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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 12. Jahrgang, 2021, Heft 1: Poetiken der Interkulturalität: Poetiken der Interkulturalität – Einführung in das Thema (Dieter Heimböckel/Iulia-Karin Patrut)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik - 12. Jahrgang, 2021, Heft 1: Poetiken der Interkulturalität

Poetiken der Interkulturalität – Einführung in das Thema (Dieter Heimböckel/Iulia-Karin Patrut)

Poetiken der Interkulturalität

Einführung in das Thema

Dieter Heimböckel/Iulia-Karin Patrut

Abstract

The article provides an overview on recent research related to interculturality and literature, focussing on the correlation between aesthetic and cultural alterity, but also including areas of interest such as Postcolonial Studies, representations of internal strangers (Jews and so-called Gypsies), theories of similarity and of inclusion/exclusion, and the revision of literary history from an intercultural point of view. At the same time, the article pays special attention to the vast research activities of Herbert Uerlings in this field.

Title

Poetics of Interculturality. An Introduction to the Topic

Keywords

interculturality; aesthetic and cultural alterity; internal strangers; postcolonial studies; Herbert Uerlings (* 1955)

1. Potentiale von Literatur als Kunst

Literarische Texte sind dank ihrer poetischen Funktion in der Lage, Kultur zu dekonstruieren. Ob Ideen, Dichotomien oder tradierte Entitäten jeglicher Faktur: Jene Sinnangebote literarischer Texte, die nicht zu den von ihnen thematisierten Diskursen gehören, aber dennoch mitgeteilt werden, verhalten sich sekundierend zu den aufgerufenen Diskursen, wie ein Schatten, in dessen Licht das kulturell Bekannte reflektierbar wird. Diese ästhetisch, formal oder emotional codierten und im Schatten liegenden Potentiale, die Paul Celan als »Dunkelheit« (Celan 1999: 88) der Literatur auffasst, deuten das Nicht-Wissen an oder äußern sich als ein Surplus, das von Nicht-Bedachtem zeugt. Die ›Dunkelheit der Dichtung‹ steht nicht im Gegensatz zur exakten Wissenschaft, sondern verhält sich zu ihr wie ein unendliches reflexiv-kritisches Korrektiv:

Das Gedicht hat seinen Grund in sich selbst; mit diesem Grund ruht es, wie der Mensch, im Grundlosen. […] Man belasse dem Gedicht sein Dunkel; vielleicht – vielleicht! – spendet es, wenn jene Überhelle, die uns die exakten Wissenschaften schon heute vor Augen zu führen wissen[,] die Erbmasse des Menschen von Grund auf verändert hat, – vielleicht spendet es auf dem Grunde dieses Grundes den Schatten, in dem der Mensch sich auf sein Menschsein besinnt. (Ebd.: 89; Hervorh. i.O.)

Das Repertoire poetischer Verfahren, mit deren Hilfe literarische Texte Kultur dekonstruieren, ist unerschöpflich: individuelle Emotionen, vorbewusstes Körperwissen, Widerstand des Materiellen, interpersonelle Dynamik, unerwartete Diskursinterferenzen, Widerlegung wissenschaftlicher Postulate durch den Handlungsverlauf, Offenlegung normalisierter Gewalt, Zurückführen von Semantiken und Praktiken auf konstitutive Widersprüche – oder das eigenlogische, abstrakte Formen-Ensemble des Textes selbst. Zweifelsohne ist es diese Dekonstruktionsleistung, die in erheblichem Maße den Reiz der Literarizität ausmacht. Wenn aller kulturelle Sinn auf inhärente, konstitutive Widersprüche zurückgeführt wird, kann Bekanntes vom Unbekannten her negiert werden, und Neues kann – zwar nicht gleich als Praxis, aber immerhin als Vorstellung – beginnen, Hergebrachtes abzulösen.

Die Folgen des Verzichts auf den Anspruch, propositionales Wissen hervorzubringen, sind bislang immer noch drastisch untertheoretisiert. Denn es ist offenkundig, dass sich Literatur als Kunst einerseits wirklichkeitspragmatischer Codierung von Sprache entzieht und andererseits freiwillig einem selbsterzeugten Arrangement an formalen, teils jedem Kunstwerk spezifischen, teils systemintern tradierten Zwängen unterzieht. Dieser künstlerische Sprachgebrauch leistet einiges: Er schafft Übergänge dort, wo sich ansonsten Blockaden einstellen, gewinnt Freiheitsgrade und stimuliert den Möglichkeitssinn, macht Grenzziehungen, Dichotomien und Unterscheidungen zwischen Ländern, Sprachen, Geschlechtern u.a. zumindest in der Imagination durchlässig und zersetzt tradierte Erkenntnis- und Sinndispositive sowie Institutionen gedanklich in so kleine Partikel, dass sich aus ihnen auch etwas ganz anderes zusammensetzen ließe.

Diese Potentiale sind nicht gering zu schätzen: Das Individuum den Fesseln gesellschaftlicher Praxis zu entwinden oder Gegensätze in ein Fluidum von Ähnlichkeiten zu überführen, ohne ins Phantastische auszuweichen, sind schon beachtliche Leistungen. Dennoch lässt sich fragen, ob Literatur als Kunst nicht sogar noch mehr kann als zu dekonstruieren?

Schon Jacques Derrida, der Literatur als Kunst durchaus dekonstruktives Potential zusprach, befand, dass die Dekonstruktion es ebenso vermeiden müsste,

die binären Gegensätze der Metaphysik einfach nur zu neutralisieren, wie auch, sich einfach im geschlossenen Feld dieser Gegensätze anzusiedeln und sie somit zu bestätigen. […] Eine Dekonstruktion des Gegensatzes besteht zunächst darin, im gegebenen Augenblick die Hierarchie umzustürzen. Wer diese Umbruchphase vernachlässigt, übersieht die konfliktgeladene und unterwerfende Struktur des Gegensatzes […]. Andererseits, wenn man sich auf diese Phase beschränkt, so bewegt man sich immer noch auf dem dekonstruierten Gebiet und im Inneren des dekonstruierten Systems. (Derrida 1986: 88f.)

Das hier Beschriebene gehört zu den gängigen Verfahren literarischer Texte: Sie können, um ein Beispiel zu nennen, das Herr-Knecht-Verhältnis nicht nur umkehren (man denke nur an Kleists Michael Kohlhaas oder Die Verlobung in St. Domingo), sondern darüber hinaus auch noch Anderes evozieren, das über das dekonstruierte Feld hinausweist und neue Gesichtspunkte, neue Fragen aufwirft. Freilich kann Literatur als Kunst nicht propositionale Aussagen treffen, nicht postulieren; aber sie kann gezielt individuelle Emotionen, Eindrücke, Erfahrungen evozieren, ausgeblendete Facetten historischer Ereignisse aufrufen, alternative kognitive Landkarten von Welt und Gesellschaft entwerfen, die allesamt dazu einladen, neue Sinnzusammenhänge zu erproben.

Zwischen diesen beiden Potentialen der Literatur als Kunst, zwischen dem a) Zurückführen auf konstitutive Widersprüche und b) dem Aufzeigen oder Andeuten von möglichen neuen Beziehungen zur Welt und in der Gesellschaft, bestehen in literarischen Texten verdichtete Beziehungen. Aus diesen Relationen zwischen Bekanntem, Negiertem, Zersetztem einerseits und diskursiv noch nicht Aufgehobenem andererseits erwächst das erkenntnis- und gesellschaftskritische Vermögen von Literatur als Kunst. Indem die Leserinnen und Leser sich auf diese im Text angelegten Relationen einlassen, müssen sie sich von dem diskursiv Erschlossenen, von den gesellschaftlichen Praktiken und Semantiken, distanzieren und Stellung zu ihnen beziehen, von einem anderen, neu entstandenen imaginären Standpunkt aus.

2. Potentiale der Interkulturalität

In interkulturellen Begegnungen stellen sich vergleichbare Fragen, denn auch hier werden an die gesellschaftliche Praxis gerichtete Normalitätserwartungen irritiert, Erkenntnisrahmen herausgefordert, axiologische oder moralische Fragen neu gestellt – kurz, ebenfalls Gewissheiten aller Art zu neu kombinierbaren Partikeln zersetzt. Die Herausforderung interkultureller Begegnungen betrifft in radikaler Weise auch das eigene Selbst, sei es als Individuum oder als ›imaginäre Gemeinschaft‹: Denn ausgehend von dem, was augenscheinlich in der Welt ist, ausgehend von dem Unbekannten und Unvertrauten, welches nicht zu den eigenen Wahrnehmungsgewohnheiten und (Selbst-)Gewissheiten passt, kann die Vorstellung von Welt und Gesellschaft revidiert werden. Analog zwingt die Erfahrung, wie Weltbezüge und gesellschaftliche Konventionen in einer fremden Sprache aufgerufen werden, dazu, die Realitätskonstruktionen in der eigenen Sprache zu reflektieren – und das heißt einzusehen, dass auch etwas ganz anderes möglich wäre. Die Erfahrung des Staunens (vgl. Heimböckel/Weinberg 2014: 132) ist für die interkulturelle Erfahrung elementar.

Das Staunen ermöglicht Innovationen: Es setzt kreative Potentiale frei – sei es, dass es darum geht, sich neuen Erfahrungsweisen und der Selbst-Transformation zu öffnen, sei es, um andere Ordnungen des familiären oder gesellschaftlichen Mit­einanders zu imaginieren oder andere Rahmungen und Fragestellungen für Erkenntnisprozesse zu entwerfen. Auch Diversität und Vielfalt sind auf die Erfahrung des Staunens angewiesen: Denn die Konsequenz des Staunens, die Selbstrelativierung, ist Voraussetzung für die gedankliche Sanktionierung und politische Akzeptanz von Vielfalt und für die kritische Überprüfung von Normen und Normalitäten.

Interkulturalität ist als Feld in viele Richtungen für Interdisziplinarität geöffnet, die in Ansätzen der interkulturellen Germanistik ihren Niederschlag finden: zur Soziologie, zur Linguistik, Übersetzungsforschung, Philosophie, Kulturanthropologie, zu den Kognitionswissenschaften und zum Fremd- und Zweitsprachenunterricht. Im Zusammenhang dieses Themenschwerpunkts geht es vor allem um die Anschlüsse von Interkulturalität hin zur Literaturwissenschaft, zu den Kulturwissenschaften sowie zur Diskursgeschichte. In diese Richtung argumentierte Norbert Mecklenburg bereits auf dem ersten Kongress der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik 1987, als er darlegte, dass Literatur »kulturelle Fremdheit, die sie enthält, gleichzeitig selbst« abbaue, »Sensibilität für kulturelle Differenz« vermittle und, »als verfremdeter Umgang mit Zeichen, für Differenzwahrnehmung überhaupt« sensibilisiere (Mecklenburg 1987: 578).

3. Was kann interkulturelle Literatur?

Es liegt auf der Hand, dass sich die beschriebenen Möglichkeiten, wenn es sich um interkulturelle Szenarien in literarischen Texten handelt, potenzieren. Dies gilt in erster Linie für interkulturelle Begegnungen in literarischen Texten, deren Ästhetik und Poetik die kulturelle Alteritätserfahrung um weitere Fremdheitsdimensionen steigern. Es gilt aber auch für die Produktions- und Rezeptionsästhetik, wenn beim Schreiben oder beim Lesen literarischer Texte kulturelle Alterität prozessiert wird, unter Geschichtspunkten der Intertextualität (wenn Texte über kulturelle und temporale Grenzen hinweg in die Literatur Einzug finden), unter solchen der Übersetzung (sowohl im Sinne der sprachlichen Übertragung als auch im kulturwissenschaftlichen Sinne der Vermittlung zwischen epistemischen Konfigurationen) und mit Blick auf die Theorie und Geschichte von Gattungs- und Motiv-Transfers zwischen Literaturen unterschiedlicher Sprachen und kultureller Kontexte.

Durch die Potenzierung von Freiheitsgraden in Bezug auf den eigenen, kulturell fixierten Standpunkt und durch die poetischen Verfahren und ästhetischen Formzwänge steigern sich in der Literatur mit Bezügen zur Interkulturalität die beschriebenen Potentiale – umso stärker, je zahlreicher die soeben erwähnten Aspekte aufeinandertreffen.

Als Heuristik ist ›Literatur und Interkulturalität‹ daher bereits in Bezug auf die Literatur der Antike ertragreich, denkt man etwa an Dramen wie Aischylosʼ Die Perser, auf das Mittelalter, denkt man an den Tristan-Stoff oder an die zwischen Romania und Germania changierenden Minnelieder, und erst recht in Bezug auf Barock und Humanismus, mit Texten, die im interkulturellen Dialog entstanden sind, wie Georg Philipp Harsdörffers Drama Japeta [Europa], das sich als deutsch-französische Stellungnahme über die Frontstellungen des Dreißigjährigen Kriegs hinweg verstand, im Sinne eines Entwurfs einer übergeordneten, europäischen Perspektive.

Die antike Figur der Iphigenie verhandelt die Grenze zwischen dem vermeintlich zivilisierten, griechischen Europa und den Barbaren, die dessen Normen und Episteme nicht teilen, verbunden mit der menschlichen Schicksalsabhängigkeit; in der von Goethe modifizierten Fassung des Stoffs geht es auch um die Integrierbarkeit der nicht-europäischen Fremden, wie Thoas einer ist. Miguel de Cervantes befragt in Don Quijote bereits die Grenze zwischen überzeugender und nicht mehr akzeptabler Deutung der ständischen Gesellschaft in der spanisch-europäischen Frühen Neuzeit; der Roman exponiert Sichtweisen auf deren Rituale und geschlechterspezifische Praktiken an der Grenze zum ›Irrsinn‹, nicht ohne dadurch die Unendlichkeit möglicher Standpunkte und letztlich auch die Kontingenz des Status quo ironisch offenzulegen. Und im Bereich der Lyrik kommt es im Zuge von Francesco Petrarcas Canzoniere zu einem epochemachenden Literatur- und Kulturtransfer, der literargeschichtlich als Petrarkismus Karriere machte und noch bei Charles Baudelaire und Heinrich Heine unübersehbare Spuren hinterließ.1

Insofern bewegt sich naturgemäß auch die deutschsprachige Literatur seit ihren Anfängen nicht in einem ästhetisch-kulturellen Vakuum. Dies gilt beispielsweise sowohl für die Ovid-Rezeption in Renaissance und Früher Neuzeit als auch für die Shakespeare-Rezeption seit dem Sturm und Drang, wobei beide Autoren ihrerseits Verfahren ästhetischer und kultureller Alterisierung als Erkenntnis- und Gesellschaftskritik entwickelt haben. Durch intensive Rezeption und Intertextualität sind deutschsprachige Literaturen mit diesen verwoben: Shakespeares The Tempest legt das Maß an Gewalt offen, das erforderlich ist, um eine männlich-europäische und nicht weiblich-afrikanische Deutung von Natur und Kultur zu etablieren, und entlarvt das koloniale Blickregime – einschließlich der möglichen Komplizenschaft von Literatur und Kunst, da Prospero sich bekanntlich eines zauberhaft inszenierten Theaterstücks bedient, um seine Nachkommen von seiner Überlegenheit zu überzeugen. Immerhin wird kenntlich gemacht, dass ein Primat des Europäisch-Patriarchalischen auf die gezielte Inferiorisierung afrikanisch-matriarchalischer Ordnung angewiesen ist; und bekanntlich entsagt Prospero der ›Zauberei‹ – der Machtausübung, wie sich interpretieren lässt –, indem er die Zauberin Medea in Ovids Metamorphosen und damit eine Figur zitiert, die nahe an der Diskursposition Sykoraxʼ steht. Dieses Beispiel genügt, um zu verdeutlichen, wie intertextuelle Verweise und diachrone Interkulturalität (vgl. Wiegmann 2018) im Medium ästhetischer Differenz Geschichte neu interpretieren können. Indem aber die delegitimierte Medea und Prospero mit einer Stimme sprechen und ihrem Tun und Machtstreben abschwören, weil sie erkennen, dass sie einseitig, falsch oder verblendet handeln, wird nicht nur die Grenze zwischen den Wissensordnungen und Normen der Kontinente fragwürdig; auch den Primat des Männlichen vor dem Weiblichen, der europäischen Begriffe und Kategoriensysteme vor den afrikanischen und asiatischen sowie die Auffassung von der Notwendigkeit der Unterwerfung und Ausbeutung der Natur als Ressource versieht Der Sturm mit Fragezeichen.

Vor und um 1800 verdichten sich die Texte mit interkulturellen Potentialen. Ob Gotthold Ephraim Lessing, Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Friedrich Hölderlin, Novalis, Heinrich von Kleist, E.T.A. Hoffmann oder auch Clemens Brentano: Kaum ein bedeutsamer Schriftsteller der Zeit entzieht sich den Herausforderungen und Chancen des Interkulturellen. Dies ist kein Zufall, es liegt vielmehr nahe, dass die relative Autonomisierung der Literatur in Bezug auf Religion und andere gesellschaftliche Leitdiskurse, die ›Professionalisierung‹ der Literatur als Kunst und der Lesegewohnheiten, die sie als solche auffassen, durch das Zusammenwirken ästhetischer und kultureller Alterität in der Zeit vor und um 1800 eine bis dahin noch nicht dagewesene Gestalt annimmt.

Ausgangs- und Anknüpfungspunkte für eine Literaturgeschichte der Interkul­turalität und Ähnlichkeit finden sich gerade auch unter den stark kanonisierten Texten: Lessings Nathan der Weise verhandelt in Jerusalem den illegitimen Ausschluss von Judentum und Islam aus dem Selbstverständnis Europas und überführt am Ende kulturelle Differenzen in Ähnlichkeiten, die gerade nicht (allein) in biologischer Verwandtschaft, sondern in Überzeugungen, die aus Erfahrungen abgeleitet werden, begründet sind. Radikaler fordert Novalisʼ Heinrich von Ofterdingen das individuelle Recht auf Selbstauslegung und Selbstentwurf vor dem Hintergrund unendlicher Interpretationsmöglichkeiten der Geschichte, zukünftiger Entwicklungsmöglichkeiten und angesichts des unüberschaubaren Reichtums der Sinnangebote interkultureller, interreligiöser und zwischengeschlechtlicher Ähnlichkeitsrelationen, wie sie beispielsweise die Figur der Zulima verkörpert. Im Realismus rücken gesellschaftliche Inklusion/Exklusion2 angesichts kultureller und sozialer Alteritätszuschreibungen stärker in den Blick, sei es in Bezug auf Juden (so in Wilhelm Raabes Holunderblüte oder Marie von Ebner-Eschenbachs Der Kreisphysikus), auf die als ›Zigeuner‹ Stigmatisierten (so in Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe) oder auf den Niederschlag kolonialer Verhältnisse in der deutschen Gesellschaft (so in Raabes Abu Telfan, Zum wilden Mann und Stopfkuchen). Kafkas große Romanfragmente Das Schloß und Der Verschollene verhandeln wiederum Einschluss- und Ausschlussprozeduren angesichts intra- und interkultureller, aber auch geschlechtlicher Alterität, Max Frischs Andorra Antisemitismus, Fremdheit und Gewalt. Während Ingeborg Bachmanns unvollendeter Roman Das Buch Franza Machtasymmetrien im Kontext des europäischen Kolonialismus in Nordafrika, die parallel zu Geschlechterasymmetrien gezeichnet werden, kritisch verhandelt, fordert Herta Müllers radikal ästhetische Sprache in Atemschaukel ein Nachdenken über transeuropäische Erinnerungskulturen am Beispiel siebenbürgendeutscher Zwangsarbeiter in der ehemaligen Sowjetunion. Und schließlich, um auch die zweite deutschsprachige Literaturnobelpreisträgerin der letzten zwei Dezennien ins Spiel zu bringen, wird in Elfriede Jelineks Drama Die Schutzbefohlenen Interkulturalität noch einmal in zweifacher Hinsicht sinnfällig: zum einen auf der Ebene des Transfers, indem das Stück auf die Hiketiden-Tragödie des Aischylos rekurriert, zum anderen thematisch-inhaltlich als Kommentar zur europäischen Asylpolitik und zu der Verschleierung der ökonomisch-politischen Machenschaften, die mit ihr einhergehen.

Was sich so insgesamt feststellen lässt: Je weiter man in der Literaturgeschichte in Richtung der Gegenwart voranschreitet, umso augenscheinlicher wird die wechselseitige Befruchtung poetischer und kultureller Alterität, über transnationale Strömungen der Avantgarde wie Dada bis hin zur heutigen europäischen und globalen Literatur der Transmigration und ihrem Potential, die Erinnerungskulturen zu vernetzen (vgl. Zink 2017).

4. Was kann interkulturelle Literaturwissenschaft?

Es ist hier aber nicht der Ort, um eine Literaturgeschichte unter interkulturellen Gesichtspunkten zu umreißen. Ein solches Vorhaben würde nicht nur die Grenzen eines Themenschwerpunkts, sondern vermutlich auch diejenigen einer zwölfbändigen Reihe sprengen. Außer Frage steht aber, dass sich aus diesen Zusammenhängen eine Forschungsagenda ableiten lässt, die ins Zentrum literatur- und kulturtheoretischer Debatten gehört. In diesem Sinne befinden wir uns gegenwärtig an einer Wegscheide: Entweder es gelingt, eine überzeugende Beschreibungssprache für das, was Literatur als Kunst leistet, zu finden – und hierfür ist das gesamte Feld der Interkulturalität ein ausgesprochen ergiebiger Prüfstein –, oder die gesellschaftliche Relevanz ästhetischer Differenz könnte verloren gehen. Obwohl die Literatur als Kunst aus den oben genannten Gründen in dieselbe Richtung zielt wie die großen diskurskritischen Bewegungen unserer Zeit – Black Lives Matter, die Postkolonialen Studien, Gender Studien, die Umweltbewegungen, die Antisemitismus- und Antiziganismuskritik, um nur einige wenige zu nennen –, besteht die Gefahr, dass diese Konvergenzen nicht erkannt werden. Schlimmstenfalls könnten Bewegungen, die von literarischen Texten insofern vorbereitet wurden, als sie die Gewaltmuster, gegen die sich die genannten Bewegungen wenden, entlarven, nun ihrerseits angegriffen werden, weil diese Gewaltmuster in ihnen aufscheinen – kurz, weil ihnen ein propositionaler Gehalt zugeschrieben wird, den sie überhaupt nicht besitzen. Auf der anderen Seite könnte eine Philologie stehen, der es nur um binnenliterarische Rekursivität und Selbstreferentialität geht.

Die Interkulturelle Literaturwissenschaft hat gegenwärtig die Chance, diesen beiden Gefahren zu entgehen und neue Theoriewege zu beschreiten. Der entscheidende Punkt dabei ist: Gerade in dieser Potenzierung zweier Alteritätsformen, der ästhetischen und kulturellen, scheint ein gesellschafts- und erkenntniskritisches und damit auch politisches Potential von Literatur auf. Denn die ästhetische Verdichtung interkultureller Begegnungen entfaltet ein mimetisch-entlarvendes Vermögen in Bezug auf die gesellschaftlichen Zugehörigkeitsregeln, auf Inklusions-/Exklusionsgebote und auf Begleitsemantiken dieser Praktiken. Aufbauend auf das dekonstruktive Potential von Literatur liegen hierin noch ganz andere, weiterführende Vermögen von Literatur, die in Bezug auf ihr kritisches Potential noch deutlicher profiliert und theoretisiert werden müssen.

Dass Interkulturalität und Poetik ähnliche Potentiale haben, ist, wie bereits angedeutet, alles andere als ein neuer Befund: Theoretisch begründet wurde er zuerst von Norbert Mecklenburg (vgl. 1987), der seinen Ansatz verschiedentlich ausbaute, gebündelt in Das Mädchen aus der Fremde. Germanistik als interkulturelle Literaturwissenschaft nachzulesen (Mecklenburg 2008). Die Arbeiten von Herbert Uerlings, zu dessen diesjähriger Emeritierung sich das vorliegende Heft einem zentralen Lehr- und Forschungsbereich seiner akademischen Vita widmet, entwickeln diesen Ansatz nicht nur weiter, sondern eröffnen zahlreiche weitere Dimensionen. So untersucht seine Monographie Poetiken der Interkulturalität. Haiti bei Kleist, Seghers, Müller, Buch und Fichte, ein Meilenstein der germanistischen Interkulturalitätsforschung und Namensgeberin unseres Schwerpunktthemas,3 das Zusammenwirken poetischer und kultureller Differenz am Beispiel des Kolonialismus und der damit verbundenen Formen von Gewalt. Von diesen literarischen Gegenständen her fragte Uerlings nach dem Zusammenhang »von kultureller und poetischer Alterität« und näherte sich einer Mikrophysik des »Umgang[s] mit Differenz (im analytischen Sinne einer Skala von ›identisch‹ über ›ähnlich/unähnlich‹ bis ›nicht-identisch/anders‹) und kognitiver wie normativer Fremdheit (als Interpretament von Differenz)« (Uerlings 1997: 8; Hervorh. i.O.). In der Folge wurden zahlreiche Facetten des Forschungsfeldes um ästhetische und kulturelle Differenz spezifiziert, darunter die Postkolonialen Perspektiven. Die Monographie »Ich bin von niedriger Rasse«. (Post-)Kolonialismus und Geschlechterdifferenz in der Deutschen Literatur analysiert den Umgang deutschsprachiger Texte mit (post-)kolonialen Situationen als Spezialfall von Interkulturalität, in dem ein »ethnisierendes Inferioritätsaxiom« (Uerlings 2006: 5) dazu beiträgt, dass Machtasymmetrien in Ökonomie, Bildung, Wissenschaft und Politik Fuß fassen und eine Pseudo-Legitimität erhalten. Nicht selten treten diese ethnisierenden Dichotomien in Verbindung mit geschlechtlich codierten auf, so dass naturalisierte und kulturalisierte Ungleichheiten kumulieren. Herbert Uerlingsʼ intersektionale Analysen zeigen, wie Abwertungsdiskurse, die auf Kolonisierte, auf Osteuropa oder auf ›interne Fremde‹ bezogen sind, in interkulturellen Poetiken in »ein multireferentielles Spiel überführ[t]« (ebd.: 15) und hinterfragt werden können.4 Die vielstimmig geführte Debatte um die Relevanz der Postkolonialen Studien für die Literaturwissenschaft wurde jüngst im Handbuch Postkolonialismus und Literaturwissenschaft (Göttsche/Dunker/Dürbeck 2017) gebündelt, wobei es Herbert Uerlings hier wie andernorts wiederholt darum ging, nicht das Trennende zwischen den interkulturellen und Postkolonialen Studien hervorzuheben (worauf, nebenbei gesagt, mancherorts und mit allem Nachdruck insistiert worden ist), sondern auf die beiden Forschungsrichtungen gemeinsamen Ansätze und Verfahrensweisen aufmerksam zu machen. Was ihr Bedingungsverhältnis betrifft, so hat er sich darüber allerdings in einer nichts zu wünschen übrig lassenden Klarheit geäußert:

Anders als manche wissenschaftspolitischen Polemiken und Polarisierungen suggerieren, umfassen interkulturelle und postkoloniale Studien heute die gesamte Bandbreite einschlägiger Theorien, Methoden und Konzepte. Nur unter dieser Voraussetzung gilt: Postkoloniale Studien sind ein Teilbereich der interkulturellen Literaturwissenschaft. (Uerlings 2017: 103)

Zu den im Nahbereich der Interkulturalitätsforschung stehenden weiteren Spezialfeldern von Herbert Uerlings zählen all jene Untersuchungen, die sich internen Fremden, insbesondere Juden und den als ›Zigeuner‹ Stigmatisierten widmen. Die im SFB 600 Fremdheit und Armut. Wandel der Modi von Inklusion/Exklusion von der Antike bis zur Gegenwart entstandenen Arbeiten stellten die Relevanz intrakultureller Differenzen heraus, daneben aber auch die dekonstruktiven Potentiale von Literatur in Bezug auf die Idee einer ethnisch und kulturell homogenen Nation und in Bezug auf das Stigma ›Zigeuner‹ (vgl. Uerlings/Patrut 2008). Dazu lassen sich heute neuere Perspektiven aus der Ähnlichkeitsforschung in Beziehung setzen, insofern sie Anregungen zur Überwindung binärer Codierungen in wissenschaftlichen Heuristiken (vgl. Bhatti/Kimmich 2015) zur Verfügung stellen, die auch schon anderweitig erprobt wurden.5

Herbert Uerlings’ Studien zur interkulturellen Literaturwissenschaft folgen bis heute einem eminent aufklärerischen Impuls und sind dabei gleichzeitig durchweg ästhetischen Fragestellungen verpflichtet. Von seinen Arbeiten zu lernen heißt unter anderem auch, die Komplementarität von poetischer und interkultureller Alterität so ernst wie möglich zu nehmen. Insofern könnte eine diesen Gedanken fortsetzende Forschungsagenda interkultureller Literaturwissenschaft einen Ausweg aus den eingangs beschriebenen Dilemmata bereitstellen, weil sie Literaturtheorie an gesellschaftliche Imaginarien zurückbindet: In interkulturellen Szenarien, etwa angesichts von Gewaltmomenten, die mit ethnisch und geschlechtlich codierter Abwertung einhergehen, wird das doppelte Potential poetischer und interkultureller Alterität als Wissens- und Gesellschaftskritik greifbar.

Eine neue Geschichte der Literatur bietet sich an, die von Interkulturalität als Geschichte literarischer Kritik am Diskurs und an gesellschaftlicher Praxis ausgeht und die Relevanz literarischer Texte daran bemisst, inwiefern sie dichte Relationen zwischen dekonstruiertem Diskurs und noch nicht Gewusstem, aber dennoch in der Erfahrung Präsentem herstellen. Aber auch Gattungs- und Motivgeschichte6 lassen sich als interkulturelle, dialogische Geschichte von Transfers neu schreiben. In übergreifender theoretischer Hinsicht gilt es weiter zu untersuchen, wie genau gerade in der Potenzierung zweier Alteritätsformen, der ästhetischen und kulturellen, ein gesellschafts- und erkenntniskritisches und damit auch politisches Potential von Literatur wirksam wird.

Damit soll jedoch keiner einseitigen Überhöhung der Literatur als privilegierter Wissensform das Wort geredet werden. Denn in vielen Fällen zeigt sie sich nicht unbedingt klüger als jenes Wissen, auf das sie sich in ihrer Zeit bezieht. Dafür lassen sich viele Beispiele finden, ob man an die antisemitischen Spitzen in Gustav Freytags Soll und Haben, an die Blut-und-Boden-Kolportagen eines Hermann Löns oder an Fallstricke der Repräsentation haitianischer Verhältnisse in Heiner Müllers Auftrag denkt. Unter der Maßgabe, »dass postkoloniale Kritik nicht gegen ästhetisch-literarische ausgespielt werden darf, sondern mit dieser verbunden werden muss« (Uerlings/Patrut 2012: 11), lässt sich fragen, inwiefern politisches Versagen von Texten auch mit ästhetisch-poetischem einhergeht. Dies trifft beispielsweise auf Heiner Müllers Auftrag insofern zu, als der Haitianer Sasportas in einem einzigen Monolog vom »stummen schwarzen Körper zum revolutionären ›Neger aller Rassen‹ und zu Wald/Berg/Meer/Wüste/Afrika/Asien/Amerika« wird:

Diese Monumentalisierung der Figuren und das Pathos der Alterität laufen Gefahr, das mit Wucht aus dem Gefängnis der Allegorisierung Befreite nun den Allegorien der Befreiung zu subsumieren und konkrete Alterität der ›Dritten Welt‹ zwischen Alterität als solcher und Utopie für das weiße Bewußtsein zu verdampfen. (Uerlings 1997: 148)

Der ästhetische Kurzschluss ist in diesem Falle auch ein politischer, die poetische Verflachung kapituliert vor der Spezifik der kolonialen Situationen und zielt an ihr vorbei. In seinem Aufsatz Postkolonialismus und Kanon regt Herbert Uerlings einen theoretischen Weg an, der es ermöglicht, in systematischer Weise politische und ästhetische Potentiale in ihrem Zusammenwirken zu untersuchen:

Literarischer Wert lässt sich jenen Texten zuerkennen, deren postkoloniales Potential sich als poetisches Potential entfaltet, d.h. als differentielles Spiel mit dem kolonialen Imaginären und seinen Dichotomien, und die vice versa ihr postkoloniales Potential zur Erweiterung der poetischen Möglichkeiten nutzen. (Uerlings 2012: 53; Hervorh. i.O.)

Dass Herbert Uerlings (vgl. 2020) zu dieser Art der interkulturellen Literaturreflexion erst jüngst noch einen instruktiven Beitrag vorgelegt hat, zeugt von der Produktivität dieses Ansatzes und von der Bereitschaft, den Gegenstand seines Interesses, selbst wenn ihm wie im Falle von Anna Seghers seine Sympathie gilt, mit unliebsamen Fragen zu konfrontieren.

In diesem Sinne kann literaturwissenschaftliche Interkulturalitätsforschung, indem sie das etwa durch Kanonstrategien, affirmative Literaturanalyse und -kritik oder durch die Autorinnen und Autoren selbst verschleierte »Denken-wie-üblich« (Heimböckel/Weinberg 2014: 124) mit seinen normalisierten Abwertungs- und Exklusionsmustern offenlegt, auch in dieser Hinsicht unter Beweis stellen, dass sie über Lektürepotentiale jenseits etablierter Analyse- und Lesepfade verfügt. Zumindest werden die nachfolgenden Untersuchungen an der einen oder anderen Stelle zu Einschätzungen kommen, die sich zu der bisherigen Interpretationspraxis in dem behandelten Feld eher gegenläufig verhalten.

5. Aufsätze des Schwerpunkts

Die wissenschaftlichen Aufsätze dieser ZiG-Ausgabe mit ihren den Poetiken der Interkulturalität verpflichteten Überlegungen wollen das Forschungsfeld nicht neu vermessen; sie möchten aber das Gespräch darüber fortführen, Anregungen aufgreifen, sie im Sinne der oben angedeuteten Forschungsagenda weiterdenken und gegebenenfalls auch neue Akzente setzen. Da sie keiner systematischen Vorgabe folgen, sind sie überwiegend chronologisch sortiert.

Dieter Heimböckel geht der Relevanz von Interkulturalität für die Novelle nach, von Bocaccios Decameron über Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten und Kleists Erzählungen bis zu Thomas Manns Tod in Venedig. Der gattungstheoretische Beitrag zeigt auf, dass die Anfänge der Novelle – als novella, Neuheit – mit krisenhaften Situationen und Transformationsprozessen zusammenhängen, die interkulturelle Potentiale aufweisen. Vor diesem Hintergrund werden insbesondere Leistungen und Grenzen der Thomas Mann’schen Novelle analysiert.

Darauf folgt Iulia-Karin Patruts neue Interpretation der Novelle Die Portugiesin von Robert Musil, in der eine mittelalterliche Portugiesin ein Novalis-Zitat ausspricht; dies wird zum Anlass genommen, interkulturelle, intertextuelle und weitere ›Verkettungen‹ zu untersuchen, wobei der Name des Protagonisten, von Ketten/delle Catene, ebenfalls einen für Novalis bedeutsamen Begriff aufgreift.

Franziska Schößler untersucht in ihrem Aufsatz zu Postkolonialismus und Umwelt, wie überlappende Machtasymmetrien im Drama Die Petroleuminseln von Lion Feuchtwanger im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Race, Gender und Umwelt binär codieren und dabei den Zugriff auf die Ressource Öl legitimieren, indem das Weibliche und die Natur abgewertet bzw. perhorresziert werden.

Matthias Bauer thematisiert die filmische Verhandlung interner Fremdheit. Am Beispiel des Films The Bohemian Girl (1936), in dem das Stigma ›Zigeuner‹ aufgerufen, aber auch zersetzt wird, untersucht der Aufsatz filmische Verfahren der komischen Variation, burlesken Transposition und karnevalesken Dekonstruktion intra- und interkultureller Differenzen.

Michaela Holdenried nimmt sich der Novelle Der Schuß im Park von Gerhart Hauptmann an, in der die koloniale Vergangenheit in Gestalt einer verlassenen schwarzen Ehefrau einen verheirateten deutschen Baron einholt; der schwarzen Frau wird die Teilhabe an der deutschen Gesellschaft verwehrt, der Baron verschwindet nach einem misslungenen Mordversuch an der Afrikanerin. Unter Berücksichtigung der intertextuellen Bezüge zu Heinrich von Kleists Verlobung in St. Domingo geht die kontrapunktische Lektüre dabei insbesondere der Frage nach, wie in der Novelle das weibliche Fremde in die europäische Wirklichkeit eindringt und deshalb durch Gewalt aufgehoben werden muss.

Swati Acharya verfolgt am Beispiel des indischen Schriftstellers Sa’adat Hasan Manto die Verflechtung von Großstadt, Prostitution und moderner Poetik. Im Mittelpunkt steht die Figur des chiffonier, die bereits von Baudelaire zur Charakterisierung eines Typus herangezogen wurde, in dem sich die Reproduktion der Kultur aus ihren Abfällen manifestiert. Der interkulturelle und zugleich intertextuelle Zusammenhang zwischen der europäischen und indischen Metropolenliteratur wird durch den Hintergrund der indisch-pakistanischen Teilung angereichert, zu deren Chronisten Sa’adat Hasan Manto zählt.

Andrea Geier untersucht die Verknüpfungen zwischen (Anti-)Antisemitismus und Kapitalismuskritik am Beispiel von Reiner Werner Fassbinders Drama Der Müll, die Stadt und der Tod. Analysiert werden neben dem Text selbst die Aufführungspraxis und die Debatten, die der Text mit Blick auf die Erinnerungskultur, auf den Umgang mit Antisemitismus in der Bundesrepublik und auf die Erwartungen an gegenwärtige Thematisierungen des Holocaust ausgelöst hat.

David Simo und Jean Bertrand Miguoué widmen sich der Persistenz älterer pazifischer Südsee-Phantasien (die unter anderem auf Anthropologen wie Meinecke und Malinowski zurückgeführt werden können) in neueren literarischen Texten von Buch, Capus und Kracht. Sie stellen die Ambivalenzen, die das Weiter- und Neuschreiben des (post-)kolonialen Diskurses mit sich bringt, aber auch die Momente seiner Durchkreuzung heraus. Dadurch tritt ein Potential für eine Transformation Europas und der Welt in Erscheinung.

Manfred Weinberg befasst sich schließlich mit der Poetik der Interkulturalität Hubert Fichtes und untersucht insbesondere den mit »Eine Glückliche Liebe« überschriebenen Auftakt des vierten Teils der Geschichte der Empfindlichkeit. Er flicht darin Überlegungen zur Reichweite, aber auch zu den Grenzen einer Schreibweise ein, die auf geradezu unendliche Verknüpfungen setzt und die Gefahr der Pansemiose birgt. Zugleich enthält der Beitrag, Fichtes Schreibweise aufgreifend, eine persönliche Reflexion vergangener und möglicherweise zukünftiger Entwicklungen der Hubert-Fichte-Forschung.

Anmerkungen

1 Die frühere Forschung war bei der Einschätzung des Petrarkismus wenig zimperlich, indem etwa Ernst Robert Curtius (1969: 232) seine phänomenale Breiten- und Tiefenwirkung als »Pest« bezeichnete und Hugo Friedrich (1964: 313f.) gerade aufgrund »seiner epidemieartigen Ausbreitung« in ihm letztendlich eine nur »[r]epetierende Routine« am Werk sah. Nicht nur angesichts der jüngsten Pandemie-Erfahrungen ist man inzwischen jedoch eher dazu geneigt, denen zu folgen, die das sprachlich-literarische Innovationspotential des Petrarkismus und darüber hinaus seine Bedeutung als »lingua franca der europäischen Zivilisation« (Bernsen 2011) betonen.

2 Vgl. zu diesem Forschungsfeld, das weiterhin große Relevanz für die Interkulturalitätsforschung besitzt, auch Uerlings/Raphael 2008 sowie den Ausstellungskatalog von Uerlings/Trauth/Clemens 2011.

3 Die Überlegungen in Uerlingsʼ Haiti-Buch waren u.a. auch impulsgebend für den Schwerpunkt Poetiken der Interkulturalität – Interkulturalität der Poetiken auf dem Kongress der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik an der Universität Göttingen 2010 (vgl. Hess-Lüttich/Albrecht/Bogner 2012: 33-156). Der Dialog mit ihnen findet daher an dieser Stelle und in den nachfolgenden Beiträgen seine Fortsetzung.

4 Das Buch berücksichtigt bereits Ergebnisse des von Herbert Uerlings und Viktoria Schmidt-Linsenhoff koordinierten DFG-Graduiertenkollegs 557 Identität und Differenz. Geschlechterkonstruktion und Interkulturalität (vgl. Hölz/Schmidt-Linsenhoff/Uerlings 2001).

5 Im Anschluss daran wurde das ästhetische Spiel mit Ähnlichkeiten um 1800 als politisches Korrektiv und kritisches Unterlaufen von imaginären Grenzen zwischen ›Orient‹ und ›Okzident‹ untersucht (Bergmann 2019; Patrut 2019).

6 In jüngster Zeit wurden auch Genres unter Gesichtspunkten der Interkulturalität theoretisch, historisch und systematisch in den Blick genommen, beispielsweise die Dorfgeschichte (vgl. Honold 2018) oder das Drama (vgl. Bloch/Heimböckel 2019).

Literatur

Bernsen, Michael (2011): Der Petrarkismus, eine lingua franca der europäischen Zivilisation. In: Ders./Bernhard Huss (Hg.): Der Petrarkismus – ein europäischer Gründungsmythos. Bonn/Göttingen, S. 15-30.

Bergmann, Franziska (2019): Goethe/Morgenröte. Reimspiele und Ähnlichkeitsrelationen im West-östlichen Divan. In: Iulia-Karin Patrut/Reto Rössler (Hg.): Ähnlichkeit um 1800. Konturen eines literatur- und kulturtheoretischen Paradigmas am Beginn der Moderne. Bielefeld, S. 239-252.

Bhatti, Anil/Kimmich, Dorothee (Hg.; 2015): Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma. Konstanz.

Bloch, Natalie/Heimböckel, Dieter (2019): Drama und Interkulturalität. In: Andreas Englhart/Franziska Schößler (Hg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft: Drama. Berlin/Boston, S. 372-387.

Celan, Paul (1999): Der Meridian. Endfassung – Entwürfe – Materialien. Hg. v. Bernhard Böschenstein u. Heino Schmull unter Mitarb. v. Michael Schwarzkopf u. Christiane Wittkop. Frankfurt a.M.

Curtius, Ernst Robert (71969): Europäische Tradition und literarisches Mittelalter. Bern/München.

Derrida, Jacques (1986): Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebinde, Guy Scarpetta. Hg. v. Peter Engelmann. Übers. v. Dorothea Schmidt u. Astrid Wintersberger. Graz/Wien.

Friedrich, Hugo (1964): Epochen der italienischen Lyrik. Frankfurt a.M.

Göttsche, Dirk/Dunker, Axel/Dürbeck, Gabriele (Hg.; 2017): Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Stuttgart.

Heimböckel, Dieter/Weinberg, Manfred (2014): Interkulturalität als Projekt. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5, H. 2, S. 119-144.

Hess-Lüttich, Ernest/Albrecht, Corinna/Bogner, Andrea (Hg.; 2012): Re-Visionen. Kulturwissenschaftliche Herausforderungen interkultureller Germanistik. Frankfurt a.M.

Hölz, Carl/Schmidt-Linsenhoff, Viktoria/Uerlings, Herbert (Hg.; 2001): Das Subjekt und die Anderen: Interkulturalität und Geschlechterdifferenz vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin.

Honold, Alexander (2018): Chronistik des Liminalen. Die Dorfgeschichte als interkulturelle Erzählform. In: Eva Wiegmann (Hg.): Diachrone Interkulturalität. Heidelberg, S. 159-187.

Mecklenburg, Norbert (1987): Über kulturelle und poetische Alterität. Kultur- und literaturtheoretische Grundprobleme einer interkulturellen Germanistik. In: Alois Wierlacher (Hg.): Perspektiven und Verfahren interkultureller Germanistik. München, S. 563-584.

Ders. (2008): Das Mädchen aus der Fremde. Germanistik als interkulturelle Literaturwissenschaft. München.

Patrut, Iulia-Karin/Rössler, Reto (Hg.; 2019): Ähnlichkeit um 1800. Konturen eines literatur- und kulturtheoretischen Paradigmas am Beginn der Moderne. Bielefeld.

Uerlings, Herbert (1997): Poetiken der Interkulturalität. Haiti bei Kleist, Seghers, Müller, Buch und Fichte. Tübingen.

Ders. (2006): »Ich bin von niedriger Rasse«. (Post-)Kolonialismus und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur. Köln.

Ders. (2012): Postkolonialismus und Kanon. Beobachtungen und Thesen. In: Ders./Iulia-Karin Patrut (Hg.): Postkolonialismus und Kanon. Bielefeld, S. 39-66.

Ders. (2017): [Art.] »Interkulturalität«. In: Dirk Göttsche/Axel Dunker/Gabriele Dürbeck (Hg.): Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Stuttgart, S. 101-108.

Ders. (2020): Verschwiegene Gründungsgewalt. Anna Seghers’ Das Licht auf dem Galgen (Fragment, 1948/49). In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 11, H. 1, S. 43-64.

Ders./Patrut, Iulia-Karin (Hg.; 2008): ›Zigeuner‹ und Nation. Repräsentation – Inklusion – Exklusion. Frankfurt a.M. u.a.

Ders./Patrut, Iulia-Karin (2012): Postkolonialismus als Provokation für die Literaturwissenschaft. Eine Einleitung. In: Dies. (Hg.): Postkolonialismus und Kanon. Bielefeld, S. 7-35.

Ders./Raphael, Lutz (Hg.; 2008): Zwischen Ausschluss und Solidarität. Modi der Inklusion/Exklusion von Fremden und Armen in Europa seit der Spätantike. Frankfurt a.M.

Ders./Trauth, Nina/Clemens, Lukas (Hg.; 2011): Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft. Trier.

Wiegmann, Eva (Hg.; 2018): Diachrone Interkulturalität. Heidelberg.

Zink, Dominik (2017): Interkulturelles Gedächtnis: Ost-westliche Transfers bei Saša Stanišić, Nino Haratischwili, Julya Rabinowich, Richard Wagner, Aglaja Veteranyi und Herta Müller. Würzburg.

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Unerhört anders oder »wenn nur der Geist neu ist« – Interkulturalität und Novelle (Dieter Heimböckel)
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