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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 12. Jahrgang, 2021, Heft 1: Poetiken der Interkulturalität: Enikő Dácz/Réka Jakabházi (Hg.): Literarische Rauminszenierungen in Zentraleuropa. Kronstadt/Braşov/Brassó in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Katalin Teller)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 12. Jahrgang, 2021, Heft 1: Poetiken der Interkulturalität

Enikő Dácz/Réka Jakabházi (Hg.): Literarische Rauminszenierungen in Zentraleuropa. Kronstadt/Braşov/Brassó in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Katalin Teller)

Enikő Dácz/Réka Jakabházi (Hg.): Literarische Rauminszenierungen in Zentraleuropa. Kronstadt/Braşov/Brassó in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Regensburg: Friedrich Pustet 2020 – ISBN 978-3-7917-3222-0 – 34.95 €

https://doi.org/10.14361/zig-2021-120117

Die kollektive Monografie, bei der Enikő Dácz, langjährige Mitarbeiterin des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas mit Sitz in München, und Réka Jakabházi, assoziierte Wissenschaftlerin des Instituts und Lehrende am Lehrstuhl für Germanistik an der Babeş-Bolyai-Universität in Klausenburg/Cluj-Napoca, federführend waren, versammelt Beiträge von drei weiteren Forscherinnen und einem Forscher zum literarisch verankerten Bild von Kronstadt/Braşov/Brassó in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Vorwort, das von Wolfgang Müller-Funk stammt, wird sowohl die methodische Herangehensweise als auch der anvisierte imperiale und postimperiale Kontext des Bandes angesprochen und auf eine der rekurrierenden, doch nicht immer explizierten Denkfiguren hingewiesen (vgl. 9-12): Die ethnisch, national und/oder kulturell definierten Perspektiven auf das Zentrum und auf die Peripherie im Sinne von chronotopischen Entwürfen und Machtstrukturen erweisen sich nicht nur auf einer thematisch-motivischen Ebene der ausgewählten literarischen und journalistischen Werke, sondern auch im analytischen Zugang der Beiträge als ausschlaggebend. Denn in den ersten über 40 Jahren des 20. Jahrhunderts musste sich Kronstadt/Braşov/Brassó einigen mitunter raschen Verschiebungen von unterschiedlich gestalteten Grenzen stellen, die in den herangezogenen Werken ihren nicht selten paradoxen Niederschlag fanden und offensichtlich die Beitragenden des Bandes auch dazu veranlasst haben, diesen mithilfe von wechselnden Schwerpunktsetzungen und analytischen Instrumentarien nachzugehen.

Um eine umfassende, wiewohl weniger tiefgreifende und kritische Auseinandersetzung mit theoretisch-methodologischen Grundlagen geht es im ersten längeren Beitrag von Enikő Dácz. Darin lässt die Autorin die literaturwissenschaftlich angewandten Raumtheorien, welche im Zuge der topografischen und der räumlichen Wende in den Kulturwissenschaften produktiv gemacht wurden, Revue passieren. Sie weist Pierre Bourdieus Modell des literarischen Feldes, in dem die außerliterarischen und literarisch dargestellten Macht- und Produktionsverhältnisse gleichzeitig unter die Lupe genommen werden, als zentral für die Programmatik des Bandes aus. Außerdem kommt die zurecht vage gehaltene, bereits im Auftaktkapitel des Bandes angeschnittene Kategorisierung der Multi- bzw. Plurikulturalität zur Sprache (vgl. 14, 27), wobei die von Moritz Csáky angestoßenen kulturwissenschaftlichen Monarchieforschungen auch in den anderen Beiträgen als Referenzpunkte herangezogen werden: Die stete Verlagerung von vorwiegend sprachlich und ethnisch markierten Machtverhältnissen in der Stadt bewirkte ja signifikante Gleichzeitigkeiten in Ausschluss- und Einschlussprozessen, die nicht selten zu paradoxen Konstellationen von Identitäten und Fremdzuschreibungen führten. Selbst wenn die literatur- und kulturwissenschaftlich mehrfach erprobten raumtheoretischen und -poetischen Zugänge zweifelsohne zu wertvollen Fallanalysen verhelfen, können sie mitunter auch eine etwas rigide Rhetorik befördern: Wo bspw. ›einfach‹ »literarisches Leben« oder »Literaturbetrieb« statt »literarisches Feld« zutreffender wäre, weil sich die Ausführungen nicht unmittelbar nach den Bourdieu’schen Kategorien wie Produktionsverhältnisse oder Kapital richten (89-91), erweisen sich derartige Begrifflichkeiten womöglich als eher hinderlich. Das betrifft auch den ansonsten sehr instruktiven Beitrag von Ana-Maria Pǎlimariu zu Ursula Ackrills Roman Zeiden, im Januar aus dem Jahr 2015 (vgl. 253-272), der die zeitlichen und räumlichen, historisch bedingten Überblendungen zum Pogrom von 1941 minutiös nachvollzieht, diese jedoch mit z.T. wenig hilfreichen theoretischen Konstrukten – von Rogers Brubakers Ethnizitätskonzept bis hin zum New Historicism – untermauern zu müssen glaubt, statt bspw. auf den hier behaupteten utopischen Raumentwurf begrifflich zu reflektieren. Dass die theoretische Strenge in den Einzelanalysen schließlich zusehends nachlässt, ist daher als ein sich langsam durchsetzender Befreiungsschlag im Duktus zu begrüßen.

Denn diese kollektive Monografie leistet jenseits der theoretisch-methodologischen Schwerfälligkeiten weitgehend Beachtliches: Die beiden Herausgeberinnen und Noémi Hegyi führen z.B. gekonnt durch die literarische Presselandschaft der Stadt, die sich – zwar mit unterschiedlichen Gewichtungen in der Zeit, aber doch durchgehend – dreisprachig zeigte. Texte aus Zeitschriften wie den Karpathen, den Brassói Lapok, Klingsor und Țara Bȃrsei sowie ihre maßgeblichen Autoren (und viel seltener: Autorinnen) werden nicht nur angesichts ihrer literarischen Programmatik, sondern auch mit Blick auf die entworfenen Stadtbilder kontextualisiert, wobei die Widersprüchlichkeiten in der Selbst- und Fremdwahrnehmung ebenso an den Tag kommen wie festgefahrene Stereotypisierungen von ethnischen Gruppen, die sich auch in der allegorisch oder metaphorisch aufgeladenen urbanen Topografie niederschlagen. Besonders wertvoll erweisen sich weiterhin die Analysen einer Literaturgattung, die unbestritten zu den Stiefkindern der Literaturgeschichtsschreibung gehört: In drei von Raluca Cernahoschi und Réka Jakabházi bestrittenen Unterkapiteln werden ausgewählte Prosa-, Essay- und Lyrikanthologien aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie aus den Jahren nach 2000 auf ihre Darstellungsmodi der Stadt und ihrer Umgebung hin befragt. So bestechend auch die Querverbindungen und Abweichungen angesichts der ethnischen Positionierung, der Projektionsqualitäten des urbanen Raums und der literarischen Verfahren selbst gezeigt werden, so erklärungsbedürftig erscheint allerdings die Entscheidung, die zeitgenössischen Literaturen, welche die ›alte‹ Kronstadt beschwören, neben jene zu stellen, die in den Jahren vor 1945 entstanden sind. Und dies gilt für die anschließenden Romananalysen ebenso wie für die abschließenden Betrachtungen von Enikő Dácz, die sich – gemeinsam mit Ion Lihaciu – der Rolle der Kulinarik bzw. wiederum einer wenig priorisierten Gattung widmet, nämlich den Autobiografien und Memoiren ausgewählter Autorinnen und Autoren. Denn selbst wenn eine Reihe von literarischen Topoi, wie jene der Schwarzen Kirche oder des Hausbergs der Stadt, der Zinne, etliche Attribuierungen auch heute scheinbar unverändert mittransportieren, und selbst wenn eingangs noch Pierre Noras Konzept der Erinnerungsorte als eine der theoretischen Leitlinien herangezogen wird (vgl. 29), so ließen sich Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der urbanen Imagination auf einem höheren Reflexionsniveau erörtern, wenn der nicht unbedeutenden historischen Distanz eingehender Rechnung getragen würde.

Nichtsdestotrotz besticht der Band durch seinen enormen Materialreichtum, der kanonisierte und auf den Rand des Kanons gedrängte Autorinnen und Autoren sowie ebensolche literarische Genres vor dem Hintergrund einer ebenfalls reichen Forschungsliteratur in vier Sprachen in den Fokus rückt. Die Ausführungen zu den immer wieder vorkommenden festen Größen der deutschsprachigen Kronstädter Literatur, Adolf Meschendörfer und Heinrich Zillich, erweisen sich wiederum gerade deshalb als äußerst ertragreich, weil sie in den unterschiedlichsten Kontexten positioniert werden: einmal als maßgebliche Gestalten der Zeitschriftenliteratur, die zugleich eine Vermittlungs- und Abschottungsfunktion innehatten, dann ein anderes Mal als Vermittler von völkischem und nationalsozialistischem Gedankengut oder aber auch als Verfasser von literarisch hochgeschätzten Texten. So vermag diese kollektive Monografie die Produktivität einer literaturgeschichtlich und topografisch stark fokussierten analytischen Arbeit sichtbar zu machen und zu weiterführenden Forschungen anzuregen.

Katalin Teller

(http://orcid.org/0000-0002-7432-6789)

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