The topicality of Uwe Timm’s novel Morenga with its critique of colonialism, 33 years after its publication, is investigated against the backdrop of recent studies about the author and is newly positioned within the coordinates of post-colonial studies. The polyphonic layout, the scrutinizing scepticism with regard to the utopia of the foreign (and its intrapsychic power of projection in the colonial desire of the individual) as well as in particular the description of areas of contact and transgression of borders can be read as a new cartography of an almost forgotten part of history – long before post-colonial studies began to establish themselves in the German language arena. Whereas Timm has been ascribed to have used an aesthetics of failure, this contribution undertakes a different reading, taking note of the intertextual layering and deciphering it as a cultural topography of the open space.
[A]ls kleiner Junge hatte ich eine große Passion für Landkarten gehabt. Stundenlang konnte ich Südamerika oder Afrika oder Australien betrachten und mich in die Herrlichkeiten des Entdeckerlebens verlieren. Zu jener Zeit gab es noch viele weiße Flecken auf der Erde […]. Doch da war noch einer – der größte, der weißeste sozusagen – nach dem ich mich besonders sehnte. Freilich war er inzwischen längst kein weißer Fleck mehr. Er hatte sich seit meiner Jugend mit Flüssen und Seen und Namen gefüllt. Er hatte aufgehört, ein leerer Raum köstlicher Geheimnisse zu sein. (Conrad 1977: 16)
In diesem kurzen Abschnitt aus Joseph Conrads wirkungsmächtiger Erzählung Herz der Finsternis (1899), in dem Kapitän Marlow seinen Zuhörern erklärt, was ihn zu seinen afrikanischen Abenteuern getrieben hat, sind all jene Imaginationskräfte und Passionen versammelt, welche die Entdeckungsgeschichte wie auch die koloniale Inbesitznahme gleichermaßen angetrieben haben. Es ist das Neue, noch nie Gesehene, welches das Begehren weckt – und wofür die Kartografie der weißen Flecken als Statthalter einsteht. Auch lange nach dem Verschwinden der Erdrandsiedler, Kopffüßler und Hundsköpfigen waren es noch die szenischen Illustrationen der Landkarten, die von dem ganz unbegreiflich Anderen kündeten, etwa von den brasilianischen Kannibalen, die ihre Beute genüsslich auf dem Spieß drehten oder die Filetstücke zum Abhängen auf den Bäumen verteilten. Wo gar nichts war, da gab es Löwen: Hic sunt leones.
Allerdings müssen zu diesen weißen Flecken, die immer schon mit einer fantastischen Imagination des Anderen überzogen waren, die Beglaubigungen durch die Berichte jener hinzukommen, die die Terra incognita bereits in Augenschein genommen haben. Das autoptische Element, also jene durch den autobiografischen Bericht erzeugte Authentizität des Visuellen, durchzieht alle Berichte vom Fremden. Kolumbus bezeugt, die Sirenen mit eigenen Augen gesehen zu haben, und auch, dass sie nicht so schön waren, wie man gemeinhin geglaubt habe.
Conrad wird von Edward Said in seinem Buch Kultur und Imperialismus (1993)bescheinigt, dass er eine Ausnahmeposition innerhalb der Kolonialschriftstellerei innehabe, insofern er sich seiner Agententätigkeit für ein imperiales System durchaus bewusst gewesen sei und dennoch aufgrund seiner eigenen Außenseiterposition als polnischer Expatriierter »ironische Distanz« (Said 1994: 63) wahren konnte. Wahrscheinlich ist es genau jene Ambivalenz dem imperialen Abenteuer gegenüber − eher als ironische Distanz –, die Conrads Erzählung zur Folie aller auf ihn folgenden Erzählungen vom dunklen Kontinent werden ließ. Dem angeblich ›leeren Raum‹ war dabei als Beschreibungskategorie imperialer Ermächtigungspraktiken eine ebenso ungebrochene Fortdauer beschieden wie als Projektionsfläche innerhalb der literarischen und wissenschaftlichen Faszinationsgeschichte Afrikas. Und die damit verbundenen »köstliche[n] Geheimnisse« treiben auch den Afrika-Diskurs der Gegenwart ungebremst voran – und seien es die erotischen Geheimnisse hochgewachsener Massai (vgl. Göttsche 2003).
Einen vergleichbar vielschichtigen protokolonialen Text gibt es im deutschen Sprachraum nicht. Viele der von Sibylle Benninghoff-Lühl (1983) untersuchten deutschen Kolonialromane überzogen die kolonialen Antriebskräfte mit romantischer Tünche; Jugendbücher wie das von Paul von Lettow-Vorbeck geschriebene Heia Safari! (1920) perpetuierten den ›Kolonialgedanken‹ noch lange nach dem Ende des deutschen kolonialen Abenteuers und bis zur Renaissance der ›Lebensraum‹-Gewinnung im Osten Europas (vgl. Lützeler 1998: 25).
Zu diesen Kontinuitäten, die bis heute durchaus strittig sind,1 gibt es erstaunlicherweise erst in jüngerer Zeit vermehrt Untersuchungen. Erst mit dem Paradigmenwechsel in Historiografie und Literaturwissenschaft und der Institutionalisierung der postkolonialen Studien änderte sich allmählich der Wahrnehmungsfokus auf den deutschen Kolonialismus als einen räumlich und zeitlich begrenzten, ›humanen‹ und kulturbringenden auch im ehemaligen Westdeutschland, wohingegen es in der DDR bereits in den 1960er Jahren kolonialismuskritische Untersuchungen gegeben hatte.2 Es muss hier genügen, auf den ursächlichen Zusammenhang mit den Unabhängigkeitsbewegungen und Befreiungskriegen in den Kolonien hinzuweisen, auf die sie begleitenden Fanaltexte eines Frantz Fanon, etwa Die Verdammten dieser Erde (2001), und die Entstehung wissenschaftlicher Theorien wie der Dependenztheorie, welche die marxistischen Imperialismustheorien revidierten oder um grundlegende Einsichten etwa sozialpsychologischer Art ergänzten (so bei Mannoni 1964). Saids Werke zum Orientalismus (1978)3 und zu Kultur und Imperialismus waren wegweisende Arbeiten der Postcolonial Studies, die die projektive Kraft hegemonialer kultureller Stereotype untersuchten. Dass es »Kolonialphantasien« schon im »vorkolonialen Deutschland« gab, rückte erst 1999 die Untersuchung von Susanne Zantop4 in kritischer Absetzung von Said in den Blick, der Deutschland neben den »principal colonial powers« (Said 1994: 100) Großbritannien und Frankreich nur eine ›gewisse Rolle‹ zugestehen wollte und daher weniger Machtorientierung im deutschen kolonialen Diskurs fand. Zantop wendet sich mit ihrer Untersuchung explizit gegen diese Verharmlosung und stellt die »Koloniallegende vom Deutschen als dem besten Colonisator und Cultivator« infrage, indem sie die (interessanterweise auf Südamerika gerichteten) »Kolonialphantasien als Vorbereitungs- und Begleitphantasien für koloniales Handeln« (Zantop 1999: 17, Anm. 11), als »imaginären Testort für koloniale Unternehmungen« (ebd.: 16) versteht. Zantop sieht Deutschlands Sonderstellung aufgrund seiner erzwungenen »kolonialen Enthaltsamkeit« (ebd.: 18) nicht als »humanisierenden« Faktor − im Gegenteil: »Der Kampf des Nachzüglers um nationale Einheit […] schuf besonders ethnozentrische, exklusive, sogar aggressive Phantasien.« (Ebd.)
Wehlers Studien zum Imperialismus (vgl. Wehler 1979) zeigen deutlich auf, dass der Imperialismus der 1880er Jahre »weniger einem überschäumenden Kraftgefühl und Vitalismus, sondern eher aus der Schwäche der Industriestaaten [entsprang,], mit der explosiven Industrialisierung im Inneren fertig zu werden« (ebd.: 268), also als »Spannungsableiter« (ebd.: 278) fungierte. Bismarck habe zunächst die »Flagge dem Handel folgen lassen« (ebd.: 269) wollen, sei aber immer mehr in eine Zwangslage geraten: Auf der einen Seite drängten Woermann, Lüderitz und Peters, die sich unter heftigem Konkurrenzdruck sahen, auf der anderen Seite schienen die europäischen Mächte, insbesondere England, bereits jene Claims abzustecken, die die nationalen Interessen (und d.h. Absatzmärkte für die Überproduktion und seit den 1890er Jahren Rohstoffe) auch in Zukunft sichern sollten. Deutschland drängte an seinen »Platz an der Sonne« (Bernhard von Bülow).5 Immer mehr wurde eine Stimmung der Kolonialbegeisterung, ja des »Kolonialfiebers« geschürt, um so einen innernationalen »Integrationspol« zu schaffen:
Der um sich greifende Kolonialenthusiasmus, der in überseeischen Absatzmärkten und eigenen Kolonien ein Palliativ gegen die anhaltende Misere im Inneren zu finden hoffte, läßt sich daher auch als eine spezifische Krisenideologie begreifen […]. Häufig wirkte der ›Kolonialrausch‹ sozialpsychologisch als eine Form des Eskapismus vor den sozialökonomischen und politischen Problemen der Depressionszeit und der einschneidenden Transformation zur Industriegesellschaft. Dieser Zusammenhang wird dadurch bestätigt, daß das hohe ›Kolonialfieber‹ fiel, als seit 1886 der Konjunkturpegel wieder anstieg. Die Parallele zum politischen Antisemitismus dieser Jahre – einer anderen Form jenes Eskapismus – ist evident. (Ebd.: 275)
In Uwe Timms Roman Morenga (1978) werden diese auch nach dem erfolgten ›Erwerb‹ von Kolonien anhaltenden Spannungen in Rückblicken aufgegriffen, in denen einige der Figuren in Diskussionen oder Feindseligkeiten mit Sozialdemokraten verwickelt werden. In Gerhard Seyfrieds 2003 erschienenem Roman Herero, der von der Thematik mit demjenigen Timms vergleichbar ist,6 heißt es hingegen, Bismarck sei von Anfang an gegen Kolonien gewesen (vgl.: 30).
Um 1870/80 kann eine Epochenzäsur angesetzt werden, für die kolonialgeschichtlich die europäische Okkupation Afrikas maßgeblich war, »ein einzigartiger Vorgang der zeitlich konzentrierten Enteignung eines Kontinents.« (Osterhammel 1995: 40) Die Entdeckung von Diamantenvorkommen (1867) und Goldlagerstätten (1886) trieb den Scramble for Africa voran und beschleunigte die konfliktbegleitete Aufteilung Afrikas durch die zwischen den europäischen Großmächten vertraglich geregelte gegenseitige Anerkennung von Kolonien und Einflussgebieten, deren willkürliche Grenzziehungen mit dem Lineal bis heute die Grenzen der unabhängig gewordenen afrikanischen Nationalstaaten bilden (vgl. ebd.: 41).
Der deutsche Kolonialismus, so wurde bereits angedeutet, war keineswegs marginal: Seit 1884 war Deutschland eine Kolonialmacht und avancierte bald zum »drittgrößten Kolonialland der Welt mit einer Kolonialfläche von über 2 ½ Millionen Quadratkilometern vor allem in Afrika, aber auch in der Südsee und in Asien.« (Lützeler 2005: 96 ) Vom Volk ohne Raum des Kolonialschriftstellers Hans Grimm (1926 erschienen) zum ›Lebensraum im Osten‹ war es ideologisch nur ein folgerichtiger Schritt.7 Beidem lag ein geistiger Kern zugrunde, der sich aus Rassismus, Ethnozentrismus und zivilisatorischem Sendungsbewusstsein speiste. Osterhammel definiert in seinem Standardwerk Kolonialismus als
eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich durchgesetzt werden. Damit verbinden sich in der Neuzeit sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen. (Osterhammel 1995: 21)
Dass dieses Sendungsbewusstsein auch nach 1945 nicht erlosch, ist hinlänglich bekannt. Hinzu kamen Rechtfertigungsstrategien, welche die Rolle Deutschlands retrospektiv schon in Bezug auf die hochimperialistische Phase des Kaiserreichs als ›segensbringend‹ und letztlich auch den Kolonisierten dienend darzustellen suchten. In vielen Bücherbeständen der 1950er Jahre dürfte man jene Werke alter ›Südwester‹ gefunden haben, in denen der nostalgische Blick auf die deutsche, d.h. der ›Hottentottenwirtschaft‹ entgegenwirkende kulturbringende Mission bis zum Äußersten verklärt war (vgl. Hermand 1995: 50f.). Es bedurfte einer theoretisch weit reichenden Aufarbeitung des Faschismus in den Ansätzen der Frankfurter Schule und durch Hannah Arendt, um die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (so Arendts Standardwerk von 1958) in den Fokus zu nehmen. Der totalitäre Charakter war gleichursprünglich verheerend in den Kolonien Deutsch-Südwest- und Deutsch-Ostafrika am Werk wie später in den ›deutschen Ostgebieten‹. Die ›Schutzherrschaft‹ im heutigen Namibia kann – darauf wird von verschiedenen Seiten hingewiesen8 – aufgrund ihres systematischen Charakters der Konzentrationslagerverwaltung und der Verbringung der überlebenden Nama auf die klimatisch extrem lebensfeindliche Haifischinsel sowie der rassistischen Grundeinstellung durchaus als »Antizipation des deutschen Faschismus« (Ridley 1995: 360) gelten. Nicht die Gewaltexzesse einzelner waren es, die zum ansonsten milden Regime der Schutzherren nicht passten, sondern gerade das Systematische daran kennzeichnet eine in sich gewaltförmige Interdependenzbeziehung zwischen Kolonialisten und Kolonisierten, wie sie vielfach in den sozialpsychologischen Werken der Kolonialismuskritik aufgearbeitet wurde. Sartre hat diese intrikate Beziehung im Rekurs auf Albert Memmi, einen der bekanntesten Kolonialismuskritiker, in die kurze Formel von der »Selbstentfremdung des Unterdrückers« (Sartre 1980: 9) innerhalb der kolonialen Situation gefasst. Dass mit der Aufarbeitung des deutschen Faschismus, der kolonialen Unabhängigkeitsbewegungen und der Kolonialismuskritik ein konvergierender theoretischer Background für die Studentenbewegung entstand, ist kein Zufall. Dass es dennoch, auch nach dem Entstehen etwa der deutschen Anti-Apartheid-Bewegung, noch enormen Aufklärungsbedarf bezüglich des deutschen Kolonialismus gab, zeigt sich am Erscheinungsdatum von Uwe Timms Roman, der sich des Themas als erster westdeutscher Autor angenommen hat: Morenga erschien 1978, vor nunmehr erst 33 Jahren also.
Dass Morenga ein historischer Roman sei, stand für die zeitgenössische Rezeption außer Frage. Sein Titelheld Morenga, oder auch, nach anderen Quellen, Marengo, wurde 1875 im heutigen Namibia geboren und fiel 1907 bei Eenzamheid. Den historischen Hintergrund bilden die Aufstände der Herero und Nama gegen die deutsche Kolonialherrschaft in den Jahren zwischen 1904 und 1907 bzw. 1908. Während die Herero in offenen Feldschlachten von den Deutschen massenhaft hingemetzelt wurden, brachten die Nama den zahlenmäßig weit überlegenen deutschen ›Schutztruppen‹ empfindliche Verluste bei, weil sie sich die bessere Kenntnis des Landes zunutze machten und eine neue Form der Kriegsführung anwandten, die man als Guerillataktik bezeichnet hat. Morenga gilt aufgrund seiner außergewöhnlichen kriegsstrategischen Fähigkeiten als einer der ersten Guerillakämpfer.10 Alfred Andersch lobte diesen Roman auch deshalb, weil man sonst von diesem Krieg nichts gehört hätte: »Ohne Uwe Timms ›Morenga‹ zu kennen, wird man in Zukunft über die deutsche Kolonialgeschichte nicht mehr nachdenken können« (so Andersch im Klappentext der Taschenbuchausgabe).
Als historischer Roman gilt Timms Text aber nicht nur wegen seines Sujets, sondern auch deshalb, weil historisch verbürgtes Quellenmaterial, Generalstabsberichte von entscheidenden Gefechten, Proklamationen, Berichte aus dem Aktenbestand des Gouvernements von Deutsch-Südwestafrika, aus der Kolonialabteilung und aus kolonialismustheoretischen Texten verwendet werden. Dass Timm sorgfältig recherchiert habe und mit den Quellen historiografisch genau umgegangen sei, gilt als ausgemacht. Die Montage solchen verbürgten Quellenmaterials (ebenso wie der auf einer Reise nach Namibia beruhende autoptische Erfahrungshintergrund) dient der Authentifizierung des Erzählten. Gegenüber der fabulierend ausschweifenden Kolonialromantik zahlloser (auch heute völlig unbekannter) Kolonialschriftsteller ist die Zitation etwa von Berichten aus dem Aktenbestand des Gouvernements von Deutsch-Südwestafrika über die gegenüber dem Sjambok (der topischen Nilpferdpeitsche kolonialer Berichterstattung) »humanere« Verwendung eines Tauendes (M 151f.) als für sich sprechendes »Beweismaterial«, wie es seit Pakendorfs (1988)11 einschlägiger Untersuchung zu Morenga heißt, allgemeiner Konsens.12 Timm selbst hat in einem viel zitierten Werkstattgespräch mit Manfred Durzak (1995: 325f.) diese Sicht der Dinge durchaus bekräftigt, indem er über die vierjährige Arbeit, die Recherchen und die methodischen Überlegungen spricht, die ihn bei der Abfassung des Romans geleitet haben. Zwar betont er in dieser Passage den dokumentarischen Gehalt, der ein Nachklang des Dokumentarismus nach dem ›Tod der Literatur‹ gewesen sei, beharrt aber auch darauf, dass diese dokumentarischen Anteile insgesamt gering anzusetzen seien, »vielleicht drei Prozent« (ebd.: 326) betrügen. Es sei ihm mehr um eine »Reise ins eigene Bewußtsein« (ebd.: 325) gegangen, und dafür habe er eine »neue Form gesucht und vielleicht auch gefunden« (ebd.: 326).13 Auch nach reiflicher Überlegung und rezeptiver Gutwilligkeit bin ich allerdings nicht bereit, Timm in diesem Punkt zu folgen: Seine neue Form sieht er – in Anlehnung an den Real maravilloso der lateinamerikanischen Literatur – insbesondere darin, dass seine Landeskundekapitel von Ochsen erzählt würden: »Es sind ja eigentlich Ochsen, die das erzählen.« (Durzak 1995: 326) Das sei die Fiktion. Dies stimmt ebenso wenig wie Timms Behauptung, es seien viel weniger dokumentarische Anteile enthalten, als vermutet worden sei.
Eine brandneue Untersuchung zeigt, dass das Gegenteil der Fall ist: Roland Schmiedel hat herausgefunden, »dass Timm erheblich größere Mengen historischer Vorlagen verarbeitet hat, als bisher in der Forschung angenommen« (2007: 97). Schmiedel legt diese Quellen nicht offen, um Timm einem Plagiatsvorwurf auszusetzen, sondern er betont im Gegenteil, dass dem Autor aufgrund dieser Quellenverwendung aus Beständen der Rheinischen Missionsgesellschaft und des 1934 publizierten Missionarsberichts von Heinrich Vedder (Das alte Südwestafrika) eine besonders eindrückliche »Rekonstruktion des südwestafrikanischen Alltags« (ebd.) gelungen sei.
Gattungsbegriffe wie derjenige des historischen Romans oder auch des Entwicklungsromans müssen, will man sie denn überhaupt verwenden, auf ihren jeweils aktuellen Stand gebracht werden. Ordnet man Morenga aufgrund seines historischen Referenzrahmens als historischen Roman ein, so muss gleichzeitig betont werden, dass es sich um einen historischen Roman im Zeichen der Postmoderne und des Postkolonialen handelt, was wiederum auf die Gattungskonfiguration entscheidende Rückwirkungen hat. Historische Gewissheiten werden hier demontiert, eindeutige Lösungen – auch solche kolonialismuskritischer Provenienz – nicht angeboten, dichotome Konstruktionen von Opfern und Tätern unterlaufen.14 Was in der konservativen Disziplin der Historiografie erst auf dem Umweg über die kulturwissenschaftlichen Revisionen und den Einfluss der angelsächsischen Theorien von der Konstruiertheit jedes Geschichtsbildes zu einer disziplinären Neuorientierung führte, ist in literarischen Dekonstruktionen vom Schlage Morengas bereits vorgebildet worden. Nicht nur Timms Protagonisten Gottschalk kommen die festen Orientierungen im Laufe des Romangeschehens abhanden, auch für die narrative Verfassung insgesamt gilt, dass es nur noch Teilgeschichten, Fassetten und Fragmente einer Geschichte geben kann, wie sie Jean-Francois Lyotard als ›petits récits‹ den unglaubwürdig gewordenen ›grand récits‹ entgegenstellte:15
Das Merkmal der postmodernen Kondition ist die Einsicht in die Nichtrestituierbarkeit geschlossener, auf Totalitätsvorstellungen basierender Weltbilder, die alle Teile einer Kultur umgreifen und als sinnvoll zu erklären versuchen. (Lützeler 2005: 38)
Wenn Timms Roman in diesem Sinne als postmodern gelten kann, so fehlt ihm freilich doch ein Element, auf das ich noch zu sprechen komme, nämlich das der »Utopie-Skepsis«, wie Lützeler es genannt hat (ebd.: 44).16
Der von Lützeler intensiv abgeschrittene Begriff des Postkolonialen konvergiert mit dem des Postmodernen, insofern es auch hier um ein ›re-mapping‹, also ›Neukartierungen‹ erheblichen Umfangs geht. Lützeler unterscheidet im Rekurs auf Stuart Hall einen Deskriptions- und einen Programm-Begriff des Postkolonialen (vgl. ebd.: 24f.); der (literaturwissenschaftlichen) Theorie in der Nachfolge Edward Saids, Homi Bhabhas, Gayatri Chakravorty Spivaks, Mary Louise Pratts und anderer gehe es darum,
(deskriptiv) sowohl die Erfassung ehemaliger und neuer kolonialer Abhängigkeiten zu ermöglichen wie auch (programmatisch) eben diese Dependenzen im Sinne einer Dekolonisierung abzubauen. […] Der postkoloniale Blick ist also gleichzeitig nüchtern und visionär: Er will faktische koloniale Verhältnisse erkennen, um sie im Sinne der Dekolonisierung zu verändern. (Ebd.: 24)
Timms Roman stuft Lützeler insofern als postkolonial ein, als er geradezu »kontrafaktisch zu den Kolonialromanen à la Frenssen und Grimm geschrieben worden« (ebd.: 98) sei.
Wenn Doris Bachmann-Medick (1996) bei ihrer Diskussion des Re-Mapping-Theorems ausdrücklich von einer »Kartographie von Brechungen« (hier mit Referenz auf Rob Shields: 69) spricht, mit der eine neue Form raumorientierter Literatur arbeite, um »durch eine Simultaneität sich überlagernder Perspektiven« (ebd.: 68) etwas zu beschreiben, was sie als »Geographie des Unsichtbaren« (ebd.: 69) bezeichnet und was sich der Repräsentation im herkömmlichen, also asymmetrischen Sinne, entziehe, so kann man dies auch auf Morenga übertragen. Die politisch und kulturell neuartigen Parameter, denen Timm hier Ausdruck verleiht, führen zu einer ›kulturellen Topografie‹, die jenes (noch) Unsichtbare sichtbar macht, ohne selbst den Anspruch alternativer Repräsentanz zu erheben (Timm war zu jener Zeit aus der DKP ausgetreten). Was im Roman erkundet wird, sind sowohl die ›contact zones‹ (Mary Louise Pratt) und ›third spaces‹ (Homi Bhabha), die dem Muster von der Inferiorität der kolonisierten ›Rasse‹ andere Alteritätsvorstellungen entgegenstellen, als auch jener (unsichtbare) Spalt, in dem ein ›Drittes‹ zwischen ›denen‹ und ›uns‹, wiewohl durch den Gang der kolonialen Geschichte desavouiert, zumindest in der narrativen Utopie kenntlich wird. In der Wahl seines Titels macht Timm bereits einen provokativen Vorstoß, den durch den Geschichtsverlauf unsichtbar Gewordenen einen Ort zu geben, ohne diese allerdings ›vertreten‹ zu wollen. Wir haben hier also den singulären Fall, dass ein Titel einen Helden annonciert, der durch eine Art erzählerische Guerillataktik weitgehend unsichtbar bleibt. Dem unerbittlichen Antagonismus, dem ›Entweder-Oder‹ des Stabsarztes Dr. Haring, will sich der Protagonist Gottschalk nicht unterwerfen: »Sie stehen auf der einen Seite und die Hottentotten auf der anderen, und dazwischen ist keine Handbreit Platz. […] Eben das wollte Gottschalk nicht einsehen« (M 333). »Wo steist [sic!] du?« (M 375) ist die Frage (eines sozialdemokratischen Arbeiters), die den Roman in allen Varianten durchädert und auf die er eine eindeutige Antwort verweigert. Lange vor den Diskursen um ›interstitial passages‹ und ›staircases‹ hat Timm stattdessen eine Topografie des Hybriden in jene aride Zone Deutsch-Südwests retrojiziert, in der die Historiografie des Faktischen die vernichtende Antwort bereits unumkehrbar vorgezeichnet zu haben scheint – eine historiografische Faktizität im paradoxen Schwebezustand deutscher Schuldverweigerung, die damit auch weiterhin zu den offenen Fragen der Geschichte gehört.
Der Oberveterinär Gottschalk kommt im September 1904 nach Deutsch-Südwestafrika, kurze Zeit später bricht der Aufstand der Hottentotten (Nama) aus, nachdem sich die Herero bereits seit acht Monaten im Krieg befanden. Zum Führer der Rebellion wird der Abkömmling eines Herero und einer Nama, der »Hottentottenbastard« (M 6) Jacobus Morenga. Gottschalk hat seine Sehnsucht nach etwas Neuem ins deutsche ›Schutzgebiet‹ getrieben, wo er eine Familie gründen und eine Farm aufbauen möchte. Als Rossarzt nimmt er am Feldzug gegen die Aufständischen teil. Beeinflusst von Gesprächen mit dem anarchistischen Unterveterinär Wenstrup, der bald desertiert und damit aus der Geschichte verschwindet, setzt bei Gottschalk ein Prozess des Umdenkens ein, der durch das Erlernen der Nama-Sprache und die Liebesbeziehung zu einer Nama-Frau ebenso vertieft wird wie durch die Auseinandersetzung mit dem Denken Wenstrups, das Gottschalk aus dessen Anmerkungen in einem Buch des Anarchisten Kropotkin zu ergründen sucht. Die systematische Brutalität der ›Schutztruppen‹ gegenüber Gegnern wie Gefangenen und die dem entgegenstehende Humanität Morengas, dem Gottschalk als dessen Gefangener persönlich begegnet, bringen ihn immer wieder in schwere Konflikte. Doch trotz seiner klaren Einsicht, dass »dieser Krieg Unrecht sei« und dass man »sich nicht halb entscheiden« kann (M 255), trifft Gottschalk nur insofern eine Entscheidung, als er den Militärdienst quittiert. Zurück in Deutschland sehen wir ihn im »Nachtrag« als Professor mit einem Freiballon über die Alpen fliegen.
Die bereits angedeutete kulturelle und narrative Aporie, einen Aspekt der Kolonialgeschichte zum Sujet zu machen, ohne in ein protokoloniales Muster der Repräsentation zu verfallen (wie es bei Seyfried der Fall ist), hat Timm in seinem Roman zu lösen versucht. Dem Verdikt progressiver Kritiker, es könne (und dürfe) nicht mehr erzählt werden, weil die erzählerische Repräsentation des Anderen – schon gar in einem kolonialen Zusammenhang – immer schon eine Anmaßung sei, hat Timm im Werkstattgespräch mit Durzak ausdrücklich widersprochen (vgl. Durzak 1995: 326). Gegen die damals gängige dokumentarische Fiktion, die Quellen für sich sprechen zu lassen, setzt Timm psychologische Begriffe, die an Freuds Metapher vom ›inneren Afrika‹ denken lassen: Es sei ihm um eine »Exploration in mein Bewußtsein« (ebd.: 325) gegangen. Gottschalk verkörpert gegen die reine Faktizität der Quellen jene Dimension des Begehrens, des Wunsches und der Sinnlichkeit, ohne die das Andere schlechthin nicht darstellbar wäre – weder das eigene noch das des Fremden.
Die Frage, wer spricht, scheint also schnell beantwortet zu sein: »Hauptprotagonist des Romans ist Johannes Gottschalk, Oberveterinär in der deutschen Kolonialarmee.« (Gomsu 2004: 84) Oder:
Ein einfaches Hinausspringen aus der eigenen Kultur in eine fremde ist nicht möglich. Also kann Uwe Timm weder Wenstrup in den Mittelpunkt stellen noch Morenga, den Titelhelden. Wenstrup muss in dem Augenblick, wo er aus seiner Kultur desertiert, unsichtbar werden […]. Ebenso wäre ein einfaches Sich-Einfühlen in Morenga schon die Subsumtion einer fremden Kultur unter die Zeichen der eigenen. Nur durch die Perspektive Gottschalks, der eben trotz aller Annäherung an die Nama Deutscher bleibt, ist das Fremde zu vermitteln. (Horn 2004: 83)
In seiner wichtigen Studie über die epistemologischen Probleme der Repräsentation anderer hat Jürgen Straub als neuralgischen Punkt der Erkenntnisbildung hervorgehoben, dass es unmöglich sei, im unabdingbaren Vergleich der eigenen mit der fremden Wirklichkeit auf das zu verzichten, was er als »nostrifizierendes Angleichen des Fremden ans Eigene« (Straub 1999: 37) bezeichnet. Nur indem das Eigene kritisch reflektierter Ausgangspunkt des Verstehens sei, könne Alterität als für sich stehende Dimension des Fremden anerkannt werden. Insofern ist Timms Verzicht auf jenes hermeneutische Konzept der Einfühlung überzeugend, das allerdings nicht darauf verzichtet, Möglichkeiten der ›Horizontverschmelzung‹ in den Blick zu nehmen. Morenga, der im letzten einmontierten offiziellen Bericht von seiner Tötung als »Hauptheld« (M 441) bezeichnet wird, steht mit Gottschalk in einem Verhältnis der Interdependenz – nicht zufällig verlässt Gottschalk genau einen Tag vor Morengas Tod das Land. Allerdings gilt diese Wechselseitigkeit auch für das Verhältnis von Gottschalk und Wenstrup, denn obgleich dieser schon relativ früh im Romanverlauf desertiert (M 74), sind es seine kritischen Anmerkungen in Kropotkins Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung, die Gottschalks Denkprozess in Gang halten. Timm entwirft hier ein interessantes Konzept von Intertextualität, das die Referenztexte nur in der dialogischen Vermittlung durch einen bereits Abwesenden wirksam werden lässt: Gottschalk interessiert sich zunächst gar nicht so sehr für Kropotkins 1902 auf Englisch erschienene anarchistische Kampfschrift gegen den Sozialdarwinismus,17 die ihm Wenstrup dagelassen hat, sondern vor allem für Wenstrups sorgfältige Bearbeitung des Textes. In dessen Randbemerkungen werden weitere intertextuelle Bezüge sichtbar, Büchners Hessischer Landbote (1834) etwa.18 Interessanterweise sind es diese einseitigen Gespräche mit einem Abwesenden, die Gottschalks Entwicklung mehr beeinflussen als die fruchtlosen Streitgespräche mit dem Pater Meisel, der von den »unverbildeten Menschen«, den »Wilden« (M 383) schwärmt.
Das Problem der Repräsentation, so meine ich, löst Timm durch eine Polyphonie der Stimmen und intertextuellen Bezüge und nicht durch einen konventionellen Bildungs- oder Entwicklungsroman – auch nicht durch dessen Negativ eines »umgekehrten Bildungsromans«, wie Ridley (1995: 364) behauptet hat. Das Geflecht von Haupt- und Nebenfiguren, Stimmen von Abwesenden, ja sogar sprechenden Ochsen, welche die präkoloniale Geschichte des Landes erzählen sollen, bezeichnen jenen Ort eines Dritten, Imaginären, in dem jede Stimme ihr Recht hat (und es ist kein Zufall, dass Gottschalk Veterinär ist und ihn das Leiden der Tiere nicht unberührt lässt). Allerdings, um im Bild zu bleiben, ist diese Polyphonie weniger ein harmonischer Chor als eine Kakophonie: Die Asymmetrien und Fragmentierungen, ja Dissoziationen, denen sich der Einzelne in der kolonialen Situation unterworfen sieht, kehren nicht nur in der dezentrierten narrativen Anlage wieder, sie beschäftigen Gottschalk in seiner Auseinandersetzung mit sich selbst, die als eine innere ›Kartografie von Brechungen‹ erscheint: »Unser Inneres verstehen lernen als geologische Formation. Also eine Geologie der Seele mit ihren Brüchen, Verschiebungen, Sedimenten, Ablagerungen und Erosionen« (M 416), heißt es in seinem zweiten Tagebuch, das eigentlich vor allem aus meteorologischen Beobachtungen besteht. Dass Timm die Dissonanzen gerade nicht verschweigt, ist eine der Qualitäten seines Werkes: Mit Pater Meisel, dem scholastischen ›Gutmenschen‹, der sich aber nie selbst in Frage stellt, zerstreitet sich Gottschalk eben deshalb endgültig, obwohl ihre moralischen Positionen nicht so weit voneinander entfernt sind. Und im Gegensatz zu Missionar Gorth, dem christlichen ›Voortrekker‹ Anfang der 1850er Jahre, der als Vorläufer Gottschalks erscheint (im Namensanklang wird dies noch betont), hört tragischerweise ausgerechnet der Veterinär Gottschalk die Ochsen nicht reden, was Gorth ja aufgrund seiner Akkulturation gelang (M 426).
Zur Polyphonie der Anlage gehören auch die zutiefst destruktiven Stimmen, die in den Gefechtsberichten und Protokollen der ›Schutztruppe‹ zu Wort kommen. Auch hier allerdings, darauf hat ebenfalls Schmiedel aufmerksam gemacht, wird eine eigene fiktionale Perspektive entwickelt, indem häufig nicht zwischen Zitat und Romantext unterschieden wird, indem die Montage Aussageabsichten in ihr Gegenteil verkehrt und zeitliche Reihenfolgen von Ereignissen verändert werden (vgl. Schmiedel 2007: 95). Den keinesfalls quellengetreuen Gefechtsberichten kontrastiert Timm die nur scheinbar fiktionalen Landeskundekapitel mit ihren das Karnevaleske streifenden Zügen. Figuren wie der Branntweinhändler Klügge, die Missionare Gorth, Kreft, Knudsen, der Landvermesser Treptow, dessen »innerer Globus« (M 304) durch die Begegnung mit den Nama in Bewegung gerät, oder Lukas, der Kirchenälteste in Bethanien, haben andere Spuren in der imaginären Geografie dieses Landes hinterlassen – ihre Wünsche und ihr Begehren bilden einen tatsächlich anarchischen Kontrapunkt zur steifen Ordnung des Wilhelminischen und Protestantischen. In Klügges Verführung der Missionarsgattin Sabine, im Dagga-Rauchen des Missionars Gorth und in Lukas’ Pendeln zwischen den Kulturen werden die Konturen einer anderen ›kulturellen Topografie‹, ja deren Archäologie sichtbar. Am Ende seiner Militärzeit, auf dem letzten Ausritt mit einem Rennkamel, begibt sich Gottschalk just auf die Spuren dieser legendenhaften Überbleibsel. »[G]eschliffen vom Sand« (M 427) findet er ein Holzstückchen von Klügges überdimensionalem Branntweinfass – Zeugnis jenes karnevalesken Treibens (ich verwende den Begriff in Anlehnung an Michail Bachtins Dostoevskij-Studie [1971], in der der Karneval als eine Art soziales Moratorium begriffen wird), in dem die gewohnten sozialen Hierarchien und Verhaltensweisen nicht mehr funktionieren – oder, wie es im Text heißt: in dem »die schlafenden Verhältnisse zum Tanzen« gebracht werden sollten (M 427).
Das Andere hat Gottschalk, Sohn eines Kolonialwarenhändlers, bereits als Kind fasziniert, in Form der Gerüche aus den »dickbauchigen Gläsern«, von Zimt, Muskat, Vanille – und in seiner symbolischen Form: »Dieses Wort: Gewürzinseln« (M 19) steht für eine Begehrensstruktur ein, die topisch an den Anfängen der meisten Entdeckerberichte begegnet. Man könnte diese als Teil jener semiotischen Chora begreifen, die Julia Kristeva als noch vor-signifikante Einheit begriffen hat, als »Markierungen von Triebstasen« (Horn 2004: 71). Das Fremde wird von Gottschalk in seiner Differenzqualität zum Eigenen, Festgefügten, Bekannten ersehnt; und während die Träume von etwas Neuem zunächst noch als Gartenlaubenidyll vom Haus mit rot gewürfelten Vorhängen, musizierender Familie und gemütlichem Feierabend im Skizzenbuch festgehalten werden, grundiert doch etwas undenkbar Anderes Gottschalks Wünsche – etwas, für das er aufgrund seiner wilhelminisch-protestantischen Erziehung zunächst nicht einmal Worte hat. Er findet dafür eine Ausdrucksform, indem er die Sprache der Nama mit ihren Schnalzlauten lernt. Horn hat darauf hingewiesen, dass Gottschalk »sich in den inneren Rhythmus, die chora der fremden Sprache ein[lebe], ohne sich auf Inhaltliches einzulassen.« (Ebd.: 74) Im Gegensatz zu Wenstrup, der ein rein instrumentales Verhältnis zum Nama entwickelt, berauscht sich Gottschalk ähnlich wie an den Gerüchen seiner Kindheit an der klanglichen Expressivität der Sprache – wie Gorth, eine Art Vorläufer Gottschalks unter präkolonialen Vorzeichen, erfährt er die Sprache als Teil einer Hingabe an das Fremde: Gorth erlebt ein »tonales Feuerwerk« (M 137), nachdem er ein Dagga-Pfeifchen geraucht hat: »Wie eine Feuerschlange zischte der Dentalis über den Boden, gold und blau, strahlenförmig zerplatzte der Cerebralis, knatternd sprang der Lateralis über Baum und Busch.« (M 137) Gottschalk weiß in einem doppeldeutigen Sinn, dass diese Sprache ihm die Zunge löst: »Nama, eine Sprache, die man nur mit gelöster Zunge sprechen kann.« (M 58) Horn trifft aber nicht wirklich den Kern des Gottschalkschen Sprachenlernens, wenn er im Rückgriff auf Ricoeur von einer »Kategorienverwechslung« (2004: 76) spricht, um damit des Veterinärs metaphorisches Sprechen zu beschreiben: Erst müsse das Alte dekonstruiert werden, dann erfolge eine Neubeschreibung. Eben nicht. Genau das Beharren auf einer Unsinnssprache, einer Art dadaistischer klanglicher Wollust kennzeichnet den Schwebezustand zwischen dem nicht mehr möglichen Alten und dem noch nicht benennbaren Neuen. Nur in der Absetzung von einem rein instrumentalen Gebrauch der Sprache wird es Gottschalk möglich, ›auszusteigen‹: »Die Mitternachtsmaus fliegt durch den Steppenwald der Teerosen« (M 59), ein Satz mit vielen Klicks, erscheint nicht nur in einer Situation kolonialer Gewalt als völlig sinnlos. Er bezeichnet aber als L’art pour l’art eine wesentliche symbolische Dimension des Romans: In den Nama-Sätzen ebenso wie in den Neologismen seiner meteorologischen Beschreibungen sucht Gottschalk einen Weg ins Offene, der ihm handlungspraktisch nicht möglich ist.
Unschwer sind an den auktorialen Kommentaren zum neuartigen meteorologischen Beschreibungssystem Gottschalks Verweise auf das Utopische im wörtlichen Sinne des Ou-topos, des Nicht-Ortes, zu entziffern: Kühne Bilder enthalte diese Sprache, neue Wortschöpfungen –
12.1.1907 Morgens bei Sonnenaufgang im Südosten ein wolliger Teppich blassrosa Färbung, die Ränder ausgefranst und lichtgrau. Vormittags blauschnigiert sich der Teppich langsam gegen Süden. Nachmittags Wollrollkroogen stahlgrau gepunzt. Abends gegen 1.20: Verweisung der Driftwolken nach Norden. Flaumig federich (M 415) –,
um der erstarrten Sprache ihre Mannigfaltigkeit zurückzugeben. Sinnlichkeit, Spontaneität, Individualität – die Losungen der Studentenbewegung, jedenfalls ihres nicht wiederum in parteipolitischem Dogmatismus erstarrten ›Sponti‹-Flügels, hallen hier nach. Die Wolkenbildung als Symbol einer Ortlosigkeit, beschrieben in einer gesellschaftlich unvermittelten, ja antidialogischen ›Privatsprache‹ (Wittgenstein) – damit werden die Verhältnisse nicht zum Tanzen gebracht, aber sie sind das für Gottschalk einzig mögliche Ausdrucksmittel seines Wunsches nach etwas Neuem.
Die Begrenzungen einer utopischen Sehnsucht, die in einem gewaltförmigen kolonialen Kontext nur als ästhetischer Entwurf möglich ist, zeigen sich auch im Vergleich mit Gottschalks Vorgänger Gorth: In zwei Tanzszenen wird im Roman der Abstand zwischen einer vorkolonialen und der kolonialen Begegnung zwischen zwei Kulturen abgeschritten. Während Gorth im ekstatisch-rauschhaften Erleben eine Selbstbefreiung und Annäherung an das Fremde/den Fremden wenigstens temporär gelingt – »Wie von Ketten befreit sprangen Gorths Beine. Er tanzte mit Lukas« (M 137) –, erfährt Gottschalk gerade im Tanz die Grenzen seiner Verwandlungsfähigkeit:
Einen Moment habe er versucht, die Bewegungen Morengas nachzuahmen […]. Aber es wollte ihm nicht gelingen. Er verkrampfte sich regelrecht. Es war sogar entsetzlich lächerlich. Und noch während er versuchte zu tanzen, und trotz seines dunen Kopfes, war ihm klar, daß er nicht würde bleiben können. (M 419)
In dieser Szene ist das performativ misslingende Negativ der kolonialen Gewalthierarchie zu erkennen: Die Herero und Nama sehen in den zerlumpten Kleidungsstücken der Besatzer »aus wie kleine abgerissene Europäer, aber schwarz« (M 25), sie unterlaufen jedoch diese sie verunstaltende Spiegelung durch eine Art subversiver Mimikry, wie der Ethnologe Brunkhorst in seinem Bericht an die Königlich Preußische Akademie festhält. Der Hottentotte kenne die Europäer besser als diese ihn, und er sei imstande, sie mimetisch exakt nachzuahmen:
In allen […] Rollen stimmt die Gestik, die Mimik, sogar der Tonfall beim Sprechen verblüffend mit dem seiner Herren überein, aber in allen Fällen etwas überzogen und fast karikierend, so daß man nie wußte, ob sich der Hottentotte nicht insgeheim über alle […] lustig machte. (M 363)
Ebendiese performative Anpassung an die Anderen will Gottschalk nicht gelingen. Ridley hat darin »ein Chandos-, ein Rönne-Erlebnis« (1995: 371) sehen wollen und trifft darin einen wahren Kern: Nur die Zunge hat in der Artistik der Schnalzlaute ihren eigenen tänzerischen Rhythmus gefunden, der Körper als ganzer aber kann seine Ketten nicht abstreifen – dies gelingt dem Europäer offensichtlich nur mit Hilfsmitteln (wie dem Ballon).19 Eine nicht-normative, voraussetzungslose Begegnung mit dem Anderen ist unter den Auspizien kolonialer Dominanz nicht möglich – die transitorischen Stimulantien Dagga und Alkohol stehen narrativ für die Ermöglichung bzw. Unmöglichkeit einer ekstatischen Verschmelzung ein. In der Ekstase war, so hat es Johannes Fabian in seinem Buch Im Tropenfieber (2001) beschrieben, eine ›Kontaktzone‹ zwischen Europäern und Afrikanern herstellbar, allerdings nur als temporäre Grenzüberschreitung.20 Gottschalk misslingt diese, denn die ›Antriebsmittel‹, Wein und Sekt von der Marke Kupferberg, sind europäischer Herkunft. Ob Gottschalks Überläuferfantasien aber deshalb ein Ende finden, weil die kulturellen Differenzen unüberwindbar sind, oder weil Kontrolle und Dominanz die herrschenden Parameter des Kolonialismus sind, deren sich auch der wohlwollende Kolonialist nicht entledigen kann, bleibt eine der offenen Fragen des Buches. Hierin ist der Roman zwar realistisch und entzieht sich damit auch der Versuchung einer kontrafaktischen Romantik; worauf er aber keineswegs verzichtet, das ist die Herstellung narrativer Kontaktzonen.
Der Erstkontakt (First contact) mit einem Schwarzen ist so unmittelbar körperlicher Natur, dass es Gottschalk ekelt: Er wird nach der Anlandung von einem ›Kruneger‹ durch die Brandung getragen: »Gottschalk fühlte die schwitzende schwarze Haut, er roch den sauren Schweiß. Er ekelte sich.« (M 9) Das starke Gefühl des Ekels (vgl. Menninghaus 1999) wird noch zweimal im gesamten Text erwähnt, einmal als idiosynkratische Reaktion auf die Herr-Diener-Beziehung zwischen einem ›Bekleidungsamtsassistenten‹ und ›seinem‹ Bambusen:
Wo immer er hinkam, drei Schritte hinter ihm ging sein Bambuse, mit den gleichen eckigen Bewegungen, dem gleichen schwäbelnden Dialekt. Gottschalk empfand bei diesem Anblick einen fast körperlichen Ekel, eine in Wut gesteigerte Peinlichkeit. (M 329)
Nicht mehr die körperliche Nähe zu den Schwarzen ist es, die Gottschalk Ekel verursacht, sondern die koloniale Selbstvergrößerung im karikaturesken Abbild des Kolonisierten.
Zwischen diesen so gegensätzlichen Ekel-Empfindungen hat eine Veränderung stattgefunden, von den anderen Schutztruppenangehörigen mit Misstrauen beobachtet und von Doktor Haring als »Deformation des Persönlichkeitsbildes« (M 169) diagnostiziert, von Militärs weniger analytisch als »beginnende Verkafferung« (M 179) diffamiert. Going native ist eine der Bezeichnungen für diesen Prozess der Akkulturation, der keineswegs auf die ethnologische Praxis beschränkt ist, wie Baumbach meint, wenn sie vom »Überwechseln des Feldforschers aus der eigenen Kultur in die der Indigenen« (Baumbach 2006: 104) spricht. Vielmehr ist die Figur des kulturellen Überläufers ein alle Kulturkontakte begleitendes Phänomen, und es verstehe sich, so der bekannte Kolonialhistoriker Urs Bitterli, »daß Akkulturationsvorgänge immer alle Beteiligten in Mitleidenschaft ziehen, auch dann, wenn die technisch überlegene Kultur als dominant erscheint« (Bitterli 1986: 54). Kulturelle Überläufer sind für ihre Herkunftskultur deshalb bedrohlich, weil sie diese durch ihre ›umgekehrte Akkulturation‹ grundsätzlich in Frage stellen – die Strafen für eine solche Desertion waren drastisch. Desertierende Matrosen auf den Entdeckerschiffen wurden hart bestraft, Händler und Siedler, die ›überliefen‹, mit sozialer Ächtung belegt. Gottschalk treibt sein humanistisches Gefühl zum »braunen Gesindel« (M 169), er möchte eine tierärztliche Fakultät gründen, er unterrichtet die Nama in Rinderkunde, und er versucht als reitender Peripatetiker immer wieder seine Landsleute für den wirklichen Kulturkontakt zu gewinnen. Sein Helfenwollen verkehrt sich aber stets ins Gegenteil.
In der Liebesbeziehung mit einer Nama-Frau, Katharina, erfährt Gottschalk körperliche Nähe und Zärtlichkeit in einer Form der Sinnlichkeit, die sich weit von der zotenreißenden Sexualität der ›Schutztruppler‹ entfernt hat, deren Schatten aber bedrohlich über ihr liegt. Zunächst ekelt sich Gottschalk vor sich selbst, weil er diese Nähe nur mit den obszönen Begrifflichkeiten der Militärs belegen kann. Fremd ist ihm Katharina nicht, wie er im Tagebuch festhält; einzig, dass sie seine Pfeife rauchen will, befremdet ihn (M 254). Ihr Geruch erinnert ihn an seine Kindheit, an Erde, Sonne und Wind. Es sind also keineswegs kolonial-exotische Wahrnehmungsmuster, die hier wirksam werden, sondern solche einer Vertrautheit mit sich selbst, einer familiären Nähe zum Eigensten.
Doch dieser Beziehung ist keine Dauer beschieden: Sie kann nur gewissermaßen extraterritorial bestehen. Topografisch bezeichnet der Hügel, auf dem die beiden sich treffen, diesen dritten Raum, der gleich weit von der verkorksten Sinnlichkeit der syphilisverbreitenden Armee wie von den Eltern Katharinas entfernt ist. Der Besuch bei diesen bringt Gottschalk schockartig zu Bewusstsein, wie fremd die Anderen ihm sind – es ist gerade der standardisierte Rahmen eines ›Antrittsbesuchs‹, der auf der Folie des mitlaufend gedachten Vergleichs zur Karikatur missraten muss. Den Zwiespalt zwischen zärtlicher Nähe und unüberwindbarer Ferne kann Gottschalk nicht lösen, er verlässt Katharina und sehnt sich doch weiterhin nach ihr.
Fremd bleiben ihm die Anderen, diese existentialistische Spur scheint der Roman zu legen, weil er sich selbst fremd ist, und nicht, weil es eine anthropologisch zu begründende oder kulturell unüberbrückbare Differenz gibt. So wie sich Meursault in Camus’ Der Fremde (1942) selbst unzugänglich bleibt, kann Gottschalk nur in seinen verschlüsselten Träumen und Visionen von einem anderen Leben eine Ahnung von sich selbst erlangen. Er imaginiert sich als Tierarzt in einem »gottverlassenen Nest« (M 326), irgendwo in Lateinamerika: »Ein Fremder, so saß er auf einer Veranda und blickte die Straße hinunter« (M 326) – eine intertextuelle Referenz auf die Langeweile und Passivität Meursaults. Anders als dieser hat Gottschalk jedoch den Wunsch nach einem anderen Leben nicht aufgegeben. Die Anerkennung der eigenen Fremdheit, so unheimlich ihm diese ist, bildet das eigentlich transitorische Element dieses Romans – genau darin aber sind ihm die anderen wiederum nah, die sich etwa auf einer Fotografie nicht selbst erkennen: »Da stand stets zwischen lauter bekannten Gesichter ein Fremder, und das war, wie der jeweilige Betrachter dann von den anderen erfuhr, er selbst.« (M 282) Das Überlaufen, wie es Gorth möglich war, der sogar die Ochsen sprechen hört, bleibt Gottschalk verwehrt – er richtet sich in einem Zwischenraum ein, und darin ist trotz aller Selbstentfremdung doch Platz für Träume.
Eine Ästhetik des Scheiterns hat man Timms Roman unterstellt und hartnäckig wird vom »resignativen Rückzug« (Baumbach 2006: 111) Gottschalks gesprochen. Der Nachtrag mit seiner surrealen Ballonfahrt erscheint in diesen Deutungen als purer Eskapismus, unvermittelt mit dem kolonialen Geschehen, ein politisch bedeutungsloser Annex.
In der Fluchtlinie einer solchen Deutung erschiene Gottschalk als einer jener Exotisten, die ihre Sehnsucht nach ›Gewürzinseln‹ auf die ›falsche Seite‹ der Geschichte geraten ließen – tatsächlich landet Gottschalk ja statt auf den Molukken oder auf Sansibar auf der anderen, falschen Seite des Kontinents, in einem Land, das nicht einmal zur Erzählung taugt, weil es nur ein leerer Raum sei: »[E]s gäbe nicht viel zu erzählen« – so Erdmute, die ehemalige Verlobte des Missionars Gorth –, »das Land sei leer und öde.« (M 142). Der Reiseimpuls Gottschalks besteht in einer privaten Utopie kleinbürgerlichen Zuschnitts, die sich ausgezeichnet in die koloniale Strategie der Besiedlung eines ›herrenlosen‹ Landes einfügt. Seine humanitäre Position ist innerhalb einer Gewaltherrschaft zum Scheitern verurteilt, und trotz seiner Anteilnahme, Neugierde und Hilfsbereitschaft tritt er schließlich den Rückzug an.
Gegen diese einseitige Betrachtungsweise bietet sich eine andere an, die Timms Roman als frühes Beispiel einer »kulturellen Topographie« erscheinen lässt, in der die »sukzessiven Horizontverschiebungen« (Bachmann-Medick 1996: 68) im Bewusstsein der Hauptfigur glaubwürdig nachvollziehbar sind. Die Veränderungen sind in den Skizzen vom Farmland, das immer mehr Züge einer Kommune annimmt, sowie in den skurrilen Erfindungen, von denen die Rede ist, erkennbar. Gottschalks Kuhgebiss, Treptows Molotows und das Tropenauto – sie alle landen auf der Abraumhalde der Geschichte, bleiben im Sand stecken oder enden als merkwürdige Skulptur.21 Der koloniale Raum wird auf andere Weise homogenisiert: Die diskursive Herstellung eines angeblich leeren Raumes ging der Kolonisierung voran, welche mit hochtechnischen Mitteln betrieben wird – die Anlage von Eisenbahntrassen spielt hierbei eine herausragende Rolle.22
Der koloniale Siedlungsgedanke erscheint Gottschalk als Absurdität: »Der Gedanke, in diesem Lande eine Farm zu betreiben, kam ihm vor, als habe ihn ein anderer gedacht« (M 387). Er erkennt, dass alle seine Anstrengungen, zu einem ›humanen‹ Kolonialismus beizutragen, nichtig sind: Angesichts der wirklich machtvollen technischen Vehikel wie der Eisenbahn, dem Heliografen und bald auch den Aeroplanen ist sein Kuhgebiss nur eine nutzlose Krücke. Bevor er den vollständig homogenisiert erscheinenden kolonialen Raum verlässt, erobert er sich allerdings seine imaginäre Geografie zurück: »Gottschalk ritt auf seinem Rennkamel durch die nächtliche Landschaft, über sich die Sterne, sehr nahe […] und dann begann er zu summen, dann zu singen, er war wie beschwipst, und all seine Angst fiel von ihm ab« (M 427). So sieht kein resignativer Rückzug aus, und wer Morenga nur unter dem Aspekt des Scheiterns liest, verfehlt eine ganze Dimension des Textes, die seiner intertextuellen Anspielungen nämlich.
Ich möchte daher ein anderes Fazit ziehen, das ein Leitmotiv, das des offenen Raums, als jene Markierung einer kulturellen Topografie versteht, von der hier bereits die Rede war: Die Wolken, über die Gorth im Delirium fantasierte, sie seien »die Kissen, auf denen die Winde ruhen« (M 148), Gottschalks meteorologische Wolkensystematik, die keine ist, weil ihr genau das Systematische einer wissenschaftlichen Nomenklatur fehlt, und das Motiv des Ballons schaffen ein ganzes Netz motivischer Verweisungen auf das Offene, das Züge einer Utopie trägt (vgl. Roussat 2007: 166). Hatte Gottschalk Pater Meisel noch zu erklären versucht, dass sich die Deutschen im fremden Land »wie Lahme und Blinde« (M 418) bewegen würden, macht er für sich selbst auf seinem Ritt durch die Landschaft, die ihm keineswegs ›leer und öde‹ ist, die Erfahrung einer Epiphanie. Es ist eine intertextuelle Anspielung, ein Hölderlin-Zitat des singenden Gottschalk, das diese Erfahrung in Worte fasst: »So komm! Daß wir ein Eigenes suchen, so weit es auch ist.« (M 427) Verfremdet mit eingestreuten Klicklauten, mit fehlender Inversion und unvollständig bildet das Zitat Gottschalks Weg einer Erkenntnisbildung nach und auch seine persönliche Konsequenz. Im Nachtrag sehen wir ihn, ganz handlungspraktisch, aber ohne jeden Nutzen für die Kolonialfrage, in einem Freiballon über die Alpen schweben, »der Sonne entgegen« (M 444) – »daß wir das Offene schauen«, heißt es in Hölderlins Elegie Brod und Wein, und dass Gottschalk diese Halbzeile ausgelassen hat, ist ein letzter poetologischer Hinweis auf die Bedeutung eines inneren Globus, der in Bewegung geraten muss, damit es auch »in dürftiger Zeit« (Hölderlin 1992: 378) offene Horizonte geben kann.23
1 Vgl. Lützelers Hinweis in 1998: 6, Anm. 56, und Gründer 2007: 91.
2 Vgl. die Angaben bei Hermand 1995: 51.
3 »Knowledge of the Orient, because generated out of strength, in a sense creates the Orient, the Oriental and his world.« (Said 1994: 40)
4 Zantop 1999: 17. – Im Anhang werden 900 [!] auf Südamerika bezogene deutsche Texte aufgelistet. Südamerika sei auch nach der tatsächlichen kolonialen Expansion in Afrika das »koloniale Liebesobjekt« und »Wunsch-Raum« (21) der Deutschen geblieben.
5 Wehler 1979: 267. – Der Hebel, so Wehler, sei an verschiedenen Stellen angesetzt worden: »Dampfersubvention, überseeische Bankfilialen, konsularische Unterstützung, Ausfuhrsondertarife in Eisenbahn- und Kanalwesen, die Begünstigung der weiterverarbeitenden Exportindustrie durch die Zolltarife seit 1879«. Der Interventionsstaat habe sich auf dem Gebiete der Außenwirtschaft gleichsam »vorangetastet«.
6 Hielscher 2004 vergleicht beide Texte; wir begnügen uns hier mit dem Hinweis auf dessen Publikation.
7 Dass die überseeischen Kolonien sich schon für die alten Kolonialländer nicht auszahlten, ist bekannt: Spanien und Portugal spielten im ›Weltkonzert‹ seit den lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts keine Rolle mehr, und auch für das Kaiserreich »hatte sich vom fiskalischen Standpunkt aus betrachtet die Kolonialpolitik nicht bezahlt gemacht« (Lützeler 2005: 97) – weshalb man auch von einer ›Bumerang‹-Theorie spricht. Davon gesondert zu betrachten sind allerdings die Riesengewinne der großen überseeischen Kompanien.
8 Vgl. Lützeler 2005: 98, der sich etwas schwer mit dem Begriff ›Völkermord‹ tut und deshalb von »an Völkermord grenzende[r] Bekämpfung der einheimischen schwarzen Bevölkerung« spricht. Vgl. dagegen eindeutiger Schmiedel 2007: 100, Anm. 5: Es habe sich, so sähen es nicht nur die Herero, sondern auch verschiedene internationale Organisationen, um den ersten von Deutschen begangenen Völkermord gehandelt. 2004 wurde beim Gedenken von deutscher Seite zwar Bedauern zum Ausdruck gebracht, aber keine Entschuldigung formuliert (die mit der Anerkennung von Kompensation einherginge).
9 Zit. n. Timm 2004; im Fließtext mit der Sigle »M« mit Seitenangaben.
10 Genau darin sieht Peter Horn in seiner Untersuchung (2004) einen der wesentlichen Gründe für die Faszination der 1968er: dass es zumindest eine geschichtlich denkbare Alternative zum Sieg Deutschlands gab, die das Versagen der weit überlegenen deutschen Heeresmaschine bedeutet hätte.
11 Schon das bloße Zitat gelte ja als »Signum der Objektivität« (Pakendorf 1988: 148).
12 Interessant scheint mir in diesem Zusammenhang überdies zu sein, dass Timm mit seinem Rekurs auf solche Quellen der Alltagsgeschichte – und eben nicht nur die Haupt- und Staatsaktionen – den Postulaten des New Historicism avant la lettre nahe gekommen ist.
13 Hinter dieser schlichten Behauptung stecken die gewaltigen ästhetischen Auseinandersetzungen dieser Jahre nach 1968 und dem Kursbuch-Totschlag-Aufruf Enzensbergers um die Möglichkeiten und Formen des Erzählens, die sich auf anderen Ebenen wiederholt und vertieft haben. Im Grunde kann man die Fragen der Geschichtsschreibung und der Ethnologie seit den 1970er Jahren, wie es um den dichterischen Gehalt der Historiografie bestellt sei – Hayden Whites Auch Clio dichtet war hier wegweisend –, und die disziplinäre Selbstinfragestellung der Ethnologie/grafie aufgrund der Aporie, über den Anderen schreiben zu wollen, aber nicht (mehr) das Recht auf dessen Repräsentation zu haben, auf genau diese Ebene zurückführen: In allen Fällen geht es um das Recht auf Darstellung des Anderen und ein daraus gespeistes Erzählen. Vgl. zu diesem Komplex Clifford/Marcus 1986.
14 Diese waren bestimmend für die kolonialhistorische Narration von der Conquista im deutschsprachigen Raum: Die anderen, also die Spanier und Portugiesen, sind immer die Schlächter, man selbst wäre der ›humanere Colonisator‹.
15 Vgl. zusammenfassend Lützeler 1998: 11f.
16 Ob dies so pauschal auf ›die Postmoderne‹ zutrifft, wäre ebenfalls zu untersuchen.
17 Vgl. Gomsu 2004: 85, Anm. 3. – Die deutschsprachige Ausgabe war 1904 erschienen, übersetzt von Gustav Landauer. Wenstrup muss also ein brandneues Exemplar besessen haben. Kropotkin sieht gerade gegenseitige Hilfe als Entwicklungsfaktor ersten Ranges und nicht die Ausmerzung des Schwächeren. Er bezieht sich dabei ausdrücklich auch auf die Tierwelt.
18 Büchner spielt eine große Rolle im Text. Die Anspielungen auf die Gemütsverfassung Lenz’ an der Grenze zum Wahnsinn kennzeichnen Missionar Gorths Verfassung zum Teil bis in syntaktisch unverkennbare Anklänge hinein: »Nur dass seine Zähne manchmal so laut klappernd aufeinanderschlugen, störte ihn.« (M 150) Büchner dürfte gerade wegen seiner Vermittlungsposition zwischen sozialrevolutionärer Einstellung und der Fokussierung der psychischen Verfasstheit des Einzelnen eine größere Rolle für Timm spielen als bisher angenommen.
19 An dieser Stelle könnte man auch nach Konvergenzen mit einer neuen Tanzkultur um 1900 fahnden: »Der Tanz dominiert nicht nur die kunsttheoretischen Überlegungen dieser Jahre, er wird auch zum prominenten literarischen Sujet. Er wird es deshalb, weil sich mit ihm […] Vorstellungen […] von Freiheit und Lebendigkeit ausphantasieren lassen […], nicht zuletzt die Befreiung von der eigenen Kultur.« (Janz 2001: 260)
20 Baumbach (2006: 106f.) bezieht sich auf Fabian, liefert aber einen zu engen Konnex des Going native mit der Ethnologie als Disziplin.
21 Aus der Skulptur, die sich bei Morenga findet, dem Gottschalk sie geschenkt hat, werden die Kolonialsoldaten nicht schlau. Als textuelles Symbol ist sie hingegen sehr aussagekräftig: Sie besteht aus einem Schädel, der das Land symbolisiert, und aus Granatsplittern hinzugefügten Metallteilen. Eine nicht bzw. nur gewaltförmig funktionierende Symbiose zweier Kulturen.
22 Honold (1999: 173) spricht davon, dass die menschlichen Pfadfinder für das technische Vehikel gespurt hätten; der »Wille zur Eisenbahn« sei das entscheidende Moment im Prozess geografischer Bemächtigung geworden.
23 Vollständig heißen die beiden Verszeilen: »So zu harren und was zu thun indeß und zu sagen, / Weiß ich nicht und wozu Dichter in dürftiger Zeit?«
Bachmann-Medick, Doris (1996): Texte zwischen den Kulturen: Ein Ausflug in »postkoloniale Landkarten«. In: Hartmut Böhme/Klaus R. Scherpe (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek b. Hamburg, S. 60-78.
Bachtin, Michail (1971): Probleme der Poetik Dostoevskijs. Aus dem Russ. v. Adelheid Schramm. München.
Baumbach, Kora (2006): Literarisches going native. Zu Uwe Timms »Morenga«. In: Frank Finlay/Ingo Cornils (Hg.): »(Un-)erfüllte Wirklichkeit«. Neue Studien zu Uwe Timms Werk. Würzburg, S. 92-113.
Benninghoff-Lühl, Sibylle (1983): Deutsche Kolonialromane 1884-1914 in ihrem Entstehungs- und Wirkungszusammenhang. Bremen.
Bitterli, Urs (1986): Alte Welt – neue Welt. Formen des europäisch-überseeischen Kulturkontaktes vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. München.
Clifford, James/Marcus, George E. (Hg.; 1986): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. Berkeley/Los Angeles/London.
Conrad, Joseph (1977): Herz der Finsternis. Erzählung. Aus dem Engl. v. Fritz Lorch. Zürich.
Durzak, Manfred (1995): Die Position des Autors. Ein Werkstattgespräch mit Uwe Timm. In: Ders./Hartmut Steinecke (Hg.): Die Archäologie der Wünsche. Studien zum Werk von Uwe Timm. Köln, S. 311-355.
Fabian, Johannes (2001): Im Tropenfieber. Wissenschaft und Wahn in der Erforschung Zentralafrikas. Aus dem Engl. v. Martin Pfeiffer. München.
Göttsche, Dirk (2003): Zwischen Exotismus und Postkolonialismus. Der Afrika-Diskurs in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In: M. Moustapha Diallo/Ders. (Hg.): Interkulturelle Texturen. Afrika und Deutschland im Reflexionsmedium der Literatur. Bielefeld, S. 161-245.
Gomsu, Joseph (2004): »Die Zeit der Erlösung ist nun gekommen.« Subversive Bibelexegese in Uwe Timms Roman »Morenga«. In: Weltengarten 2004, S. 84-97.
Hermand, Jost (1995): Afrika den Afrikanern! Timms »Morenga«. In: Manfred Durzak/Hartmut Steinecke (Hg.): Die Archäologie der Wünsche. Studien zum Werk von Uwe Timm. Köln, S. 47-65.
Hielscher, Martin (2004): Der Wunderbusch, die Kartographie, das Gebet. Formen und Erfahrung des Fremden bei Uwe Timm, Gerhard Seyfried und Hubert Fichte. In: Christof Hamann (Hg.): Afrika – Kultur und Gewalt. Hintergründe und Aktualität des Kolonialkrieges in Deutsch-Südwestafrika. Seine Rezeption in Literatur, Wissenschaft und Populärkultur (1904-2004). Iserlohn, S. 191-207.
Hölderlin, Friedrich (1992): Brod und Wein. An Heinze (Zweite Fassung). In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 1. Hg. von Michael Knaupp. München/Wien, S. 373-383.
Honold, Alexander (1999): Flüsse, Berge, Eisenbahnen: Szenarien geographischer Bemächtigung. In: Ders./Klaus R. Scherpe (Hg.): Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen. Bern u.a., S. 149-175.
Horn, Peter (2004): Haschisch und Klicks. Afrika als utopischer Ort der 68er Generation und Uwe Timms Roman »Morenga«. In: Weltengarten 2004, S. 65-84.
Janz, Rolf-Peter (2001): Zur Faszination des Tanzes in der Literatur um 1900. Hofmannsthals »Elektra« und sein Bild der Ruth St. Denis. In: Kerstin Gernig (Hg.): Fremde Körper. Zur Konstruktion des Anderen in europäischen Diskursen. Berlin, S. 258-272.
Lützeler, Paul Michael (1998): Einleitung: Postkolonialer Diskurs und deutsche Literatur. In: Ders.: Schriftsteller und ›Dritte Welt‹. Studien zum postkolonialen Blick. Tübingen, S. 7-31.
Ders. (2005): Postmoderne und postkoloniale deutschsprachige Literatur. Diskurs – Analyse – Kritik. Bielefeld.
Mannoni, Oscar (1964): Prospero and Caliban. The Psychology of Colonialism. Übers. v. Pamela Powesland. London.
Memmi, Albert (1980): Der Kolonisator und der Kolonisierte. Zwei Porträts, mit einem Vorw. v. Jean-Paul Sartre u. einem Nachw. des Autors zur deutschen Ausg. Frankfurt a.M.
Menninghaus, Winfried (1999): Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a.M.
Osterhammel, Jürgen (1995): Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen, München.
Pakendorf, Gunther (1988): Morenga oder Geschichte als Fiktion. In: Acta Germanica 19, S. 144-158.
Ridley, Hugh (1995): Die Geschichte gegen den Strich lesend: Uwe Timms »Morenga«. In: Anne Fuchs/Theo Harden (Hg.): Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne. Heidelberg, S. 358-374.
Roussat, Mathilde (2007): Zusammenstoß/-spiel der Kulturen und Ästhetik der Montage in Uwe Timms »Morenga«. In: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005:»›Germanistik im Konflikt der Kulturen«. Bd. 9: Divergente Kulturräume in der Literatur. Hg. v. Jean-Marie Valentin unter Mitarb. v. Elisabeth Rothmund. Bern, S. 161-167.
Said, Edward W. (1974): Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Aus dem Amerik. v. Hans-Horst Henschen. Frankfurt a.M.
Ders. (1994): Orientalism. New York 1994.
Schmiedel, Roland (2007): Fiktion oder literarische Geschichtsschreibung? Eine Quellenanalyse von Uwe Timms historischem Roman »Morenga‹«. In: Acta Germanica 35, S. 85-102.
Seyfried, Gerhard (2003): Herero. Berlin.
Straub, Jürgen (1999): Verstehen, Kritik, Anerkennung. Das Eigene und das Fremde in der Erkenntnisbildung interpretativer Wissenschaften. Göttingen.
Timm, Uwe (2004): Morenga. 5. Aufl. München.
Wehler, Hans-Ulrich (1979): Bismarcks Imperialismus 1862-1890. In: Ders. (Hg.): Imperialismus. Königstein/Ts., S. 259-289.
Zantop, Susanne (1999): Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770-1870). Berlin.