoria. Lesen und Verstehen übersetzen die individuellen Ausdrücke von Sinn in die Sinnbeziehungen der allgemeinen memoria, aus denen sie entstanden sind. Deuten heißt nicht, das im Text schon Gesagte in seiner isolierten Individualität zu verdoppeln. Deuten heißt, das genetische Verhältnis zu rekonstruieren zwischen der verbergenden Geste des individuellen Textes und der zirkulierenden memoria, aus der seine Zeichen stammen und auf die sie zurücklenken« (Graevenitz 1994: 137). Und später: »Was am Text individuell ist, bleibt unverständlich, bis der betrachtende oder lesende Blick es zurückholt in die kulturelle Wahrnehmung, es in der Lektüre anschlußfähig macht, für ein ›vergesellschaftendes‹ Verstehen« (ebd., 232).
8 Lachmann fährt fort: »So läßt sich […] sagen, daß das Gedächtnis des Textes die Intertextualität seiner Bezüge ist, die im Schreiben als einem Abschreiten des Raumes zwischen den Texten entsteht. Indem der Text sich in den mnemonischen Raum zwischen den Texten einschreibt, schafft er zugleich einen ihm selbst impliziten Raum […]. Der Text durchquert die Gedächtnisräume, läßt sich in ihnen nieder, aber er bildet auch den Gedächtnisraum selber ab. Zugleich jedoch entwirft der Text auch einen Gedächtnisraum, dessen Beschreiten er anderen Texten überläßt« (Lachmann 1990: 37).
9 Über die Tatsache, dass in der Pavane eine Schreibweise entwickelt wird, die auch Moníkovás weitere Texte bestimmt, herrscht weitgehend Einigkeit. So schreibt Antje Mannsbrügge: »In der Pavane wird […] ein Schreibverfahren entwickelt, welches auch für Moníkovás weitere Erzählungen und Romane konstituierend bleibt. […] Die Pavane kann diesbezüglich als poetologische Grundlegung betrachtet werden« (Mannsbrügge 1998: 132). Insofern gelten die nachfolgenden Befunde im Wesentlichen auch für die weiteren Romane Moníkovás.
10 Die Kritik an der Moníková-Forschung wird hier deutlich überpointiert formuliert. Tatsächlich finden sich immer wieder Stellen, die sich dem von mir hier vorgeschlagenen Lektüre-Modell nähern, auch wenn die Interpretationen zuletzt doch am im weitesten Sinne biografischen Schema orientiert bleiben. Als über einen puren Biografismus hinausweisende Stellen seien hier nur beispielsweise die zwei folgenden angeführt. So schreibt Ulrike Vedder (1998: 7): »Sie [die Texte Moníkovás] überschreiten diesen Zusammenhang [des Erlebten] aber, denn es geht ihnen nicht darum, literarisch etwas einzuholen, was biographisch geschehen ist. Vielmehr führt die Perspektive der Fremde – ähnlich wie etwa die weiblicher Autorschaft – zu einer Schärfe und Genauigkeit im sprachlichen Umgang mit den uneinholbaren Differenzen von Gegenwart und Herkunft, von Subjektivität und kulturellem ›Alphabet‹«. Noch deutlicher in die hier vorgeschlagene Richtung weist Klaus Schenks (2004: 98), wenn er (nicht nur) die »Essayistik beider Autorinnen als Reflexions- und Experimentierfeld von literarischen Schreibweisen formiert [sieht], die den Kanon von Muttersprachen und Nationalkulturen durch die Praxis kultureller Übersetzung zu durchbrechen suchen«. Dies wird aber auch in seinem Aufsatz nur bedingt weitergeführt.
11 Auch hier gibt es allerdings (wenngleich wiederum nicht ausgeführte) Ansätze. So heißt es bei Sibylle Cramer (2004: 231): »Den ersten Teil [der Schädigung] widmet die Autorin dem Widerstandshelden Jan Palach. Der Name ihrer Heldin Jana wandelt sich im zweiten Roman in den Nachnamen der Figur [gemeint ist die Ähnlichkeit Pallas/Palach], die in der Auseinandersetzung mit Franz Kafka zur Schriftstellerin wird: Franza [vgl. dazu unten Fußnote 17], bzw. Francine Pallas«.
12 Zitate aus Moníkovás Pavane für eine verstorbene Infantin werden von nun an im Text mit der bloßen Seitenzahl nach dieser Ausgabe nachgewiesen.
13 Interessant ist hier die Einfügung dieses Versatzstücks in Moníkovás Roman. Nach einem längeren kursiv gesetzten Zitat aus dem Tagebuch einer der Erzählerin bekannten psychisch gestörten Patientin im Krankenhaus ihrer Schwester liest man: »Es ist eine [übernommene] Eintragung aus den Notizbüchern des Romantikers Karel Hynek Mácha, auch die Quelle ist […] in leserlicher Schrift angegeben: Sommers Geographisches Tagebuch, 1. Jahrgang, 1823« (35f.). Karel Hynek Mácha gilt neben Božena Němcová als der Vertreter der tschechischen Nationalliteratur; weniger bekannt ist, dass er (wie Němcová) seine ersten Werke in deutscher Sprache publizierte.
14 Die Quelle des wiederum kursiv gesetzten längeren Zitats wird im Text nicht aufgelöst.
15 Klaus Schenk schreibt im schon zitierten Aufsatz: »Immer wieder schleust Moníková in ihre Schreibweise fremde Texte ein, an der sich die eigene Sprache bricht und auf eine intertextuelle Schreibweise hin perspektiviert. Der Roman zeigt eine Vielsprachigkeit, die französische, englische und tschechische Zitat- und Sprachfragmente integriert. Konstitutiv für dieses heterogene Kompositionsverfahren ist auf der Makrostruktur des Romans ein intertextuelles Geflecht von Literaturzitaten unterschiedlicher Provenienz: Joyce, Pynchon, Borges, Arno Schmidt, Max Brod und Franz Kafka werden an vielen Stellen genannt« (Schenk 2004: 105).
16 Als Francine Pallas ein Kafka-Seminar an der Universität Göttingen vorbereitet, liest man: »Ich werde eine Karte der Stadt an die Wand projizieren und die wichtigsten Orte zeigen, die mit Kafkas Biographie und mit seinen Texten zusammenhängen: die wechselnden Wohnsitze der Familie, Kafkas Anstellungsstätten, seine gescheiterten Versuche, allein zu wohnen, die Wege, die er unternahm, um sich in der weiteren, tschechischen Umgebung auszukennen« (9). An der oben zitierten Stelle fährt die Erzählerin fort: »Auch wenn ich ihnen die Merkmale aufzähle […] – weigern sie sich, es mit irgendeiner Realität in Verbindung zu setzen. Es geht ja nicht darum, daß das alles ist« (58). Zu Kafkas Text Das Stadtwappen heißt es: »In der Geschichte ›Das Stadtwappen‹, die den Turmbau von Babylon anführt, wird die vorbedachte Organisation des Ganzen erwähnt – Wegweiser, Arbeiterunterkünfte, Dolmetscher. Aber Dolmetscher wurden benötigt erst nach dem Scheitern des Projekts, in der Sprachverwirrung. / Der Vorgriff kann mehreres bedeuten: Entweder war die Sprachverwirrung, die Differenzierung der Rede voraussehbar oder sie war als Ziel des Unternehmens eingeplant; oder Kafka reflektierte seine örtliche Situation, das Gemisch von Tschechen, Juden und Deutschen – Prag hat eine Faust im Wappen.« (57f.) Während Kafkas Stadtwappen so in der Perspektive der Erzählerin als Text erscheint, der – wie alle Texte Kafkas – viel zu wenig auf Reales (und vor allem die für Prag spezifische interkulturelle Situation) bezogen gelesen wurden, ist Moníkovás Pavane das offenbare Gegenteil: Der Roman wurde bisher (zumindest im Wesentlichen) bloß auf Realität, nämlich auf die Biografie der Autorin und ihre Herkunft bezogen gelesen. Vgl. zu Kafkas Stadtwappen und Moníkovás Lektüre Weinberg 2012.
17 In der Schlegel-Tieck-Übersetzung lautet die Stelle: »Bist du gewiß, daß unser Schiff gelandet / An Böhmens Wüstenei’n?« (Shakespeare 1975: 537).
18 Moníková kommentiert dieses Gedicht in: Prager Fenster. Essays (Moníková 1994: 56ff.); vgl. auch Haines 2004. Auf Bachmann weisen in der Pavane auch die zwei Männer in Francines Leben hin, die die Personenkonstellation in Malina spiegeln, sowie die Tatsache, dass ihre Schwester von ihr einmal als »Franza« (39) spricht.
19 Vgl. vor diesem Hintergrund die gerade am Prager Institut für germanische Studien von Lucie Koutková eingereichte Dissertation: Hell-Dunkel-Dichotomie als Darstellung des Machtdiskurses im Werk von Libuše Moníková. »Für schwarze Küken!« (2011). Auch wenn (genauer aber: gerade weil) die Arbeit nicht theoretisch präzise klärt, was mit der »Hell-Dunkel-Dichotomie« gemeint ist – abwechselnd ist von einer Stil-Figur, einer figuralen Methode oder einer figuralen Struktur die Rede –, gelingt es der Verfasserin doch in jeder Hinsicht überzeugend eine (immer wieder auf ein Anderes hin geöffnete) Hell-Dunkel-Opposition als ein Grundmuster von Moníkovás Texten zu erweisen. Da in dieses »Hell-Dunkel« aber auch andere Oppositionen einbezogen werden, scheint mir die Arbeit die hier gemachte Voraussetzung eines grundsätzlichen Übersteigens von Dichotomien auf einen »dritten Raum« hin mit vielen Beispielen zu bestätigen.
20 Vgl. hierzu Antje Mannsbrügge (2001: 170): »Während im ›Aleph‹ – dem kleinen Loch, in dem alles zu sehen ist – die Welt eine magische Präsenz gewinnt, reduziert sie sich im ›Zahir‹ – der fixen Idee – auf einen winzigen, alles andere verdrängenden Aspekt. Zu beiden Extremen kann sich das Subjekt nicht produktiv ins Verhältnis setzen. Während es im ›Aleph‹ verschwindet, weil es Teil der magischen Präsenz ist und seinen eigenen Standorts seinerseits nur durch das Vergessen des ›Aleph‹ etablieren kann, löscht es sich im ›Zahir‹ aus, weil neben der fixen Idee kein Wahrnehmungsraum mehr übrig bleibt. Moníková betrachtet die Möglichkeiten des Schriftstellers daher sowohl im ›Aleph‹ als auch im ›Zahir‹ als stagniert: ›Der Vergleich zwischen Borges im Zahir und Borges im Aleph stellt zwei Schriftsteller einander gegenüber, die beide im ›Abdanken‹ begriffen sind: der eine unter der Last einer fixen Idee, der andere in Routine und Lakonismen stagnierend.« Man liest weiter: »Für die Position zwischen ›Aleph‹ und ›Zahir‹, wie sie im Titel auch als Gedächtniskonzept Moníkovás angekündigt wurde, ist die Aufrechterhaltung einer Instanz entscheidend, die sich zur erinnerten Welt in Bezug setzen kann.« (Ebd.: 173) Und: »So ist Moníkovás Gedächtniskonzept jenseits des imaginierten Pendels vom ›Aleph‹ zum ›Zahir‹ in einer Zwischenposition zu verorten, die – mit Blick auf Funes’ Gedächtnisvariante [in Borges’ Erzählung: Funes el Memorioso; deutsch: Das unerbittliche Gedächtnis] – kritisch bleibt gegen die eigene Statik und drohende Verbindungslosigkeit, die jedoch ebenso um ihre eindimensionalen und höchst subjektiven fixen Ideen kreist wie sie den Erinnerungsraum multiperspektivisch erweitert« (ebd.: 174). Zu den Erzählungen Aleph und Das unerbittliche Gedächtnis (Borges 1992a) von Borges vgl. Weinberg 2006: 78ff. Vor dem Hintergrund der dort zugrunde liegenden These, dass sich über das Gedächtnis im Grunde gar nicht sprechen lässt, da man es immer schon mit einer (in einen infiniten Regress auslaufenden) Anwendung des Gedächtnisses auf sich selbst zu tun habe, die sich auf der Ebene der ›Gedächtnisinhalte‹ (wie der abendländischen Rede zum Gedächtnis) als Doppelkodierung von Unendlichkeit und Einheit(en) zeige, lässt sich gerade dieses Doppelte von Unendlichkeit und Einheit auf je andere Weise im »Aleph«, im »Zahir« und im Gedächtnis des sich umfassend an jede Kleinigkeit erinnern könnenden Funes konstatieren. Moníková versucht, den ›Halt‹ zwischen Verunendlichung und Vereinheitlichung auf eine Weise zu finden, dass immerhin auch noch konkrete (etwa politische) Aussagen möglich sind, ohne dass der unendliche Möglichkeits-Spielraum der Literatur dabei beschränkt würde.
21 So schreibt etwa Maria Kublitz-Kramer (1993: 107): »Dabei ist Francines Hinken ein Zeichen, dessen ›Wahrheit‹ es zu entdecken gilt. Im Text präsentiert es sich als hysterisches Symptom«. Prompt ist dann auch von »Lacans Diskurs des Hysterischen« (ebd.: 108) die Rede.
22 Ich habe das hier vorgeschlagene Modell auf der von Ortrud Gutjahr organisierten Tagung »Fremde Wasser« (23./24. Juni 2011) über und mit Yoko Tawada anlässlich ihrer Hamburger Poetik-Dozentur auch an deren Text Das Bad erprobt. Der Aufsatz Von Spiegeln, Fotos und Worten. Zu Yoko Tawadas frühem Kurzroman »Das Bad« wird im zugehörigen Sammelband im Konkursbuch-Verlag erscheinen.
23 Gleichwohl lässt sich argumentieren, dass die so genannte ›Migrantenliteratur‹ die Grundstruktur kultureller Übersetzungen in besonders deutlicher Weise zeigt und ausstellt.
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